Inhalt

(Bitte scrollen: Texte folgen nach der Übersicht.)


2023


- Vom Umgang mit Müll (Aiwangers Vergangenheitsbewältigung)

- Posse mit Nancy (Faesers Wahl-Waterloo: hier vorausgesagt)

- Alternative Merz? (Die Ampel pfuscht, aber es geht noch schlimmer)

- Depp oder Brandstifter? (Was treibt FW-Chef Aiwanger um?)

- Dabeisein ist alles (Teurer Bundeswehr-Bummel durch Nordafrika)

- Ein stiller Genießer (Die Ampel dilettiert, Merz lehnt sich zurück)

- Ausgeleugnet...? (Langsam bemerken alle den Klimawandel)

- Grüner Schlussverkauf (Frühere Positionen for Sale!)

- Lust auf Abstieg (Die Berliner SPD gibt sich masochistisch)

- Solidargemeinheit (Dienstpflicht, mehr Geld: Pistorius legt los!)

- Profis ohne Schimmer (Politiker vergessen oft und gerne)

- Robert Wendehals (Grünen-Chef gibt Prinzipien im Rekordtempo auf)

- Jahr der Irrtümer (Politische Wirrungen und ihre Helden)



2022


- Zauber des Orients  (Wie die FIFA märchenhaftem Reichtum erlag)

- Das empörte Volk (Wut auf Kleber, nicht auf Umweltzerstörer)

- Hilfe von Fachidioten (Ampel weiß wenig über Jahreszeiten)

- Charme der Ignoranz (Die unbedarfte Frau Baerbock)

- Berliner Panoptikum (Regieren uns Chaoten oder Clowns?)

- Frieren für Deutschland (Laut FDP soll Armut Energie sparen)

- Heilige Peinlichkeit (Margot Käßmann als Gottes Nervensäge)

- Der fleißige Christian (Er fordert Überstunden für alle)

- Crime Royale (Spaniens Ex-König mit Kumpels auf Abwegen)

- Deutsches Expertentum (Wir reißen nichts, wissen aber alles)

- Johnsons fieser Deal (Geflohene nach Ruanda abschieben)

- Ein Traum von Heil (Empathie bitte nur für UkrainerInnen)

- Koch und Klinkenputzer (Putin und sein serviler Freund Schröder)

- Comeback der Söldner (Auftragskiller für Russland und die USA)

- Gewählt, nicht geeignet (Nahles hat wieder einen neuen Job)

- Kassandra muss liefern (Lauterbachs Probleme als Minister)



2021


- Kassandra muss liefern (Lauterbachs Probleme als Minister)

- Unser Nawalny (Was Putin recht ist, ist dem Westen bei Assange billig)

- Glorreicher Parvenü (Ehrgeiziger grüner Amateur als Agrarminister)

- Im Auenland der CDU (Südliche Bedrohung eines Polit-Idylls)

- Wackere Fregatte (Deutsches Schiff provoziert China ein wenig)

- Die Schuld der anderen (Historiker relativiert Kriegsverbrechen)

- Der kleine Prinz (Trost aus dem englischen Königshaus)

- Die fröhlichste Null (Porträt des Ex-Kandidaten Armin Laschet)

- Ihres Vaters Tochter (Skandale wie bei FJS: Monika Hohlmeier)

- Könige von Deutschland (Die Thron-Intrigen im DFB)

- Fake à la Biden (Der US-Präsident wandelt auf Trumps Spuren)

- Leuchtturm im Sumpf (Spahn hat auch beim Geld die Nase vorn)

- Maskenball der Union (Schwarze Corona-Gewinnler)

- Krösus tritt ab (Bezos geht, Amazon bleibt unsozial)

- Merz zeigt es Trump (So geht Verlieren!)

- Wie tickt der Andi? (Ist Scheuer doof oder fies oder beides?)



2020


- Bock namens Blackrock (Die EU macht den Wolf zum Hirten)

- Trump zum Letzten (Er hat uns lange genug geärgert)

- Trio des Grauens (Die Qualwahl des neuen CDU-Vorsitzenden)

- Er ist wieder da (Das Wirecard-Comeback des CSU-Freiherrn)

- Einäugig mit Zwergen (Söders schützende Hand über Versagern)

- Unsinn von Uncle Joe (Auch Biden ist nicht gerade ein Geistesriese)

- Zwei trübe Tassen (Andi und Horst - ein geniales Politkomiker-Duo)

- Sanfte Rassisten (Hier wird subtiler diskriminiert als in den USA)

- Der Mann nach Trump (Wird Pompeo der neue Rep-Führer?)

- Der Gnadenlose (Schäüble gibt wieder den Schulmeister der Nation)

- Modi räumt auf (Indien: Hungertod durch Seuchenschutz?)

- Unser täglich ALDI (Pioniere des schlechten Geschmacks)

- Björn und die Doofen (Wie AfD-Höcke FDP und CDU übertölpelte)

- Peers teures Erbe (Der Cum-Ex-Minister jetzt als Komiker)

- Ein Boris für die BRD (Deutschland sucht seinen Populisten)


2019


- Aufbruchweltmeister (Jeder SPD-Neubeginn ein Fehlstart)

- Olaf der Schreckliche (SPD-Scholz ein rechter Langweiler)

- Guter Pharma-Onkel (Ein CDU-Minister und seine Klientel)

- Die Antipoden (Bolsonaro und Thunberg im Clinch)

- Um Kopf und Kragen (Irrwege der Parteichefin AKK)

- Sigmar G. reloaded (Opportunist Gabriel ist wieder da)

- Mutter der Beratung (Die Freundin von McKinsey & Co.)

- Der grüne Rechtsaußen (Kretschmann flirtet mit Söder)

- Fabel vom Wolf Markus (Söders wundersame Wandlung)

- Herr Maas deliriert (Ein Justizminister auf Abwegen)

- Verletzter Verletzer (Böhmermann gegen die Kanzlerin)

- Retro-Bursche Tilman (Saufen und Schlagen für die JU)

- Barleys Gesetz (Kein Schutz für Whistleblower)

- Mehret euch, Ungarn! (Orbán will ein großes Volk)

- Die Zartbesaiteten (Bayerns AfD in eigener Sache sehr sensibel)

- Türsteher Strobl (Böse Ausländer müssen draußen bleiben)


2018


- Bote aus dem Jenseits (Der ewige Merz ist wieder da)

- Der fünffache Maaßen (Multiple Persönlichkeit des Ex-VS-Chefs)

- Deutsches Traumpaar (Ministerin und Manager ergänzen sich)

- Segler in Not (Es gibt zwei Klassen von Schiffbrüchigen)

- Aus Versehen weise (V-Leute als Helfer der Rechtsextremen)

- Sahras rechter Flirt (Wagenknecht fischt im Trüben)

- Wenigstens einer (der Ausnahme-CSUler Josef Göppel)

- Der Allround-Experte (Die Nebenjobs eines SPD-Abgeordneten)

- Das Kreuz mit Söder (Marterwerkzeug soll Stimmen bringen)

- Die heilige Theresa (Ein Name - drei scheinheilige Frauen)

- Heikos irre Logik (Wie ein Minister Waffenexporte rechtfertigt)

- Geist von St. Pauli (Dubioser Werbepartner des Kiezclubs)

- Karriere eines Klons (Scheuer als Dobrindt-Imitat)

- Klein Herbert (Ralf Stegner - König der Quasselstrippen)

- Oskar der Trommler (Lafontaine sucht Linke in der SPD)


2017


- Horst Söder, Ingolberg (Populistischer Figurentausch)

- Die Panzerkommissarin (Die EU als Aufmarschgebiet)

- Trumps Jünger (Wirre Chauvinisten gibt es auch in Europa)

- Lindner vor dem Tore (Jung, dynamisch, hohl!)

- Sturm im Wodkaglas (Abzocken ja, aber nicht in Russland!)

- Alexander der Doofe? (Dobrindt als U-Boot der Autoindustrie)

- Der Pfadfinder (Kretschmann zeigt Grünen den rechten Weg)

- Clowns ohne Ende (Das SPD-Panoptikum gegen Merkel)

- Deutsche Autofahrer (Wehrhaft, treu und leichtgläubig)

- Der Börsenbomber (Aktienkurs-Manipulation mal handfest)

- Die Macht der Brüder (Die Kochs treiben Trump vor sich her) 

- Frau Alibi (Eine typisch bayerische Integrationsspezialistin)

- Verlorene Tochter (Haderthauer von der CSU resozialisiert)

- Vorname: Bahnchef (Die Bosse wechseln, die Anrede bleibt)

- Der späte Kämpfer (Am Ende will Obama Versäumtes nachholen)


2016


- Ein Trump der Tat (Duterte handelt, wo Donald nur redet)

- Zwei Präsidenten (Die Kollegen Trump und Steinmeier)

- Das rote Entlein (Ramelow singt wie ein bürgerlicher Schwan)

- Glorreiche Rabulisten (SPD-Gabriel und CSU-Scheuer in Hochform)

- Uli, mach du es? (Vom Bayern- zum Bundespräsident?)

- Lumpaci & Vagabundus (Seehofer/Söder-Allianz gegen Naturschutz)

- Geh mit Gott (Der Bundespastor Gauck verlässt uns)

- J. R. FOR PRESIDENT (Donald Trump hatte einen TV-Vorgänger)

- Grün goes Pegida (Kretschmann und Palmer auf dem rechten Weg)

- Sahra W. im Irrtum (Die Ikone der Linken auf Abwegen)

- Noskes Erben (Die rechte Tradition der Sozialdemokratie) 

- Sekundärtugendbold (Ein Innenminister von altem Schrott und Korn)

- Ein Star denkt (Kris Kristofferson zur Nutzung von Nazi-Ruinen)

- Genosse Trendsetter (Gabriel schafft die Rolle rückwärts)


2015


- Halt an, Haseloff! (Sachsen-Anhalt will keine Flüchtlinge)

- Etikettenschwindel (Eine Sozialdemokratin als Linke?)

- Mensch Schäuble!? (BILD entdeckt eine empfindsame Seele)

- Babyface statt Münte (Ein Windbeutel soll die SPD retten)

- Der TTIP-Flüsterer (Ein US-Botschafter als geschickter Lobbyist)

- Tod einer Mumie (Mayer-Vorfelder hat das Spielfeld verlassen)

- Der taubblinde Agent (Der Verfassungsschutz und ein NSU-Mord)

- Déjà-vu in Washington (Neue Präsidentenwahl - alte Dynastien)

- Erleuchtete Gier (Heiliger Reibach für die Deutsche Bank)

- Oppermännchen (Der windige Fraktionschef der SPD)

- Die Untoten (Wer braucht die FDP eigentlich noch?)


2014 


- Bayern schämt sich (Uli Hoeneß nicht mehr ganz so beliebt) 

- Vitamin U (Das Umweltministerium als Karriere-Sprungbrett) 

- Horsts Welt (Wie tickt Bayerns Seehofer wirklich?) 

- Erbarmen Obama! (Leidet der US-Präsident unter Amnesie?) 

- Der Phantom-Däne (Delirium eines scheidenden NATO-Chefs) 

- Der silberne Gauck (Schweigen wäre Gold) 

- Der Zauberlehrling (Steinmeier wird böse Geister nicht mehr los) 

- Scheitern als Weg (Mehdorn gibt Berliner Flughafen den Rest) 

- Mauthelden (Seehofer & Dobrindt - ein begnadetes Komiker-Duo) 

- Frau Ex-Doktor (Schavan hebt die Frauenquote im Vatikan) 

- Gauweilers Krieg (Einer kämpft im Irak, der andere in der U-Bahn) 

- Schröder für Arme (Kurt Beck muss nicht betteln gehen) 

- Bush kann lesen (Der Ex-Präsident hat sogar eine Bibliothek) 

- Fifa-Sepp, Licht-Franz (Vertauschte Rollen in Qatar) 

- Neue Armleuchter (Wahl zwischen Pech und Schwefel)


2013


- Wadenbeißerchen (Seit Geburt überfordert: Alexander Dobrindt) 

- Wir waren Papst! (Ciao Benedikt Ratzinger)

- Die Steinbrück` (Der falsche Mann am falschen Ort)

- Mutti quotiert (Ursula v.d.L.: viel Lärm um wenig)

- Tricky Dirk (Niebel - Mann für jedes Schnäppchen)


2012


- Der Saubermann (Ein Innenminister räumt auf.)

- Das Söder (vom Macho zum Männchen)


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2023



Vom Umgang mit Müll


In der für ihn typischen Flexibilität hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder seinem Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger trotz des braunen Mülls, den dieser vor Jahrzehnten möglicherweise verursacht, wahrscheinlich verbreitet, ganz sicher aber besessen hat, stirnrunzelnd die Absolution erteilt und ihn im Amt belassen. Die Medien machten so viel Aufhebens um Hubsi, dass diesem zeitweilig blümerant zumute wurde, obgleich seine PR-Geilheit doch allbekannt ist. Bei dem ganzen vom Wahlkampf angeheizten Getöse wurde jedoch  weitgehend vernachlässigt, dass die Affäre beunruhigende Rückschlüsse auf den Zustand des kollektiven Gedächtnisses und der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland insgesamt sowie auf die heimelige Ignoranz im Freistaat zulässt.


Gegenattacke aus der Kloake


Es ist nicht nötig, an dieser Stelle nochmals einen Flugblatt-Text zu zitieren, der sich nahtlos in Julius Streichers Nazi-Hetzblatt Der Stürmer eingefügt hätte. Ob nun Hubert Aiwanger ihn verfasst hat oder sein Bruder, ist belanglos angesichts der damals offenkundigen Kumpanei und der ansonsten offenbarten NS-Sympathien durch den heutigen Chef der Freien Wähler (FW). Zu viele Menschen, ehemalige MitschülerInnen, Dorfnachbarn und Lehrkräfte entsinnen sich noch ähnlicher Bekundungen des Niederbayern, etwa des mehrmaligen Zeigens des Hitlergrußes oder seines Hangs zu Judenwitzen. 


Sprachwissenschaftler glauben, in dem antisemitischen Duktus des Pamphlets elaborierte Nazi-Propaganda zu erkennen und nicht den verrohten „Humor“ von zwei durchgedrehten 17- bzw. 18-jährigen Halbstarken.


Das Ganze ist widerlich und menschenverachtend, aber es sind seither mehr als dreieinhalb Dekaden vergangen. Und so fragen die üblichen Abwiegler der rechten Mitte wieder, ob man einem etablierten Politiker in mittleren Jahren solche „Jugendsünden“ überhaupt noch vorwerfen dürfe. Allerdings! Hätte Aiwanger irgendwann seine frühen Verfehlungen selber thematisiert, erklärt, er sei ein anderer Mensch geworden, und dies durch sein späteres Auftreten auch bewiesen, wäre eine Rehabilitierung möglich gewesen. Aber der FW-Chef versuchte nach Kräften, zu vertuschen und die Aufarbeitung seiner ganz persönlichen „Hitlerjugend“ zu vermeiden. Stattdessen hatte er schon 2008 bei seinen einstigen Lehrkräften nachfragen lassen, ob ihm irgendwelche Konsequenzen oder Veröffentlichungen drohten. Nachdem dies von einem Pädagogen verneint worden war, beließ er die Sache unter dem Teppich.


Als dann die Süddeutsche Zeitung den Fall publik machte, schwieg Aiwanger zunächst, schob seinem Bruder die Verantwortung zu, verwies dann auf die für Politiker typischen Gedächtnislücken, entschuldigte sich mit einem lapidaren Halbsatz, um dann aus der braunen Kloake seiner Vergangenheit, die ihn plötzlich wieder umschwappte, heraus die Gegenattacke zu starten. Er warf Journalisten und politischen Gegnern eine „Schmutzkampagne“ vor, die „bis zu seiner beruflichen Existenzvernichtung“ geführt werde. Das ging selbst dem CSU-Mann Ludwig Spaenle, Bayerns Antisemitismusbeauftragtem, zu weit: „Eigenartig ist die von Herrn Aiwanger wiederholt vorgetragene Umkehrung von Ursache und Wirkung. Ursache und Anlass für die gesamte Debatte sind das unerträgliche Flugblatt und weitere Vorhalte, nicht die Fragen nach deren Aufklärung“.


Opferkult der Freien Wähler


Hubert Aiwanger gilt als gewiefter Taktiker, der seinen urigen Dialekt vor allem zur Gaudi seiner ländlichen Anhänger pflegt, abseits der breiten Öffentlichkeit jedoch frei, pointiert und durchaus verständlich redet. Dass er sich eilends zum Opfer von Grünen und Schmierfinken stilisierte, war ein geschickter Schachzug. Binnen weniger Tage brachte er seine Partei geschlossen hinter sich, und angesichts des stramm rechten Potentials in Bayern könnte es ihm bei den anstehenden Wahlen weitere Wählerstimmen bringen, schließlich gerieren sich die FW mehr und mehr als volkstümelnde Populisten-Alternative zur AfD.


Triumphierend verkündeten seine Anhänger, derzeit gingen der Parteizentrale pro Tag Aufnahmeanträge in zweistelliger Höhe zu. Angesichts der Tatsache, dass die bayerische Gründung inzwischen Ableger in den anderen Bundesländern hat, dass sie im Landtag von Rheinland-Pfalz sitzt und den Einzug ins hessische Parlament recht aussichtsreich anstrebt, ist die Frage angebracht, wofür die FW inhaltlich überhaupt stehen.


Eigentlich begannen sie als Sammelbecken für unzufriedene CSU-Anhänger, denen die schwarzen Granden in München zu abgehoben schienen oder deren Aufstiegswünsche nicht berücksichtigt worden waren. Vor allem in bäuerlicher und kleinstädtischer Umgebung punktete die Partei, stellte bald Land- sowie Bezirksräte und zog ins Maximilianeum ein. Karrieristen aus Verwaltungen, Selbständige und Agronomen ließen sich gern als Kandidaten aufstellen, was angesichts der Betonhierarchie bei den Christsozialen eher schwierig gewesen wäre. Für diese konservativ-bürgerliche Zeit stehen heute noch die beiden blassen FW-Landesminister Glauber (Umwelt) und Piazolo (Kultus).


Inzwischen aber hat Volkstribun Aiwanger seine Partei weit nach rechts getrieben. Er polemisiert gegen Klima- und Umweltschützer, unterstellt Veganern und Grünen eine generelle „Verbotspolitik“, übernimmt in Migrationsfragen oft die Positionen der AfD, auf deren Terrain der passionierte Jäger besonders gern wildert, und wirbt um die dumpfen Rechtsaußen-Ränder der CSU, bei denen das Windfähnchen Markus nicht immer gut ankommt.


Mit seiner Wutrede in Erding, wo er die Demokratie „zurückholen“ wollte, die Ampel beschimpfte und den Regierenden in Berlin einen „offenen Arsch“ attestierte, verfiel Aiwanger wieder in den Stil seiner Jugend, wenngleich das Vokabular leicht abgeschwächt war. Der Populist hat das breite nationalkonservative bis rechtsextreme Spektrum Bayerns im Auge, und die FW, auch die Gemäßigten unter ihnen, folgen ihm blindlings. Einen vollständigen Läuterungsprozess hat Aiwanger in den letzten 35 Jahren scheinbar nicht durchlaufen, auch wenn Markus Söder einen solchen erkennen will. Aber der ist ohnehin voreingenommen, hat er doch in Erding ebenfalls gegen Berlin gehetzt. Zudem braucht er auch nach der Landtagswahl die FW als Partner, weil er voreilig alle anderen Koalitionen ausgeschlossen hat.


Bajuwarische Kontinuität


Zwar hat Söder mit dem Gedanken gespielt, mit der Rechtspartei unter neuer Führung weiterzuregieren, doch da machte ihm die Nibelungentreue der Aiwanger-Gefolgsleute einen Strich durch die Rechnung. Ohne ihren Hubsi wollen sie nicht, zumal sie sich mit ihm derzeit im Aufwind sehen. Also entschloss sich der überzeugte Opportunist Söder dazu, seinen Vize nach der Beantwortung von 25 läppischen Fragen zu begnadigen. Das wiederum lässt vermuten, dass sich das politische Klima überall in der Republik radikal gewandelt hat und noch eine nationalistische Kraft in weitere Landtage einziehen könnte. Die Rhetorik der AfD-Spitzen hat Aiwanger jedenfalls weitgehend verinnerlich – und ist damit in etwa wieder im geistigen Milieu seiner Jugend angekommen.


Übrigens wurde der erwischte Hubsi 1988 vom Direktorat seiner Schule mit einer erstaunlichen Strafe belegt: Er musste ein Referat über das Dritte Reich halten – wenigstens ein Thema, das Aiwanger nicht ganz fremd war. Aber Bayerns Gymnasien können auch anders. Neun Jahre zuvor war die 17jährige Christine Schanderl in Regensburg mit einer Plakette, auf der „Stoppt Strauß!“ stand, im Unterricht erschienen. Diese im damaligen Bayern als ungeheuerlich empfundene Entgleisung wurde mit der sofortigen Relegation von der Schule geahndet. Dass ihr zwei Jahre später der Verfassungsgerichtshof bescheinigte, sie habe nur ihr Recht auf Meinungsfreiheit, das auch in den Schulen des Freistaates gelte, wahrgenommen, war ein schwacher Trost. Schanderls Beispiel macht aber im Vergleich zum Fall Aiwanger deutlich, wie differenziert im Land der CSU linke und rechtsextreme Abweichungen vom Mainstream bewertet und geahndet wurden (und werden).


Um die Behauptung zu entkräften, es werde auf diesen Seiten zu viel Bavaria-Bashing betrieben, soll noch über einen Vorfall im hohen Norden berichtet werden, der belegt, wie weit die bräunliche Restauration bereits in den Alltag vorgedrungen ist: Die Hamburger Polizei nahm drei Rostocker Fußballfans fest, die das Gastspiel ihrer Hansa beim HSV besuchen wollten. Sie hatten ein Lied gesungen, das auch von Dortmunder Hooligans angestimmt worden war und dessen ekelhafter Refrain hier aus Dokumentationspflicht zitiert werden soll: "Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir, von Jerusalem bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir!" Niederbayern ist mittlerweile überall.
09/2023
Dazu auch:
Depp oder Brandstifter im Archiv von Helden unserer Zeit (2023)







Posse mit Nancy


Karl Marx hatte einst die Bemerkung Hegels, dass alle großen geschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen, mit den Worten „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“ ergänzt. Nun hat man in der SPD den Trierer Philosophen nie gern gelesen, eher nach Kräften ignoriert. Das rächt sich jetzt: Nach der desaströsen Wahlniederlage in Berlin steuert die Partei nun in Hessen auf ein weiteres Debakel zu, wobei die beinahe tragikomisch anmutende Vorgehensweise nahelegt, dass die Genossen nichts aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Wieder soll eine Galionsfigur aus der Bundesregierung eine Landtagsmehrheit erringen, nach Franziska Giffey darf jetzt Nancy Faeser krachend scheitern.


Ein Flop neu aufgelegt


Die Sozialdemokraten hatten 2021 die Chuzpe, den Berlinern eine Dame, die gerade erst als Bundesfamilienministerin hatte zurücktreten müssen, weil ihre Tricksereien bei der Doktorarbeit aufgeflogen waren, als Spitzenkandidatin zu präsentieren. Das Wahlvolk zeigte sich not amused, und Giffey fuhr das schlechteste Ergebnis ever in der Hauptstadt ein. Nachdem der Urnengang wegen einiger Ungereimtheiten wiederholt werden musste, unterbot sie ihr eigenes Debakel nochmals um drei Prozent. Vorbei war’s mit der SPD-Herrlichkeit, dennoch hätte Giffey die Koalition mit Grünen und Linken fortsetzen können. Sie entschied sich aber dafür, als Steigbügelhalterin für den CDU-Rechtsaußen Kai Wegner zu fungieren und dessen restriktive Migranten- und überholte Pro-Auto-Politik als Juniorpartnerin mitzutragen – inhaltlich waren die beiden ohnehin nie weit auseinander.


In diesem Herbst soll wieder frischer Wind aus der Bundesregierung ein SPD-Kabinettsmitglied auf den Chefsessel eines Bundeslandes tragen. Die Innenministerin Nancy Faeser, bislang weder durch große Erfolge noch durch überzeugende Expertisen aufgefallen, wurde auserkoren, den CDU-Ministerpräsidenten Boris Rhein in Wiesbaden abzulösen. Die Chancen tendieren nach jetzigem Stand gegen Null.


Immerhin hat sich Nancy Faeser bis dato noch keine ahndungswürdigen Verfehlungen à la Franziska Giffey geleistet, doch für eine Juristin offenbart sie bisweilen eine merkwürdige Auslegung von Gesetz und Vertragstreue. Zudem versucht sie, die ihr davonschwimmenden Felle durch handfesten Rechtspopulismus zu retten.


Ein seltsames Rechtsverständnis


Nur zwei Beispiele für Faesers laxen bis rechtswidrigen Umgang mit höchstrichterlichen Entscheidungen und verbindlichen politischen Entscheidungen:
Der Europäische Gerichtshof hat 2022 in einem Urteil die anlasslose Massenspeicherung von IP-Adressen verboten. Im Koalitionsvertrag der Ampel wurde dementsprechend vereinbart, dass Daten nur „rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können“. Nancy Faeser jedoch outet sich als Fan grenzenloser Überwachung und setzt sich weiter für das anlasslose und genehmigungsfreie Sammeln der Daten ein.


Im Koalitionsvertrag wurde auch zu Cyberangriffen im Ausland (sog. Hackbacks) festgehalten: „Hackbacks lehnen wir als Mittel der Cyberabwehr grundsätzlich ab.“ Doch was stört Nancy das Koalitionsgeschwätz von gestern? Sie will jedenfalls das Grundgesetz ändern, auf dass deutsche Geheimdienste künftig weltweit im Netz abhören und sabotieren können.


Um die schwindende Akzeptanz ihrer Partei in Hessen und anderswo zu kontern, begibt sich die Bundesinnenministerin, die wohl glaubt, mit links eins der wichtigsten Ressorts der Republik zeitgleich mit dem Wahlkampf in einem Bundesland führen zu können, auf die Argumentationsebene der AfD. Nach den Berliner Krawallen der letzten Silvesternacht erkannte Faeser ein Problem wegen „bestimmter junger Männern mit Migrationshintergrund“.


Offenbar kann sie sich gut in die Rabauken hineinversetzen, denn sie dozierte, diese verachteten den deutschen Staat, seien gewalttätig und mit Bildungs- und Integrationsangeboten kaum zu erreichen.

Natürlich forderte die Law-and-Order-Politikerin eine rasche und empfindliche Bestrafung. Der Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter rechnet solche Äußerungen einem Publizitätsfeldzug hinsichtlich der anstehenden Landtagswahl in Hessen zu.


Mit dieser Totschlagsargumentation erspart man sich Differenzierungen sowie einige peinliche Nachfragen. Etwa, welche Integrations- oder Inklusionsprogramme die Migrationsjugendlichen überhaupt hätten erreichen sollen. Von der Bundesregierung kam so gut wie nichts, und kommunale oder von NGOs initiierte Ansätze waren chronisch unterfinanziert. Und an welche Art von Bestrafung denkt Frau Faeser denn bei den gewalttätigen und straff organisierten Hooligans ohne Migrationshintergrund, die Wochenende für Wochenende Randale rund um die Fußballarenen des Landes veranstalten?


Viele Urdeutsche mögen Ausländer nicht, in den sogenannten Clans aber sehen sie den schieren Untergang des Abendlandes. Es handelt sich hierbei nicht um die kriegerischen Sippen schottischer Hochländer, sondern um meist aus dem Nahen Osten eingewanderte Großfamilien, deren Mitgliedern eine Reihe von Eigentumsdelikten angelastet wird. Da Nancy Faeser intensiv am xenophoben Rand des Wählerspektrums fischen möchte, kündigt sie der Lieblingspostille aufrechter Sozialdemokraten, BILD, eine „harte Antwort des Staates“ auf die Clan-Kriminalität an und forderte konsequente Abschiebungen der Täter, aber auch von nicht kriminell gewordenen Angehörigen solcher Vereinigungen und Familien. Wehe dem, der einen falschen Nachnamen hat!


Himmelfahrtskommando mit Rückfahrkarte


Da war die Zunge der ehemaligen Wirtschaftsanwältin wohl schneller als das juristisch geschulte Gehirn: Ohne individuelle Tatbeteiligung sollen Menschen bestraft und um ihre Existenz gebracht werden? Der Fernsehsender n-tv weist auf ein anderes Ausschlusskriterium für Ausweisungen hin. Viele Mitglieder der Clans besitzen von Geburt an oder durch Einbürgerung die deutsche Staatsbürgerschaft, können also gar nicht abgeschoben werden.


Das Wochenmagazin der Freitag wiederum zitiert Experten, denen zufolge zehn Prozent oder weniger Angehörige von „Familien, die mit dem Begriff Clan bedacht werden“, straffällig sind. Zudem machen den Großteil der tatsächlich begangenen Vergehen Verkehrsdelikte, Beleidigungen oder Beförderungserschleichung (Schwarzfahren) aus, also nicht Verbrechen im Dunstkreis der „organisierten Kriminalität“, die Nancy Faeser so gern anführt.


Die Spitzenkandidatin und gleichzeitige Innenministerin buhlt offensichtlich um die Sympathien der AfD-Anhänger. „Und gießt eimerweise Wasser auf die Mühlen einer gefühlsduseligen, angstgetriebenen Debatte, an deren Ende Sippenhaft und willkürliche Deportationen stehen“, wie der Freitag urteilt.


Nancy Faeser wird die Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und Neonazis durch solche Volkstümelei nicht vom rechtsradikalen Original abbringen können und erleben dürfen, wie die SPD bei der Wahl am 8. Oktober scheitert und möglicherweise sogar auf den dritten Platz in der hessischen Landesliga zurückfällt. Aber sie war vorsichtig genug, vorab zu erklären, dass sie dann als Bundesministerin weitermachen wird, quasi im ramponierten Status der lame duck, bis im Herbst 2025 womöglich auch die Abwahl der Ampelkoalition ansteht…
08/2023
Dazu auch:
Lust am Abstieg im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2023)








Alternative Merz?
oder
Ein stiller Genießer wird laut

Angesichts weit verbreiteter Ignoranz, allgemeiner nationaler Hybris und kollektiver Vergesslichkeit hat Deutschland mit Olaf Scholz den Kanzler, den es verdient. Wie gut aber die Bundesrepublik wirklich aufgestellt ist, lässt sich erst erahnen, wenn man in Betracht zieht, dass der Oppositionsführer auf ähnlichem Niveau agiert: Nun hat CDU-Chef Friedrich Merz, der sonst eindeutig Unterirdisches von sich gibt, etwas so Zweideutiges gesagt, einen derart schiefen Vergleich gezogen, dass selbst in seiner eigenen Partei die Alarmglocken schrillen.


Blödsinn oder Freud’scher Versprecher?


Friedrich Merz, einst deutscher Statthalter des weltweit größten Vermögensverwalters und Unternehmensinvestors BlackRock, ist der personifizierte Beweis für die These, dass Geld zwar einflussreich, aber nicht unbedingt klug macht. Schon früher fiel der Hochsauerländer durch launigen Blödsinn auf, etwa wenn er die Steuererklärung des deutschen Bürgers auf ein Bierfilzgekritzel herunterzubrechen versprach oder sich selbst, einen mehrfachen Millionär also, in falscher Bescheidenheit dem Mittelstand zurechnete.


Im ZDF-Sommerinterview schockte er kürzlich Parteifreunde, als er plötzlich ohne Not erklärte, auf Kommunalebene müsse mit demokratisch gewählten Amtsträgern der extremen Rechten pragmatischer umgegangen werden. „Wenn dort ein Landrat, ein Bürgermeister gewählt wird, der der AfD angehört, ist es selbstverständlich, dass man dann nach Wegen sucht, wie man in dieser Stadt weiter gemeinsam arbeiten kann.“ Während die etwas Weltoffeneren in der Union und die Medien argwöhnten, der CDU-Chef wolle die Brandmauer gegen die Ultra-Chauvinisten einreißen, lachten sich etliche schwarze Mandatsträger in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ins Fäustchen, paktieren sie doch schon seit geraumer Zeit mit dem bräunlichen Polit-Mob. Dass Merz eilig zurückruderte und wieder von Unvereinbarkeit sprach, dürfte sie kaum beeindruckt haben.


Nur vier Tage vor dem ZDF-Auftritt hatte der eloquente Experte für heiße Luft seinen Parteifreunden indes das größte Rätsel aufgegeben, als er auf einer Pressekonferenz sagte, er wolle deutlich machen, dass CDU und CSU „eine Alternative für Deutschland mit Substanz sind“. Und jetzt fragen sich die Unionschristen in den social media oder im stillen Kämmerlein, was Fritz mit diesem überraschenden Vergleich wohl gemeint haben könnte. Und die Journalisten raten munter mit…


Fröhliches Merz-Interpretieren


Die TV-Journalistin und Twitter-Bloggerin Nicole Diekmann vermutet, dass Merz am rechten Rand fischen möchte. Der hessische CDU-Bürgermeister Alexander Heppe empörte sich auf der Internetplattform: "Ich bin nicht Mitglied einer 'Alternative für Deutschland'. Ich bin christlich, nicht fundamentalistisch, sozial, nicht sozialistisch, liberal, nicht libertär, konservativ, nicht reaktionär…“ Die stellvertretende Parteichefin Karin Prien stellt lapidar fest: "CDU mit Substanz, sonst nix."


Der große Vorsitzende scheint aber zu denken, dass für Deutschland etwas anderes her muss, eine Alternative zur derzeitigen Parteienlandschaft somit. Will uns Merz klarmachen, dass die CDU eine Art AfD ist, nur mit mehr Inhalt und Schmackes? Deutet er an, dass die Union durchaus so fremdenfeindlich, reaktionär und nationalistisch sein kann wie die Höcke- und Weidel-Mannschaft, aber dank ihrer Mandate, Posten und Pfründen sowie ihrer guten Beziehungen zur Wirtschaft über viel stärkere Ressourcen als diese verfügt?


In den letzten Monaten hatte sich Merz bemerkenswert zurückgehalten und die Blamagen dem Ampel-Hühnerhaufen überlassen, jetzt ist er wieder ganz der Alte Fritz. Und so plappert er wieder wie früher Unausgegorenes daher und macht en passant die AfD salonfähig. Da konnte deren Co-Chefin Alice Weidel ganz genüsslich kommentieren: „Auch wenn sich Herr Merz noch so verbiegt, das Original bleiben wir.“


Ein wenig vom Original abkupfern


Im Grunde wirkt die Empörung der Partei-Spitzenfunktionäre über die Äußerungen des CDU-Vorsitzenden etwas heuchlerisch. Längst praktizieren Orts- und Kreisverbände der Union vor allem im Osten, was Merz anregt, eine punktuelle Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen auf kommunaler Ebene. Schon seit geraumer Zeit nähert sich die Wortwahl von schwarzen Spitzenpolitikern den Hetzreden der AfD-Xenophobiker an, etwa wenn Merz Knaben mit Migrationshintergrund als „kleine Paschas“ beschimpft. Und auch Markus Söder ist (wieder einmal) umgeschwenkt. Bäume umarmen war gestern, jetzt wirft er – ganz im Stil der Verschwörungstheoretiker – den Grünen vor, die Bürger „umerziehen“ zu wollen, und bezichtigt sie der "zwanghaften Veganisierung" sowie des "zwanghaften Genderns", wie unlängst in Erding geschehen.


Auch die Partner der Ampelkoalition können sich kaum reinen Herzens über die Entgleisungen des CDU-Chefs aufregen, lassen sie sich in der Flüchtlings- und Asylpolitik doch längst von der AfD vor sich her treiben und setzen deren Parolen zumindest teilweise in Regierungshandeln um. Ehrliche Sorgen machen sich hingegen erzkonservative Journalisten, für die Friedrich Merz lange der neoliberale Hoffnungsträger war.


Merz bleibe in seinen Äußerungen so vage, dass sich der jetzige Kanzler womöglich bei den nächsten Bundestagswahlen wieder durchsetzen könnte, befürchtet beispielsweise Christoph Schwennicke, einst bei Cicero, jetzt bei t-online-news die Edelfeder des rechten Halbbildungsbürgertums. Zu sicher sollte sich Olaf Scholz aber dennoch nicht sein, läuft sich doch in NRW der smarte Hendrik Wüst als potentieller Unionskandidat warm. Und aus dem Land Mordor Bavaria fällt der unheilverkündende Schatten des Sauron-Sohnes Söder erneut über die ganze Republik.
07/2023
Dazu auch:
Ein stiller Genießer und Armselige Moralisten in der Rubrik Helden unserer Zeit







Depp oder Brandstifter?


Im bayerischen Erding sorgt Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler (FW), mit Angriffen auf die Berliner Regierung und grober Rhetorik für bundesweites Aufsehen sowie für Streit mit den anderen Parteien (die AfD ausgenommen). Kritisieren bedeutet für den rauflustigen Niederbayern in erster Linie Pöbelei, Beleidigung und Diffamierung, diesmal aber kam sein rustikaler (Eigeneinschätzung) bis vulgärer (mediale Wahrnehmung) Stil nur beim kleineren Teil der Öffentlichkeit gut an. Beobachter fragen sich, ob dem Viehzüchter Aiwanger sämtliche Gäule durchgegangen sind – oder ob er einer raffinierten Strategie folgt, die weit über den Freistaat hinaus zielt.


Duell der Populisten


Die bayerische Landespolitik wurde über Jahrzehnte von Populisten geprägt, die ihre natürliche Heimat in der nahezu allmächtigen CSU sahen. Auch der heutige Ministerpräsident Markus Söder ist ein Mann von großen Worten und Ankündigungen, denen er selten Taten folgen lässt, der es dennoch schafft, das bajuwarische Mia-san-mia-Gefühl zu bedienen und seine Landsleute gegen Ampel-Koalitionäre in Berlin (der Hauptstadt, in der er allzu gerne selbst regieren würde) aufzuwiegeln.


Dass vorerst die goldenen Jahre der Schwarzen vorbei sind und er sich die Deutungsmacht im Freistaat, aber auch die Gunst der aufgeputschten Massen mit einem Konkurrenten teilen muss, erfuhr Söder schmerzlich vor wenigen Wochen auf dem Erdinger Volksfestplatz: Die Kabarettistin Monika Gruber hatte zu einer Demonstration gegen Habecks Entwurf eines Gebäudeenergiegesetzes aufgerufen, und 13.000 empörte Bürger, darunter viele AfD-Anhänger und Querdenker, kamen.

Eine solche Chance, den Volkszorn gegen die Bundesregierung weiter anzuheizen, mochte sich der Ministerpräsident im Landtagswahlkampf nicht entgehen lassen.


Doch diesmal traf Söder auf härtere Kaliber rechtsradikaler Gesinnung und erntete Buhrufe, während sein Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger mit deftigen bis gefährlichen Sprüchen Beifall einheimste.


So forderte der, dass „die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“, und zitierte damit sinngemäß einen Satz des damaligen AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland aus dem Jahr 2017, der allerdings gleich das ganze Land zurückholen wollte.

Dann versah Aiwanger seinen starken Tobak noch mit einem zünftigen Fäkal-Touch, als er vorgab, was man „denen in Berlin“ sagen müsse: „Ihr habt’s wohl den Arsch offen, da oben.“ Der Menge gefiel es, und Söder musste erkennen, dass die Geister, die er früher selbst rief und anfixte, nach immer stärkerem Stoff gieren.


Die von Stoiber einst propagierte „Oberhoheit über den Stammtischen“ scheint in noch bedenkenlosere Hände gefallen zu sein. Wer, wie der Ministerpräsident in Erding, unter  einem Poster mit der sinnfreien Parole „Stoppt die Heizungsideologie!“ Schauermärchen über die Grünen erzählt, über „zwanghafte Veganisierung und Gendern“ fabuliert und doch das ganz rechte Lager nicht mehr erreicht, muss sich vom Münchner Merkur sagen lassen: „Söder weiß nun: Seine Methode, sein Fähnchen jeden Tag neu in den Wind zu hängen, hat sich erschöpft. Die Buhrufe verwundern nicht.“


Als klarer Sieger ging Hubert Aiwanger aus dem Populisten-Duell hervor, auch wenn sich später die Medien, Politiker der meisten Parteien und selbst Mitglieder seiner Freien Wähler über die Wortwahl und gewisse geistige Verwandtschaften empörten. Fragt sich nur, was der gelernte Agraringenieur mit seiner Krawall-Rhetorik bezweckt, wie er tickt, ob er nur unberechenbar oder auch gefährlich ist.


Huberts Feindbilder


Generationen bayerischer Kabarettisten und Comedians haben sich an Aiwangers zugegebenermaßen etwas gewöhnungsbedürftigem Dialekt abgearbeitet, der ein an sich helles A  wie ein dumpfes O klingen lässt. Besonders gern haben Imitatoren dem je nach politischer Couleur liebevoll oder spöttisch gerufenen Hubsi (Oiwonger) das wohltönende Wort Opfelsoft in den Mund gelegt. Genügt es aber, das Bild eines Politikers, der aneckt und polarisiert, auf eine Karikatur als Dorftrottel zu reduzieren? Etwas Inhalt sollte schon sein, und der in den Medien dokumentierte gibt Anlass zur Besorgnis.


Das Zurückholen der Demokratie (welcher und von wem?) erinnert nicht nur an AfD-Gauland, sondern auch an den Populisten-Champion Donald Trump. Im Stil dieser beiden, die wie er seit Langem zur Politikerkaste und zur Klasse der Bessergestellten gehören, denunziert Aiwanger das eigene Lager und gibt sich als volkstümlicher Rebell gegen Eliten und Amtsinhaber.


Das Aversionsrepertoire des FW-Vorsitzenden ist immens und umfasst u.a. Wölfe, die Grünen an sich, Klima-Aktivisten, queere Menschen, Befürworter des Genderns oder Vegetarier und Veganer. Jeder soll seinen Schweinsbraten und sein Hendl auf dem Teller haben, meint der Großbauer, und in Sachen Waffenbesitz gibt sich Aiwanger als Trump light (denn dieser hatte ganz im Sinn der Waffenlobby Schießeisen für Lehrer empfohlen). Der passionierte Jäger denkt mehr an seine Anhänger unter den Handwerkern, wenn er behauptet: „Bayern und Deutschland wären sicherer, wenn jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer in der Tasche haben dürfte“.


Natürlich agiert Aiwanger taktisch und möchte Stimmen aus dem AfD-Spektrum abgreifen, aber bisweilen offenbart er eine glaubhafte Nähe zu den Querdenkern. So verweigerte er während der Corona-Pandemie lange die Vakzinierung und warnte stattdessen vor einer „Apartheidsdiskussion beim Impfen“ – eine verbale Entgleisung angesichts der langjährigen vom weißen südafrikanischen Regime verantworteten Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit.


Die Freien Wähler werden trotz Aiwangers Propaganda die AfD nicht stoppen können, aber sie eröffnen eine neue rechts-kleinbürgerliche Front gegen längst fällige gesellschaftliche und ökologische Maßnahmen, gegen eine angebliche Verbotskultur. Auf dem Land, in Kreis- und Mittelstädten werden die groben Attacken des FW-Chefs von Bauern, Selbständigen und Gewerbetreibenden durchaus für bare Münze genommen und häufig goutiert. Und das nicht nur in Bayern…


Ein Traum von Berlin


Die Liste der Erfolge, die Hubert Aiwanger vorweisen kann, ist nicht unendlich lang, aber sie ist auch nicht mickrig. Immerhin gelang es den Freien Wählern, sich der CSU als Koalitionspartner aufzudrängen, und vermutlich wird Söder auch im Herbst wieder die kleinere, mehr traditionalistisch geprägte Gruppierung zur Regierungsbildung benötigen. Sein jetziger Regierungsvize ist bereits seit 2006 FW-Landesvorsitzender und wurde 2010 auch zum Bundesvorsitzenden gewählt.

Mittlerweile konnte die Partei in den Landtag von Rheinland-Pfalz einziehen und erreichte bei der Bundestagswahl 2021 immerhin 2,4 Prozent. Einige Gefolgsleute träumten im Vorfeld bereits von einem Vizekanzler und Außenminister Hubert Aiwanger (was sicherlich Panik unter den Synchron-Dolmetschern ausgelöst hätte).


Berlin ist weiterhin Aiwangers Traumziel, dafür hat er auch einige FW-Anhänger, die sich auf den Freistaat beschränken wollten, verprellt. Aber selbst in Bayern liegen nach den meisten Umfragen neben der noch immer mächtigen CSU auch die Grünen und die AfD vor seiner Partei. Dafür hat diese die kränkelnde SPD und die schwindsüchtige FDP hinter sich gelassen.


Dürftiger sieht Aiwangers Erfolgsbilanz als Wirtschaftsminister aus: So verhinderte er den Ausbau von Leitungen, die den in Offshore-Windparks erzeugten Strom in den Süden transportieren sollten. Damals sprach er von „Monstertrassen“, heute wird in München lamentiert, Bayern werde bei Energiezuteilung aus dem Norden vernachlässigt. Den Bau von Windrädern im Freistaat hätte Aiwanger hingegen gern forciert, wurde aber von Söder mit der 10H-Regelung ausgebremst.


Die Ambitionen des FW-Chefs, republikweit eine wichtigere Rolle zu spielen, sind weiter ungebrochen. Dazu benötigt er nationale Aufmerksamkeit, die er notfalls auch durch Verbalinjurien und gedankliche Anleihen bei ausgewiesenen Rechtsradikalen erreichen will. Und es gibt genügend Leute, die ihm zugutehalten, er rede halt, wie ihm der Schnabel gewachsen sei, auch wenn seine Wortwahl nicht eben fein wirke. Vielleicht glaubt Aiwanger, so neben der AfD eine weitere Kraft am immer größer werdenden rechten Rand des Politikspektrums etablieren zu können: weniger ideologisch definiert, dafür eher folkloristisch, schlitzohrig und hemdsärmelig, in jedem Fall aber intolerant…
06/2023
Dazu auch:
System Bayern I und II im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2013)






Dabeisein ist alles


Geld scheint keine Rolle mehr zu spielen, wenn es um die Fähigkeit der Bundeswehr zur Verteidigung (und Intervention) geht. Da wird ein „Sondervermögen“ von hundert Milliarden Euro auf den Weg gebracht, das wohl besser in eine marodes und sozial Schwächere wie Migrationskinder diskriminierendes Bildungssystem investiert würde. Da sollen zwei Prozent des Gegenwerts aller in einem Jahr erbrachten Arbeiten und Leistungen für die Armee abgezweigt werden; und selbst das ist Kriegsminister Pistorius immer noch nicht genug, und er fordert gebetsmühlenartig noch viel mehr. Sehen wir uns jedoch genauer an, wie bisher mit den enormen Summen, die ans Militär flossen, umgegangen wurde, beschleicht uns eine Vorahnung, es werde sich eine gigantische Verschwendung künftig potenzieren.


Fässer ohne Böden


Über die frühen Zeiten des bundesdeutschen Wehrwillens, als die Amtszeit des Verteidigungsministers F. J. Strauß von Affären, Vorteilsnahmen und Skandalen gesäumt war, wollen wir gnädig den Mantel des Schweigens decken. Auch in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren glich der Militärapparat einer unersättlichen Geldvernichtungsmaschine, denn das oft komplizierte Tötungsinstrumentarium, das für etliche Milliarden angeschafft wurde, funktionierte allenfalls bedingt.
Sturmgewehre, die um die Ecke schossen, Schiffe, die nicht schwammen, Panzer, die nicht fuhren, Kampfflieger die nicht abhoben, waren typisch für den Zustand der deutschen Hochrüstung. Da der meiste Schrott aus einheimischer Produktion stammte, geriet sogar das vermeintliche Edellabel Made in Germany pauschal in Verruf.


Wo die Mittel zum Abgreifen offen herumliegen, sind die Blender nicht fern. Unter Ursula von der Leihen, der ersten Dame an der Spitze des Ressorts, übernahmen von ihr gerufene und fürstlich entlohnte Unternehmensberatungen die Regie bei der Beschaffung, ohne dass dadurch auch nur Schutzwesten oder Unterhosen in angemessenem Tempo oder zumindest ausreichender Zahl an die SoldatInnen ausgegeben wurden.


In all diesen Ineffizienz-Löchern und bodenlosen Fässern versickerte so viel Geld, dass man heute auf ein Sondervermögen (von dem niemand weiß, ob es nicht ähnlich verprasst wird) verzichten könnte, hätte man damals ordentlich gewirtschaftet. Doch ein Blick auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr zeigt, dass die ökonomische Unvernunft weiter regieren wird, schon weil dies politisch gewollt ist.


Das olympische Prinzip in Afrika


Man darf nun nicht denken, die gesamten Mittel seien zum Schutz der deutschen Bevölkerung vor existenzieller Bedrohung ausgegeben (und großenteils vergeudet) worden. Tatsächlich fühlen sich die unterschiedlichen Regierungen in Berlin seit geraumer Zeit als geschäftsführende Vorstände einer Mittelmacht, die gerne eine kleine Großmacht sein möchte. Folglich wurde die Bundeswehr überall hingeschickt, um Deutschlands globale „Interessen“ zu wahren: nach Afghanistan, um sich dort in die westliche Verlierer-Koalition einzureihen, oder nach Serbien, um dort an völkerrechtswidrigen Bombardierungen durch die NATO mitzuwirken.


Im nördlichen Afrika aber nimmt das militärische Engagement Deutschlands beinahe skurrile Züge an, nur dass es weder für die dortigen Volksgruppen noch für die hiesigen Steuerzahler etwas zu lachen gibt. Seit 1. Juni zieht die Bundeswehr nun ihre Einheiten aus Mali ab, wo sie über zehn Jahre lang bis zu 1400 Soldaten stationiert hatte. Nach offiziellen Angaben aus Berlin, die aber in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurden, hatte der Einsatz in dem Land der Sahelzone 3,5 Milliarden Euro gekostet.


Französische Truppen hatten 2012 einen Vorstoß von Islamisten und mit ihnen verbündeten Tuareg-Nomaden zurückgeschlagen und damit die schwache Regierung in der Hauptstadt Bamako einstweilen gerettet. Paris war es aber weniger um die Zurückeroberung des Weltkulturerbes Timbuktu als vielmehr um die Uranvorkommen im Norden Malis gegangen. Da Paris die Lasten der Intervention auf mehrere Schultern verteilt sehen wollte, initiierte es ein UN-Mandat für die internationale „Stabilisierungsmission“ MINUSMA, der sich Deutschland sofort anschloss, um „geostrategische Verantwortung“ auf der polit-militärischen Weltbühne zu demonstrieren.


Was geschah in dieser Dekade, die von soldatischem Heldentum geprägt sein sollte, aber wie das Hornberger Schießen endete? In Bamako wechselten sich korrupte Regimes mit Armee-Putschisten an der Spitze ab, die Islamisten gewannen in der Wüste wieder an Boden, und in der östlichen Provinz Gao ließen die dort stationierten Bundeswehrsoldaten „ethnische Säuberungen“ durch Regierungssoldaten zu. Als sich dann die Machthaber in der Hauptstadt die berüchtigte russische Söldnergruppe Wagner ins Land holten, hatten die Franzosen die Schnauze voll und zogen ab. Mit fliegenden Fahnen folgen ihnen nun die deutschen Kontingente ins benachbarte Niger. Das verfügt schließlich über größere Uranressourcen als Mali und wird (noch) von einem Autokraten mit Faible für Westeuropa beherrscht.


Die Bilanz des Bundeswehreinsatzes ist allerdings trostlos: Für viel Geld wurde nichts erreicht. Mali ist so instabil wie zuvor, und nach elf Jahren französisch-deutscher Militärpräsenz übernimmt nun Russland diese strategische Bastion im Nordwesten Afrikas. Es scheint, dass die VerteidigungsministerInnen ihre SoldatInnen nach dem olympischen Motto „Dabeisein ist alles“ in die Wüste geschickt haben.


Der linkische Global Player


Spötter könnten nun anmerken, dass – wäre das Sondervermögen von 100 Milliarden erst zugänglich und gäbe es die massive Unterstützung für die ukrainischen Streitkräfte nicht – die Bundeswehr noch über 30 Interventionen in Afrika zu ähnlichen Preisen (und vermutlich mit ähnlichen Ergebnissen) durchführen könnte. Allerdings gehen ihr zumindest im Norden des Kontinents inzwischen die potentiellen Gaststaaten langsam aus.


Nachdem Burkina Faso die französischen Truppen zum Verlassen aufgefordert hat, sind westliche Soldaten (und der deutsche Botschafter) auch im Tschad inzwischen personae non gratae. Der Einfluss, den sich Berlin dort erträumt hat, scheint Moskau und Peking zuzufallen. Deren ebenfalls eigenützige Motive kennt man in Afrika noch nicht so genau wie die Begehrlichkeiten von EU und NATO.


Dank Putins Überfall auf die Ukraine werden militärische Unternehmungen hierzulande nicht mehr kritisiert, nicht von den Medien, nicht von sozialdemokratischen und erst recht nicht von grünen Politikern, mögen die Ausgaben auch noch so überdimensioniert und die Ziele völlig unrealistisch sein. Die so gewährte Narrenfreiheit nutzt die Regierung, um sich weiter als Global Player zu inszenieren. Auch wenn alle Versuche sehr linkisch wirken und die Erfolge auf dem Feld von Strategie und Taktik ausbleiben, wird es akzeptiert, dass riesige Felder wie Pflege, Bildung oder öffentliche Mobilität, die auf Steuergelder angewiesen sind, zu dürren Brachen verkommen, während die Rüstungsfirmen aus der Schmuddelecke geholt und zu National Heroes gekürt werden.
06/2023
Dazu auch:
Universal Soldiers im Archiv der Rubrik Medien (2022)
Die Lehren von Kabul im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)







Ein stiller Genießer


Man kann der gegenwärtigen Bundesregierung nicht unbedingt Tatkraft und Durchsetzungswillen attestieren, aber einen hohen Unterhaltungswert darf man ihr schon zubilligen. Da bleiben die großen Reformvorhaben in Sachen Verkehrswende, Klimapolitik, Steuergerechtigkeit etc. reihenweise auf der Strecke, doch zuvor wird lautstark und in Slapstick-Manier über den rechten Weg gestritten, als wollten die Koalitionäre Shakespeares Intrigantenkomödie „Viel Lärm um nichts“ in neuer Besetzung aufführen. Im Zuschauerraum jedoch lehnt sich ein Herr, der früher als aufdringlicher Prahlhans galt, still vor sich hin lächelnd zurück: Oppositionsführer Friedrich Merz.


Hauptsache darüber geredet


In der Ampelregierung geht das so: Grüne und SPD wollen die Raserei auf Autobahnen einhegen, die FDP ist dagegen; steht so nicht im Koalitionsvertrag, gibt sie zu bedenken. Die Grünen wollen mehr Geld für die Schiene, die FDP will mehr Kohle für noch mehr Autobahnkilometer – das rechtsgerichtete SPD-Zünglein von Olaf Scholz neigt sich den Liberalen zu. Alle Ministerien sollen auf ihrem Sektor Klimaziele einhalten, FDP-Verkehrsminister Volker Wissing hat das verschwitzt (obwohl es im Koalitionsvertrag steht), worauf die Sozialdemokratie geflissentlich mithilft, das Dekret zu entschärfen. Und alle drei Parteien wollen (zumindest rhetorisch) die Umwelt vor fossilen Emissionen schützen, errichten aber überdimensionale Terminals zur Einfuhr von doppelt schädlichem Fracking-Gas in sensiblen Küstenregionen. Zu allem Überdruss demonstrierte Herr Habeck gerade, dass auch er etwas von Vetternwirtschaft versteht. Dies sind nur einige Eisbergspitzen im trüben Gewässer der Ampel-Agenda.


Auf die Berliner Koalition lässt sich ein uralter Sozialpädagogen-Witz, leicht verändert, anwenden: „Wir haben zwar nichts geschafft. Aber gut, dass wir darüber geredet haben.“ Der ganze aufgeregte Aktionismus hat bisher meistenteils zu einem „Weiter so!“, in einigen Fällen sogar zu einem „Schlimmer noch!“ geführt. Bremst die FDP nicht, blockiert die SPD oder verrennen sich die Grünen in wenig praktikable und sozial unausgewogene Scheinlösungen.


Was soll da eine Opposition groß attackieren? Die Regierung besorgt ihre Bloßstellung höchstselbst, die Union begnügt sich mit der Rolle des amüsierten Publikums. Damit der deutsche Wähler nicht glaubt, die Schwarzen seien eingenickt, gibt der von chronischer Logorrhoe geplagte Rechtspopulist Markus Söder von der bayerischen Sektion beinahe täglich eine scharfe Koalitionsschelte von sich, anlässlich der er seine eigenen früheren Positionen (etwa den Umweltschutz oder den Atomausstieg betreffend) höchst flexibel durch ihre exakten Gegenpole ersetzt. Wenig indes hört man vom CDU-Vorsitzenden, der doch Kanzler werden möchte…


Er sät nicht, erntet aber womöglich


Offenbar hat Friedrich Merz gemerkt, dass er sich als vorlauter Großkotz, der die Steuererklärung dem Bierfilz anzupassen versprach und sich als Multimillionär in falscher Bescheidenheit dem Mittelstand zurechnete, im Volk nicht sonderlich viele Freunde gefunden hat. Also demonstriert er jetzt vornehme Zurückhaltung und lässt die Regierung sein Geschäft besorgen.


Merz versucht derweil, seinem Image mitmenschliche Züge zu verpassen. Während der Osterfeiertage leistete er eine Frühschicht auf der Intensivstation eines Krankenhauses im heimatlichen Hochsauerland ab. Ob manche Patienten bei seinem Auftritt gedacht haben, er prüfe im Auftrag seines früheren Arbeitgebers, des Finanzgiganten Blackrock, die Option, die Klinik samt Inhalt zu verhökern, oder ältere Bettlägerige gar fürchteten, zum sozialverträglichen Ableben delegiert zu werden, ist nicht bekannt. Wir aber vermuten wohlwollend, dass der Samaritereinsatz des Oppositionsführers aus rein humanitären Gründen erfolgte.


Nur manchmal noch poltert er wie früher, etwa wenn er auf Veranstaltungen im Osten der Republik Knaben mit Migrationshintergrund als „kleine Paschas“ diffamiert, meist aber sondert er Kreide ab, erklärt den „Klimaschutz zur zentralen Aufgabe der CDU“ und grenzt sich ein wenig von der AfD ab. Natürlich schimpft er auch manchmal über die Ampelkoalition.


Wenn er sich um den kleinen Mann sorgt, der bei Habecks tatsächlich erratischen Heizungsplänen finanziell zu stark belastet würde, könnte man fast vergessen, dass er als deutscher Statthalter des weltgrößten Vermögensverwalters und Investors einst mit dafür verantwortlich war, dass Firmen wegen der Rendite der Blackrock-Anleger Arbeiter entlassen mussten.


Ansonsten hält sich Merz an die Vogelkunde von Matthäus im Neuen Testament. Er sät nicht, weder Ideen noch Lösungsvorschläge, er erntet nicht, zumindest keine harsche Kritik, und er wird doch ernährt, zwar nicht von Gott wie das biblische Federvieh, dafür aber von der Ampel, die ihm täglich neues Futter liefert. Aber reicht das, um Kanzler zu werden?


Auch der Voyeur lebt gefährlich


Friedrich Merz lehnt sich also bequem im Sessel zurück und beobachtet vergnügt die Versuche der rot-grün-gelben Mitbewerber, irgendetwas mal richtig hinzukriegen, deren Scheitern ihm Auftrieb in der Wählergunst verschafft. Beliebt ist er aber immer noch nicht, wie jüngste Meinungsumfragen belegen.


Er sollte sich vorsehen, denn Konkurrenz droht aus dem eigenen Lager. Markus Söder hat, von der Presse befragt, einen weiteren Anlauf als Kanzlerkandidat der Union kategorisch ausgeschlossen, sein Platz sei in Bayern. Die frohe Botschaft  hört man wohl, allein es fehlt der Glaube. Wenn man bedenkt, dass der Bayer bei fast allen wichtigen Themen nach ein bis drei Jahren eine 180-Grad-Wendung vollzog, kann man seine Antwort auch als Kandidatenbewerbung verstehen.


Der CDU-Vorsitzende würde die Herausforderung gelassen hinnehmen, auch wenn fraglich ist, ob staatsmännische Coolness gegen die Machinationen des raffinierten Söder ausreicht. Aber wenigstens weiß Friedrich Merz ja, wie Verlieren geht.
05/2023
Dazu auch:
Merz zeigt es Trump (2021) und Bote aus dem Jenseits (2018) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit






Ausgeleugnet…?


Verschwörungstheorien und Realitätsbeugung haben – so heißt es jedenfalls – ein langes Leben. Insofern verwundert es ein wenig, dass sie beinahe spurlos aus der Öffentlichkeit verschwunden sind, die Leugner des Klimawandels. Nur FDP-Minister halten noch verschämt deren Fähnlein hoch, allerdings nicht mit lautem Getöse, sondern eher durch fleißiges Sabotieren aller Umweltprojekte. Was aber ist mit den Schreiern passiert, die jedes Zehntelgrad der Erderwärmung Gott und der Welt zuschrieben, nicht aber dem Menschen, also sich selbst. Sind sie alle plötzlich klüger geworden?


Eiskaltes Wetter – Klima zu warm


Der oberste Leugner des Klimawandels,  Donald Trump, pflegte sich stets köstlich zu amüsieren, wenn Schneestürme über die Prärien des US-Mittelwestens tobten oder selbst an Kaliforniens Sonnenstränden das Thermometer Minusgrade anzeigte. „Soll das etwa die Erderwärmung sein?“ wandte er sich dann feixend an sein gläubiges Publikum. In Deutschland verwechseln ebenfalls bis heute viele den aktuellen Wettercharakter, der von kurzfristigen Phänomenen wie Tiefdruck oder Niederschlag bestimmt wird, mit den über Dekaden, Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende reichenden Inhalten der Klimaforschung.


Auch in der tropischen Wüste kann es regnen, in der Arktis warm werden, doch waren solche Ausreißer normalerweise nicht signifikant für die Beobachtung langer Zeiträume. Mittlerweile aber verdichten sich die einstigen Ausnahmesituationen zu Perioden, die einen globalen Klimawandel nahelegen, und Forscher führen diese Veränderungen, die demnächst weite Teile der Erde unbewohnbar zu machen drohen, auf das emsige Treiben des Menschen zurück.


„Quatsch!“ sagten die Skeptiker auch hierzulande. Wetterkapriolen habe es immer schon gegeben, und längere Ausnahmeperioden, etwa Dürre oder „kleine Eiszeiten“, seien bereits vor Jahrhunderten beobachtet worden, mit dem menschlichen Fußabdruck auf Erden habe das nichts zu tun. In den letzten Jahren wurden jedoch solche Stimmen leiser und weniger – allerdings nicht, weil die Erkenntnisse der Forscher akzeptiert worden wären, sondern weil die Einschläge der Klimaveränderung häufiger sowie folgenreicher wurden und geografisch immer näher kamen.


Forschung nur, wenn sie zur Meinung passt


Die meisten langjährigen Ignoranten der menschgemachten Erderwärmung entstammen dem rechten Lager von FDP bis AfD und befürworten längere Laufzeiten für Atomkraftwerke. Sie berufen sich bei ihrem Festhalten an einer (erwiesen) gefährlichen Art der Energiegewinnung gern auf die schrumpfende Gruppe von Wissenschaftlern, die latente Risiken der Nukleartechnik (von äußerer Gewalteinwirkung über menschliches Versagen, Material- und Prozessfehler bis zur ungeklärten Entsorgung) nonchalant totschweigen. Wenn aber die überwältigende Mehrheit der Klimaforscher davor warnt, dass der Mensch seine Industrie- und Mobilitätsgepflogenheiten ändern muss, um sich seinen Planeten als Heimat zu erhalten, stößt sie auf taube Ohren.


Dabei hat das, was Wissenschaftler im Auftrag der Vereinten Nationen ermittelt haben, enorme Brisanz und müsste Politik sowie Wirtschaft zu sofortigem Handeln veranlassen: Das IPCC, ein internationales Gremium von Forschern zur Untersuchung des Klimawandels, veröffentlichte u. a. ein Diagramm, das zeigt, dass sich in den letzten 2000 Jahren die globale Oberflächentemperatur im Durchschnitt kaum verändert hat – mit Ausnahme des Zeitraums von 1850 (Beginn der intensiven Industrialisierung) bis heute. In dieser relativ kurzen Spanne stieg die Durchschnittstemperatur um fast 1,5 Grad Celsius. Ein zweites Diagramm beleuchtet die Entwicklung in den letzten 150 Jahren näher. Nach einem zunächst gemächlichen Anstieg kam es ab etwa 1960 zu einem rasanten Temperaturanstieg, dessen Tempo bis heute zunimmt.


Die Wissenschaftler eruierten auch, dass natürliche Antriebsfaktoren (vor allem Sonnen- und Vulkanaktivitäten) gerade einmal 20 Prozent einer Temperaturänderung ausmachen, 80 Prozent hingegen sind Menschenwerk, wobei Kohlendioxid vor Methan als wichtigstes Treibmittel fungiert. Diese Ergebnisse lassen keine Ausreden und Alibi-Modelle mehr zu. Was homo sapiens an Zerstörerischem in die Welt gesetzt hat, muss er auch selbst wieder abstellen, und zwar zügig.


Learnung by Suffering


Natürlich haben sich die Leugner des Klimawandels nicht durch den UN-Bericht von ihrer Meinung abbringen lassen, schließlich lesen sie so etwas gar nicht. Zudem sind für sie die Vereinten Nationen ein Quasselhaufen und Instrument der Willensdurchsetzung für mächtige Nationen, was ja manchmal nicht ganz unrichtig ist. Dabei wird allerdings vergessen, dass in den Unterorganisationen wie UNESCO, UNICEF, WHO etc. zum Teil hervorragende Arbeit geleistet wird, dass Wissenschaftler von Weltrang mit der Erstellung von Analysen beauftragt werden.


Nein, die einst so lautstarken Ignoranten haben schlicht erleben oder zumindest registrieren müssen, dass in ihren Urlaubsregionen Wassermangel herrscht, dass sie im Winter nur auf grünen Almen Ski fahren könnten, dass Flüsse immer gewaltiger über die begradigten Ufer treten oder dass die Wälder in der Umgebung ohne Gegenmaßnahmen bald wie Ansammlungen von Telegrafenstangen aussehen werden. Es war kein Learning by Doing, das diese (Maul)Helden unserer Zeit, zum Verschwinden von der öffentlichen Bühne bewegte, auch keine durch Infos erworbene Einsicht – es waren das immer unmittelbarer spürbare Leiden an einer kaputten Umwelt und eine erdrückende Faktenlage, die keine relativierenden Ausflüchte mehr zuließ.


Noch eine besonders reizende Gruppe von Helden ist jäh verstummt. Oder haben Sie vielleicht in letzter Zeit jemanden über das Einpflanzen von Mikrochips per Corona-Impfung klagen hören? Aber hier ist es vielleicht nicht zu einer Meinungsänderung gekommen, vielmehr verstecken sich diese Verschwörungstheoretiker vermutlich vor uns geimpften, also im Dienste von Bill Gates stehenden Zombies.
04/2023
Dazu auch:
Klassenprimus? und Krieg gegen die Natur im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (beides 2021)







Grüner Schlussverkauf


Sale! Alles muss raus! Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe! Dieses oder Ähnliches künden allerorten Schilder in den Innenstädten und Einzelhandelszentren. So könnte es auch vor der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin prangen, denn die Partei trennt sich derzeit von den letzten Resten ihrer Glaubwürdigkeit, leert die Archive des Aufbruchs und verramscht Überzeugungen, Prinzipien sowie die Inhalte einer inzwischen verleugneten Vergangenheit. Schnäppchen sind dabei allerdings nicht zu machen, denn nach den sogenannten grün-gelb-roten Koalitionsgesprächen blieben nur noch Scherben und Fetzen übrig. Robert Habeck & Co werden von ihren „Regierungspartnern“ zunehmend der Lächerlichkeit preisgegeben.


Das Klima kann warten


Nach den Marathonverhandlungen, die den Kurs der Republik in eine ökologisch und sozial verträglichere Zukunft weisen sollten, schrieb Alexander Neubacher, gewöhnlich ein unheilbarer Marktoptimist, im SPIEGEL: „Und in der Ampelregierung stehen Klimaschutzminister Robert Habeck und die Grünen da wie gerupfte Hühner.“ Tendenziell richtig beobachtet, allerdings haben die VertreterInnen, anders als das Federvieh, nicht versucht, sich der Zwangsentblößung durch Schnabelhiebe oder Flucht quer über den Hof zu entziehen, sondern nur gegackert.


Wie die FAZ berichtete, hatten Kanzler Scholz und Wirtschaftsminister Lindner mit offensichtlich abgesprochenen Impulsreferaten zu Beginn den „ergebnisoffenen“ Gesprächen die Richtung gewiesen und die Grünen überrumpelt. Und diese begaben sich – zwar ungern, aber letztendlich gehorsam – auf den langen Marsch zurück in eine Umweltpolitik, die lediglich kosmetische Akzente setzt und so eine Feigenblattfunktion erfüllt, statt den ökologischen Wandel durch systemische Änderungen einzuleiten.


Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) kommentierte das kollektive Versagen der Ampel drastisch, aber durchaus zutreffend: „FDP und SPD wollen gemeinsam Klimaschutz verhindern und die GRÜNEN können oder wollen nicht dafür kämpfen. Erneut zeigt sich, wer in Deutschland die Grundzüge der Politik festlegt – es sind die großen Industriekonzerne mit ihren Wirtschaftsinteressen.“


Das am 24.06.2021 (Das genaue Datum ist wichtig, wie wir sehen werden!) vom Bundestag beschlossene Klimaschutzgesetz hatte das Minderungsziel für Treibhausgase (vor allem CO2) auf ein Minus von 65 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 angehoben. Jährlich sollten in den verschiedenen Sektoren, von der Landwirtschaft über den Verkehr bis hin zur Energiewirtschaft, die Einsparungen überprüft werden. Es war die FDP, die jetzt mit Unterstützung des neoliberalen Kanzlers im SPD-Mäntelchen das Gesetz kastrierte. Die Ziele werden „entschärft“, die Sektoren, für die jeweils ein Ministerium verantwortlich zeichnete, lösen sich in eine breiige Gesamtmasse auf, die jährliche Kontrolle fällt flach. Ziele, die man reißen würde, werden so auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben, Klima und Natur können warten.


Verkehrsminister Wissing, der jegliche Bemühungen gegen den Klimawandel durch engagiertes Nichtstun sabotierte, reüssiert auf breiter Front: So sollen 144 Autobahnprojekte beschleunigt durchgesetzt werden, während der dringend notwendige Bahnausbau in die ferne Zukunft entschwindet. Als Trostpflaster fließt ein wenig LKW-Maut an die DB, die aber mit diesen 5 Milliarden Euro höchstens ein bis zwei Jahre an ihrem Gigantomanie-Irrsinn Stuttgart 21 weiterbauen oder ein paar Tausend marode Schwellen sanieren kann. Und natürlich wird es kein Tempolimit auf Autobahnen geben. Mithilfe der SPD haben die Liberalen die Vorfahrt freier SUV-Bürger bei gleichzeitigem Stopp für den ÖPV durchgesetzt.


Vorwärts Genossen, wir wollen zurück!


Als das ZDF Robert Habeck auf das peinliche Nachgeben seiner Partei anspricht, offenbart der einstige Hoffnungsträger ein bemerkenswertes Gemisch aus Euphemismus, Realitätsferne und Masochismus: „Aber selbst wenn es so wäre, dass die Grünen nachgegeben hätten, was ich an vielen Stellen anders bewerten würde, selbst, wenn es so wäre, wäre das so schlimm? … Ist es nicht vielmehr so, dass irgendjemand mal einen halben Schritt auf die anderen zugehen müsste? Und ist es nicht vielmehr so, dass man vielleicht sogar fast stolz darauf sein kann, dass wir die Kraft haben, eine Regierung wieder mit zum Arbeiten zu bringen?“


Wäre im Mittelalter der ehemalige Öko-Rebell Robert Habeck anstelle des grünen Outlaws Robin Hood gewesen, hätte er sich dem Sheriff Lindner von Nottingham ergeben und wäre sogar ein bisschen stolz darauf gewesen, dass dieser nun ohne den Widerstand der Geächteten seine Arbeit wieder hätte aufnehmen und die Axt an den Sherwood Forest legen können. Heutzutage nennt man einen solchen Opportunisten Realo.


Es ist müßig, nur auf die Grünen zu schimpfen, und die Rolle, die Olaf Scholz und seine Partei bei der „Klima-Kapitulation“ (Kampagnen-Plattform Campact) gespielt haben, zu vernachlässigen. Irgendwie dienen die Sozialdemokraten den Grünen als historisches und aktuelles Vorbild. Seit ihrer Gründung sprang die SPD als sozialistischer Tiger, um als Schmusekätzchen auf dem Schoß des Großbürgertums zu landen – ob es sich 1914 um die Bewilligung der Kriegskredite, 1919 um den Pakt des Genossen Noske mit rechtsradikalen Junkern und Militärs zur Niederschlagung der Arbeiterunruhen oder 2002 um die Ablehnung der Vermögenssteuer durch Gerhard Schröder handelte.


Unter Olaf Scholz aber schaffte die SPD etwas Einmaliges: Auf seine Initiative hin wurde nun das von der Union und ihr selbst 2019 in der Großen Koalition durchgesetzte und im Juni 2021 verschärfte sowie konkretisierte Klimaschutzgesetz zu Makulatur. Der „Kanzler für den Klimaschutz“ (Scholzens Eigenlob im Wahlkampf) verfügt zur Freude der Liberalen und zur Verzweiflung der wenigen ernsthaften Grünen in den jüngsten Verhandlungen die völlige Verwässerung des eigenen Gesetzes. Die Sektorenziele (s. o.) sollen zwar weiterhin erreicht werden, aber der genaue Beitrag (oder das Versagen) der einzelnen Ressorts wird nicht mehr überprüft. Für das – im wahrsten Sinne des Wortes – todsichere Scheitern aller hochfliegenden Pläne und Intentionen kann dann niemand zur Verantwortung gezogen werden. „Ego te absolvo, Volker“, sprach der beste und einzige FDP-Kanzler, den es je gab, zu seinem Verkehrsminister Wissing.


Nun war Olaf Scholz schon immer dem Kapital mehr zugetan als irgendwelchen Arbeitertraditionen seiner Partei, in seinem Faible für die große Wirtschaft ähnelt er dem CDU-Kontrahenten Friedrich Merz. Nur kann er es vor allem mit dem hanseatischen Geldadel, während der Unionist Favorit der US-Investoren ist. In den Liberalen sieht Scholz die natürlichen Verbündeten für seinen Rechtskurs, zumal die Grünen von gelegentlichen ökologischen Anwandlungen heimgesucht werden. Trotz Unmuts in Teilen der SPD hat Scholz keine Rebellion zu befürchten, während Merz es in seiner Partei mit Andreas Jung oder Norbert Röttgen, die dem Kanzler die „Aufweichung“ des Klimaschutzgesetzes vorwerfen, zu tun hätte, würde er einen ähnlichen Kahlschlag riskieren. Der Lindner-FDP, für die Umwelt eine Spielwiese des „freien“ Marktes darstellt, beweist der Hamburger so, dass er im Grunde der bessere Merz ist.


Bis zur Selbstaufgabe taktieren?


Manche hoffen jetzt, dass die „Reform“ des Klimaschutzgesetzes, mit der gemäß dem Wissenschaftler Niklas Höhne die Ampel „eines der wirksamsten Instrumente der Klimapolitikgestaltung abschafft“, vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wird. Den Grünen wurden indes für ihre selbstmörderische Zustimmung zwei Zuckerl hingeworfen, die sich bei näherem Hinsehen als Giftköder entpuppen.


Die Umrüstung der deutschen Haushalte von fossiler zu nachhaltiger Energie, von Öl- oder Gasheizung zu Wärmepumpen, die schon längst beschlossen war, wurde nicht wie so vieles Wichtigeres bei den Verhandlungen nachträglich gekippt. Vermutlich wollen SPD und FDP Habeck nochmals ins Messer laufen lassen, denn so sinnvoll das Primat erneuerbarer Ressourcen in der Wärmegewinnung auch sein mag, so schlecht vorbereitet ist die Umsetzung, so viele Fallgruben pflastern den Weg. In den Fachfirmen sind Tausende Stellen für Heizungsinstallateure unbesetzt, und für die vorhandenen Mitarbeiter gibt es zu wenige einschlägige Fortbildungen. Es fehlt an Geräten wie Ersatzteilen, und die Wärmepumpen benötigen so viel (sauberen) Strom, dass Stadtvierteln, in denen zeitgleich PKW-Batterien aufgeladen werden, regelmäßig der Blackout droht. Da auch viele Haus- und Wohnungseigentümer zu hohe Kosten fürchten und nach Ausnahmeregelungen suchen werden, ist die Blamage für Habeck & Co vorprogrammiert.


Geradezu lächerlich nimmt sich ein weiteres Zugeständnis an die Grünen aus. Im am dichtesten versiegelten Flächenstaat Europas wird Umweltfrevler Wissing nun beschleunigt 850 Kilometer neuer Autobahntrassen durch die Landschaft schlagen lassen. Links und rechts dürfen dann Windräder und Solarpaneele platziert werden, die insgesamt dürftige fünf Gigawatt erbringen sollen. Das mutet an, als wolle man mit Alleebäumen an den Rändern neuer Großflughäfen das Klima retten.


Die Frage ist nicht mehr, ob sich die Grünen von ihren „Partnern“ demütigen lassen, sondern lediglich, wie weit nach unten es mit der Erniedrigung noch geht. Eitle HohlsprecherInnen wie Habeck oder Baerbock scheinen so sehr von der eigenen Bedeutung überzeugt, dass sie sich auf jede neoliberale umweltfeindliche Zumutung einlassen, nur um die eigenen Posten zu retten. Diese Koalition unter solchen Prämissen fortzusetzen, hat etwas von Selbstaufgabe. Petra Kelly, Hans-Christian Ströbele und etliche verblichene Öko-Aktivisten der ersten Stunde müssen diese Situation zum Glück nicht mehr miterleben.
04/2023
Dazu auch:
Grünes Atom-Faible im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)






Lust auf Abstieg


Parteien und Politiker klammern sich an die Macht, selbst wenn ihnen jede Legitimation dazu abgesprochen wird - so geht jedenfalls Volkes Meinung. In Berlin allerdings gibt eine Sozialdemokratin, die sich zuvor gegen allgemeine Skepsis die Chefposition im eigenen Haufen und das oberste Amt der Hauptstadt gesichert hat, den Anspruch auf die Führung der Regierungsmehrheit mit rätselhafter Begründung auf. Ist es das Symptom einer in der SPD nicht seltenen Links-Allergie? Steht ihr generell die schwarze Reaktion näher als rot-grünes Gewusel? Werden wir Franziska Giffeys Motive je korrekt deuten und ihre Genossen in ihrem Hang zur Selbstaufgabe irgendwann verstehen können? Ein Versuch ohne viel Hoffnung:


Qualifikationen einer Kandidatin


Spätestens seit dem Schwank um den uns sehr teuren Hauptstadtflughafen BER mutmaßten wir Provinz-Deutschen, dass sich der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit einst mit der Klassifizierung der Kapitale als „arm, aber sexy“ vertan haben musste, dass „arm und gaga“ zielführender gewesen wäre. Zumindest die Berliner SPD beweist uns auch heute, dass Unvernunft und Wahnwitz rund um das Rote Rathaus grassieren.


Ohne Not dienen die Genossen, gedrängt von ihrer First Lady, die lokale Macht dem CDU-Vorsitzenden Kai Wegner an, der selbst in den eigenen schwarzen Reihen nicht immer als lupenreiner Demokrat wahrgenommen wird. So warf Mario Czaja, inzwischen immerhin Generalsekretär der Bundes-Union, Wegner einen „riskanten Rechtskurs“ sowie ideologische Nähe zu Hans-Georg Maaßen, dem Ex-Verfassungsschutzchef und völkischen Populisten, vor.


Franziska Giffey, die als Spitzenkandidatin die Januar-Wahl für die SPD krachend versemmelt hatte, stört dies nicht weiter, gehört sie doch selbst der rechten Mehrheit ihrer Partei an und schlug als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln einen strikten Law-and-Order-Kurs ein. Dass sie sich in einer Koalition mit der Linken und den in der Hauptstadt relativ aufmüpfigen Grünen nicht wohlfühlen würde, war schon vor der Wahl 2021 klar. So muss es wohl eine gewisse Untergangssehnsucht gewesen sein, die den Sozialdemokraten nahegelegt hatte, Giffey für das Spitzenamt zu nominieren, zumal sich die ehrgeizige Dame damals bereits deutlich auf dem absteigenden Ast befand.


Als sie 2021 bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus, die jetzt wegen Spreeathener Pfuschs wiederholt wurde, antrat, galt sie nämlich außerhalb Berlins bereits als untragbar. Den Job als Bundesfamilienministerin, den sie 2018 im Kabinett Merkel übernommen hatte, musste sie aufgeben, weil ihr der Doktortitel aberkannt worden war – die Quellen, die sie abschrieb, zitierte sie nicht, und die angegebenen hatte sie ignoriert.

Was man aber den Restdeutschen nicht zumuten wollte, nämlich eine Politikerin, die beim Täuschen und Tricksen ertappt worden war, in einem Amt mit hoher Verantwortung, schien den Genossen für Berlin gut genug. (Man stelle sich nur das Gelächter vor, hätte der gegelte Freiherr zu Guttenberg, ebenfalls des exzessiven Kopierens überführt, nach seinem Rücktritt als Bundesverteidigungsminister Anspruch auf das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten angemeldet!)


Im Bund mit dem Wahlsiegerlein


Die gefallene Doktorin war bei dem später für ungültig erklärten Stimmgang von 2021 mit 21,4 Prozent der Stimmen noch einmal 0,2 Prozent unter dem Ergebnis von 2016 geblieben, bis dato das schlechteste Resultat der SPD. In der Wiederholungswahl vom Februar dieses Jahres schaffte sie es, ihre Partei um weitere drei Prozent herunterzufahren. Da sich aber die Verluste der Linken und der Grünen in Grenzen hielten, wäre die Koalition immer noch auf eine stabile Regierungsmehrheit im Abgeordnetenhaus gekommen: Mit 90 von 159 Sitzen gegenüber der CDU (52) und der AfD (17) hätte sie bequem weiterregieren können.


Insofern klangen die Beteuerungen Wegners, die Union habe die Wahl gewonnen und müsse deshalb jetzt die Regierung bilden, zunächst ein wenig absurd, zumal kein möglicher Bündnispartner in Sicht schien. Aber der CDU-Spitzenkandidat hatte wohl klammheimlich auf Franziska Giffey gesetzt, die den Selbstzerstörungsmechanismus der SPD in Gang setzte und sich ihm als Junior-Gehilfin anbot. Natürlich tobten die Jusos, selbstverständlich lehnten Bezirksverbände wie Neukölln (ihr eigner!) oder Steglitz-Zehlendorf die Mesalliance ab. Aber nachdem der Berliner Landesvorstand seiner Katastrophenkandidatin mit Zweidrittelmehrheit das Placet erteilt hatte, in Verhandlungen zur Bildung einer Rechtsaußen-Koalition einzutreten, war es wie immer in der SPD: Nach kurzem Tumult kuscht die Partei und schluckt die nächste Kröte.


Rätselhaft bleibt nur das Motiv für Giffeys Fahnenflucht. War sie beleidigt, weil die Wähler ihr illustres Wirken nicht gebührend honoriert hatten? Wollte sie – nachdem die Sozialdemokraten lediglich eine Handvoll Stimmen vor den Grünen lagen – künftige Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe vermeiden? Ist sie masochistisch veranlagt, oder fühlt sie sich politisch in Stegers Umarmung besser aufgehoben als im ständigen Disput mit Rot und Grün?


Ab jetzt schwarze Inhalte


Schließlich teilt sie weitgehend die Ansichten des rechten CDU-Randes, wenn es um die Abschiebung von Flüchtlingen nach Afghanistan und Syrien geht, und hält die grundgesetzliche Lyrik vom Eigentum, das verpflichten soll, von der Enteignung als legitimem Mitteln sozialer Korrektur für Gotteslästerung.


So begierig auf die bescheidene Teilnahme an einer rechten Stadtregierung war sie, dass sie nicht müde wurde, ihre Partei zu warnen, die neuen CDU-Freunde könnten auch mit den Grünen koalieren. Diese zeigen sich allerdings in ihrer Berliner Version als erstaunlich prinzipienfest, während sie doch im Bund – wie auch die Genossen – bisweilen an Lemminge erinnern, die ihrer Führung nachstürzen, wie tödlich der Kurs auch sein mag.


Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um der Berliner SPD ein Dahindämmern an der Seite der Union, die ihre Inhalte gnadenlos gegenüber dem geschwächten Sozius durchsetzen wird, sowie den weiteren Abstieg in der Wählergunst zu prognostizieren. Die Genossen sollten sich der mahnenden Beispiele einst stolzer Schwesterparteien erinnern, die jäh von den Regierungssitzen in die Anonymität von Splittergruppen verbannt wurden – etwa die PASOK in Griechenland oder die französischen Sozialisten…
03/2023
Dazu auch:
Die frohe Botschaft im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2018)






Solidargemeinheit


Kein Amt in der Bundesrepublik kann auf eine derart lange Reihe merkwürdiger Inhaber zurückblicken wie das des obersten Kriegsherren bzw. der maßgeblichen Kriegsdame. Im Verteidigungsministerium gab es mal Einen, der selbst Waffen schmuggelte und bei Panzer-Deals mitverdiente, aber überall Landesverrat witterte (Franz Josef Strauß), dann wieder Einen, der unsere glorreiche Demokratie zwischen den Gipfeln des Hindukusch bedroht sah (Peter Struck). Eine vertraute die deutsche Wehrhaftigkeit privaten Unternehmensberatern an (Ursula von der Leyen), und eine Weitere nutzte den Ukraine-Kriegs vornehmlich zum Schließen interessanter Bekanntschaften (Christine Lambrecht). Jetzt aber haben wir Einen, der bereits vom ersten Tag an (zumindest rhetorisch) loslegt wie Blücher.


Der neue Meister der Attacke


Angesichts der Verfehlungen, skurrilen Verhaltensweisen und weltfremden Einschätzungen, die sich deutsche VerteidigungsministerInnen im Laufe der Jahrzehnte leisteten, drängt sich die Frage auf: Waren die von Geburt an schon so, oder hat sie erst ihr Amt so geformt? Ein Blick auf den Neuen, Boris Pistorius, der bislang eine eher unauffällige, lediglich ab und zu von Ehrgeizausbrüchen begleitete Polit-Karriere durchlief, lässt die Vermutung zu, dass der Posten als Truppendirigent Kräfte in einem Menschen freisetzen kann, die man am liebsten wieder eingefangen sehen würde.


Bei dem einem klassisch-sozialdemokratischen Elternhaus entsprungenen Osnabrücker, dessen Äußeres frappierend an den uns sympathischsten (da erfolglosesten) Christdemokraten Armin Laschet erinnert, wies kaum etwas darauf hin, dass er dereinst den wilden Kerl in der NATO geben würde. Zwar hatte Pistorius brav seinen Grundwehrdienst absolviert, doch widmete er sich danach höchst zivil der Juristenlaufbahn, eher ihn 2013 sein Parteifreund, der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil, als Innenminister in seine Regierung holte. Das blieb Pistorius auch nach den nächsten zwei Landtagswahlen, und man durfte davon ausgehen, dass er dieses Ressort nur mit den Stiefeln voran verlassen würde.


Doch plötzlich blitzten 2019 die Ambitionen des ewigen Innenministers auf und trieben ihn dazu, im Duo mit der Kollegin Petra Köpping für den vakanten SPD-Vorsitz zu kandidieren, womit beide aber krachend scheiterten. Ein anderer rechtsgewirkter Genosse fiel ebenfalls durch – allerdings erst in der Stichwahl: Olaf Scholz. Als sich unlängst seine Verteidigungsministerin Lambrecht lächerlich machte, fiel dem mittlerweile zum Bundeskanzler gereiften Hanseaten ein alter, wenn auch leicht abgewandelter Sinnspruch ein: „Verlierer aller Parteien - vereinigt euch!“ und so berief Scholz den glücklosen Niedersachsen zum Verteidigungsminister.


Bis dato war Boris Pistorius (wenn überhaupt) nur dadurch aufgefallen, dass er sich beim von ihm favorisierten, aber vom Bundesverfassungsgericht abgelehnten NPD-Verbot verkalkuliert hatte, was ihn nicht davon abhielt, danach das Gleiche für Antifa-Gruppierungen zu fordern. Auch plädierte er für einen „freundschaftlich-kritischen“ Umgang mit Russland und riet von Wirtschaftssanktionen ab. Dann aber überfiel Putin die Ukraine, und Pistorius wandelte sich vom entspannten Saulus zum wütenden Paulus. Die Russen sollten ihn kennenlernen, schwor er sich und stieg, kaum im neuen Amt, in den derzeitig grassierenden Überbietungswettbewerb der Aufrüstung ohne Ziel und Ende ein.


Sparen durch Umerziehung?


Jahrelang hatte sich die SPD geweigert, der an alle NATO-Staaten gerichteten US-Forderung, die Militärausgaben um zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, nachzukommen. Solche enormen Summen wurden anderweitig benötigt, etwa zur Rettung maroder Banken, zur Milderung der Corona-Krise, zu Hilfen für die von Energiekonzernen existenziell bedrohten Bürger oder – als vager Ausblick – für Korrekturen einer bodenlosen Sozial-, Gesundheits- und Pflegepolitik.
Jetzt aber gilt die Zurückhaltung nicht mehr, Pistorius drohte bereits damit, er werde „alle Anstrengungen unternehmen“, über das Ziel von zwei Prozent hinauszugehen. So wäre der Sozialdemokrat über Nacht zum Darling der Rüstungsindustrie und der Administration in Washington avanciert, hätten nicht die maßlosen Polen angekündigt, sie würden ihre Kriegsausgaben auf fünf Prozent steigern.


Beinahe gleichzeitig dachte der umtriebige Pistorius laut über die Einführung einer „allgemeinen Dienstpflicht“ für seine jungen Landsleute nach. Dies könnte nicht nur eine zumindest teilweise Revision der Wehrpflichtaussetzung, die sein Vorgänger Guttenberg verfügt hatte, bedeuten, sondern auch den Einsatz in allen möglichen Bereichen der Daseinsfürsorge, für die der Staat zuständig ist, aber kein Geld übrig hat, weil er ja u. a. die Rüstungsindustrie bedienen muss. Die Idee ist nicht neu, vor allem konservative Sozialdemokraten liebäugelten bereits früher mit einem allgemeinen Junioren-Arbeitseinsatz an der Heimatfront, so etwa Heinz Kühn, der bis 1978 NRW-Ministerpräsident war.


Um die junge Generation verbal nicht allzu sehr zu brüskieren, versucht sich Pistorius im Doppelzungenschlag der freundlichen Beschwichtigung und des sinnfreien Plädoyers: Er sei „zurückhaltend“, den jungen Leuten, die sowieso schon eine schwierige Zukunft vor sich hätten, „jetzt mal eben so eine allgemeine Dienstpflicht aufzubürden“. Etwas zurückhaltend im Ton, aber fest entschlossen in der Sache. Denn anschließend begründet der Minister die unsozialen Maßnahmen, die er für gut hält, mit unangenehmen Randerscheinungen, die mit der Sache eigentlich nichts zu tun haben.


„In den vergangenen Monaten ist der Eindruck entstanden, dass manche nicht die nötige Wertschätzung für Feuerwehr und Rotes Kreuz, Polizei und Bundeswehr aufbringen. Die allgemeine Dienstpflicht könnte helfen, die Menschen und die staatlichen Organisationen wieder ein Stück näher zusammenzubringen.“ Dabei denkt er sowohl an die Armee als auch an den sozialen Bereich.


Geht’s verlogener (oder verblödeter)? Wer die Bundeswehr und ihre fruchtlosen Auslandseinsätze ablehnt, darf künftig mit dem Schnellfeuergewehr im Arm seine Meinung überdenken. Wer sich bislang gegenüber den Rettungsdiensten ignorant oder respektlos verhalten hat, soll demnächst Einsätze im Sanka zwecks Lebensrettung unbekannter Unfallopfer fahren. Wer die Niederungen der Klassengesellschaft hinsichtlich Schulbildung und Lebenschancen hautnah erfahren hat, wird dazu verpflichtet, ein Jahr lang auf der Pflegestation oder im Altenheim Nächstenliebe zu praktizieren.

Unser vernachlässigtes Gesundheitssystem soll finanzielle Rettung durch unvorbereitete Amateure erfahren? Misanthropen in die Kinderkrippen und Pyromanen zur Freiwilligen Feuerwehr?


Selbst wenn man des Ministers unsinnige Begründung außer Acht lässt, bleibt der Verdacht, dass die Solidargemeinschaft beschworen wird, um nötige Ausgaben zu vermeiden, tatsächlich aber eine die junge Generation treffende Solidargemeinheit ausgeheckt wird. In allen relevanten gesellschaftlichen Versorgungsbereichen, von der Kinderkrippe bis zum Pflegeheim sind die Mittel knapp, vor allem wenn es um die Ausbildung, den Personalschlüssel oder eine gerechte Vergütung der Beschäftigten geht. Das Steueraufkommen, ohnehin ungerecht ermittelt, fließt ab in überdimensionierte Projekte wie den Bau neuer Autobahnen, Subventionen für Agrarindustrielle oder die Aufrüstung einer überforderten Bundeswehr. In der Konsequenz sollen nun die jungen Menschen, deren Lebensperspektiven sich gerade recht düster ausnehmen, die durch Hybris, Dummheit oder Raffgier der „Verantwortlichen“ entstandenen Lücken im sozialen Gefüge ausfüllen und eine Zeitlang für lau arbeiten.


Lobbyisten bald überflüssig?


Da würden Menschen per Gesetz zur Dienstleistung verpflichtet, denen eigentlich der Staat als Schuldner verpflichtet wäre, weil er ihnen eine auskömmliche Zukunft und eine vernünftige Familienplanung verbaut hat. Wer heute das Hotel Mama anführt, weil junge Leute bis weit in ihre zwanziger Jahre noch bei den Eltern wohnen, sollte lieber fragen, wer es so weit hat kommen lassen, dass in etlichen Städten die Mieten für Normalverdienende (egal, ob Singles oder Paare) am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn nicht mehr erschwinglich sind, ganz zu schweigen vom Traum früherer Jahre, dem Erwerb von Wohneigentum.

Und dann soll der Wettlauf gegen eine sich am Horizont abzeichnende Altersarmut noch durch ein soziales Jahr oder einige Monate fruchtlosen Hantierens an der Waffe unterbrochen werden?


Zudem darf man davon ausgehen, dass den Sprösslingen aus privilegierten Familien – wie schon in vergangenen Wehrpflichtzeiten -  genügend Optionen offenstehen, dem Dienst am Vaterland zu entgehen. Wer es sich leisten könnte, dem Vaterland auf die eine oder andere Weise für wenig Lohn zu dienen, mag meistens nicht, während der sich in schwieriger Finanzsituation befindliche Berufsanfänger eigentlich keine Zeit auf dem Weg zu einer auskömmlichen Position verlieren sollte. Gerade das Greenhorn aber würde der Staat aus dem Arbeitsmarkt wegverpflichten.


Boris Pistorius präsentiert sich in seinen ersten Tagen im Kriegsministerium als Mann des Systems von rechtem Schrot(t) und Korn. Weil ihm das „Sondervermögen“ von hundert Milliarden für seine Armee zu knapp bemessen erscheint, möchte er seinen Etat nochmals um zehn Milliarden pro Jahr aufstocken lassen. Nur hat er Schwierigkeiten, das Geld überhaupt loszuwerden. Es gibt derzeit gar nicht so viele Patronen, Granaten, funktionstüchtige Panzer und Geschütze, wie er kaufen und auf das Schlachtfeld schicken möchte.


Also ist unser ranghöchster Militarist selbst initiativ geworden – und hat damit unabsichtlich die Axt an eine Säule unseres Systems gelegt. Für uns galt es als normales Procedere, dass Lobbyisten der Rüstungsindustrie im Verteidigungsministerium antichambrierten und Minister dazu überredeten, doch bitte so viel Kriegsgerät wie möglich zu exorbitanten Preisen zu kaufen, damit es den Vorständen und Managern der Vernichtungsfabrikation so gut, wie es sie nötig dünkt, ginge.


Pistorius aber machte die eifrigen Klinkenputzer überflüssig. Er klopfte höchstpersönlich an die Pforte des Rüstungsgiganten Rheinmetall in Unterlüß und bat erfolgreich den Vorstandsvorsitzenden Armin Papperger, die Produktion weiter anzukurbeln, auf dass Deutschlands Militär die todbringenden Friedensgrüße und den Anteilseignern der Waffenschmiede die Extra-Profite nie ausgehen mögen. Die Wirtschaft fühlt sich hauchzart umschmeichelt, aber was wird aus den arbeitslosen Lobbyisten?
02/2023
Dazu auch:

Mutter der Beratung im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2019)






Profis ohne Schimmer


„Glücklich ist, wer vergisst!“ Diese Hymne operettenseliger Realitätsferne würden von Gedächtnisverlust Betroffene wohl nur selten anstimmen wollen. Sie leiden eher unter den Folgen chronischer Vergesslichkeit, deren Ursachen häufig in Demenz, Parkinson, Tumoren oder Alkoholismus im Spätstadium zu suchen sind. Einige professionelle Akteure in öffentlich exponierter Stellung gehen allerdings recht gelassen damit um, keinen blassen Schimmer mehr zu haben. Dass ihnen wesentliche Erinnerungen abgehen, ist vermutlich auf ein bisher von der Medizin sträflich vernachlässigtes Syndrom zurückzuführen: Politik.


Wie du mir, so ich dir


Im August vorigen Jahres durchsuchten FBI-Beamte Donald Trumps Anwesen Mar-o-Lago in Florida und beschlagnahmten 325 Dokumente, darunter 60 Akten, die als „streng geheim“ klassifiziert wurden. Der Ex-Präsident hatte offenbar gleich zwei Vorschriften vergessen: Einerseits müssen offiziöse Aufzeichnungen im Büro verbleiben, darf sich der Herr im Oval Office also keine Arbeit nach Hause mitnehmen; zum andern hat er am Ende seiner Amtszeit alle relevanten Schriftstücke dem US-Nationalarchiv auszuhändigen.


Warum der bekannt lesefaule Trump jede Menge Schreibkram in seiner Villa hortete, bleibt einstweilen im Dunkeln. Sein Nachfolger Joseph Biden spottete jedenfalls schon mal ausgelassen, der Republikaner sei ein „komplett Verantwortungsloser“. Nur drei Monate später gefror dem aktuellen Präsidenten allerdings das süffisante Grinsen auf den greisen Zügen.


Am 2. November 2022 entdecken Joe Bidens Rechtsanwälte streng vertrauliche Dokumente aus seiner Zeit als Vizepräsident unter Obama und zuvor als Senator in einem Schließfach des von ihm kuratierten Penn-Biden-Center in Washington. Vermutlich, weil die Midterm-Wahlen für den Kongress unmittelbar bevorstehen, erblickt diese Nachricht erst am 9. Januar dieses Jahres das Licht der Öffentlichkeit. Einen Tag später zeigt sich der Präsident „überrascht“ über den Fund.


Doch dies sollte nicht der letzte Beweis für seine offenkundige Vergesslichkeit bleiben: Weitere zwei Tage später tauchen vertrauliche Unterlagen in Bidens Residenz in Wilmington, Delaware, auf – zum Teil in die Garage verräumt. Als schließlich das FBI am 21. Januar das Anwesen durchsucht, konfiszieren die Agenten noch einmal sechs geheime Dokumente. All diese Akten enthielten diskrete Infos u. a. zum Iran, zu Großbritannien und der Ukraine, wo Bidens Sohn Hunter, ein Wirtschaftslobbyist, sinistre Geschäfte getätigt hat.


„Biedermann Joseph, der unseren formidablen Heiland Donald wegen dessen archivarischen Eifers verhöhnt, ist selbst ein Brandstifter!“ Was lachten jetzt die Republikaner, vergaßen dabei aber, dass, wer mit nacktem Zeigefinger auf einen Menschen deutet, zugleich mit drei anderen Fingern auf sich selber weist. Inzwischen hat es nämlich auch Trumps Vizepräsidenten Mike Pence erwischt, der geheime Schriftstücke daheim in Indiana gehortet hatte.


Man kann davon ausgehen, dass die drei ehrenwerten, aber mit kurzem Gedächtnis geschlagenen Herren Trump, Biden und Pence für die nächsten Präsidentschaftswahlen kandidieren werden – wenn sie den Anmeldetermin nicht vergessen.


Wer regiert, vergisst völlig ungeniert


Deutschland, du hast es besser, möchte man wohlig seufzen, aber dann würde sich der Rest der Welt vor Häme kringeln. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“, hatte einst Konrad Adenauer, erster Kanzler der Bundesrepublik, erklärt. Wenn man in jüngster Vergangenheit etwas Falsches, Unbedachtes, Gefährliches oder gar eine Lüge von sich gegeben hat, sollte einen das (be)kümmern, sogar stören und genieren, falls man Wert auf persönliche Integrität legt. Die Politik aber scheint zu bewirken, dass die Protagonisten einfach verdrängen und vergessen oder zumindest einiges vergessen machen wollen.


Der neunte Bundeskanzler Olaf Scholz wiederum ist höchst versiert in der Kunst, Unappetitliches in der Versenkung verschwinden zu lassen. Assistiert wird er bei diesem Zaubertrick von seinem Gedächtnis, dem partout nicht präsent ist, was sein Besitzer als Hamburger Bürgermeister wohl beim Fünf-Uhr-Tee mit dubiosen Bankiers zum Thema „Steuerrückzahlung“ besprochen hat. Schon vorher war dem früheren Bundesfinanzminister glatt entfallen, dass er eigentlich für das Stopfen illegaler Schlupflöcher und die Mehrung des Volksvermögens zuständig war, stattdessen sah er mit typisch hanseatischer Zurückhaltung Cum-Ex-Geschäften zu, die den Staat Milliarden kosteten.


Regieren scheint den mnemonischen Fähigkeiten besonders zuzusetzen, wie das Beispiel der Grünen belegt: Da verkehren sich biblische Strenge gegen die Rüstungsindustrie, ein kategorisches Nein zu Braunkohle-Abbau und Nuklearenergie oder das beinahe fanatische Bekenntnis zu „werteorientierter Außenpolitik“ jeweils ins pure Gegenteil. Weil sie, erst mal in Amt und Würden, ihre Anfänge kollektiv vergessen haben…


Wohnungen? Ja, wo sind sie denn?


Auch dem Vollmundigsten unter Deutschlands Spitzenpolitikern, Markus Söder, scheinen schlichte Fakten, ja sogar eigene feierliche Versprechungen des Öfteren geistig abhanden zu kommen. Als bayerischer Finanzminister hatte er 2013 – angeblich auf Druck der EU (was nicht stimmte) - 33.000 Sozialwohnungen, die sich im Besitz der staatlichen Gesellschaft GBW befanden,  an den Augsburger Immobilienkonzern Patrizia verkauft. Als bayerischer Ministerpräsident stellte Söder wenig später fest, dass bezahlbarer Wohnraum fehle, gründete 2018 die staatliche Wohnbaugesellschaft „Bayernheim“ und gab als Devise aus: „Bauen, bauen, bauen!“


Bis 2025 wollte der CSU-Chef, Regierungsdompteur und Ankündigungsweltmeister in Personalunion 10.000 neue Wohnungen errichten lassen. Das ist zwar nicht einmal ein Drittel der von ihm verscherbelten Behausungen, aber wir wollen nicht kleinlich sein – der gute Wille zählt. Allerdings macht uns das Zwischenergebnis des Sieben-Jahre-Planes stutzig: Fünfmal zwölf Monate sind seit dessen Anlaufen ins Land gegangen, und im Bayerheim-Bestand befinden sich 234 neu erstellte Wohneinheiten. Selbst wenn man 522 weitere, an denen noch gewerkelt wird, hinzurechnet, kommt man nur auf eine Planerfüllung von gut 7,5 Prozent.


Bedeutet dies nun, dass in den noch verbleibenden zwei Jahren über 9000 erschwingliche Wohnungen hingeklotzt werden? Eher nicht. Man darf vermuten, dass Markus Söder sein Versprechen, das er 2018 so publikumswirksam hinausposaunt hatte, und der rhetorische Ausreißer, mit dem er 2019 das Thema Wohnen zur „zentralen sozialen Frage“ erklärte, längst nicht mehr erinnerlich sind, haben beide Luftnummern doch schon seit geraumer Zeit ihre tagespolitische Schuldigkeit getan.


Natürlich könnte sich das bodenlose Versagen heuer rächen, nämlich bei den bayerischen Landtagswahlen im Herbst. Aber als begnadeter Populist weiß Söder genau, dass nicht nur das Gedächtnis der Herrschenden, sondern auch das des Volkes lückenhaft bis leergefegt zu sein pflegt. Denn genau das ist ja das Glück der Scholzens, Trumps und Bidens, dass die Wähler ähnlich vergesslich sind wie sie. Insofern hat die Operette, in diesem Fall „Die Fledermaus“, doch recht mit ihren seichten Binsenweisheiten.
02/2023
Dazu auch:
Berliner Panoptikum im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)
Söderdämmerung im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)






Robert Wendehals
Cartoon: Rainer Hachfeld


Mehr und mehr wird Vizekanzler Habeck zum Gesicht der gescheiterten Energiewende, der Feigheit vor dem liberalen Koalitionsfeind, der dubiosen Konzernnähe oder des Einknickens vor despotischen Ölscheichs und so weiter. Kann sich so viel Unterschiedliches auf einem einzigen Gesicht widerspiegeln, wird der Leser verwirrt fragen. Eigentlich nicht, aber der nette Robert hat viele Gesichter, denn er ist auch Kinderbuchautor und kennt sich in der Märchenwelt aus. Dort verwandelt sich ein Frosch in einen Prinzen, und der garstige Wicht Zwergnase mutiert zu einem Meisterkoch. Solche physischen Metamorphosen durchläuft Habeck zwar nicht, dafür tauscht er Überzeugungen sowie Grundsätze in magischer Geschwindigkeit aus, lässt rote Öko-Linien durch Zauberkraft verschwinden, und wird so zu dem Antlitz der heutigen Grünen.


Lützerath: Robert und die Symbole


Da reißt der Energiekonzern RWE den Weiler Lützerath nieder, um eine toxische Ressource aus dem hierzulande ohnehin knapp werdenden Bauernland zu baggern, sorgt dafür, dass die deutschen Klimaziele in noch weitere Ferne entschwinden – und die Bundesregierung lässt sich vorführen wie ein Tanzbär am Nasenring der Wirtschaft. Statt den Artikel 14 des Grundgesetzes (der dekretiert, dass Eigentum verpflichtet und Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ zulässig ist) zu bemühen und das umweltschädigende Treiben sofort zu stoppen, schließt sie einen Kompromiss mit dem Unternehmen, das nach Expertenmeinung die Braunkohle von Lützerath ohnehin nicht mehr gebraucht hätte: RWE darf die ländliche Idylle zerstören, dafür verzichtet der zweitgrößte Energieversorger der Republik darauf, andere Ortschaften plattzumachen und steigt ein bisschen früher aus der Förderung des Umweltdrecks aus, die ihm schon lange hätte untersagt werden müssen.


Während die arrivierten Ökos mit grünem Parteibuch und politischer Funktion den „Kompromiss“ feiern und sich staatstragend geben, kämpfen vorwiegend junge Ökos, nicht von Kalkül, sondern von Verantwortung und Verzweiflung geleitet, gegen die neuerliche Vernichtung eines einigermaßen naturverträglichen Ambientes. Der Widerstand von Lützerath darf somit als Symbol dafür gewertet werden, dass künftige Schweinereien nicht geräuschlos vor sich gehen werden.


Aus schlechtem Gewissen, reflexartigem Rechtfertigungsdrang, oder einfach, weil er glaubt, zu allem etwas sagen zu müssen, plappert da Robert Habeck ins Mikro: „Die leergezogene Siedlung Lützerath, wo keiner mehr wohnt, ist aus meiner Sicht das falsche Symbol." Gegen Umweltfrevel zu protestieren, noch dazu, nachdem die Grünen in der Bundesregierung brav das tabula-rasa-Procedere der Vorgänger abgenickt haben, ist selbstverständlich in deren Augen ein schiefes Zeichen. Und mit Symbolen kennt die einstige Öko-Partei sich aus. Nach ihrer aufopferungsvollen Regierungsarbeit steht die Farbe Grün im politischen Spektrum mittlerweile sinnbildlich u. a. für: Verschleppung der Klimaziele; faktische Negierung einer werteorientierten Außenpolitik; Duldung der schleichenden Atomkraft-Renaissance; Fortsetzung einer inhumanen Flüchtlingspolitik (ukrainische Hilfesuchende ausgenommen); „Pflugscharen zu Schwertern!“; internationale Handelsabkommen zum Frommen der Konzerne etc.


Das Gute propagieren, das Schlechte tun


Robert Habeck kommuniziert die Wandlung der Parlamentsgrünen von weltrettenden Paulussen zu systemerhaltenden Saulussen ganz allein an vorderster Front, schon weil seine kongeniale Mitstreiterin Annalena Baerbock meist in der Welt unterwegs ist, um deutsche Werte (etwas zerfleddert, aber in schöne Worthülsen verpackt) unter die Völker zu bringen. Und seit er Wirtschaftsminister sein darf, hat er – um in seinem flapsigen Jargon zu bleiben – die Wirtschaft ganz arg lieb.


Da kann es im Eifer des pro-kapitalistischen Gefechts schon mal vorkommen, dass bei der Minderung der sanktionsbedingten Einbußen von Staats wegen in erster Linie die Unternehmen, und darunter auch diejenigen Energiekonzerne, die sich antizyklisch gerade eine goldene Nase verdienen, bedacht werden, ehe die Oma in der zugigen Altbauwohnung drankommt.


Wer die einheimische Produktion und den Export ohne Rücksicht auf Verluste fördert, kommt natürlich nicht an der Rüstungsindustrie vorbei. Und Robert, der einst Friedensbewegte, räumt dieser Branche die Ausfuhrhindernisse diensteifrig aus dem Weg, etwa in die Militärdiktatur Ägypten oder in arabische Despotien, auch wenn diese Geschäftspartner gerade den Jemen kurz und klein bomben.


Nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz (über solch sperriges Deutsch rümpft der lässige Jugendschriftsteller nur die Nase) dürften Militärgüter made in Germany  nicht an Länder, die in bewaffnete Konflikt
e verwickelt sind, geliefert werden, doch für die Genehmigung ist der neunköpfige Bundessicherheitsrat zuständig, der geheim tagt und keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Da trifft es sich gut, dass Habeck als Wirtschaftsminister federführendes Mitglied des diskreten Gremiums ist. Und der Mann, der früher die Rüstungsexporte ins Ausland stoppen wollte, macht sich jetzt nach einer seiner vielen Kehrtwenden um die Todesindustrie verdient. Jedenfalls gehen die Aktien des größten deutschen Kriegsausstatters Rheinmetall derzeit durch die Decke.


Dem guten Onkel glauben


Robert mit den volatilen Meinungen, seidenweichen Standpunkten und vergänglichen Idealen wirkt durchaus sympathisch. Seine sonore Stimme ähnelt der des populistischen Comedy-Reaktionärs Dieter Nuhr, die Diktion ist ein wenig tapsig und unbeholfen und kann gerade deshalb leicht für ehrlich gehalten werden. Er überfordert sein Publikum nicht mit allzu fundierten Aussagen, sondern gibt sich empathisch wie ein guter Onkel. Grüne Kinder seien dennoch davor gewarnt, ihm in sein Haus zu folgen, wo der Krake Opportunismus für die rechte Ordnung sorgt.


Wie viele linke Jusos haben wir nicht zu rechten Funktionären degenerieren sehen, wie viele grüne Aktivisten nicht zu bedenkenlosen Verteidigern des Status quo? Aber keine/r hat auf der Achterbahnfahrt in die bürgerlich-konservative Ecke die Rechtskurve so ansatzlos und derart rasend schnell gekratzt wie unser Robert Habeck.


„Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du  mich dreimal verleugnen“, sprach Jesus den Aposteln Markus und Matthäus gemäß zu seinem Jünger Petrus, auf den sich seltsamerweise bis heute die katholischen Päpste berufen. Da kann der Heiland ja heute noch froh sein, dass er nicht Habeck an seiner Seite hatte. Ehe das Federvieh auch nur einmal den Schnabel aufgemacht hätte, wäre Jesus von Robert bereits ein Dutzend Mal aus Gründen der Staatsraison verpetzt worden.
01/2023
Dazu auch:
Hochsaison für Heuchler im Archiv von Politik und Abgrund (2022)







Jahr der Irrtümer


Hatten sich schon die Jahre davor als wüste Gesellen, die Pandemie, bewaffnete Konflikte und mediale Massenhysterie mit sich brachten, präsentiert, so schlug 2022 dem globalen Fass endgültig den Boden aus: Gerade erst halbwegs Corona entronnen, mussten die Menschen hierzulande den Beginn des ersten großen Krieges in Europa seit drei Generationen registrieren und fanden sich inmitten einer Inflation von ungeahntem Ausmaß wieder. Die altbekannten Übel wie Hunger, Armut sowie Ungerechtigkeit hatten die letzten zwölf Monate natürlich auch noch im Programm. Überdeutlich aber zeigte das verflossene Jahr auf, dass die Katastrophenmelange nicht gottgewollt war, sondern ihre destruktive Kraft großteils aus Irrtümern von Verantwortlichen, die Heldenstatus anstrebten, bezog.


Doch nicht so beliebt…


Etliche gravierende Fehleinschätzungen leistete sich der bis dato weltweit zwar als berechnend, aber auch als pragmatisch und clever eingeschätzte Wladimir Putin in Moskau: Weil in der Ukraine viele Menschen leben, die von klein auf Russisch sprechen, ging er davon aus, dass sich diese als seine Landsleute fühlten und die Soldaten, die er über die Grenze schickte, als Befreier begrüßen würden. Zwar hatte die Regierung in Kiew erst kurz zuvor dem Idiom Tolstois und Turgenjews den Status der zweiten Staatssprache abgesprochen, doch trotz dieses Affronts wurden die „Brüder“ von jenseits der Grenze von den russischsprachigen Ukrainern überwiegend als Eindringlinge abgelehnt.


Die im östlichen Nachbarimperium weit verbreitete Korruption erfuhren die Russischstämmigen auch in der Ukraine selbst, doch lebt es sich ohne Renaissance archaischer Moralvorstellungen und düsterer Großmachtphantasien offenbar doch angenehmer, zudem man die eigenen Oligarchen bereits kennt, die kremlnahen aber eher nicht. Wie das Glied einer Kette fügte sich Putins zweiter Irrtum an diesen Nationalitäten-Fauxpas. Es genügte einfach nicht, einen Eroberungsfeldzug als „begrenzte Spezialoperation“ auszugeben und eine relativ bescheidene Streitmacht im Nachbarland aufmarschieren zu lassen – die Unterstützung für Kiew und die Kampfkraft der ukrainischen Armee waren einfach zu groß.


Dass die Einberufung von Reservisten sowie die Entsendung unvorbereiteter Truppen an die Front bislang wenig bis keinen Erfolg zeitigten, gehörte zu den handwerklichen Fehlern. Die Bombardierungen des kürzlich erst wieder einseitig zum russischen Territorium deklarierten Cherson allerdings offenbaren Putins schräges Verhältnis zu Anspruch, Maß und Ziel, legt er so doch sein geliebtes heimgeholtes Vaterland nun selbst in Schutt und Asche.


Weitere irrlichternde HeldInnen


Es stünde wohl noch viel schlechter um die großrussischen Pläne der Herren in Moskau, würde die Gegenseite nicht ähnlich wirr, nämlich opportunistisch, konzeptlos und machtgierig im Wechselspiel, agieren. So hat es die NATO nicht geschafft, durch umfassende Sanktionen die Wirtschaft der Okkupationsmacht zu schwächen. Für viele Staaten des Westens war es bequem, relativ verlässlich und preisgünstig an Lieferungen fossiler Brennstoffe aus dem Riesenland im Osten zu kommen. Für Putin wiederum schien es kommod, lukrativen Handel mit dem Feind zu treiben und einen Trumpf für erpresserische Spiele in der Hinterhand zu haben.


Beides ging schief. Aber während die Staaten der EU wie Bettler an der Haustür der berüchtigtsten Despoten klopften, um ihre Energielücken zu füllen, konnte Russland den Stoff der Begierde an andere Staaten rund um

den Erdball losschlagen. Dass sich Putin dabei in die Abhängigkeit von Großkunden wie China oder Indien, die künftig die Preise diktieren, begeben musste, stört ihn nicht. Noch nicht, denn die Folgen werden erst in einiger Zeit zu spüren sein.


Dass auch andere Helden und Heldinnen von trauriger Gestalt das Multi-Krisenjahr 2022 bevölkerten, zeigte sich aber an dieser neuen Konstellation: Wirtschaftsminister Robert Habeck klapperte nicht nur Schurkenstaaten wie Qatar und Saudi-Arabien auf der Suche nach den ungeliebten Fossil-Rohstoffen ab, er kaufte auch „ganz viel“ russisches Erdöl, allerdings vom neuen Zwischenhändler und Profiteur Indien.


Überhaupt scheint vor allem den Grünen-Politikern das Gedächtnis abhanden gekommen zu sein, waren Baerbock und Habeck, die vormaligen FriedensfreundInnen, doch so lieb zur deutschen Rüstungsindustrie, dass diese sich die Spesen für ihre Lobbyisten eigentlich sparen könnte. Wäre es nach den beiden gegangen, gäbe es heute in der Ukraine wegen der Kampfpanzer-Schwemme kaum mehr Parkplätze.


Aber auch so gelangten Todeswerkszeuge im Wert von 2,24 Milliarden Euro ins Kriegsgebiet, was allerdings angesichts der Waffenexporte von insgesamt 8,35 Milliarden beinahe knauserig wirkte. Der Löwenanteil wurde nämlich in andere Konfliktgebiete, u. a. an Diktaturen wie Ägypten und Saudi-Arabien, verdealt. Und so nickte der Wirtschaftsminister das zweitgrößte Ausfuhrvolumen für Kriegsgüter in der BRD-Geschichte nach 2021 ab. Beteiligt am Rekord war auch damals, unter Kanzlerin Merkel, die Heldenriege der SPD.


Den Vogel (im eigenen Kopf?) schoss allerdings Außenministerin Annalena Baerbock ab, die in der frühen Phase von Putins Invasion die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine, somit den direkten Crash zwischen NATO und Russland, forderte. Also eigentlich den Dritten Weltkrieg. Inzwischen lässt man die Vorlaute lieber im Sand spielen, wo sie nach der Pleite von Mali die Bundeswehr grade in ein neues Abenteuer in Niger schickt.


Auch in China platzte der Lack der Unfehlbarkeit ein wenig ab vom großen KP-Vorsitzenden Xi Jinping. Erst lässt er beträchtliche Teile des Volkes im Zuge seiner Null-Covid-Politik isolieren und zu Hause einsperren. Als aber dann die Menschen zu meutern beginnen, hebt er in einer rasanten Kehrtwendung alle Vorsichtsmaßnahmen auf und riskiert, dass sich wegen null Durchseuchung möglicherweise bis zu 20 Prozent der Bevölkerung mit Corona infizieren.


Geht voran, wir folgen nicht!


Gerade zu putzig nahmen sich indes die Versuche der Bundesregierung aus, in allen möglichen globalen Daseinsfragen die geistig-moralische Führerschaft zu beanspruchen. Obwohl die Ampel-Koalition in nur zwölf Monaten die zarten Pflänzchen einer verantwortungsvollen Klima- wie Umweltpolitik zertreten hat und keines ihrer Öko-Ziele erreichen wird, plärrt sie lauthals, der Rest der Welt möge doch bitteschön ihrem Beispiel folgen.


Zusammen mit EU und NATO redet die Bundesregierung den Schwellenländern und Drittwelt-Staaten ins Gewissen, auch sie müssten Russland boykottieren und isolieren. Die meisten der Adressaten hegen keine Sympathien für Putins Überfall, wie sich in der UN-Vollversammlung erwies, doch sie können sich noch gut an die vergangenen Taten der westlichen Mentoren erinnern und lassen sich ihre Handelsbeziehungen nicht mehr vorschreiben. So konterten die fünf wichtigsten

Schwellenländer sinngemäß, warum denn die Sanktionen für die Massaker in Vietnam, im Irak oder in Libyen oder für die blutigen, von der CIA inszenierten Militärputsche in Lateinamerika ausgeblieben seien. Die Mitglieder der „Allianz der Gutwilligen“ bleiben offenbar zunehmend unter sich, Zulauf ist nicht in Sicht.


Einen kleinen, feinen Höhepunkt der globalen Odyssee bildete der Eiertanz um die Fußball-WM in Qatar. Das Emirat hatte sich das Turnier ebenso redlich durch Bestechung erkauft wie Deutschland das 2006. Dass dieses arabische Staatsgebilde aus Neoliberalismus und Sklavenhaltergesellschaft die Arbeitsmigranten, die eine Traumkulisse erbauten, unmenschlich behandelte, interessierte jahrelang niemanden. Als aber einige um ihr Image besorgte Europäer glaubten, der Intoleranz in Doha die Regenbogenfarben zeigen zu müssen, genügte die bloße Androhung einer Gelben Karte, um die Wackeren von diesem Tun abzubringen. Zu diesem Zeitpunkt war Qatar ohnehin schon längst durch Robert Habecks Kotau vor den Erdgasreserven rehabilitiert worden.


Übrigens hielten die meisten Deutschen zu Beginn des Jahres 2022 ihre Fußball-Nationalmannschaft noch für ein Weltklasse-Team…
01/2023






2022



Zauber des Orients


Was ist nicht alles geschrieben, gesagt und lamentiert worden über die Fußball-WM in Qatar, die derzeit vor sich hin stolpert (mittlerweile allerdings ohne deutsches Mittun)? Doch bei aller Kritik, Relativierung oder Verleugnung der seltsamen Umstände, die der Ausrichtung des größten Ritterturniers unserer Zeit vorausgingen, wurde glatt unterschlagen, dass sich Übernatürliches ereignet hat, dass die Hand magischer Mächte im Spiel war - leider nicht nur segensreicher. Und dass abendländisches Maulheldentum seinen großen Auftritt hatte…


Prunkstätten als Werk von Geistern?


Wie durch ein Wunder wurde 2010 dem Emirat Qatar, einem Wüstenfleck am Persischen Golf, die Ausrichtung des Wettbewerbs der besten einen Ball tretenden Männer dieses Planeten übertragen, auf dass diese die beste Riege unter sich ermittelten. Die Stimmen der wahlberechtigten Weisen aus aller Welt, in ihrer Gesamtheit als FIFA bekannt, flogen dem kleinen Gottesfürstenstaat zu, erhebliche  Geldsummen machten sich auf den umgekehrten Weg. Und nun erlebte man eine Fantasia, mehr noch, es begann, phantastisch zu werden.


Über Nacht (vielleicht auch tausendundeine Nacht) entstanden in der Einöde riesige Sportarenen, die prunkvollen Palästen ähnelten, und Hotels, die den Turm zu Babel wie eine Litfaßsäule aussehen ließen. Den Idolen der Kicker-Internationale und ihren Verehrern sollte es an nichts fehlen (außer Bier). Alle glaubten zunächst an eine Fata Morgana, und dann, als sie erkannten, dass es sich um Gebilde aus Beton und Glas (und wie sich bald herausstellen sollte, auch aus Blut) handelte, an das Geisterwerk mächtiger Dschinns, die – von Emir Hamad al Thani zum Gehorsam gezwungen – die Gebäude in Windeseile hochgezogen hätten.


Und in der Tat hatte sich der schlaue Wüstenherrscher schon bei der Vergabe des Turniers die Hilfe eines mächtigen Zauberers mit dem denkwürdigen Namen Blatter (wie Pocke) gesichert, dessen Geschäftssinn als ansteckend galt. Doch dann wurde dieser durch den noch potenteren Kollegen Gianni Infantino ersetzt. Auch der war Eidgenosse, stammte folglich aus dem Land, in dem sich wirklich alles, vom Sklavenblut bis zum Drogenerlös, diskret in Gold verwandelt. Dieser Infantino gab vor dem WM-Start eine Kostprobe seines immensen Könnens, als er vor ratlosen Zuschauern in Gestalt eines Schwulen, dann eines Qataris und schließlich eines Behinderten auftrat.


Triumph des bösen Zauberers


Aber einige Realisten im Publikum erklärten, sie hätten nur eine Schmierenkomödie des immer gleichen Gianni miterlebt, und erinnerten daran, dass es im Zauberreich auch die schwarze Magie gäbe und die Figur des bösen Hexers in der Märchenwelt nicht gerade selten vorkomme. Da fiel es vielen wie Schuppen von den Augen: Nicht Dschinns hatten die Superstadien errichtet, sondern Hunderttausende von südasiatischen Arbeitsimmigranten im besten, leistungsfähigen Alter, von denen laut Amnesty International mindestens fünfzehntausend in Kisten, sozusagen in der Holzklasse, in ihre Heimatländer zurückgeflogen wurden, ohne dass man den im Akkord erstellten Befunden ihres Ablebens hätte entnehmen können, ob dieses wegen der Hitze, des wahnwitzigen Tempos der Maloche, dem Mangel an Sicherheitsvorkehrungen oder anderen unmenschlichen Bedingungen erfolgt sei.


In etlichen Ländern keimte nun auch Unmut gegen die ganze Veranstaltung auf, weil der Emir die Einfalt seiner Untertanen der internationalen Vielfalt vorzog und daher Schwule, Lesben, Schiiten, Kritiker und andere Unangepasste mit harter Hand anfasste. Die Besonneneren unter den FIFA-Funktionären allerdings ließen nur kurz vom Dukatenzählen ab und gaben zu bedenk
en: „Qatar ist doch nichts Ungewöhnliches, haben wir nicht schon Weltmeisterschaften mitten in der blutigsten Phase der argentinischen Militärdiktatur oder während des Aufblühens von Putins Autokratie in Russland veranstalten lassen? Ist nicht immer noch am wichtigsten, was hinten rauskommt? Wollt ihr Infantinos Goldesel so nervös machen, dass er Verstopfung bekommt?“


Dennoch löckten die Verbände einiger europäischer Staaten wider den Stachel, bald wurden sie als die Glorreichen Sieben bekannt, mittenmang natürlich unser mutiger DFB. Sie kündigten an, dass die Kapitäne ihrer Fußballflotten mithilfe eines Armbändchen, geziert von einem kryptischen Logo, dezent gegen die Zustände in der arabischen Wüste protestieren sollten. Dem Emir missfiel solch aufsässiges Verhalten, und so ließ sein Chefmagier, der inzwischen (in Erwartung künftiger Strafverfolgung?) seinen Wohnsitz in Qatar genommen hatte, das Symbölchen des Aufbegehrens kurzerhand von der FIFA verbieten.


Die Stunde der Maulhelden


Blitzartig knickten die Verbände, in der Folge als die Sieben Maulhelden in aller Munde, ein, weil sie eine Gelbe Karte oder gar den Ausschluss ihres Schlachtenlenkers befürchteten, also um den sportlichen Erfolg oder den Reibach bei der anstehenden Vermarktung bangten. Außerdem fühlten sie sich als typische Repräsentanten ihrer Nationen vom Rest der Welt missverstanden, schließlich hatten sie sich auf ihre Werte berufen.


Was sind denn eure Werte, hatten impertinente Stimmen aus der Dritten Welt gefragt. Einhaltung der Menschenrechte etwa? Doch nur, wenn sie in armen Regionen mit Füßen getreten werden, nicht aber in einer Diktatur,

von der ihr gerade Gas oder Öl braucht, und auch nicht, wenn es um Flüchtlinge auf dem Mittelmeer geht. Schon eine Gelbe Karte lässt euch devot werden, was auch für eure Multimillionäre auf dem Feld gilt. Tatsächlich schien eine mögliche Verwarnung für Manuel Neuer oder Harry Kane existenzieller (da für die eigene Karriere relevanter) als die

Schicksale verfolgter Homosexueller oder zu Tode erschöpfter Bauarbeiter.
Also schützten die Funktionäre die spielenden Garanten der eigenen Macht und verboten ihnen fürsorglich, sich mit Regenbogen- oder One-Love-
Emblemen zu schmücken. Den Zorn der Supporters, die der Ausrichtung in Qatar immer ablehnender gegenüberstanden, hatten die Cracks wie ihre Zuhälter ohnehin nicht zu fürchten, denn die Fans ließen Sklavenarbeit oder LGBTQ–Hatz weitgehend kalt, ihnen ging es um die eingebildeten oder tatsächlichen Schweinereien bei der WM-Vergabe.


Hierzulande rieben sich die Fußballanhänger vor allem aus drei Gründen am Turnierausrichter und stellten lautstark fest: Man lässt in einem Land spielen, das auf so viel weniger Fußball-Tradition verweisen kann als die Dinosaurier England, Italien oder eben Deutschland. Man vergibt das größte Gemeinschaftserlebnis in eine Hitzehölle, auf dass allenfalls im Winter gekickt werden kann, wenn die Stars nicht wie zuvor die Maurer in Särgen zurückkommen sollen. Ganz davon zu schweigen, dass wir selbst beim Public Viewing  zitternd Glühwein schlucken müssen, statt Caipi in sommerlicher Sonne schlürfen zu dürfen.


Der dritte Grund aber bringt den DFB in solche Verlegenheit, dass er vorsichtshalber auf den Versuch einer Widerlegung verzichtet. Schließlich hat er als Bewerber und Ausrichter auch Erfahrungen mit der schwarzen Magie, die zur Ausrichtung von Weltturnieren verhilft...


Deutsches Märchenland im Zwiespalt


Wie der Orient ist auch Deutschland seit jeher ein Ort für Fabeln, Legenden und Feenzauber. Doch während im Morgenland viel von elegant geschliffenen Edelsteinen, frappierender Kalifenweisheit oder der Schönheit cleverer Sklavinnen erzählt wird, spielt sich das hiesige Fantasy-Geschehen mehr im finsteren Tann ab, der von hässlichen Hexen, fleißigen Zwergen und tumben Räubern, kurz: von einfach gestrickten Figuren bewohnt ist. Daher benötigt man auch keine tiefenpsychologische Expertise, um die deutschen Reaktionen (oder deren weitgehendes Ausbleiben) auf das sagenhafte Spektakel in Qatar einordnen zu können.



Die Bundesregierung, sonst als gutes Weltgewissen verbal führend, in der Praxis jedoch meist inkonsequent, beließ es bei leiser moralischer Empörung und einem Regenbogenstreif am Arm der Innenministerin Faeser, den außer deutschen TV-Kameras wohl niemand wahrgenommen hat. Im März aber war Außenamtschef Robert Habeck in Qatar gewesen und hatte per Hofknicks vor dem dortigen Energieminister bereits angedeutet, dass Deutschland ganz brav und still bleiben werde, wenn nur das Flüssiggas bald aus dem kleinen Reich des Bösen in die Speicher der Guten-Republik zwischen Nordsee und Alpen flösse. Was nun auch geschehen wird.


Bliebe also der DFB, der ganz kurz eine anzügliche Kapitänsbinde befürwortet hatte, aber nach der Rüge von FIFA und Emirat schnell nach der Devise „Nix für ungut – wenn ihr das nicht möchtet, machen wir’s auch nicht“ zurückruderte. Natürlich wollte der Verband nicht in die Hand beißen, die ihn mit Geld wie Heu füttert, doch es gab noch einen anderen Grund für die vornehme Zurückhaltung:


Als der DFB sich um die Ausrichtung der WM 2006 bewarb, sah er sich starker Konkurrenz gegenüber, Südafrika galt sogar als Favorit. Die Deutschen aber fanden den entscheidenden Alliierten in dem notorisch korrupten Funktionär Mohammed bin Hammam, einem Jugendfreund des Emirs von Qatar. Der raffinierte Unternehmer verschaffte noch fehlende Stimmen aus Asien, während der andere Strippenzieher, Franz Beckenbauer, wohl für das nötige Kleingeld sorgte (und sich heute ebenso wenig wie der Bundeskanzler anrüchiger Kontakte entsinnen kann). Jedenfalls setzte sich Deutschland bei der Abstimmung mit 12:11 gegen Südafrika durch.


Der CDU-Politiker Theo Zwanziger, einst sechs Jahre lang DFB-Präsident, brachte es unlängst auf den Punkt: „Qatar hat geholfen, die WM 2006 nach Deutschland zu bringen.“ Da verwundert es nicht weiter, dass auch heute noch eine Hand die andere wäscht und Schweigen lukrativer ist als Reden. Das in den höchsten Tönen gepriesene „Sommermärchen“ der WM 2006 allerdings entpuppte sich im Nachhinein ebenfalls als fauler Zauber.
12/2022
Dazu auch:
Fifa-Sepp, Licht-Franz im Archiv von Helden unserer Zeit (2014)






Das empörte Volk


Die Welt war noch nie ein Ort der Glückseligkeit, des Friedens und Wohlstands für den größeren Teil der Menschheit. Hätte aber jemand vor zehn Jahren die jetzige Chaosphase mit vor zehn Jahren die jetzige Chaosphase mit Pandemie, Ressourcenknappheit, Krieg im lange verschonten Europa oder der realen Gefahr eines Atomschlags vorausgesagt, wären ihm haltlose Untergangsphantasien unterstellt worden. Es ist also kein Wunder, dass viele Bürger verängstigt sind und sich empören, bleibt die Frage, worüber. Über eine Wirtschaft, die für die eigenen Profitinteressen den Umweltschutz opfert? Über Politiker, die aus Ignoranz oder aus Machtgier sachlich falsch, aber entschlossen opportunistisch handeln? Über lahme Behörden, Leugner des Klimawandels oder paramilitärisch organisierte Rechtsradikale? Mitnichten, als die wahren Volksfeinde werden ein paar Demonstranten, die in ihrer Hilflosigkeit bizarre Aktionen starten, ausgemacht.


Die Mittel der Verzweifelten


Tomaten- oder Erbsensuppe, Kartoffelbrei und Klebstoff waren die Waffen, mit denen vorwiegend junge UmweltaktivistInnen der Öffentlichkeit bewusst machen wollten, dass die Erde unbewohnbar wird, wenn Regierende, Produzierende und Konsumierende so weitermachen wie bisher. Mit den Lebensmitteln verunzierten sie Bilder von Monet, van Gogh und Vermeer, den Leim nutzten sie u. a. dazu, sich selbst auf Straßen oder an Brücken festzukleben, um den motorisierten Individualverkehr, einen der Hauptverursacher der Erderwärmung und Luftverschmutzung, zu stoppen.


Die Gemälde blieben unversehrt, in Mitleidenschaft wurden nur die Rahmen und das Schutzglas gezogen. Bei den Straßenblockaden kam es zu Staus, unangenehm für die Autofahrer, schmerzhaft aber nur für die Aktivisten selber, die von der Fahrbahn abgelöst und unsanft weggetragen wurden. Dann plötzlich wurde ein schrecklicher Verdacht in den Medien kolportiert und von der Christenunion sowie an den Stammtischen derer, die den Klimawandel schon immer als Ausgeburt einer Öko-Verschwörungstheorie abgetan hatten (aber die Einpflanzung von Mikrochips bei der Covid-Impfung für realistisch hielten), aufgegriffen: Eine Fahrradfahrerin sei nach dem Zusammenstoß mit einem Betonmischfahrzeug ihren Verletzungen erlegen, weil die Rettungskräfte durch die „Öko-Chaoten“ behindert worden seien. Natürlich wusste BILD als schrillste Fanfare im Zeitungsorchester, dass die Blockierer die eigentlichen Schuldigen an dieser Tragödie seien.


Da konnte die Gruppe Letzte Generation, die den Protest organisiert hatte, darauf hinweisen, dass sie Rettungsgassen freihalte – für den Boulevard machte sie sich der fahrlässigen Tötung und unterlassenen Hilfeleistung (für die rechte Volksmeinung gar des Mordes) schuldig, was die Chefpopulisten der Union reflexartig zur Forderung höherer Strafen für die vermeintlichen Umwelt-Terroristen trieb. Dass die Feuerwehr und die Notärztin vor Ort den Blockierern bescheinigte, ihre Aktion habe das Ableben der Radlerin nicht verursacht oder begünstigt, las man eher in vorsichtigeren Blättern wie SZ und taz.


Nun kann man sich durchaus über den Sinn solcher Aktionen von Organisationen mit dystopischen Namen wie Extinction Rebellion oder eben Letzte Generation streiten. Zwar wird das taktische Ziel, nämlich aufzurütteln, erreicht, doch verstellt möglicherweise die rabiate Action den Blick auf das strategische Anliegen, nämlich den miserablen Zustand unserer Umwelt ins Zentrum zu rücken und sofort Maßnahmen gegen deren fortschreitende Zerstörung zu ergreifen – Aversionen sind halt schneller zu generieren als Empathie und Engagement. Andererseits muss aber die Frage erlaubt sein, wie man es in dieser reizüberfluteten Gesellschaft mit konventionellen (strikt gesetzestreuen) Methoden schaffen soll, die Aufmerksamkeit von Usern, Lesern, Beobachtern auf überlebenswichtige Problemkomplexe zu ziehen. So ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die es trotz zunehmender Verzweiflung noch für denkbar halten, die Bevölkerung zum Handeln zu motivieren, zu immer brachialeren Mitteln greifen.


Juroren der Verhältnismäßigkeit


Dass nicht nur radikale Randgruppen oder durch das allgemeine Phlegma zur Weißglut gereizte Öko-Fanatiker solche neuen Formen der „Öffentlichkeitsarbeit“ wählen, belegt der Fall des Nürnberger Geistlichen Jörg Alt. Der heute 61 Jahre alte Sozialwissenschaftler und Jesuit beriet Asylbewerber, kämpfte für das Verbot von Landminen, verurteilte die Ausbeutung der Dritten Welt durch die Industrieländer und fordert stets eine Alternative zum neoliberalen Gesellschaftssystem. Seine Aktivitäten scheinen sich eher auf das Hier und Jetzt und eine Veränderung des Status quo als auf jenseitige Heilsversprechungen zu konzentrieren. Bereits als Dieb kriminalisiert, weil er zur Vernichtung bestimmte Lebensmittel aus Supermarkt-Containern „stahl“, klebte sich Alt mit Aktivisten von Extinction Rebellion in Nürnberg auf dem Pflaster fest, um gegen staatliches (und privates) Fehlverhalten in der Klimafrage, das mittlerweile kriminelle Dimensionen erreicht, zu protestieren.


Alt ist kein durchgeknallter Jungspund, kein manischer Chaot, er weiß sich nur angesichts allgemeiner Ignoranz nicht mehr anders als durch störende und spektakuläre Eingriffe in das Weiter-so zu helfen. Sicherlich werden einige Passanten und Autofahrer aufmerksam, ja sogar nachdenklich geworden sein, aus der „schweigenden Mehrheit“ aber schlägt den Blockierern Ärger, teilweise auch Hass entgegen. Gewalt gegen Sachen, Behinderung des geheiligten Verkehrsflusses (den es in der City als Kontinuum ohnehin nicht mehr gibt), auch wenn der die Stadtluft verpestet – das geht gar nicht.


In Abwandlung und Umkehrung eines berühmten Brecht-Zitats aus der „Dreigroschenoper“ könnte man heute feststellen: Was ist die willkürlich von Autokonzernen verursachte Schadstoffbelastung unserer Luft, die jährlich das Leben von 300.000 EU-Bürgern verkürzt, gegen die verbrecherische Verhinderung der „freien Fahrt“ für mündige SUV-Besitzer? Und so beschwört Alexander Dobrindt, Söders Helferlein im Bundestag, die Gefahr einer „Öko-RAF“ herauf, als drohe terroristische Gefahr nicht aus einer anderen Ecke, die ihm wegen gewisser Argumentationsparallelen eigentlich vertrauter sein sollte.


Sperrt die Boten ein!


Dieses Land leistet sich einen Bundeskanzler, der sich im Augenblick auf der Weltklimakonferenz lächerlich macht, weil er vom totalen Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung schwafelt, während seine Regierung afrikanische Staaten mit Abermillionen besticht, neue Gasfelder ohne Rücksicht auf die Natur zu erschließen; den immer wieder Amnesie-Attacken überfallen, wenn er zu Hinterzimmer-Gesprächen mit verdächtigen Bankiers befragt wird; dessen rätselhafte Cum-Ex-Toleranz die Bundesrepublik Milliarden an Steuereinnahmen kostete. Allgemeine Aufregung? Fehlanzeige.


Im Süden der Republik umarmt ein Ministerpräsident, der immer noch Kanzler werden will, Bäume, während in seinem Bundesland immer größere Flächen versiegelt werden, der Ausbau der Windkraftanlagen den durch die Landesregierung implementierten Schikanen zum Opfer fällt und der Waldbesitzer-Lobby in der CSU gegen den Rat der Wissenschaftler eine Art der Aufforstung gestattet wird, die nur dem kurzfristigen Profit und dem Wohl der Holzwirtschaft nützt.


Was sind wir froh, dass der brasilianische Amazonas-Plattmacher Bolsonaro abgewählt wurde. Tatsächlich wir alle? Nein, die deutschen Konzerne haben einen guten Freund verloren, der sie nicht behelligte, wenn sie Rohstoffe ohne Rücksicht auf Mensch und Regenwald abbauten oder Einheimische als rechtlose Fabrikarbeiter rekrutierten.


Schon im Alten Testament lässt David die Überbringer schlechter Nachrichten umbringen. Damals wie heute bewegte weniger eine fatale Information oder ein unheilvolles Ereignis die Empfänger, sondern die Art und Weise, wie sie davon erfuhren. Und auch aktuell fühlen sie sich eher dazu aufgerufen, ihr Mütchen an den unglückseligen Boten zu kühlen, als zu handeln und die existenziellen Probleme von Gegenwart und Zukunft anzugehen. Die Aktivisten können einem leidtun, sie haben es geschafft, das Volk aufzuwecken, doch nun richtet es sich gegen sie, nicht gegen die Verantwortlichen der Misere. Die ziemlich harmlose Provokation, mithilfe derer sie das Schweigen durchbrochen haben, soll nun schwer geahndet werden – am liebsten mit Freiheitsentzug, wenn es nach Merz, Söder und Konsorten geht.

11/2022
Dazu auch:
Prima Klima in Rio im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2019)







Hilfe von Fachidioten

Wenn eine Bundesregierung nicht weiter weiß, setzt sie eine „unabhängige“ Expertenkommission ein und lässt sich Vorschläge unterbreiten. So auch jetzt geschehen, nachdem Olaf Scholz den „Doppel-Wumms“, sozusagen den Befreiungsschlag in frostigen, teuren und gasarmen Zeiten angekündigt hatte. Das Fachleute-Premium sollte die Unbilden des Wetters, die angesichts von Inflation und steigenden Energiepreisen prekäre Lage der Bürger sowie der Industrie, zudem den Kampf gegen den Klimawandel  beachten und Entlastungen vorschlagen. Allerdings zeigte sich, dass es, ähnlich den Verantwortlichen in Behörden und Kabinett, wenig Ahnung vom Wetter und den Sorgen der Schlechterverdienenden hat.


Wann bitte ist Winter?


Ähnliche Ignoranz den Lebensumständen seiner Mitbürger gegenüber offenbarte Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, die übrigens einen der einundzwanzig Sitze in der „Expertinnen-Kommission Gas und Wärme“ hält, bereits vor wenigen Tagen: Er rügte das deutsche Volk, weil es zu Beginn dieses Herbstes mehr Gas verheizt hatte als zum selben Zeitraum in den letzten Jahren, obwohl doch an dem kostbaren Stoff gespart werden sollte. Dem Mann scheint entgangen zu sein, dass es in diesem September vor unwirtlichen Tagen und frostigen Nächten wimmelte, während die vorjährigen Altweibersommer in tropische Hitze auszuarten drohten. Für den Chef der Netzagentur war es ein unlösbares  Rätsel, dass die Bürger in diesem September trotz Gasknappheit mehr heizten als im September 2021.


Auch die Kommission selbst kennt sich mit dem Winter wohl nicht genau aus. Während für die Wirtschaft günstige Konditionen ab Januar 2023 avisiert werden, fielen für die privaten Haushalte nur Entlastungshäppchen zu seltsamen Zeitpunkten ab. Gut, im Dezember übernimmt der Staat, der das Chaos mit Verschleppung des Energie-Umbaus und widersinniger Sanktionspolitik überhaupt erst heraufbeschworen hatte, die Begleichung der Gasrechnung – allerdings auf Basis des September-Abschlags. Was kann der Bürger froh sein, dass dieser Monat sich so unfreundlich kalt präsentiert hat…


Dann aber nahen die beiden grimmigsten Wintermonde, Januar und Februar, und vom Staat kommt – nichts. Wenn es wegen des steigenden Gasbedarfs ohnehin schon kostspielig wird, dürfen die exorbitanten Preiserhöhungen aus eigener Tasche bestritten werden. Erst knapp drei Wochen vor dem Beginn des meteorologischen Frühlings am 20. März werden 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs für immer noch stattliche 12 Cent pro Kilowattstunde an die finanziell überforderten (und die nur peripher tangierten, da wohlhabenden) Bürger weitergereicht. Mit anderen Worten: Wenn man während der besonders rauen Tage mehr Wärme benötigt, muss man das selbst berappen, wenn es dann fast Sommer wird, tritt die Bundesregierung als Weißer Ritter auf.


Milde Gaben mit Geschmäckle


Wenn sie nicht noch durch die zahlreichen Kritiker zum Nachdenken bewegt wird, nimmt die Bundesregierung den Vorschlag der Kommission, die von Wirtschaftsprofessoren, Verbandsvertretern und Abgesandten der Energiekonzerne dominiert wird, eins zu eins an – und damit auch eine Regelung, die nach dem Motto „Höheres Einkommen, mehr Gasverbrauch, folglich mehr Entlastung“ die sozialen Gräben vertieft und die Umwelt stärker belastet.


Der begüterte Villenbesitzer etwa, der zwölf Räume intensiv beheizt und für die Gaspreiserhöhungen nur in die Portokasse greifen muss, erhält im Dezember ein nettes Sümmchen zurück und kann ab März 2023 die Umwelt vergleichsweise günstig weiter schädigen, während der Mindestlohnempfänger kaum weiß, wie er seine Einzimmerwohnung im Januar und Februar warmhalten soll, ohne zahlungsunfähig zu werden. Zumal ihm die Mittel fehlen, die täglichen Heizungszeiten zu verkürzen, indem er Reisen unternimmt, das Kino, Theater oder Sportstadion aufsucht und des Öfteren im Restaurant speist. Möglicherweise lädt seine Wohnumgebung auch nicht gerade zum ausgedehnten Spaziergang ein. Dass sein ökologischer Fußabdruck kleiner und damit ökologisch wertvoller bleibt als der des Neu- oder Altreichen, wird nicht honoriert, aber er darf es seinem Friseur erzählen – wenn er sich den noch leisten kann.


Die unterschiedslose , daher scheinbar gerechte Hilfeleistung für alle Bürger begünstigt tatsächlich zusammen mit dem Verzicht auf die Wiedereinführung der von der Schröder-Fischer-Koalition ausgesetzten Vermögenssteuer die Umverteilung von unten nach oben. Aber Bundeskanzler Scholz, in der Finanzbranche als diskreter Kümmerer beliebt, hat auch schon angekündigt, er wolle neben den Unterprivilegierten vor allem den Mittelstand entlasten. Und zum Mittelstand zählt sich ja inzwischen auch der Black-Rock-Millionär Friedrich Merz.


Kälteschutz durch Klimafrevel


Das Wetter ist eigentlich nur eine klimatische Momentaufnahme, aber diese bestimmt unser subjektives Wohlbefinden oder Missbehagen. Wir erfreuen uns an einem sonnigen Frühlingstag, fühlen uns in diesigem Herbstwetter niedergeschlagen und frieren unmutig, wenn es im Winter sehr kalt wird (was unserer Expertenkommission nicht so ganz präsent gewesen sein kann). Gegen die Folgen von Ausreißern nach unten (eisige Kälte) und oben (Tropenhitze, Dürre) sollte uns die Regierung schützen – ein Auftrag, den sie nur sehr stümperhaft und auf Kosten des Umweltschutzes erledigt. Kurzfristige Maßnahmen der Bundesregierung wie die Rückkehr zur Kohle oder Ankauf von Fracking-Gas gefährden, ja verunmöglichen sogar die perspektivischen Vorhaben, etwa den Stopp des globalen Temperaturanstiegs.


Laut Deutschem Wetterdienst wird das Klima „durch statistische Eigenschaften (u.a. Mittelwerte, Extremwerte, Häufigkeiten) der Klimaelemente über einen genügend langen Zeitraum beschrieben. Gemäß den Empfehlungen der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) ist es üblich, zur Erfassung des Klimas und seiner Änderungen einen Zeitraum von 30 Jahren zu verwenden, um den Einfluss der natürlichen Variabilität bei der statistischen Betrachtung des Klimas auszuklammern“. Dies bedeutet, dass die Deutschen in drei Jahrzehnten den Kopf über die Mogelpackungen schütteln werden, mit denen die Ampelkoalition derzeit die Bevölkerung ruhigstellen will. Denn spätestens dann wird man wissen, wie verheerend sich die kurzsichtige Strategie, um energetische Engpässe, materielle Not und wetterbedingte Unannehmlichkeiten abzumildern, auf das meteorologische Kontinuum, das wir „Klima“ nennen, auswirken wird.


Dass die Scholz-Regierung nun mit wildem Aktionismus alle nachhaltigen Ansätze pulverisiert, ist auch der Ära Merkel geschuldet, als wechselnde Koalitionen ehrgeizige Umwelt- und Klimaziele verkündeten, die BRD zum weltweiten Öko-Klassenprimus ausriefen und dann alles beim Alten ließen, bisweilen die Situation auch noch ein wenig verschlimmerten. Deutschland avancierte zum Ankündigungsweltmeister, doch wurden die ambitionierten Pläne nirgends gegen den Widerstand der Wirtschafts-Lobbys realisiert.
Über die das Land parzellierenden Autobahnen fegten weiter SUV in ungebremster Geschwindigkeit, Böden wurden (vor allem auch in Söders „Muster-Freistaat“) nach Herzenslust versiegelt, Agrarindustrie und Massentierhaltung strebten nach monokultureller Einförmigkeit, während Wälder und Moore verschwanden, der Ausbau der erneuerbaren Energien stockte ebenso wie die Bereitstellung von Leitungen sowie Speicherkapazitäten – und viel Schlimmes mehr.


Die Merkel-Kabinette schliefen in trauter Einmütigkeit, bis auch dem Letzten im Land klarwurde, dass keines der hehren Ziele erreicht würde. Dann folgte die Ampelkoalition und fiel nach einigen FDP-Dreistigkeiten und Rückzugsgefechten der Grünen ebenfalls in den Schlaf, allerdings einen unruhigeren…
10/2022
Dazu auch:
Klassenprimus? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)







Charme der Ignoranz


Annalena Baerbock reist durch die Welt, tadelt die Bösen, lobt die Guten und arrangiert sich mit den weniger Guten, vorausgesetzt, sie stehen auf der richtigen, also unserer Seite. Soziale oder politische Gerechtigkeit in globalem Maßstab, einst unverzichtbarer Bestandteil auf der Agenda der Grünen, ist längst nationalem Vorteilsdenken gewichen, wie u. a. die Tour der Außenministerin durch drei afrikanische Länder zeigte.

 
Di
e Klassensprecherin


Wieder war Baerbock unterwegs. Diesmal besuchte sie zum zweiten Mal Kiew, zeigte sich routinemäßig bestürzt von den tatsächlich üblen

Zerstörungen, die Putins Artillerie und Luftwaffe anrichteten, und bot den

Ukrainern Waffen, Geld und sonstige Unterstützung an, blieb dabei aber wie gewohnt vage. Hauptsache, sie kann mit jugendlich-dünner Stimme im Stil der Klassensprecherin eines Abiturjahrgangs Allgemeinplätze verkünden. Dabei unterläuft ihr auch Missverständliches, etwa als sie bezüglich des Krieges in einer Rede feststellte: „Wir haben einen Moment der Fatigue erreicht.“


Heißt also, wir seien ein wenig erschöpft von den Hiobsbotschaften aus dem europäischen Osten. Das wollte sie so nicht sagen, ganz im Gegenteil will sie unser Land aufputschen und dazu drängen, immer effizientere Vernichtungswaffen in
die Ukraine zu liefern. Tobias Dammers, WDR-Korrespondent in Kiew, interpretierte die eigentliche Intention des außenministeriellen Plappermäulchens so: „Baerbock will wohl Zeichen gegen drohende Kriegsmüdigkeit setzen.“ Wehe jedem, dem subversive pazifistische Anwandlungen dräuen, gegen die nicht einmal jene Mitglieder der eigenen Partei gefeit zu sein scheinen, die vor etwas über einem Jahr plakatierten: „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete. Am 26. 9. Grün wählen!“


Wenn die BRD mit ihrer Vorgeschichte sich über humanitäre Hilfe hinaus in diesem Konflikt engagieren möchte, sollte sie eine diskrete Vermittlerrolle anstreben, denn es muss verhandelt werden, bevor alles in Trümmern liegt. Doch Baerbock ist die Frau für schöne Fotos, Geschichtsklitterung und kriegerisches Pathos, nicht für ernsthafte und hartnäckige Gespräche, wie sich bei ihrer kurzen Tour durch drei Länder am Rande der Sahara zeigte.


Die Afrika-Touristin


Was macht Annalena in Mali? wird sich mancher grüne Parteikollege fragen. Nun, sie staucht in der Hauptstadt Bamako mit der Hybris der selbstgerechten weißen Frau die dortige Militärjunta zusammen. Ihre Vorgänger im Außenamt haben einen solchen Affront vermieden, weil sich die korrupten Regierungen und Putschregimes zuvor brav zum Westen bekannten. Die jetzigen Machthaber aber sind widersetzlich und haben russische Militärs und Söldner ins Land geholt. Baerbock aber liest ihnen die Leviten und befiehlt ihnen – leider vergeblich -, sofort die Kontakte zu diesen falschen Verbündeten abzubrechen. Was besonders peinlich ist: Die Junta kann bei ihrer neuen Allianz auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen, die der französischen und deutschen Interventionstruppen überdrüssig geworden ist.


Also schnell weiter nach Niger, wo zunächst ein charmanter Fototermin winkt, dann sich aber das Mali-Dilemma zu wiederholen droht. Annalena Baerbock spielt beim Besuch eines Agrarprojekts Lastenträgerin. Die sportliche Deutsche (Ex-Trampolinmeisterin) legt sich eine Art Joch über die Schultern und balanciert an dessen beiden Seilen zwei mit Melonen gefüllte Eimer bei 40 Grad Hitze ein paar Meter weit. „Die Fotografen haben ihr Motiv, das Motiv einer gekonnten Selbstinszenierung einer deutschen Außenministerin“, spottet der SPIEGEL völlig richtig, um dann in die offiziell erwünschte Sentimentalität zu verfallen: „Für einen Augenblick hat die Grünenpolitikerin körperlich spüren können, was Frauen hier tagtäglich leisten: Schwerstarbeit.“


Man könnte es auch als Verhöhnung der anwesenden Frauen werten, wenn eine wohlgenährte Europäerin für Momente in die Rolle einer körperlich schwer schuftenden Afrikanerin schlüpft, die, nur unzureichend verköstigt und ohne Gesundheitsfürsorge, ihr ganzes Arbeitsleben unter dem Joch verbringen muss. Weiß man etwa auch schon, was Krieg ist, wenn man einmal mit dem Luftgewehr schießt?


Ansonsten ist Baerbock jedoch nicht unbedingt ein gern gesehener Gast, seit Frankreich seine Truppen aus Mali nach Niger verlegt hat und auch die Bundeswehr hier bei der Jagd auf Jihadisten helfen soll. Was in Mali nicht gelang, soll nun im Nachbarstaat realisiert werden – ein neues Land, ein neues Glück. In Niger sind die NATO-Soldaten aber auch nicht sonderlich beliebt. Der ansonsten recht interventionsfreundliche Nachrichtensender ntv berichtet jedenfalls: „Doch das verstärkte Engagement birgt auch Risiken, da es in Niger - wie schon in Mali - ein starkes antifranzösisches Sentiment gibt und bereits viele westliche Truppen und Akteure im Lande sind.“ Es wirkt, als befände sich die Ministerin auf einer postkolonialistischen Tour de Force, auf der deutsche Militärinteressen die Stimmung der Einheimischen plattwalzen.


Marokko ist da schon von einem anderen Kaliber. Deutschland braucht die ökonomisch einigermaßen autarke Monarchie für den Umbau der eigenen Energiewirtschaft und um beim Kampf gegen den Klimawandel nicht völlig ins Hintertreffen zu geraten. Marokkos Reichtümer wie Sonne, Wind und Bodenschätze, seine potentielle Rolle bei der Gewinnung grünen Wasserstoffs bewirken, dass die strenge Oberlehrerin Baerbock plötzlich milder gestimmt ist und Menschenrecht mal wieder Menschenrecht sein lässt.


Wenn Freund und Feind das Gleiche tun…


Weil die Bundesrepublik die UN-Resolutionen zur Zukunft der Westsahara unterstützte, lagen die diplomatischen Beziehungen zu dem Regime in Rabat, das Kritiker in seinen Gefängnissen systematisch foltern lässt, weitgehend auf Eis. Nach dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft hatte Marokko das Gebiet, das über eines der weltweit größten Phosphatvorkommen verfügt, kurzerhand annektiert, war aber auf den erbitterten Widerstand der Befreiungsorganisation Polisario gestoßen. In der Folgezeit siedelte Rabat Hunderttausende Araber und Berber in der Westsahara an, darunter allein 180.000 Militärangehörige, um die Bevölkerungsstruktur zu seinen Gunsten zu ändern. Inzwischen leben nur noch etwa 105.000 indigene Sahrauis in der Westsahara selbst, an die 200.000 weitere vegetieren in algerischen Flüchtlingslagern.


Nach einem Waffenstillstand 1991 wurde das Land de facto geteilt. Während Marokko die Küstenregion im Westen besetzt hält, kontrolliert El Frente Polisario den Osten und Süden. Die Vereinten Nationen verlangen ein Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara. Genau das aber verweigert Marokko, das trotz der völkerrechtswidrigen Ansiedlung von Kolonisten eine Niederlage fürchtet und offeriert nur Verhandlungen über eine begrenzte Autonomie an. Als könne der Okkupant eines Territoriums, auf das er keinerlei Rechtsanspruch besitzt, der dortigen Bevölkerung einen Kuhhandel um ein bisschen Scheinsouveränität anbieten.


Die Bundesregierungen hatten den UN-Schiedsspruch stets akzeptiert – bis Annalena Baerbock, die offenbar Menschenrechte nur aufs Tapet bringt, wenn sie von den Kontrahenten im Krieg um Ressourcen, Handelswege und Gebiete, vornehmlich Russland und China, verletzt werden, als frischgebackene Außenministerin scheibchenweise davon abrückte. Auf der Internetseite ihres Ressorts lobte sie Marokko als "zentralen Partner der Europäischen Union und Deutschlands in Nordafrika" und würdigte Marokkos Autonomieplan für die Westsahara als "wichtigen Beitrag".


Im gleichen Atemzug hätte sie auch die Besetzung der Krim durch Russland preisen können, zumal Putin dort ein – wenn auch völkerrechtlich nicht ganz wasserdichtes – Referendum durchführen ließ, dessen für ihn positives Ergebnis die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse auf der Halbinsel einigermaßen widerspiegeln dürfte.


Doch während Baerbock weiter die Heilige Johanna des Menschenrechts gibt, solange es in einer Richtung gegen Übeltäter geht, säuselt sie sich in der anderen ins Herz des marokkanischen Amtskollegen Bourita. In der gemeinsamen Erklärung hieß es etwa, Marokko sei ein "entscheidender Partner der EU und Deutschlands" und fungiere als "Brücke zwischen Nord und Süd". Gleichsam ein Aquädukt, über das viel Energie nach Deutschland fließen soll, während darunter die Trümmer der sahrauischen Souveränität im Wüstensand liegen.


Die sehr spezielle und wählerische Haltung der gegenwärtigen Bundesregierung zu den Menschenrechten manifestiert sich auch im Verhältnis zu Despotien wie Saudi-Arabien und Qatar (von denen man sich Gefälligkeiten auf dem Rohstoffmarkt erhofft), in der Flüchtlingsabwehr an den Küsten des gescheiterten Staates Libyen, der laxen Handhabung des Kriegswaffenkontrollgesetzes und im Fall des Julian Assange. Was sagte die selbsternannte Moralinstanz im Außenamt, Annalena Baerbock, bislang zur Causa des Mannes, der Kriegsverbrechen aufgedeckt hatte, unter falschen Anschuldigungen festgenommen wurde und nun für immer in einem US-Gefängnis verschwinden soll? Kein Wort.
09/2022
Dazu auch:
Universal Soldiers (2022) und Schweinehund-Theorien (2016) im Archiv der Rubrik Medien
In die Ferne schweifen (2021) und Die Macht will Assange (2020) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund





Berliner Panoptikum


Nach landläufiger Definition handelt es sich beim Panoptikum um eine Sammlung von Sehenswürdigkeiten, Kuriositäten oder Wachsfiguren. Ein solches Sammelsurium ist derzeit in Berlin zu besichtigen und nennt sich deutsche Bundesregierung. Während Kanzler Scholz den Part der Wachsfigur übernimmt und Finanzminister Christian Lindner den neoliberalen Spielverderber gibt, mimt Robert Habeck als Chef des Wirtschaftsressorts den fulminanten Wendehals. Und wie Hyänen schleichen die Unionspolitiker, allen voran Friedrich Merz, um die Bühne und entdecken unversehens ihr Faible für arme Rentner und Studenten.


"Systemrelevant" – das neue Zauberwort


Kaum ist es dem in bleiches Wachs gehauenen Monument Scholz gelungen, ein einprägsames Bonmot von sich zu geben, da wiederholt er es bei jeder Gelegenheit: „We never walk alone.“ Wer nun allerdings glaubt, da werde Solidarität mit den Empfängern von Mindestlöhnen, alten Menschen mit kleinen Renten oder Erwerbstätigen in prekären Arbeitsverhältnissen gepredigt, täuscht sich; nicht alleingelassen werden sollen vor allem die Energiekonzerne.


Schon bei der Rettung der Lufthansa auf dem Höhepunkt der Corona-Krise war der Staat als Reparaturbetrieb des Kapitalismus eingesprungen – selbstredend ohne Bedingungen zu stellen, was auch prompt Massenentlassungen begünstigte. Das Zauberwort, mit dem solche Stamokap-Maßnahmen begründet werden, lautet „systemrelevant“. Angesichts drohender Gasknappheit dürfen nun die Großhändler die selten gewordenen Ware teuer einkaufen und noch teurer an das gemeine Volk weiterverkaufen. Wir lernen, dass nur Unternehmen, die engagiert Investoren sowie die eigene Führungsspitze bedienen und sich gelegentlich verspekulieren, systemrelevant sein können, niemals aber die einfachen Menschen. Denen greift Vater Staat allenfalls mit Almosen unter die schwachen Arme.


Der Kälte im Winter soll nicht mit Preisdeckelung für eine angemessene Gasmenge pro Person getrotzt werden, was die Versorgung gewährleistet und zum Energiesparen animiert hätte. Auch die Einführung einer Übergewinnsteuer für Krisengewinnler oder die Wiedereinsetzung der Vermögenssteuer, durch die der Bund das nötige Geld für die Sicherstellung wohliger Wärme allerorts einnehmen könnte, wurde verworfen – da seien FDP-Lindner und sein heimlicher Bruder im Geiste, der Konzern- und Bankenfreund sowie Bundeskanzler Scholz, vor! Nein, der Bürger soll auf die ohnehin schon horrenden Gasabschläge noch eine deftige Umlage berappen, auf die – beinahe hätten wir’s vergessen – wiederum Mehrwertsteuer erhoben wird. Eben die wird aber gerade für die Gesamtsumme auf sieben Prozent gekürzt, was die abenteuerliche Preisgestaltung durch Gasprospektoren und Versorger nicht beeinträchtigen wird.


In seinem Übereifer (oder in vorauseilendem Gehorsam) hat Wirtschaftsminister Habeck auch noch zu verantworten, dass die den Kunden abgepresste Gasumlage nicht nur an darbende Konzerne, sondern ebenso an Energie-Erzeuger, die zuletzt Milliarden verdienst haben, fließen wird. Ob dieser Irrsinn noch vor Oktober gestoppt werden kann, ist rechtlich umstritten.


Warum nimmt die Bundesregierung nicht Steuergeld in die Hand und beglückt den taumelnden deutsch-finnischen Konzern Uniper selbst, statt die Belastung auf die Untertanen abzuwälzen. wird manche/r naiv fragen. Ganz einfach, weil die Bürger in ihrer Gesamtheit das System zwar tragen sollen, aber als Individuen nicht relevant dafür sind. Die längst fällige Reduzierung der Mehrwertsteuer auf sieben Prozent für Gas fällt in der Summe der teuren Grausamkeiten kaum noch ins Gewicht.


(Geist)Freie Marktwirtschaft


Wenn ein Schreiner, der drei Gesellen beschäftigt, viele Aufträge und ordentliche Einnahmen hat, behält er einen Teil des Gewinns als Sicherheit ein, um über Rücklagen für schlechtere Zeiten zu verfügen. Tut er das nicht, holt ihn die Katz. Konzerne wie Uniper aber investieren ihre exorbitanten Profite mutig in Managergehälter, Boni (selbst auch bei Verlusten) und Dividenden, kaufen Unnötiges zu, weil das die „Phantasien der Anleger beflügelt“, und kalkulieren nur für wenige Monate im Voraus, weil die Börsen es so verlangen. Wenn ihnen dann die Pleite droht, springt der Staat ein.


Bei einem Finanzminister wie Christian Lindner können die Vorstandsmitglieder der Konzerne auf viel Verständnis hoffen, hat er sich doch immer schon für die Besserverdienenden eingesetzt, wie die anstehende Steuerreform erneut belegt. Gleichzeitig pocht er gebetsmühlenartig auf die Restauration der „Schuldenbremse“ ab nächstem Jahr, einer Schimäre, die angesichts von Existenzkrisen (und „systemrelevanten“ Firmenrettungen) so verlogen wie wirkungslos ist.


Lindners Mantra bleibt die Unfehlbarkeit des Freien Marktes, obwohl sich dieses Konstrukt auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge, sei es im Gesundheitswesen, im Rentensystem oder beim ÖPNV, als untauglich erwiesen hat. Reines Gewinndenken gefährdet gesellschaftliche und ökologische Perspektiven und entlarvt sich bei langfristigem Planungsbedarf als unheilbar dumm.


Drei Monate Volksbelustigung


Was nicht heißen soll, dass der Staat, vor allem unserer, stets umsichtig und vorausschauend handelt. Selbst wenn er einmal einen Glücksgriff tut, etwa mit dem Neun-Euro-Ticket, rudert er sofort zurück, um nicht legitime Begehrlichkeiten nach effizientem Naturschutz zu wecken, und konterkariert solche Großzügigkeiten mit einem umweltschädlichen und SUV-freundlichen Tankrabatt.


Drei Monate lang demonstrierten etliche Millionen, dass sie Lust auf Bahn- und Busfahren haben, ihr Land erkunden wollen, ohne die Luft intensiv zu verschmutzen. Vor allem Fahrten mit der guten alten Eisenbahn sind derzeit populär wie nie, das nützt aber nichts, denn die Bahn ist nicht auf Fahrgäste eingestellt. Es hapert an der Pünktlichkeit, am Zustand des Schienennetzes, am Personalstand, an der Wartung, an der Materialqualität und so weiter. Vor allem aber hapert es am guten Willen der Verantwortlichen.


Unisono warnen nun DB-Vorstand, Verkehrsminister und Bahngewerkschaften vor einer Verlängerung des Neun-Euro-Tickets über den 31. August hinaus. Die Beschäftigten seien überfordert, heißt es, und die Waggons überlastet. Kein Wunder, wurde doch in den letzten Jahrzehnten trotz der Warnungen von Ökologen und Klimaforschern lieber in neue Autobahntrassen als in den Erhalt und Ausbau der Strecken sowie die Modernisierung der Züge investiert. Dem Nachrichtensender ntv zufolge liegt Deutschland bei den Pro-Kopf-Ausgaben für das Schienennetz an drittletzter Stelle in Europa.


Statt zu verkünden, dass man verstanden habe und nun etliche Milliarden in eine weitere Subventionierung des ÖPNV, die Aufstockung des Bahnpersonals, kürzeren Zeittakt und Reaktivierung stillgelegter Strecken umleiten werde, spielt man den eigenen Zufallserfolg herunter. Nur drei Prozent der Passagiere seien vom eigenen Auto auf Bus und Bahn umgestiegen, wurde geklagt. Dabei wird vergessen, dass angesichts der bisherigen Stümpereien in der Klimapolitik drei Prozent weniger Emissionsverursacher auf deutschen Straßen ein respektables Ergebnis sind. Nicht auszudenken, wie viele es wären, wenn Berufspendler ein günstiges Abo hätten und dazu die Gewissheit, mit der Bahn pünktlich und zuverlässig ihren Arbeitsplatz erreichen zu können…


Für Christian Lindner, zu dessen Hochzeit vor wenigen Wochen die Gäste höchst umweltfreundlich mit SUV oder sogar im Privatflugzeug anreisten, ist das Neun-Euro-Ticket schlicht „unökologisch“. Das Gleiche mutmaßt der Finanzminister wohl auch von Tempo 130 auf Autobahnen, weil da ja auch nur drei Prozent weniger Emissionen bei rausspringen. In der Marktwirtschaft kleckert man halt nicht, sondern klotzt – zumindest mit Ankündigungen. Nur leider mag die Umwelt sich nicht mehr gedulden.
Würden die Entscheidungen der Ampel-Koalition nicht permanent an der Lebensrealität der Menschen vorbeischrammen und die großen Probleme verschärfen statt sie zu lösen – man könnte sich über die Knallchargen dieses Polit-Panoptikums köstlich amüsieren.

08/2022
Dazu auch:
Railway to Hell (2022) und Klassenprimus (2021) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund 








Frieren für Deutschland


Spürbare Entlastungen“ oder ein „Klimageld“ für die von allgemeiner Inflation und insbesondere von Energie-Mehrkosten gebeutelten Gering- bis Mittelverdiener sind Zumutungen für die FDP, die sich mehr um ihre Klientel in den oberen Einkommensrängen sorgt. Zum Glück hat die Partei Filous wie den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Lukas Köhler in ihren Reihen, der jetzt einen pfiffigen Vorschlag machte, den nach liberaler Auffassung höchstens die (ungefragten) Betroffenen, linke Gerechtigkeitsfanatiker und sentimentale Sozialpolitiker als zynisch abtun können.


You always walk alone


Kaum war der deutsch-finnische Konzern Uniper von der Bundesregierung gerettet worden, offenbarte Kanzler Scholz die Schattenseite der guten Tat. Der Gas-Einkäufer, der wegen der hohen Preise für das Energie-Fossil in Schieflage geraten war, dürfe ab Herbst seine Mehrkosten an die Kunden weitergeben. Aber, so beruhigte der Regierungschef die Bürger, auch für sie werde etwas getan, stünden Entlastungen an. „You never walk alone“, zitierte der kühle Fürsorgliche aus dem Norden die leicht kitschige Vereinshymne des FC Liverpool.


Von wegen! Sogleich erklärte Finanzminister Lindner, für soziale Wohltaten sei kein Geld da, und kündigte stattdessen Steuersenkungen für 2023 an – solche Maßnahmen nutzen aber vor allem Gutverdienern, weil diese Abgaben in ziemlicher H
öhe einsparen, während die Haushalte mit geringem Einkommen, die wenig an den Staat abführen können, kaum entlastet werden. Und der Kollege im Wirtschaftsministerium, Robert Habeck, ein grün eingefärbter Wirtschaftsliberaler, stellte weitere Gasumlagen in Aussicht, um strauchelnden Konzernen beizuspringen. Nicht jedem werde der Staat diese Last (zwischen 500 und 1000 Euro im Jahr) abnehmen können. Der Bürger mit bescheidenem Salär wird also ziemlich allein bleiben.


Ein soziales Klimageld, wie es SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil fordert, lehnt die FDP kategorisch ab, dafür ruft sie jetzt die Ärmsten, die Empfänger des Arbeitslosengeldes II, vulgo Hartz IV, das demnächst in „Bürgergeld“ umgeschminkt werden soll, dazu auf, durch Askese die Republik zu retten.


Erbarmen mit darbenden Konzernen


Fraktionsvize Lukas Köhler möchte eine bestimmte Gruppe von Menschen dafür belohnen, dass sie Energie einspart. Dabei könnte er an die typische FDP-Wählerschaft mit ihren Einfamilienhäusern, Klimaanlagen, Fußbodenheizungen, SUV in den Garagen und den sechs bis zehn Flugreisen pro Jahr denken, tut er aber nicht; das Recht auf Luxus ist für die Liberalen unantastbar, auch wenn der ökologische Fußabdruck zur Spur eines Mammuts wird.


Vielmehr fordert Köhler einen Bonus für die Hartz-IV-Empfänger in ihren zugigen Altbauten und Einzimmerwohnungen, wenn sie diese noch ein wenig auskühlen lassen. Lassen die Mittellosen, deren Energiekosten ja die Jobcenter bestreiten, die Finger von Gas und Strom, sollen sie bis zu 80 Prozent der eingesparten Kosten ausgezahlt bekommen. So schlägt der promovierte Philosoph gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Das Elend holt für die ganze Nation sozusagen die Kohlen aus dem Feuer, und der Staat verdient auch noch ein wenig damit, nämlich 20 Prozent, denn für die FDP darf nichts ohne Gewinn abgehen.


Sollte der Winter unerwartet streng werden, können die Bezieher von Arbeitslosengeld II ja mit ihren Kinder in die Wärmestuben ausweichen (falls Covid dies zulässt) oder ihr redlich durch Frieren erspartes Geld in gutgeheizten Kneipen versaufen. Der Plan des studierten FDP-Denkers zeugt weniger von Logik oder scharfem Verstand als vielmehr von der Misere der Geisteswissenschaften in Deutschland.


Mitgefühl können die Bürger mit niedrigem und durchschnittlichem Einkommen, deren Existenz angesichts der exponentiell steigenden Energiepreise zur Zitterpartie wird, von den Herren Lindner, Habeck und Scholz nicht erwarten. Diese lassen ihre Untertanen die Zeche für die verschlafene Umweltpolitik, die fahrlässig angebahnte Abhängigkeit vom Lieferanten Russland, selbstmörderische Sanktionen, die ausgesetzte Vermögenssteuer und die enormen Profite von Gasversorgern wie RWE oder Wintershall Dea weitgehend allein zahlen, während in Not geratene Großkonzerne auf Erbarmen hoffen können.


Willkommen im Spielcasino BRD


Eine Übergewinnsteuer für Unternehmen, "die mit Krieg und Krisen außergewöhnlich hohe Erträge erwirtschaftet haben und weiter erwirtschaften", verlangt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Mit den Einnahmen sollen die Haushalte unterstützt werden und von Energie-Umlagen verschont bleiben. Es könne nicht angehen, dass „Krisengewinner nunmehr auch noch von jedem Einkaufsrisiko freigestellt werden". Selbst wenn ein paar verirrte SozialdemokratInnen wie die Vorsitzende Saskia Eskens diese Forderung unterstützen, ist festzuhalten, dass Schneider zwar ein ehrenwerter Mann ist, aber von unserem Wirtschaftssystem nichts versteht. Umverteilung von Oben nach Unten ist im Kapitalismus nicht möglich, umgekehrt geht es natürlich schon…


So werden also wieder Konzerne gerettet und gehätschelt, ohne irgendwelche Verpflichtungen eingehen zu müssen – wie dies schon bei der Lufthansa auf dem Höhepunkt der Corona-Krise geschah. Der Luftfahrtgesellschaft wurden neun Milliarden vom Staat zur Verfügung gestellt, der überdies, genau wie im Fall Uniper, auch noch bei ihr einstieg. Zum Dank entließ sie einen großen Teil ihrer Belegschaft. Für die „systemrelevanten“ Konzerne ähnelt die BRD einem Spielcasino, in dem man nicht verlieren kann, wie gewagt auch immer man zockt. Bei Verlusten übernimmt der Staat fürsorglich Anteile, Gewinne überlässt er diskret den Hasardeuren.


Investoren, Spekulanten und Manager dürfen ihre Spielsucht nach Herzenslust ausleben, während die Hausmeister, Raumpflegerinnen oder Kellner, die das Casino in Schuss halten, tatsächlich das Rien ne va plus der Regierungscroupiers fürchten müssen.
08/2022
Dazu auch:
Klassenprimus? (2021) und Lobbykratie BRD (2013) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund







Heilige Peinlichkeit


Zur Abwechslung handelt dieses Traktat einmal von einer Heldin unserer Zeit, die allerdings eins mit den meisten männlichen in dieser Rubrik charakterisierten Pendants teilt: die unheilbare Sucht nach öffentlicher Aufmerksamkeit. Margot Käßmann hatte auf der Karriereleiter des deutschen Protestantismus so ziemlich alles erreicht, was möglich war, stieg als Pfarrerin zur Generalsekretärin des Kirchentages, zur Landesbischöfin und danach gar zur Ratsvorsitzenden der BRD-Evangelischen auf. Dann aber unterlief der EKD-Chefin ein Fauxpas, und nun schreibt sie ausgerechnet in der Bild am Sonntag (BamS) über alles und jeden.


Rhetorische Allzweckwaffe


Sie war ob ihrer Allgegenwart und Meinungsstärke schon als Kandidatin für die Bundespräsidentschaft gehandelt worden, doch dann schaute sie einmal zu tief ins Glas: Am 20. Februar 2010 fuhr Margot Käßmann nachts mit 1,54 Promille Alkohol im Blut über eine rote Ampel und der Polizei in die Arme. Ein CSU-Politiker der alten Garde hätte angesichts eines solch lausigen Wertes nur trunken gelacht und weiter an seiner Laufbahn gebastelt, die Theologin aber offenbarte Skrupel und trat als Landesbischöfin sowie Ratsvorsitzende umgehend zurück. Ihre Bußfertigkeit liegt wohl im Psalm 135 begründet, wo steht, dass niemand tiefer fallen könne als in Gottes Hand.


Nun nahm die gebürtige Magdeburgerin in der Vergangenheit durchaus ehrenwerte Positionen ein. So unterstützte sie Kriegsdienstverweigerer oder Klima-Aktivisten und wandte sich gegen Fremdenhass wie Rechtsextremismus. Allerdings fiel sie bald durch einen redundanten moralischen Exhibitionismus auf, der sich nach ihrem rauschhaften Läuterungserlebnis in einer unstillbaren Logorrhoe äußerte. In ihrer Penetranz und Dauerpräsenz erinnert sie inzwischen an die TV-Schauspielerin Inge Maysel, die einst unablässig an unserem Nervenkostüm sägte, und an Markus Söder, der es noch heute tut.


Als Kolumnistin heuerte Käßmann beim Springer-Verlag an, also jener Heimstätte von Schmuddel-Journalismus, wie sie ihn früher vehement abgelehnt hatte. Und da sie Unrat auch in den idyllischsten Ecken wittert, konnte nicht einmal Finanzminister Christian Lindner seine Franca ungestört auf Sylt vor den Altar führen. Vor den Altar? Ja, denn die beiden Hälften des jungen Paares waren zwar schon vor Jahren aus der katholischen, respektive evangelischen, Gemeinde ausgetreten (wegen der Kirchensteuer?), mochten aber bei der Hochzeit nicht auf sakralen Pomp im Gotteshaus verzichten. In der BamS warnte die umtriebige Pastorin davor, dass die christlichen Kirchen durch Trauungen von nichtreligiösen Paaren „zu billigen Eventlocations“ verkommen würden.


Weißwäsche der Dreckschleuder


Nun, den Steuerzahlern in diesem Land bleiben der Erhalt der Kirchen für schlecht besuchte Gottesdienste und überhaupt die Alimentierung der beiden Großsekten weiterhin sehr teuer. Bei Lindners Hochzeit schien wenigstens das sakrale Schiff gut gefüllt gewesen zu sein, denn die Creme der deutschen Rechten, vom FDP-Rabauken Wolfgang Kubicki über den Blackrock-Unionisten Friedrich Merz bis hin zum Gebrauchsphilosophen Peter Sloterdijk und zu Bundeskanzler Olaf Scholz, gab sich ein frommes Stelldichein.


Frau Käßmann aber muss sich fragen lassen, welche Prioritäten sie künftig zu setzen gedenkt. Möchte sie ein antagonistisches Gegenstück zur BUNTEN schaffen oder – wie weiland Jesus – die Tempel besenrein halten? Vor allem aber wollen wir wissen, wie es sich anfühlt, als moralische Instanz in einem Verlag, dessen Publikationen bisweilen die Grenzen zu Chauvinismus und Verschwörungsideologie überschreiten, für Weißwäscherei zu sorgen. Immerhin darf sie sich in einem Springer-Blatt kritisch über Lindners Angetraute Franca Lehfeldt äußern, und die arbeitet schließlich für Springers Halbintellektuellen-Kampforgan DIE WELT.


Alibis für den Kampagnen-Konzern besorgen auch immer wieder Politiker der SPD, der Grünen und – ja tatsächlich – der Linken, die ihre innersten Gedanken einer infolge sinkender Auflagen immer exklusiver werdenden Öffentlichkeit anvertrauen, als gäbe es außer BILD keine würdige Publikationsmöglichkeit für die oft hochnotpeinlichen Ergüsse. Wie ihnen scheinen auch Käßmann jegliches Unrechtsbewusstsein als Publizistin und der Instinkt für die Aufwertung dubioser Gazetten abzugehen.


Reines Gewissen? Bigotte Argumentation!


Journalisten der vom ZEIT-Autor Jakob Buhre mitgegründeten Gesprächsplattform „Planet Interview“ hatten die Theologin gefragt, warum sie trotz allerlei dort veröffentlichter Schweinereien in BILD veröffentliche. „Ich schreibe für die Bild am Sonntag“ (also den Familienableger des Revolverblattes), antwortete Käßmann rabulistisch. „Im Netz erscheinen Ihre Artikel auf www.bild.de“, konterten die Interviewer und legten nach: „Sie würden also nicht für die BILD schreiben?“


„Sie sitzen da auf einem ziemlich hohen moralischen Ross, finde ich“, antwortet da die nationale Gewissensjurorin von ihrer Giraffe herab und brüstet sich anschließend damit, mittels launigem Senf zu diesem und jenem Springers Medienmacht zu nutzen. „Denn ich kann meine Meinung jeden Sonntag, frei ohne jede Zensur, kundgeben in einem Medium, das viele Menschen lesen.“


Die Interviewer zitieren aus einer Hommage Käßmanns auf ihren Chefideologen Martin Luther, in der sie den Reformator als „Denkenden“ bezeichnet, der „Glaube und Verstand beieinander hält und auf genau diese Weise jedem Fundamentalismus trotzt, sei er religiöser oder ideologischer Natur“. Wie könne man jemanden, der sich bei seiner Hetze gegen die Juden auf die Bibel berief, als Botschafter gegen religiösen Fundamentalismus sehen, wollen die Journalisten wissen.


Doch da entflieht die Pastorin geschickt ins Schattenreich des Ungefähren, antwortet oder widerlegt nicht, sondern macht eine neue Baustelle auf: „Für mich ist da der zentrale Punkt: Selber denken! Luther lehnt es ab, dass du glaubst, weil es dir ein Priester, ein Dogma oder die Kirche so vorgibt…“


Würde man diese angebliche Erkenntnis Luthers auf Luther selbst anwenden, dürfte man ihm folgende Worte in den Mund legen: „Ich bin zwar ein Antisemit und hasse Juden, weil in der Bibel Übles über sie steht, aber ihr müsst mir und meiner neuen Kirche nicht alles glauben.“
Dem Himmel sei Dank: Dann müssten wir auch Frau Käßmann nicht jeden sinnfreien Stuss abnehmen.
07/2022
Dazu auch:
Unmoralische Instanz im Archiv der Rubrik Medien (2021)







Der fleißige Christian


Als er noch durfte, sonderte Donald Trump allerlei Unausgegorenes und Sinnfreies auf Twitter ab. Ihm eifert nun der deutsche Finanzminister nach und erklärt seinem Volk, dass Solidarität out, Selbstausbeutung hingegen in sei, vorausgesetzt, es wolle die derzeitige Krise heil überstehen. Christian Lindners Tweet (also sein Piepsen) entbehrt nicht einer volatilen Logik und wirkt in sich konsequent, ist für einen Liberalen doch immer gut, was seiner Wirtschaftsklientel nützt.


Zurück in aller Munde


Nachdem die FDP sich in den Koalitionsverhandlungen derart erfolgreich einer ambitionierteren Klimapolitik, einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer und andern sozial-ökologischen Vorhaben widersetzt hatte, dass aus hochfliegenden Plänen schüchterne Absichtserklärungen wurden, musste Lindner konstatieren, dass zwar seine Klientel, nicht aber die Masse der Wähler das engagierte Ausbremsen von Veränderungen goutierte. Wie die SPD, deren Kurzzeit-Hoffnungsträger Olaf Scholz längst wieder zu seiner Whiter-Shade-of-Pale-Normalform zurückgefunden hat, verloren die Liberalen bei den letzten Landtagswahlen nach Herzenslust Prozente und Sitze. In den Medien und in der Gunst der Bürger machten sich vor allem die Grünen nach ihrer gelungenen Wandlung vom pazifistischen Gutmensch-Verein zur waffenklirrenden Falkenpartei breit.


Um dies zu korrigieren und wieder Tagesgespräch zu werden, stellte Lindner eine harsche These zur Krisenüberwindung bei Twitter ein und heimste damit viel Aufmerksamkeit und kaum weniger Kopfschütteln ein. Er hatte sich nämlich auf ein Terrain gewagt, in dem er nicht so recht firm ist, das von Ökonomie und Arbeit nämlich. Seine drei Ausflüge in die Business-Praxis (Unternehmensberatung und Internet) endeten nach kurzer Zeit wenig erfolgreich, so dass er, nachdem er erkennen musste, dass ihm keine Karriere als CEO oder Top-Manager offenstand, seine Hybris mit einer Vita als Polit-Redner zu füttern hatte. Immerhin verbindet ihn mit den alten Freunden in der Wirtschaft immer noch das blau-gelb-magenta-pinke Band der Sympathie.


In gebotener Kürze wollte Lindner auf Twitter den Freunden und Gönnern seiner Partei in den Chefetagen den Rücken freihalten: „Ganz klar: Einen Kriegssoli wird es mit mir nicht geben. Wir sind in einer fragilen Lage. Was wir jetzt brauchen sind mehr Wachstumsimpulse, mehr Gründungen, mehr Überstunden, um unseren Wohlstand zu sichern. Steuererhöhungen würden die Stärkung der Wirtschaftslage sabotieren. CL“


Mehr Arbeit, weniger Wert


Wenn jemand Opfer bringen soll in diesem Land, dann bitteschön die Arbeitnehmer, die ohnehin nicht FDP wählen. Zwar arbeiten diese mehrheitlich ohnehin schon wesentlich länger, als die Tarifverträge es festschreiben, doch sieht Lindner durchaus noch Luft nach oben. Dass Mehrarbeit zu höherer Besteuerung (und damit in der Relation zu niedrigeren Nettolöhnen) führt, dass in vielen Bereichen (etwa in der Pflege) der Arbeitsalltag schon jetzt Erschöpfung, Burn-out, Berufswechsel und dadurch letztendlich Personalmangel verursacht, ficht den als Finanzminister getarnten Kapital-Lobbyisten nicht weiter an.


Die Gewinnmaximierung muss seiner Ansicht nach garantiert bleiben, die Bedingungen für ihre Nutznießer sind vom Staat weiter zu verbessern, selbst wenn dafür die Beschäftigten an die Grenze ihrer Kräfte zu gehen und auf Freizeit, Familie und ähnliche Lappalien zu verzichten haben. Denn, so Lindners Dogma: Nur der zufriedene und immer reicher werdende Investor oder Unternehmer sorgt für ungehemmtes Wachstum.

Dass heute überall die Auswüchse einer den Profiten, nicht aber der Infrastruktur und dem allgemeinen Wohlstand dienenden Produktion korrigiert werden müssen, um die Umwelt oder die Gesundheit zu schützen, dass beinahe ständig Gerichte die Automobil- oder Pharmaindustrie zurückpfeifen, verschweigt Lindner ebenso wie den lästigen Umstand, dass die Überstundenregelung Gegenstand des Arbeitsrechts und nicht Sache der Regierung ist.


Unser Finanzminister fordert Fleiß von den Bürgern ein, obgleich doch emsige Tätigkeit in der „freien“ Wirtschaft bislang nicht gerade zu seinen Stärken zählte. Als Sachwalter unternehmerischer Interessen beschränkt er selbstverständlich sein Postulat auf die arbeitende Bevölkerung. Denn dass die profitierende Minorität davon ausgenommen bleibt, im Schweiße ihres Angesichts für die Gesellschaft zu schuften oder zumindest ihr Scherflein zum sozialen Auskommen beizutragen, versteht sich seiner Meinung nach ja wohl von selbst.


Dagobert Duck würde FDP wählen


Der erzreaktionäre US-Verleger Walt Disney kreierte eine Reihe archetypischer Comic-Figuren, die uns einst begeisterten (wobei der Versager Donald bis heute der Publikumsliebling geblieben ist). Mit Uncle Scrooge (in der deutschen Ausgabe „Dagobert Duck“) schufen seine Zeichner die ultimative Karikatur des Großkapitalisten, der andere Leute schuften lässt und ihren Schweiß versilbert, um in seinem wohlgefüllten Geldspeicher schwimmen zu können.


Es braucht wohl die Lindners und Cum-Ex-Scholzens, damit die Swimming-Pools der Investoren, Großbankiers und Firmenchefs niemals leer werden. Dafür würde der Finanzminister auch mal Pflegekräfte Doppelschichten einlegen lassen und so gleich noch den Personalnotstand in Kliniken und Altenheimen mit beheben. Die Lebensqualität von Bedürftigen wie Beschäftigten ist ihm dabei herzlich egal.


Nur in der Industrie würde Lindner mit seinem Vorschlag auf Probleme stoßen: Für eine Ausweitung der Produktion fehlt es an Rohstoffen und Energie, weil die NATO wegen des von Putin befohlenen Überfalls auf die Ukraine ihre Sanktionen so intelligent verhängt hat, dass jetzt die sanktionierenden Länder stärker darunter leiden als Russland, das ständig neue Exportrekorde für Gas und Öl meldet.

07/2022
Dazu auch:
Lindner vor dem Tore im Archiv von Helden unserer Zeit (2017)








Crime Royale


In Zeiten wie diesen möchte man/frau am liebsten auf die Mor-genzeitung verzichten und die stündlichen Nachrichten im Rund-funk einfach abschalten, allzu deprimierend und gefährlich scheint die globale Situation. Fast könnten wir jene MitbürgerInnen glücklich schätzen, die Erbauung in sinnfreien Kolportagen aus europäischen Königshäusern finden. Doch während die britische Krone auf Sex and Spleen abonniert zu sein scheint, kommt die spanische Monarchie auf ihrem Fachgebiet (ein wenig) Sex und (relativ viel) Crime unserer profanen Halbwelt und niederen Politik bedrohlich nahe.


Sein Freund, der Waffenhändler


Immer, wenn Juan Carlos I. mit seinem guten Freund Abdul Rahman El Assir einen Bootstörn im Persischen Golf unternimmt, wird er eskortiert und genau beobachtet. Doch es handelt sich nicht um Paparazzi, die dem abgedankten spanischen König auf Schritt, Tritt und Seemeile folgen, sondern um Polizeibeamte der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Und diese sind auch nicht an dem Ex-Monarchen, wie skandalträchtig dessen Vita auch sein mag, interessiert, sondern an seinem ibero-libanesischen Kumpel, dem Waffenhändler Abdul Rahman El Assir.


Dass es jenseits der Idyllen und Romanzen, die unsere Regenbogenpresse vor allem älteren Harmonie- und Glamourbedürftigen serviert, auch  Beziehungen zu übelsten Milieus und dubiosen Lobbyisten in Europas Höchstaristokratie gibt, offenbarte Juan Carlos I., als er El Assir, der üb-rigens eine Zeitlang Schwager des einstigen Primus aller Waffendealer, Adnan Kashoggi, war, zur Hochzeit seines Sohnes, des jetzigen Königs Felipe, einlud. Das öffnete dem umtriebigen Levantiner Tür und Tor zur Crème der spanischen Gesellschaft, vor allem aber zur rechtskonservativen Volkspartei PP, insbesondere zu deren damaligem Regierungschef Aznar.


Als polyglotter Händler des Todes beschränkte El Assir seine Aktivitäten nicht  auf ein Land, er führte seine Geschäfte von der Schweiz aus und mischte sich in den französischen Wahlkampf ein. Dort unterstützte er die (erfolglose) Präsidentschaftskampagne des Ex-Premiers Balladur. Ir-gendwann aber übertrieb der eifrige Geschäftsmann seine Aktivitäten, und nun wollen ihn gleich drei Staaten juristisch zur Verantwortung ziehen: Wegen Steuerbetrugs in Höhe von rund 15 Millionen Euro drohen ihm in Spanien acht Jahre Haft und fast 90 Millonenen Euro Geldstrafe. In Frankreich wurde er in Abwesenheit bereits zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er den „Karachigate“-Korruptionsskandal um illegale Waf-fenexporte nach Pakistan inszeniert hatte, und die Schweiz möchte 2,2 Millionen Euro Steuernachzahlung von ihm. El Assir aber, der sich doch so ausgiebig im Glanz des Adels und der Politik gesonnt hatte, war untergetaucht, und Interpol musste feststellen, dass es keine aktuellen Fo-tos von einer so illustren Figur gab.


Dann gelang es der spanischen Zeitung „El Pais“, den Flüchtigen in Abu Dhabi aufzuspüren, und selbst hartgesottenen Journalisten mag ange-sichts wahrer Treue das Herz weich geworden sein: Regelmäßig trifft sich der international per Haftbefehl Gesuchte mit Juan Carlos I. und kreuzt mit ihm vor der Küste – eine Männerfreundschaft trotzt eben auch stür-mischer See.


Hauptsache Monarchie


Eigentlich ist ja auch der Ex-König ein Geflüchteter, mittlerweile allerdings ohne Verfolger. Juan Carlos I. war nämlich ins arabische Exil gegangen, als der Oberste Gerichtshof Spaniens Korruptionsermittlungen gegen ihn eingeleitet hatte. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, der 84-jährige macht ja die Heimat nicht länger unsicher. Gleiches wäre sicherlich auch El Assir angenehm gewesen, doch ihm droht nach wie vor der Kerker, wohl weil ihm die Krönung fehlt; blaues Blut wiegt eben immer noch schwerer als das Schmieröl zur Waffenpflege.


Dass ihr einstiger König dauerhaft außer Landes weilt, ist den Spaniern ganz recht, denn er ist - wie inzwischen die ganze Monarchie - reichlich unbeliebt. Dabei war es ihm doch gelungen, eine Art Heldenlegende über sein Wirken für die Demokratie zu verbreiten. Als 1981 Angehörige der Armee und der Guardia Civil, deren Oberst Tejero das Parlament in Madrid besetzen ließ, meuterten, gelang es Juan Carlos I. mit einer "entschlossenen Ansprache an das Volk“, andere Militärs zum Umdenken zu bewegen und den Putsch zu verhindern – soweit wenigstens die offizielle Version. Tatsächlich hatte der Monarch, dem bis heute Sympathien für rechte Umtriebe nachgesagt werden, so lange mit seiner Rede gewartet, bis feststand, dass die Rebellion gescheitert war, weil sich ihr weder die Mehrheit der Generäle noch die faschistischen Parteigänger anschlossen.


Juan Carlos hatte sich im Gegensatz zu seinem Vater unter Franco so loyal und gehorsam verhalten, dass ihn der greise Diktator in seinem Ver-mächtnis zum Erben des verwaisten Königsthrons bestimmte. Gegen  Ende seiner Regentschaft erregte er allerdings nur noch Ärger unter seinen Landsleuten, zuerst, als bekannt wurde, dass er sich auf einer Luxussafari die Hüfte gebrochen hatte. Der Ehrenpräsident des World Wildlife Fund (WWF) in Spanien wollte in Afrika Elefanten metzeln, während seine Heimat, die für seine üppige Apanage aufkommen musste,  unter der Rezession ächzte. Als er dann sich dann noch von seiner langjährigen Frau Sofia trennen wollte, um seine deutsche Geliebte Corinna zu Sayn-Wittgenstein zu ehelichen, war das Maß voll: Der WWF setzte ihn als obersten Repräsentanten ab, die Kinder drängten ihn zur Abdankung, und die angeheiratete Adlige aus Frankfurt trennt sich von ihm, nicht ohne den Löwenanteil von 65 Millionen Euro, die er als Schmiergeld aus Saudi-Arabien erhalten hatte, mitzunehmen.


Als Exil bot sich für Juan Carlos nur ein Land an, das ordentliche hierarchische Strukturen aufweist und in dem niemand nach der Herkunft eines Vermögens fragt. Hier zeigte sich der ehemalige Monarch flexibel und tolerant. Ob Christ oder Muslim, ob Emir oder König – Hauptsache, die Beziehungen und die gottgewollte Rangliste stimmen. Mittlerweile hat Juan Carlos sogar schon den ersten Heimatbesuch in Spanien absolviert und dabei seine ungeliebte Frau Sofia wiedergesehen. Umarmen konnte er sie allerdings nicht (wenn er denn gewollt hätte), weil sie unter einer Corona-Infektion litt, wie die BUNTE, die natürlich dabei war, pflicht-schuldig berichtete.


Ehrenwerte Familie und diskrete Polizei


Dass es sich bei den spanischen Bourbonen überhaupt um eine schreck-lich nette Familie handeln muss, belegen andere Vorfälle. Als 18-jähriger Kronprinz war Juan Carlos als Einziger beim Tod seines 14-jährigen Bru-ders durch den Schuss aus einer Pistole zugegen. Schnell verlautete, beim Reinigen der Waffe durch Alfonso habe sich das Geschoss gelöst. Bis heute hält sich jedoch hartnäckig das Gerücht, dass es Juan war, der abgedrückt habe, befand sich die Wunde doch mitten in der Stirn des Opfers.

Dieser Vorwurf konnte nie bewiesen werden – ganz im Gegensatz zu den Verbrechen, die Juans Schwester Christina und ihrem Ehemann Urdangarin zur Last gelegt wurden, nämlich Korruption und Steuerhinterziehung. Sie kam mit einem blauen Auge, d. h. 265.000 Euro Strafe davon, ihr Gatte wurde zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt und musste 500.000 Euro berappen.


Es wird für manche kaum glaubhaft sein und ihr Weltbild erschüttern, aber die gekrönten Halbgötter machen sich die Hände oft und gründlich ebenso schmutzig wie Normalsterbliche, aber mit mehr Wirkung als die-se, ob in dunklen Geschäften oder reaktionärer Politik. Angesichts des daher zunehmend fehlenden Respekts der Öffentlichkeit mag es für den Hochadel tröstlich sein, dass er ab und zu noch auf die Polizei zählen kann – auch wenn es um enge Freunde geht.


Eigentlich hätte sich der Waffenbändler El Assir kein unsichereres Versteck als das Exil seines Freundes Juan Carlos, Abu Dhabi, aussuchen können, ist doch der VAE-General Ahmed Naser Al Raisi derzeit Präsident von Interpol, jener internationalen Polizeibehörde also, die auf Betreiben mehrerer Staaten nach ihm fahndet.


Interpol-Chef Naser zu Waffenschieber und Ex-König: "Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte."

Aber auf der arabischen Halbinsel nehmen die Staaten ihre Interpol-Mitgliedschaft nicht so ernst, halten sie eher für ein Steckenpferd oder die Teilnahme an einem unverbindlichen Gesprächszirkel. Zudem imponiert den Vereinigten Emiraten wohl auch der Beruf des Beschuldigten, führen sie doch derzeit Krieg im Jemen. Und Geld mit schmutzigen Geschäften zu machen, die Politik per Zuwendungen zu beeinflussen und kreativ Steuern zu umgehen, gehört in diesem Teil Arabiens eher zu den ehrenwerten Tätigkeiten. So wird El Assir nicht verhaftet und ausgeliefert, sondern nur ein wenig beschattet, darf weiterhin im Luxushotel Four Seasons logieren und sich unbehelligt mit seinem königlichen Spezi treffen.

06/2022

Dazu auch:

Die Königslegende im Archiv der Rubrik Medien (2018)

Dossier Spanische Skizzen in der Rubrik Medien







Deutsches Expertentum


Nach dem Mittelalter zerfielen die deutschen Lande in etliche Kleinstaaten und Duodez-Fürstentümchen, so dass es den Einheimischen schwerfiel, ein ähnliches Herkunftsbewusstsein zu entwickeln wie etwa die Spanier, Briten oder Franzosen in ihren geeinten Reichen. Gut, dass es ein paar Dichter und Denker, Maler und Wissenschaftler von Weltrang gab, die den Nationalstolz wenigstens auf Sparflamme köcheln ließen (bis er nach einigen Kriegen unerträglich aufflammte, woran wir uns gar nicht gern erinnern). Heutzutage wandern die Gelehrten in die USA aus, verziehen sich die Künstler in die Toskana, und China meldet weit mehr Patente an als die Bundesrepublik. Woraus sollen wir künftig unsere Hybris speisen, wenn nicht aus der Fülle unseres lokalen Expertentums.


Die Weisen der Wirtshäuser


Von der „Oberhoheit über den Stammtischen“ in Bayern schwärmte einst Edmund Stoiber, der rhetorisch fulminante Ministerpräsident der Männerrunden. Damit meinte er nicht den Umstand, dass jeden Montag, den der Fußballgott werden lässt, in den mit Gehörnen geschmückten Wirtshäusern der Republik Hundertausende von Tafelrunden aus Fachleuten Bundesligatrainer entlassen oder Starspieler auf die Ersatzbank setzen, er spielte wohl auch auf die frappierende Fähigkeit der Diskutanten an, schwierige Sachverhalte, etwa die Integration ausländischer Mitbürger, trefflich zu analysieren und die Erkenntnisse in verständlicher Muttersprache zum Besten zu geben, wobei der Einfachheit halber ein ganzes Volk auf das für es typische Individuum heruntergebrochen wird.


So ist der Italiener ein Schlawiner, der nicht gern arbeitet, während der Türke nix Deutsch spricht und der Afrikaner an sich mit dem deutschen Wesen wenig am Hut hat. Dem Griechen hingegen stellt man ein gutes Zeugnis aus, solange er bei seinen Leisten, also hinter der Theke, bleibt und einen Ouzo zum Souvlaki ausgibt. Bei Flüchtlingen ist die Sache den Flaschenkindern des Hochgeistigen sowieso sonnenklar: Die kommen nicht, weil Krieg und Hunger in ihren Ländern herrschen, sondern weil sich Hartz IV (mittlerweile verschämt „Bürgergeld“ genannt) bis in die Sahelzone und nach Afghanistan herumgesprochen hat.


Außerhalb bierdunstgeschwängerter Schankstuben präsentieren sich zumeist Politiker als eloquente Fachkräfte, wobei sie die Fachgebiete (und bisweilen die Meinungen) wechseln wie andere Leute die Unterhosen.


Klima-Koryphäe aus Bayern


Ein zeitgenössischer Experte von schier universaler Bandbreite kommt aus dem schönen Bavaria: Markus Söder (noch ein Ministerpräsident) kennt sich mit allem aus, zum Beispiel mit Wetter und Energie, und weiß genau, wie man den Klimawandel Mores lehrt. Als die unsinnige 10H-Regelung den Bau von Windkrafträdern quasi im Alleingang zum Erliegen brachte, erklärte er bei Anne Will dem staunenden Publikum, in Bayern gebe es ohnehin kaum genügend Wind. Was pfeift uns da die ganze Zeit um die Ohren, werden sich die Eingeborenen in der Rhön, im Frankenwald oder auf den Eiszeitebenen westlich von Augsburg verwirrt gefragt haben. Heiße Luft aus München kann es nicht sein, dafür ist es zu rau und zu stark.


Aber dieser Kachelmann der Politik weiß auch, dass man dem Klimawandel nicht mit neuen Nationalparks beikommen kann, sondern mit der Wiederinbetriebnahme von Atomkraftwerken, für ein, zwei Jährchen zunächst. Wenn die Betreiber erklären, dies sei unrentabel und könne die Energielücke, die durch die Abnabelung von Russland entstünde, ohnehin kaum schließen, bietet der schwarze Riese fünf Jahre Laufzeit an, demnächst vielleicht fünfzig. Natürlich hätte man einstweilen auch die Windkraftkapazitäten ausbauen mögen, aber Söder kennt die Empfindlichkeiten von Villenbesitzern, die freien Blick auf die Alpen verlangen. Zwischendurch umarmt er einen Baum (der übrigens nicht danach eingegangen ist) und erweist sich als Spezialist für Fracking-Möglichkeiten. Bei dieser Art von Gasgewinnung sieht man die unterirdischen Verwüstungen wenigstens nicht.


Natürlich weiß der bayerische Landesvater auch bestens Bescheid über alles andere, was uns umtreibt. Dass die Gültigkeit der Wahrheiten, die er uns zuteilwerden lässt, oft nur ein paar Tage oder Wochen währt, ist sicherlich den sich rasch ändernden Zeitläuften geschuldet.


Die Covid-Versteher


Söder wäre nicht Söder, wenn er nicht auch die Corona-Pandemie in allen Facetten verstanden und daraus stets die vom Wahlvolk präferierten (oder abgelehnten) Maßnahmen ergriffen (oder unterlassen) hätte. Früh wusste er, dass Bayern keine Maskenpflicht wie Austria brauche, dann, dass kein Lockdown im Freistaat notwendig sei. Jeweils vierzehn Tage später führte er die Maskenpflicht ein und schloss das öffentliche Leben weitgehend ab. Mal war der Patronus Bavariae der strengste Türschließer im ganzen Bund, dann wieder preschte er als hurtigster Lockerer Deutschlands vor.


Verantwortungsbewusst propagierte er die Impfpflicht – bis sie tatsächlich kommen sollte; dann ruderte er sogleich zurück. Die nächste Kehrtwende ist in Kürze zu erwarten, denn zu einer deutschen Expertise gehört der ständige Wechsel des Standpunkts.


Nun ist Söder ja nicht der einzige Seuchendompteur im Land, noch dezidierter hatte sich der studierte Epidemiologe Karl Lauterbach geäußert. Keine Chance wollte er Covid lassen und seine Landsleute durch Super-Hygiene, fürsorgliche Kontaktsperre und permanente Impfwiederholung zu ewiger Gesundheit zwingen. Bis er dann Gesundheitsminister wurde und erfahren musste, dass man nichts unternehmen darf, was die andersdenkenden Experten der Koalitionspartner nicht auch tun wollen.


Die halbvernünftigen Fachleute in der Politik schafften es, Vakzinen, die nach allen WHO-Kriterien erfolgreich, aber keine Wundermittel waren, durch irrige Behauptungen („Corona-Resistenz von 95 Prozent“) in Verruf zu bringen. Dies wiederum war Wasser auf die Mühlen jener Experten, die von heimlich injizierten Mikrochips, unermesslichen und massenhaften Impfschäden sowie der Errichtung einer Corona-Diktatur berichteten und aufgrund ihres mannigfaltigen Wissens um diverse Weltverschwörungen riskieren, unter fürsorgliche Betreuung gestellt zu werden.


Grüne Militärsachverständige


Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine wimmelt es in Deutschland von Militärexperten. Besonders tun sich dabei die Mitglieder einer als pazifistisch-ökologisch missverstandenen Partei hervor. Gemeint sind die Grünen, und in deren Reihen profilieren sich vor allem zwei Spitzenpolitiker als erfahrene Falken im Schafspelz. Da ist einmal Anton Hofreiter, den wir für einen Landwirtschaftsexperten hielten, der sich aber, nachdem ihm das Bauernministerium verweigert worden war, als Militaria-Spezialist outete, der alle Panzer-Typen vor- und rückwärts aufzählen kann und vermutlich die Seriennummern sämtlicher Haubitzen auswendig kennt. Er hat jedoch sein Fachwissen nicht zum Spaß erworben, vielmehr will er damit die russische Armee in die Schranken verweisen.
Ihm möchte Parteifeind Cem Özdemir, der als Agrar-Amateur an die Spitze des Ressorts für Hof, Dorf und Acker gewürfelt wurde, in nichts nachstehen. Immer schwerere Waffen sollen die Bundeswehr und der deutsche Staat an die Ukraine liefern, damit Cems Etappenziel, sein logistischer Sieg über Putin, erreicht werde. Der Wettlauf innerhalb der Grünen um den Titel des „Heißesten Kriegers“ ist somit entbrannt.


Angesichts dieses Überangebots an deutschen Experten für alle Lebens- und Sterbenslagen wünscht man sich manchmal klammheimlich, nur noch von blutigen Laien umgeben zu sein.
05/2022
Dazu auch:
Kassandra muss liefern (2022) und Fabel vom Wolf Markus (2019) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit






Johnsons fieser Deal


Boris Johnson steht aus verschiedenen Gründen unter Druck: Er hat das Unterhaus und die Öffentlichkeit belogen, und er hat sein Versprechen, die „illegale“ Immigration nach Großbritannien zu stoppen, nicht einlösen können. Um wenigstens Letzteres zu realisieren, ist er auf einen perfiden Trick verfallen: Er möchte die Spätfolgen des Empire-Kolonialismus mit eben dessen Methoden bekämpfen.


Das afrikanische Australien


Der anarchische Wuschelkopf Boris Johnson hat ein Verhältnis zu menschlicher Würde und zur Wahrheit, das typisch für seine in Eton, dann Cambridge oder Oxford für die Machtübernahme im Staat ausgebildete Clique adliger oder bourgeoiser Geisteshooligans zu sein scheint: Die „niederen“ Menschen, ob von Corona bedrohte Greise, Flüchtlinge oder Wähler, sind ihm herzlich egal, folglich darf er sie betrügen, wie es ihm gefällt, und muss nur darauf achten, dass er im Notfall genügend Schnapsideen mit hohem Unterhaltungswert produzieren kann, um ihre Gunst an der Urne zu gewinnen.


So wurde in seinem Amtssitz Downing Street 10 auf dem Höhepunkt der Covid-Krise nach Herzenslust gesoffen und geschunkelt, während er als Premier sein Volk zu Isolation und Askese verdammte. Und so heischt er nun um Zustimmung für einen makabren Plan, der afrikanische Flüchtlinge, die sich über den Ärmelkanal gerettet haben, dahin verfrachten soll, wo sie seiner Meinung nach hingehören, nämlich auf ihren Heimatkontinent, genauer: nach Ruanda.


Des Wohlwollens einer breiten rechtspopulistisch gesinnten Bevölkerungsgruppe kann sich Johnson sicher sein, wenn er vor allem ledige junge Männer, deren Emigration nach Europa mit seinen Job-Chancen oft als letzter Hoffnungsanker für ganze Familien oder Dörfer galt, zurück in den Busch schicken will. Mochten auch hundertfünfzig Menschenrechtsorganisationen und die Anglikanische Kirche sofort protestieren und wie die Labour Party das Vorhaben als „undurchführbar, unethisch und erpresserisch“ ablehnen – die Idee gründet auf alter Tradition, erinnert sie doch an „Hygienemaßnahmen“ aus der Blütezeit des britischen Kolonialismus.


Nach dem Zusammenbruch des Empire hat das britische Mutterland Millionen einstiger „Eingeborener“ vom indischen Subkontinent, aus Afrika oder der Karibik integriert, oft mehr schlecht als recht, aber doch mit weniger sozialen Verwerfungen als in anderen zerfallenden Kolonialreichen. Dennoch gab und gibt es auch im sonst so gelassenen Albion rassistische Parteien und Organisationen, von der „National Front“ über UKIP bis hin zum mächtigen Rechtsaußen-Flügel der Konservativen. Für diese weißen Nationalisten gehören dunkelhäutige Bevölkerungsgruppen seit jeher zum „Abschaum“, werden per se als kriminelle Banden denunziert und zum Teufel gewünscht. Dieses „Gedankengut“ greift der Populist Johnson nun geschickt auf und kreiert einen „Lösungsweg“ mit Anleihen aus finsterer Vergangenheit.


Bereits vor mehr als drei Jahrhunderten deportierte London Verbrecher (oder unglückliche Arme), die man nicht aufhängen oder einkerkern, aber auch nicht im „gesunden Volkskörper“ dulden mochte, einfach in die nordamerikanischen Kolonien (s. „Moll Flanders“ von Daniel Defoe). Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Delinquenten dann im australischen Busch ausgesetzt, auf dass sie neue Siedlungen schüfen und der englischen Gesellschaft das Miasma des ordinären Ganoventums erspart bliebe. Da aber Ruanda keine Kronkolonie ist, sondern ein selbständiger Staat, steckt Johnson dem dortigen Regime umgerechnet 145 Millionen Euro zu, damit es auf die jungen Männer aus allen Teilen Afrikas, die immerhin genug kriminelle Energie aufgebracht hatten, um vor Hunger und Krieg um die halbe Welt zu flüchten, aufpasse.


Was Boris unter Freiheit versteht


Seit unseren Schultagen wissen wir, dass wir in der freiesten aller möglichen Welten leben – vorausgesetzt, wir sind in dem Teil der Erde geboren, der die anderen Kontinente nach Herzenslust ausbeutet, und wir bejahen das Kredo unserer Wirtschaftstheoretiker, nach dem sich die Qualität individueller Entfaltung nach dem Maß an Ellbogenfreiheit definiert, mit der wir unsere Profitinteressen durchsetzen können. Die Freiheit für alle,  irgendwo an einem sicheren Platz leben zu können, gehört nicht zu den liberalen Grundrechten.


So sieht das Boris Johnson auch, der allerdings für sich selbst, seine finanzstarken Förderer und Parteikollegen noch so manche andere Freiheit geltend macht, etwa die des flegelhaften Benehmens, des ostentativen Standesdünkels oder der elitären Missachtung englischer Gesetze und des internationalen Asylrechts. Menschen in Not jede Freiheit, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden, zu beschneiden oder ganz zu verweigern, gehört ebenfalls zu den libertären Anmaßungen des gottgleichen Rüpels.


Schon die Annahme, man könne ein Flüchtlingsproblem einigermaßen geräuschlos lösen, indem man unerwünschte Immigranten einfach in ein Land auf ihrem Herkunftskontinent entsorgt (hier in der irrigen Hoffnung, die „Heimat“ werde ihre verlorenen Kinder schon geräusch- und konfliktlos absorbieren), zeugt von einem Weltbild auf unterstem Stammtisch-Niveau. Ist Johnson eigentlich klar, dass Afrika, wohin seiner Meinung nach wohl alle Schwarzen gehören, um ein Vielfaches größer ist als Europa, dass seine Ethnien und Kulturen weitaus stärker differieren als die Völker und Traditionen des Abendlandes? Und dennoch haben sich auch letztere über Jahrtausende hinweg massakriert – und tun es in der Ukraine gerade wieder…


Zu hoffen, dass ein dem Bürgerkrieg im Südsudan Entronnener sich gedeihlich neben einem desparaten Nomaden aus Mali und einem entwurzelten Kleinbauern von der Elfenbeinküste in einem kleinen Land, in dem die Tutsi-Sieger das Sagen haben und die Hutu-Mehrheit besser schweigt, ansiedeln kann, mit ein bisschen Taschengeld aus Johnsons Säckel, ist dumm, absurd und hat mutmaßlich tödliche Weiterungen.


Ausgerechnet Ruanda!


Johnsons irrem Masterplan ging die Unfähigkeit der unterbesetzten britischen Behörden voraus, die Asylgesuche der über den Ärmelkanal Gelangten adäquat zu prüfen und rechtlich wasserdichte Entscheidungen zu treffen. Das soll nun ausgerechnet in Ruanda geschehen. Wie kommt der Mann nur zu der Meinung, die räumliche Verschiebung eines administrativen Problems um mehr als 6000 Kilometer könnte zu einer schnelleren (und gerechteren?) Lösung führen? Oder  glaubt er, weitab von den Tory-Wahlkreisen wüchse das Elefantengras der Savanne rascher über die Belege seines Versagens?


Die aus Großbritannien abgeschobenen Flüchtlinge kämen in ein dicht besiedeltes Binnenland, in dem jetzt schon mehr als zwölf Millionen Menschen auf nur 26.000 Quadratkilometer (kleiner als Brandenburg) leben, wobei große Flächen für Nationalparks reserviert sind. Nach einem deutschen Kolonial-Intermezzo gehörte Ruanda bis 1962 zum belgischen Raub-Portfolio. Das Prinzip „Teile und Herrsche!“, nach dem die europäischen Mächte ihren „Besitz“ in Afrika zu sichern pflegten, schlug hier besonders nachhaltig an: Vor achtundzwanzig Jahren fielen Chauvinisten der Hutu-Mehrheit über die Tutsi-Minorität, aber auch über tolerante Angehörige des eigenen Volkes her und töteten rund 800.000 Menschen. Tutsi-Milizen gelang es, den Genozid zu stoppen und ein neues Regime in Kingali zu etablieren.


Kein Zweifel, Ruandas Präsident Paul Kagame ist einer der intelligentesten und erfolgreichsten Politiker im gegenwärtigen Afrika. Bis heute hält der fragile Frieden zwischen den beiden Hauptvölkern, das Land verzeichnet hohe Wachstumsraten, und es wird viel in Bildung investiert. Andererseits ist der Tutsi Kagame ein Autokrat, der keine freie Presse zulässt, Wahlen manipuliert und im kongolesischen Bürgerkrieg mitmischt. Einige Oppositionelle und kritische Journalisten fielen zufälligerweise Attentaten zum Opfer.


Der britische Premierminister plant also allen Ernstes junge afrikanische Flüchtlinge in einen Staat abzuschieben, der in etwa die Machtstrukturen, vor denen sie geflohen sind, aufweist und in dem ein aus dem Konflikt zweier Ethnien entstandener Völkermord erst eine Generation zurückliegt. In einer besseren Welt würde man über ein solches Hirngespinst nur ungläubig den Kopf schütteln, in unserer aber kann es die Wiederwahl sichern.

04/2022
Dazu auch:
Völkermord als Test im Archiv von Politik und Abgrund (2018)







Ein Traum von Heil


Neulich im ARD-Morgenmagazin: Plötzlich tönte es wie in einem süßen Traum von Menschlichkeit und Hoffnung. Ein deutscher Bundesminister offenbarte Solidarität mit Kriegsflüchtlingen und versprach ihnen und ihren Kindern nicht nur Aufnahme und Bleiberecht, sondern auch Integrationsmaßnahmen und berufliche Perspektiven. Hubertus Heil, im Berliner Kabinett für Arbeit und Soziales zuständig, öffnete das Tor zu einer besseren Zukunft für die Geflohenen und Vertriebenen! Für alle? Nun, nicht ganz, ein wenig Selektion und ein gewisses Herkunftsprivileg sollten schon sein…


Gern auch „längere Zeit“


"Das ist eine Frage der Humanität, aber das ist auch eine Frage der Vernunft", sagte Heil im Frühstücksfernsehen des Ersten Programms und meinte damit „längerfristige Perspektiven“ für Flüchtlinge auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Denn die „Zerstörungen und die Länge des Krieges“ seien nicht vollständig absehbar, und so würden wohl viele Menschen eine geraume Zeit in Deutschland bleiben.


Eigentlich hätte nun Frohlocken bei Hilfsorganisationen, dem Flüchtlingsrat oder den Verteidigern des Asylrechts laut werden müssen, weil die Bundesrepublik endlich gewillt zu sein schien, ihrer internationalen Verantwortung und damit den obligatorischen  humanitären Verpflichtungen nachzukommen. Endlos lang sind die Kriege in Syrien, Libyen, Afghanistan oder im Irak (an denen die Bundesrepublik übrigens militärisch, rüstungstechnisch oder nachrichtendienstlich mitgedreht hat) ja tatsächlich, und die Verwüstungen dort spotten jeder Beschreibung. Doch den NGOs stößt bitter auf, dass der Heilsbringer Hubertus einen feinen, aber gravierenden Unterschied macht.


Die Hilfe, die der Minister anbietet und die ein Unterstützungsstandard für traumatisierte Kriegsgeflohene sein müsste, ist leider nicht für Menschen aus Asien oder Afrika gedacht, die ihr Leben riskierten, um hierher zu gelangen, sondern nur für die etwa 300.000 Einwohner der Ukraine, die Putins perfider Überfall nach Deutschland getrieben hat. Allerdings auch wieder nicht für alle von ihnen: So wurden die ersten afrikanischen Immigranten, die im Kriegsland studiert und gearbeitet hatten, bereits an unseren Grenzen zurückgewiesen. Heils idealer Flüchtling muss also ein Putin-Opfer und dazu weiß sein sowie am besten irgendeiner christlichen Konfession angehören.


Arbeit und Sprachkurs? Bitteschön!


Den angekommenen Ukrainern sei die gute Aufnahme herzlich gegönnt, nur sollte genau hinterfragt werden, nach welchen Kriterien die Verantwortlichen der EU hier positiv handeln, während sie andere Geflohene an der polnisch-belarussischen Grenze erfrieren, im Mittelmeer ertrinken und in libyschen Sklavenlagern verrecken lassen. Heils Palette des guten Willens sieht noch andere Wohltaten vor, die im Prinzip allen Verfolgten und Ausgebombten verbindlich angeboten werden müssten, aber nur den Lieblingsflüchtlingen aus dem „Nächsten Osten“ zugutekommen.


So sollen die Berufsabschlüsse der Neuankömmlinge schleunigst anerkannt werden, um sie „langfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren“. Technikern, Lehrern und Ingenieuren aus dem Nahen oder Mittleren Osten teilt man hingegen oft durch die Blume mit, sie könnten ihre Diplome ja als Toilettenpapier benutzen. Und die „Integration“, von der Tausende Äthiopier, Somalis oder Sudanesen, die liebend gern – und oft mit einschlägigen Vorkenntnissen - in den personell unterbesetzten deutschen Kliniken und Altenheimen arbeiten würden, nur träumen können, scheint für Ukrainer ein Kinderspiel zu werden.


„Es kommen sehr, sehr viele Menschen zu uns, die auch eine gute Ausbildung haben. Die Ausbildungssysteme sind nicht eins zu eins vergleichbar - da müssen wir schneller werden", sagte Heil. Diese Menschen sollten nicht in Hilfstätigkeiten gedrängt werden. Die Handlangerjobs sind anscheinend für die wenigen Afrikaner reserviert, die es trotz Dublin-Abkommen geschafft haben, sich über unsere Grenze zu schleichen, den Status des „Geduldeten“ und – Gipfel des Glücks! - eine befristete Arbeitsgenehmigung zu erlangen.


Während die unwillkommenen Flüchtlinge aus Wüste und Urwald ihre Herkunft minutiös belegen und bei Einreise ohne Papiere (die möglicherweise von Schleppern entwendet wurden oder im Mittelmeer treiben) mit einem Verfahren und der Abschiebung rechnen müssen, brauchen sich Ukrainer ohne Visum innerhalb der ersten 90 Tage nicht einmal bei den Behörden der EU-Länder zu melden. Das Bundesamt für Migration hat auch gerade ein „wichtiges Thema“ entdeckt: den Spracherwerb. Es gebe ausreichende Möglichkeiten, an entsprechenden Lehrgängen teilzunehmen, erklärte die ziemlich berüchtigte Nürnberger Behörde. Noch vor Kurzem wurde die Genehmigung von Sprachkursen für Asylbewerber allerdings so restriktiv gehandhabt, dass von den 50.000 Unterrichtskräften bei den 1.500 privaten Schulträgern in Deutschland 38.000 ohne Beschäftigung waren.


Manche ertrinken, andere sind Gäste


Vielleicht ist das alles bloß Zufall, halten Deutsche, die wie ich mit Flüchtlingen zum Zweck der Integration gearbeitet haben, Heils Initiative Situation fälschlich für diskriminierend, und doch drängen sich Fragen auf, deren ehrliche Beantwortung vielleicht einen bösen Verdacht bestätigen würde:


Könnte es sein, dass hellhäutige Menschen in Not hierzulande eher Mitleid und Hilfsbereitschaft erwarten dürfen als dunkle Fremde, die noch dazu der falschen Religion anhängen?


Schlägt unser gutes Herz eurozentristisch, heißt es lieber Nachbarn willkommen, die geordnet geflohen sind, als exotisch anmutende Menschen, die auf einer chaotischen Flucht aus dem Elend zu ertrinken drohten?


Die Kriege und Hungersnöte der einen kommen uns weit weg vor und sind möglicherweise von uns ein wenig mitverursacht worden (was potentiellen Edelmut relativieren würde), der Überfall auf die Ukraine dagegen wurde von unserem Lieblingsfeind Putin angeordnet. Ist unsere Nächstenliebe in diesem Fall nicht über alle Zweifel erhaben?


Hubertus Heil fordert schon deshalb mehr Tempo bei der Anerkennung ukrainischer Ausbildungen und der beruflichen Integration der aktuellen Flüchtlinge, weil, wie er sinngemäß ausführt, das Ziel nicht sein dürfe, diese Menschen zu Hilfsarbeitern mit Mindestlohn zu degradieren. Sollte diese Maxime denn nicht eine Selbstverständlichkeit für einen Arbeitsminister sein, die nicht nur für Geflohene gilt, sondern auch für behinderte Menschen, für Jugendliche mit Migrationshintergrund oder für solche aus den Unterschichtfamilien der Glasscherbenviertel in den großen Städten? Oder will der Sozialdemokrat an den Ukrainern wiedergutmachen, was seine Hartz-4-Partei an einer ganzen Generation heimischer Unterprivilegierter verbrochen hat?

04/2022
Dazu auch:
Die EU lässt sterben im Archiv der Rubrik Medien (2019)
Dumm oder inhuman? im Archiv von Politik und Abgrund  (2021)








Koch und Klinkenputzer

Eigentlich ist bereits genug geschrieben und geschimpft worden über die Skrupellosigkeit, Gier und Unverfrorenheit des Mannes, der in Deutschland die Türen für den Neoliberalismus weit öffnete und dabei seine Partei, die SPD, im Alleingang beinahe ruinierte. Wenn man Ex-Kanzler Gerhard Schröder dennoch nicht ganz der Bildzeitung oder den bunten Blättern überlassen darf, dann deshalb, weil ständig weitere seiner Machenschaften ans Licht kommen und etliche honorige Persönlichkeiten, die öffentlich die Nase über ihn rümpfen, darin verstrickt zu sein scheinen.


Der Chef als Drücker


„Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“ Dieser Maxime folgt Gerhard Schröder, seit er 2004 als Bundeskanzler abgewählt wurde. Statt Trübsal zu blasen, begann er umgehend damit, seinen Bekanntheitsgrad und die Beziehungen zu Politikern wie Wirtschaftsgrößen, denen er als Regierungschef so manche Hemmschwelle auf dem Weg zur Profitsteigerung weggeräumt hatte, kommerziell zu nutzen, d. h. fett Kohle zu machen, um bei seiner volkstümelnden Diktion zu bleiben. Obwohl er sich beim Aussuchen seiner Gönner und Financiers nicht gerade wählerisch zeigte, genierten sich auch die höchsten Amtsträger der Republik nicht, dem Gerd bei semi-klandestinen Treffs das geneigte Ohr zu leihen – auch noch als er den zunehmend despotische Züge offenbarenden Wladimir Putin zum „lupenreinen Demokraten“ adelte, was ihn den letzten Rest an gutem Leumund und nach dem Einmarsch in die Ukraine seine vier vom Staat bezahlten Mitarbeiter kostete.


Der umtriebige Ex-Kanzler war sich für kaum einen Lobbyisten-Job und keine Gefälligkeit zu schade, wenn nur ausreichend Honorar dafür rüberkam. Seine Funktionen als Aufsichtsratsvorsitzender der russischen Staatskonzerne Nord Stream AG und Rosneft waren wohl nicht seiner Expertise im Erdgas-Geschäft geschuldet, sondern der Männerfreundschaft mit dem Herrscher im Kreml. Während die Russian Connection hierzulande sehr viel Unmut hervorrief, gingen andere Engagements Schröders unter dem öffentlichen Radar durch: So beriet er 2009 die Libyan Investment Authority, ein vom Gaddafi-Clan beherrschtes Konsortium. Von 2006 bis 2016 durfte die Rothschild Bank auf seine Analysen hoffen. Weitere acht honorarträchtige Tätigkeiten wurden im Laufe der Jahre gelistet, von denen sein lobbyistischer Einsatz für den Rentenarrangeur BVUK (Betriebliche Versorgungswerke für Unternehmen und Kommunen e.V.) besonders interessant ist, wie wir noch sehen werden.


Als Kanzler kannte Schröder, der „Genosse der Bosse“ (später: „Gas-Gerd“), in Wahlkampfzeiten keine Freunde oder Verbündeten mehr. Während einer Diskussion mit dem ihm charakterlich recht ähnlichen Joschka Fischer entfaltete er seine ganze strahlende Hybris: "In einer rot-grünen Konstellation muss klar sein: Der Größere ist Koch, der Kleinere ist Kellner.“ Für den Niedersachsen konnte es in einer Regierungskantine nur einen Großen, einen Koch, geben, und der hieß Gerhard Schröder. Der tiefe Fall nach der Wahlniederlage wurde durch dicke Bündel von Banknoten einigermaßen abgefedert, und doch mag es den Egomanen bisweilen wurmen, dass er im Team mit Chefkoch Putin  nur der Küchenjunge und als Mitarbeiter von Finanzjongleuren lediglich der Drücker mit den guten Kontakten ist.


Merkel und Scholz lassen bitten


Und dass diese Kontakte noch intensiv und intakt waren, als Schröder seinen guten Ruf schon längst eingebüßt hatte, beweist eine Gesprächsliste, die Abgeordnetenwatch, eine Antikorruptionsplattform, unlängst vorlegte. Demnach hatten in den Jahren 2020 und 2021 u. a. die Bundesminister Hubertus Heil (telefonisch) und Olaf Scholz (zweimal persönlich, zweimal fernmündlich) mit ihrem Parteigenossen konferiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel traf sich in dieser Zeit zweimal mit ihrem Vorgänger.


In Kooperation mit der ZEIT fand Abgeordnetenwatch heraus, dass  Schröder kurz nach der Bundestagswahl ein Gespräch mit der geschäftsführenden Bundeskanzlerin am 4. Oktober 2021 und zwei Tage später eins mit dem designierten Nachfolger Scholz geführt hatte. Die NGO wollte nun wissen, worum es bei diesen Treffen gegangen sei, etwa um Energielieferungen aus Russland oder um die Interessen des Versicherungsmaklers BVUK? Die Organisation forderte, auch unter Hinweis auf die neuen Transparenzregeln, die Herausgabe der Kalendereinträge zu den Terminen. Nachdem diese mit ziemlich absurder Begründung verweigert wurde, prüft die Organisation nun juristische Schritte.


Transparenz? Bitte nicht im Kanzleramt!


Denn es könnte um wichtige Entscheidungen für die energiepolitische Zukunft des Landes und die Absicherung der Altersrenten gegangen sein. Sollte Lobbyist Schröder den Weg für langfristige Lieferungen aus dem Osten freigemacht haben, würde die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und von den russischen Ressourcen verewigt. Die BVUK wiederum, die u. a. die betriebliche Altersversorgung für Unternehmen wie Henkel oder OBI organisieren, waren – im Gegensatz zu den meisten Arbeitnehmern, die sich auf einen Abschluss einließen – Profiteure der Riester-Rente. Statt das staatlich garantierte Altersruhegeld perspektivisch zu stärken und eine Bürgerversicherung einzuführen, wurden den Firmen Bundesmittel für hausgemachte Lösungen zur Verfügung gestellt: eine Goldgrube für zwischengeschaltete Makler und externe Berater. Hat Schröder möglicherweise die Wirren der „Zwischenregierungszeit“  genutzt, um für seinen Auftraggeber BVUK weitere Profitchancen festzuklopfen?


Die Rechercheure von ZEIT und Abgeordnetenwatch eruierten auch, dass Schröder seine Mitarbeiter die Dates mit den Amtsträgern fixieren und ggf. das Restaurant für ein ergiebiges „Geschäftsessen“ buchen ließ. Ex-Kanzler haben einen Anspruch auf solche vom Bund gezahlten Assistenten, um „im Bundesinteresse“ weiter zu agieren, d. h. den eigenen Platz in der Geschichte ausschmücken oder eine repräsentative Aufgabe für die Regierung übernehmen zu können. Die 400.000 Euro, die Schröders Geisteseskorte den Steuerzahler jährlich kosteten, waren aber nicht dazu gedacht, das Vermögen des Altkanzlers und das seiner Auftraggeber in der Wirtschaft zu mehren.


Vielleicht aber war im Oktober alles ganz harmlos, nur Smalltalk zwischen einstigen Kollegen. Wir wissen es nicht, weil durch das Transparenzregister zwar (meist folgenlos) Verstöße von Bundestagsabgeordneten dokumentiert werden, die Durchleuchtung jedoch an der Pforte zur Regierung Halt macht. Wie aber sollen die Maßnahmen der Politik faktenkundig diskutiert werden, wenn die Entscheidungen in Hinterzimmern, die sich Ministerium oder Kanzlerbüro nennen dürfen, ausgekungelt werden – unter Umständen mit dubiosen Interessenvertretern wie Herrn Schröder? So nährt man/frau Verschwörungstheorien.


Geradezu putzig liest sich die Begründung, mit der das Kanzleramt die Kalendernotiz zum Tête-à-Tête von Merkel und Schröder zur Verschlusssache macht: Das Bekanntwerden der Information könne „nachteilige Auswirkungen auf Belange der inneren oder äußeren Sicherheit haben“, hieß es am 22. März. Abgeordnetenwatch berichtet weiter: Das Bundeskanzleramt argumentiert außerdem, dass durch die Herausgabe von Merkels Kalendereinträgen auch der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz in Gefahr geraten könne. Termine einer Bundeskanzlerin bzw. eines Bundeskanzlers ständen „eng mit ihrem Amtsverhältnis in Verbindung“, sodass auch „Rückschlüsse auf die Terminplanung des jetzigen Bundeskanzlers gezogen werden könnten und daher auch dessen Sicherheit gefährdet wäre“.


Die Veröffentlichung einer schriftlich festgehaltenen Verabredung zu einem Kaffeeplausch zwischen Noch-Kanzlerin und Ex-Kanzler gefährdet ja wohl nicht die deutsche Festung. Und wie man aus einer Terminnotiz ein Bewegungs- und Aktionsbild von Olaf Scholz rekonstruieren kann, wird wohl für immer das Geheimnis des Kanzleramts bleiben. Dabei würde dem Hanseaten eine Dokumentation seiner Freundschaftstreffen durchaus helfen, vergisst er solche Stunden, in denen ein Geben und Nehmen unter Bekannten, etwa Hamburger Bankern, üblich ist, doch allzu leicht…
03/2022
Dazu auch:
Sturm im Wodkaglas im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2017)







Comeback der Söldner


(Vorbemerkung aus aktuellem Anlass: Nachdem Wladimir Putin den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine angeordnet hat und damit das legitime Sicherheitsbedürfnis seines Landes als Rechtfertigung für Okkupation sowie völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in imperialistischer Tradition missbraucht, werden wir die Protagonisten des folgenden Essays, insbesondere mit „Spezialaufgaben“ betraute Angehörige der Gruppe Wagner, möglicherweise bald auf dem Krisenschauplatz sehen können.)


Alle möglichen Weltregionen erleben derzeit kriegerische Auseinandersetzungen oder befürchten zumindest deren Ausbruch. So könnte es ein wenig beruhigen, dass multilingual der Frieden beschworen wird, von vertrauensbildenden Maßnahmen, Deeskalation und Abrüstung die Rede ist. Dass zugleich Kriege in vermeintlich limitierbarer Form, etwa durch Produktion taktischer Atomwaffen oder den Einsatz von Killerdrohnen, vorbereitet und losgetreten werden, gehört zu den perfideren Paradoxien der Gegenwart. Vernichtung zu „dosieren“, ohne sich nach dem Völkerrecht als staatlicher Aggressor zu belasten, gehört mittlerweile zur Planung einiger Mächte. In diesem Zusammenhang spielt ein fälschlicherweise der fernen Vergangenheit zugerechnetes Massenmordinstrument wieder eine Rolle: Nicht erst seit dem Aufmarsch der Gruppe Wagner in Mali erlebt das internationale Söldnertum eine Renaissance.


Eine unausrottbare Menschheitsgeißel


Der Beruf des Söldners gehört wohl zu den ältesten Gewerben der Menschheit, auf jeden Fall aber zu den hässlichsten. Sich dafür entlohnen zu lassen, andere in beträchtlicher Menge umzubringen, ohne per se mit ihnen verfeindet zu sein, ohne auch nur den fadenscheinigsten ideellen Vorwand, wie ihn Religion, Ethnie oder Rache liefern, zu bemühen, sondern allein für Bares zu töten, erfordert ein gerüttelt Maß an Skrupellosigkeit und Verrohung. Jede Epoche scheint einen eigenen Typus von Mordmilizionären hervorgebracht zu haben.


Rund vierhundert Jahre vor Christus warb der Sokrates-Schüler Xenophon rund zehntausend griechische Söldner für die Kriegszüge des persischen Prinzen Kyros an. Dass im heimatlichen Athen die Militärmacht im Osten als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurde, störte den recht prosaisch denkenden Philosophen wenig, war er als Söldnerführer damals doch keinem Land, keinem Volk und keiner Regierung verpflichtet, sondern nur dem meistbietenden Auftraggeber. Auch Karthago ließ sich nach dem ersten Punischen Krieg durch ein zusammengewürfeltes Heer von Mietlingen aus aller Herren Länder verteidigen.


Im Dreißigjährigen Krieg brannten Landsknechte, denen das Gezerre um Luther und sein Zoff mit Rom herzlich egal waren, die auch gerne und oft die Seiten wechselten, das erste Deutsche Reich bis auf die Grundfesten nieder. Aus damals armen Regionen wie der Schweiz oder Kroatien wurde genügend Soldateska für die europäischen Schlachtfelder exportiert. Im vergangenen Jahrhundert haftete dem privaten Kriegshandwerk etwas besonders moralisch Degoutantes an, weil diverse Medien über Söldnerführer wie den Deutschen Siegfried „Kongo-Müller“ und den verurteilten belgischen Mörder Jean Schramme berichteten, die im afrikanischen Urwald, beauftragt von einheimischen Potentaten, so brutal marodierten, dass die verängstigten Dorfbewohner von „weißen Bestien“ erzählten. Danach wurde es längere Zeit still um die mercenaries, mercenarios oder mercenaires, wie die Mörder wohlklingend genannt werden, bis einschlägige Aktivitäten von beträchtlichen Ausmaßen in der Regie Washingtons und Moskaus ruchbar wurden.


Wer hat’s erfunden?


Von anderer, wenn auch nicht humanerer Qualität als die einstigen eher primitiven Söldnerhorden ist die russische Gruppe Wagner, die auch wesentlich differenziertere Ziele verfolgt als die „klassischen“ Leasing-Krieger. Es handelt sich um einen riesigen privaten Security-Konzern, dessen Einheiten weltweit verdeckte Operationen durchführen, meist im Auftrag der russischen Regierung, immer wenn diese  sich nicht durch eine offizielle Intervention kompromittieren mag. Putin hatte diese Einsätze möglich gemacht, indem er 2017 ein Gesetz, das private Militärunternehmen grundsätzlich verbot, kippte.


Söldner der Gruppe Wagner kämpfen in Mannschaftsstärken von hundert bis mehrere tausend Mann im Donbass für die ostukrainischen Separatisten, in Syrien an der Seite der Assad-Truppen, in Libyen als Verbündete des Warlords Haftar und in diversen schwarzafrikanischen Ländern, darunter Sudan und Mosambik, und nun auch in Mali. Dort wurden sie von der Bevölkerung überwiegend freundlich begrüßt, hatte diese doch die Ignoranz der westlichen Interventionstruppen, vor allem aber die Arroganz der Militärs der einstigen Kolonialmacht Frankreich, reichlich satt. Dass sich das Verhältnis zu den Russen abkühlen wird, wenn die Menschen merken, dass die neuen Alliierten zur Stabilisierung einer Putschjunta, die Moskau mehr Einfluss in der Region verschaffen soll, ins Land gekommen sind, ist vorhersehbar. Söldner haben – außer in Hollywoodfilmen mit Bruce Willis – nie für die Rechte einer ausgebeuteten Bevölkerung gekämpft, sondern stets für die Machtinteressen Dritter und den eigenen Besitzstand.


Die Angestellten der Gruppe Wagner werden anständig bezahlt, und nach ihrem Ableben im Einsatz (allein aus Syrien wurden an die hundert Gefallene gemeldet) erhalten die Angehörigen eine finanzielle „Wiedergutmachung“. Interventionen solcher Söldner haben für Regierungen den Vorteil, dass der Staat weder für etwaige Massaker, noch für sonstige Verstöße gegen internationales Recht oder von seinen Bürgern für die eigenen Opfer verantwortlich gemacht werden kann. Schließlich handelt es sich um einen privaten Geschäftszweig der freien Marktwirtschaft. Auf diese clevere Lösung für heikle Operationen war aber nicht zuerst Moskau gekommen, die USA hatten das Modell bereits in noch weit größerem Maßstab vorexerziert.


Die US-Firma Blackwater, mittlerweile bildungsbürgerlich anmutend in Academi umbenannt, unterhält die größte Privatarmee der Welt und durfte ihre Söldner für Washington immer dann ins Gefecht schicken, wenn ein Krieg besonders schmutzig zu werden drohte oder eine Einmischung nicht publik werden sollte.


So töteten die „Sicherheitsleute“ islamistische Feinde, politische Gegner und Unbeteiligte per Drohnen in Afghanistan und Pakistan. Nach dem zweiten Irakkrieg führten sich die Blackwater-Milizen im Zweistromland wie Amokläufer auf, folterten Gefangene zu Tode, lieferten sich Schießereien mit (eigentlich verbündeten) Regierungssoldaten, organisierten den Waffenschmuggel in großem Stil und schossen wahllos in Menschenmengen. Im September 2007 etwa töteten sie auf dem Nissur-Platz in Bagdad 17 Zivilisten und verletzten 24 weitere schwer. Doch wer von der Administration in Washington beauftragt wird, hat Strafverfolgung nicht zu fürchten: Das „Memorandum 17“ der US-Verwaltung im Irak garantierte den Mördern Immunität gegenüber den einheimischen Behörden und Straffreiheit vor amerikanischen Gerichten.


In Kolumbien waren zeitweise mehr US-Truppen am Kampf gegen Rebellen beteiligt als in jedem anderen Land (von Afghanistan abgesehen), allerdings handelte es sich nicht um reguläre GIs, sondern um „private“ Milizionäre. Blackwater oblag die Aufgabe, die sogenannten paramilitarios, rechte Killerbanden, zu schulen. Zusätzlich arbeiteten die „Sicherheitsexperten“ auch noch für Unternehmen mit so klangvollen Namen wie Monsanto oder Deutsche Bank, spionierten deren Kritiker aus und bedrohten sie auch mal. Man sieht, dass die Gruppe Wagner noch um einiges zulegen muss, um einen ähnlichen Wirkungsgrad zu erzielen.


Die Privatisierung des Imperialismus


Erstaunlich, wie sich das Berufsbild des Söldners im Laufe langer Zeit gewandelt hat: Kein griechischer Philosoph sammelt mehr Abenteurer um sich und eilt persischen Prinzen zu Hilfe, in der Hoffnung auf guten Sold und reiche Beute, aber ohne eine Heimat als Rückzugsmöglichkeit und ohne jede Absicherung für Leib und Gut im Falle des Scheiterns. Der moderne Landsknecht, ob bei der Gruppe Wagner oder bei Blackwater/Academi unter Vertrag, wird hingegen wie ein Beamter entlohnt, und wenn er Pech hat, kassieren wenigstens seine Verwandten eine Entschädigung.


An Grausamkeit steht der Söldner 2.0 dem Schwertschwinger vor 2500 Jahren in nichts nach, aber er dient seinem Impresario auf viel raffiniertere und effektivere Weise. Da er de jure eigentlich lediglich sich selbst verpflichtet und nur inoffiziell tätig ist, kann sein Auftraggeber nach einem bedauerlichen Kriegsverbrechen die Hände in Unschuld waschen, sich sogar von den ihm kaum vertrauten Tätern distanzieren. Umgekehrt aber hat sich der aktuelle Paramilitär (s)einem Land bzw. dessen Führung zu verpflichten, während der antike oder mittelalterliche Kollege ungebunden, wenn auch vogelfrei war.


Organisationen wie Blackwater oder Wagner senken die Hemmschwellen für kriegerische Unternehmungen. Das Risiko, Niederlagen eingestehen zu müssen oder philanthropisches Renommee zu verlieren, minimiert sich. Und nun kapitalisiert sich Krieg auch für den Erwerbstätigen im Metzgerhandwerk vor Ort, die Kalkulation eines blutigen Geschehens kann endlich den schwankenden Gesetzen der Warenwirtschaft folgen.

02/2022






Gewählt, nicht geeignet


Wir haben uns daran gewöhnt, dass Minister und Spitzenkräfte der maßgeblichen Parteien nach dem Ende ihrer Politiklaufbahn umgehend mit lukrativen Jobs in der Wirtschaft oder bei halbstaatlichen Unternehmen wie der Deutschen Bahn versorgt werden. Auch Andrea Nahles musste nach ihrem krachenden Scheitern nicht um ein stattliches Auskommen bangen, aber ihre Erwerbslaufbahn  startete etwas anders als gewohnt: Sie ließ sich zunächst Zeit und an-schließend in ansehnliche Positionen wählen.


Vom Wirbelwind zum lauen Lüftchen


Um einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu werden und im Gespräch zu bleiben, machte Andrea Nahles von Anfang an viel Radau. Sie drohte politischen Gegnern („In die Fresse…“) oder verblüffte 2017 im Bundestag mit dem nicht ganz ausgereiften Vortrag eines Pippi-Langstrumpf-Liedes. Kurz gefasst: Wo sie aufschien, wurde es laut, aber wenn sie gegangen war, blieb nicht viel, woran man sich als effektiv oder prägend hätte erinnern können.


Ihre  Zeit als Juso-Vorsitzende geriet in Vergessenheit, ebenso ihr Kuschen vor dem Verbal-Asketen Müntefering, als der 2005 sauer war, weil sie gegen seinen Liebling Wasserhövel als Generalsekretärin kandidieren wollte. Nachdem sie 2017 als Bundesministerin für Arbeit und Soziales abdanken musste, weil die Wähler der GroKo überdrüssig geworden waren und die SPD abstraften, warteten zwei hohe Wahlämter auf sie: Sie wurde Fraktions- und fast zeitgleich Parteivorsitzende einer maroden Oppositionspartei. In diesen Funktionen hatte die einst als links etikettierte Pfälzerin, die sich – typisches Alt-Juso-Schicksal – rasch in den rechten Mainstream einordnete, bis 2019 einige deftige SPD-Desaster, darunter ein historisch schlechtes Ergebnis bei der Europawahl, zu verantworten, und für nicht wenige Genossen war ihr ausgeprägter Mut zur Lächerlichkeit einer der Gründe für das Unheil.


Im Juni 2019 legte die Umtriebige gleich beide Parteiämter nieder und verschwand für immer von der Bildfläche – dachte man/frau. Tatsächlich ahnten selbst die fanatischsten Nahles-Aficionados nicht, dass die Postensammlerin nach einer Auszeit ein Jahr später zur Präsidentin der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation gewählt werden würde. Ihre Expertise, Briefverkehr, Telefonie und EDV betreffend, war nämlich zuvor nicht bekannt gewesen. Zwei Fakten fallen beim Werdegang der Genossin besonders auf: Sie wurde stets gewählt, ob als Juso-, Fraktions- oder Parteivorsitzende und nun als Behördenchefin. Allerdings erinnerten die Entscheidungen für ihre Person nur vage an demokratisches Procedere, da sowohl in der Partei als auch in den Vorständen von Bundesunternehmen stets die richtigen Seilschaften für den Aufstieg vonnöten sind. Aber während die Gabriels, Guttenbergs oder Niebels nach der Polit-Karriere nie den faulen Lobbyisten-Geruch loswurden, konnte und kann sich die Sozialdemokratin auf die Weihen des Stimmentscheids zu ihren Gunsten berufen.


Und Andrea Nahles, die sich bis zu ihrem 49. Lebensjahr außerhalb der Politik jeglichen Erwerbsberufs enthalten hatte, muss über universale, wenn auch unbekannte Fähigkeiten verfügen, weist doch ihre Magisterarbeit zum Thema „Die Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“ nur sehr bedingt auf profunde Kenntnisse im Postwesen hin.


Kaum Spuren hinterlassen


Frei nach dem Bonmot, mit dem sich James Bond seine Drinks zu bestellen pflegt, könnte man von Andrea Nahles sagen, dass sie für ihre Aufgaben gewählt, nicht geeignet sei. Doch sie kommt nur schwer zur Ruhe, denn kaum hat sie ihren Schreibtisch in der Fernmeldebehörde eingeräumt, zieht sie auch schon wieder weiter. Lediglich anderthalb Jahre nach ihrer Berufung zur Kommunikationschefin meldet die Presse, dass die Ruhelose nun nach Nürnberg an die Spitze der Bundesagentur für Arbeit (BA) wechseln werde.


Davon müsste sie aber wirklich eine Ahnung haben, frohlocken die Optimisten, war sie doch vier Jahre lang als Arbeitsministerin oberste Dienstchefin dieser Behörde. So sicher ist das jedoch auch wieder nicht. Erinnerlich aus dieser Zeit ist gerade noch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, der 2015 unter ihrer Ägide auf gerade mal 8,50 € festgesetzt wurde, einen Betrag, der zum Leben (und angesichts der Bestattungskosten auch zum Sterben) deutlich zu wenig war.


Im gleichen Jahr ließ sie das Tarifeinheitsgesetz beschließen, das sich als bemerkenswerter Rohrkrepierer erwies. Nur die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern sollte in einem Betrieb Tarifabschlüsse mit dem Arbeitgeber vereinbaren können, was der Koalitionsfreiheit widersprach und die großen DGB-Organisationen bevorteilte, von denen einige reichlich konfliktscheu geworden waren und die Konditionen lieber mit den Firmenleitungen im Hinterzimmer ausmauschelten, statt substanzielle Verbesserungen zu erstreiken. Das Bundesverfassungsgericht mahnte Korrekturen an, und es zeigte sich, dass kleine Spartensyndikate, etwa die Lokführer-Gewerkschaft (GDL), weitaus erfolgreicher für die Arbeitnehmer kämpften als die träge gewordenen mitgliederstarken Platzhirsche, in diesem Fall der mit der Bundesbahn wie der SPD liebäugelnde größere Konkurrent EVG.


Kaum Spuren hinterließ Andrea Nahles aber bei der BA, die sie nun in die Zukunft führen soll. Ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen hatte in Kooperation mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Weise das deutsche National-Arbeitsamt zu einem Tummelplatz für Beratungsfirmen, allen voran McKinsey, umgestaltet, in dem der Sachverstand von Vermittlern, Berufsberatern und Reha-Experten, von Angestellten also, die noch mit leibhaftigen Arbeitslosen zu tun hatten, zugunsten komplizierter Controlling- und Leitungsebenen und weichzeichnender Statistikabteilungen vernachlässigt wurde. Die Praxis, Hilfesuchende von schlecht bezahlten, flüchtig instruierten Sachbearbeitern mit Zeitverträgen und ahnungslosen Callcenter-Mitarbeitern betreuen zu lassen, scheint der Nahles nie aufgestoßen zu sein. Jedenfalls änderte sich unter ihrer ministeriellen Aufsicht nichts. Warum sollte sie sich jetzt als Anstaltsleiterin um Probleme kümmern, die sie als Rechtsaufseherin der BA links liegenließ?


Ein größeres Trostpflaster


Fragt sich der uneingeweihte Betrachter nur, warum die Dame Post- und Tele- Posten, der ihr gut 180.000 Euro Gehalt im Jahr eintrug, nach derart kurzer Zeit wieder räumt. Nun, wir können davon ausgehen, dass wohlmeinende Parteifreunde ihr den Weg in die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation ebneten, um sie für die als vorlaute SPD-Galionsfigur erlittenen Demütigungen zu entschädigen. In diesem Fall wäre die Tätigkeit an sich ja eher nebensächlich gewesen.


Vielleicht erschien Nahles aber diese Kompensation für das Ende der politischen Karriere als zu gering. In der BA kann sie mit einem jährlichen Salär von fast 300.000 Euro rechnen, das wäre dann schon ein angemesseneres Trostpflaster. Ein Spitzenjob in einer Bundesbehörde bietet der flexib-len Spezialdemokratin jedoch noch einen anderen Vorteil.


Mögen die gescheiterten Kollegen aus Regierung und Bundestag als Drücker für Autokonzerne, die Rüstungsindustrie, die russische Erdgas-Mafia oder Schweizer Maskenhändler auch kurzfristig höhere Summen einstreichen, sie stehen ständig unter Leistungsdruck. Andrea Nahles hingegen kann ihre Stellung bis zum Pensionsalter behalten und muss nicht ständig liefern. Leistung wird von ihr nicht unbedingt erwartet, allenfalls zeitweilige Präsenz.
02/2022
Dazu auch:
Die McKinsey-Republik im Archiv von Politik und Abgrund (2016)






Kassandra muss liefern


Er war das „Gesicht der Corona-Pandemie“, wie es im doof-glamourösen Journalisten-Sprech so hieß: Karl Lauterbach warnte frühzeitig vor den Auswirkungen der Seuche, fiel den harmonie- und ruhebedürftigen Bürgern auf die Nerven wie einst Kassandra den Trojanern und tauchte omnipräsent in den TV-Programmen auf, wenn man sich gerade einen schönen Abend machen wollte. Beinahe zwangsläufig wünschten ihn sich besorgte Bürger als Gesundheitsminister, und er wurde es. Stellt sich die Frage, ob der Rheinländer schon verinnerlicht hat, dass sich Kabinettsarbeit und Talkshow-Auftritt diametral unterscheiden und dass unser gesamtes Gesundheitssystem im Kern vor sich hin fault, weil es von Profitinteressen gefährlich angenagt wurde.


Karl, der spröde Medienstar

Fast zwei Jahre lang durfte man Karl Lauterbach als ewigen Mahner auf allen Kanälen genießen, den mit leiernder Stimme vorgetragenen düsteren Prophezeiungen eines schrecklichen Pandemie-Verlaufs, seinen Verhaltenskodifizierungen in den Zeiten der Seuche und den Forderungen nach stärkeren Restriktionen bei Mobilität und Geselligkeit lauschen. Als asketisch wirkender Gesundheitsapostel mischte er bei Markus Lanz und Anne Will die Gesprächsrunden auf, bis das geängstigte Volk entscheiden musste, ob es ihn als Boten der schlechten Nachricht in die Wüste schicken oder an die Spitze des zuständigen Bundesministeriums hieven sollte.


Es wählte die zweite Option, denn Lauterbach hatte mit den meisten Prognosen recht behalten. Nun hoffte man, der studierte Epidemiologe werde mit eiserner Hand den in Verwirrung und Hilflosigkeit angesichts der Corona-Heimsuchung versunkenen Augiasstall, den das Merkel-Kabinett hinterlassen hatte, ausmisten, mithilfe eines klaren Baches, besser noch eines reißenden Stromes den Sauhaufen wegspülen. Jede/r glaubte, Lauterbach werde sich fanatisch auf die Arbeit stürzen, sein Ministerium auf Vordermann bringen und den Covid-Feldzug mit der Umsicht des Experten sowie der strengen Disziplin des geborenen Befehlshabers zum siegreichen Ende führen.


Doch als die Geburtswehen der Ampel-Koalition vorüber waren, hörte man von ihm eher Zögerliches, in Bezug auf die Verläufe von Omikron-Infektionen gar Zweckoptimistisches, und sah ihn vor allem: bei Markus Lanz und Anne Will. Etwas willkürlich wirkte sein Versuch, dem zugegebenermaßen unfähigen Vorgänger Spahn noch ein letztes Versagen anzuhängen, weil angeblich zehn Millionen Biontec-Impfdosen zu wenig geordert worden seien. Selbst wenn diese Behauptung zuträfe, würde das kurzzeitige Defizit keine Rolle spielen, ist doch genug Moderna vorhanden. Und dieses Serum hatte Lauterbach selbst als hervorragend klassifiziert. So what?


Langsam keimt nun der Verdacht auf, Berichte des SPIEGEL und der SZ vor den Bundestagswahlen träfen zu, denen zufolge der Mann aus Düren zwar über großes Fachwissen verfüge, aber auch dem Narzissmus, vulgo der Mediengeilheit, erliege, so dass die verantwortliche Leitung und effiziente Organisation eines Regierungsressorts schwierig werden dürfte. Und in der Tat: Nach dem jetzt die FDP damit beginnt, das Kabinett in einen Hühnerstall zu verwandeln, fehlen die klaren Direktiven, die mutigen und vor allem raschen Entscheidungen aus dem Hause Lauterbach.


Von wegen neuer Besen


Wenn man/frau die generelle Impfpflicht diskutiert, lassen sich ernsthafte Argumente dafür und dagegen finden. Der Schutz gegen Corona samt Varianten wird dadurch nicht perfektioniert, aber erhöht, und doppelt oder dreifach Gepiekste, die dennoch erkranken, können mit einem milderen Verlauf rechnen. Andererseits: Müssen gleich alle Bürger zur Zwangsimpfung oder reicht es wie in anderen Ländern, bestimmte Berufs- oder Altersgruppen zu immunisieren? Wie lange hält die Prävention vor, wie oft ist die Nadel nötig? Und widerspricht der Zwang dem Grundgesetz, das im Artikel 2 das Recht auf körperliche Unversehrtheit vorschreibt?


Fragen über Fragen, sicherlich nicht leicht zu beantworten, doch irgendwer muss irgendwann, und zwar möglichst bald, für Klarheit sorgen. Bundeskanzler Scholz ringt sich zwar kurz zu einer eindeutigen Präferenz durch und kündigt die Gesetzesvorlage zur Impfpflicht für Februar, dann für März an. Mittlerweile sind wir bei April als frühestem Termin, doch werden vermutlich noch etliche Monde ins Land gehen, ehe zur Abstimmung steht, ob alle, nur bestimmte Berufstätige oder vielleicht null Deutsche zum Piercing müssen. Denn Scholz will sich und seinen Regierungsparteien die alleinige Verantwortung nicht aufbürden, möchte es vielmehr jedem Abgeordneten freistellen, die Wahl nach seinem Gewissen ohne Fraktionszwang zu treffen (wie es doch per Gesetz bei jeder Parlamentsentscheidung sein sollte).


Das Zaudern gipfelt darin, dass die in dieser Frage uneinige Koalition selbst gar keinen Entwurf vorlegen, sondern ihre ureigenste Aufgabe  den Parlamentariern, ob in Gruppen, Fraktionen oder einzeln, überlassen will. Dies bedeutet, dass theoretisch über Dutzende Vorlagen zu diskutieren und abzustimmen wäre. Nun, ganz so viele dürften es nicht werden, hat doch schon der FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der ewige Polit-Querulant, eine Gruppe um sich geschart und einen Antrag ausgearbeitet, nach dessen Annahme die Impfpflicht vom Tisch wäre. Und schon schwankt die Meinung seines Parteivorsitzenden Christian Lindner, der zunächst dagegen, dann dafür war, jetzt aber ein entschlossenes Vielleicht bevorzugt, wie eine Weidengerte im Herbstwind. Merke: Wer mit den Liberalen koaliert, holt sich nicht nur die fünfte Kolonne der Konzernwirtschaft, sondern auch die Verfechter einer selektiven Freiheit, die auf Rücksichtslosigkeit, Begünstigung und Sozialdarwinismus basiert, ins Boot.


In einer nie dagewesenen Farce leiht die Bundesregierung mit all ihren Experten, Beratern, Juristen und hohen Beamten im Rücken ihre Richtlinienkompetenz an untereinander zerstrittene Abgeordnete aus, die, wenn ihnen denn etwas einfällt, von der Bevölkerung als Urheber späteren Übels ausgemacht würden, falls das Bundesverfassungsgericht sie nicht schon vorher stoppt. Wird Zeit, dass Gesundheitspapst Lauterbach ein Machtwort spricht.


Und tatsächlich sagt er etwas, nur klingt das nicht nach aus Ausweg aus dem Schlamassel, sondern nach Anbiederung, auf dass ihn Scholz, der ihn nicht als Minister haben wollte, doch noch liebhaben möge. Er bekräftigt, dass nicht die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf vorlegen werde, dies bleibe Abgeordneten und Arbeitsgruppen vorbehalten, die sein Ministerium aber beraten werde – ein knallhartes Plädoyer für das Ungefähre, die Improvisation, das learning by doing von Laien, denen immerhin  Nachhilfe durch Fachleute angeboten wird. Einen Zeitrahmen oder Fristen nennt Lauterbach nicht. Egal, ob man einer allgemeinen, einer abgespeckten oder – aus praktischen Gründen und rechtlichen Bedenken – überhaupt keiner Impfpflicht zuneigt, man möchte über das Procedere, die Folgen und die Limits der staatlichen Direktiven informiert sein. Aber ausgerechnet in einer Lage, die rasches Handeln erfordert, scheint unser zuständiger Minister plötzlich unheimlich viel Zeit zu haben.


Im bürgerlichen Parlamentarismus wird von einer Regierung erwartet, dass sie Gesetze entwirft und darüber abstimmen lässt. Scholz und Lauterbach aber spielen absurderweise Basisdemokratie im dafür ungeeigneten Repräsentantenhaus (aus taktischen Gründen, nicht aus politischer Überzeugung). Sie beabsichtigen offensichtlich, die Verantwortlichkeit für einen potentiellen Fehlgriff auf möglichst viele Schultern zu verteilen.


Medizin als Spekulationsobjekt


Ohne Not äußert sich der Ruhelose indes zum geplanten Corona-Bonus in Höhe von 3000 Euro für Pflegekräfte. Lauterbach will, dass diese wie ein Tropfen auf den heißen Stein wirkende Summe nur einem begrenzten Kreis zugutekommt, nämlich „Pflegekräften, die in der Corona-Pandemie besonders belastet waren“. Die Gewerkschaft Ver.di hält dies ebenso für Unsinn wie Jan Korte, Geschäftsführer der Linken-Fraktion im Bundestag, der dem Gesundheitsminister vorwirft, die Belegschaft mit seiner Erbsenzählerei zu spalten.


Tatsächlich kamen in vielen Kliniken alle Beschäftigten an die äußerste Grenze ihrer Leistungskraft, nicht nur die Pfleger an der unmittelbaren Covid-Front. In den Schichten musste deren Fehlen bei lebenswichtigen Operationen oder auf Intensivstationen mit lebensgefährdeten Non-Corona-Patienten von anderen kompensiert werden, obwohl sie durch die chronische personelle Unterbesetzung auch ohne Delta und Omekron schon physisch und psychisch ans Limit gekommen waren. Wir erinnern uns: Lauterbach ist Epidemiologe; scheinbar verstellt ihm die intensive Beschäftigung mit Ausnahmesituationen, wie sie Seuchenausbrüche normalerweise darstellen, den Blick auf den düsteren Alltag des unterbezahlten Personals in deutschen Krankenhäusern.


In den letzten Jahrzehnten wurden Fallpauschalen vereinbart, Kliniken geschlossen, die Patienten je nach Gebrechen als Goldesel behandelt oder zu lästigen Bettbelegern degradiert, die allgemeine Gesundheitsfürsorge verkam zum bloßen Kosten- und Gewinnfaktor. Den Takt für die Politik gab dabei die Bertelsmann Stiftung mit ihren Umfragen und Analysen vor, die etwa empfahl, die Zahl der Krankenhäuser um die Hälfte zu reduzieren.


Vor allem kleine kommunale Einrichtungen, die eine Grundversorgung auf dem Land garantierten, wurden daraufhin geschlossen. Hinter der Stiftung steht mit der Bertelsmann AG einer der globalen Medienriesen, und die Besitzerfamilie Mohn hatte wohl direktes Interesse an der Beseitigung regionaler Konkurrenz für die privaten Spezialkliniken. Brigitte Mohn war nämlich nicht nur Vorstandmitglied der hauseigenen Stifung, sondern saß auch im Aufsichtsrat des börsenorientierten Großbetreibers Rhönklinikum AG.


Die Verquickung von privatem Gewinnstreben und öffentlicher Daseinsvorsorge ist der Sündenfall, der die Arbeitsüberlastung und den Hungerlohn der Pfleger sowie die Reduzierung des krankenversicherten Menschen auf eine pekuniäre Variable überhaupt erst möglich macht.


Wenn eine Gesellschaft, ein Staat und die Erhebung von Steuern überhaupt Sinn machen sollen, dann den, die bestmögliche Infrastruktur für die Gemeinschaft aufzubauen und zu garantieren. Ein Platz für neoliberale Investoren und profitorientierte Klinikbetreiber ist bei diesem Bemühen eigentlich nicht vorgesehen. Durch die Nachlässigkeit und Kumpanei der Politik sind sie allerdings in unser Gesundheitssystem eingesickert und dominieren es mittlerweile. Dazu aber hat der Vielredner aus NRW bislang geschwiegen. Aus dem Fluss von Expertise und Tatkraft, der auch angesichts einschlägiger Pandemie-Erkenntnisse unser kommerzialisiertes Gesundheitssystem reinigen und unter das Primat sozialer Verantwortung stellen sollte, ist ein im Ungewissen mäanderndes Lauterbächlein geworden.

01/2022
Dazu auch:
Zeit der Peinlichkeit (2021) und Triple-Moral (2020) im Archiv der Rubrik Medien






2021



Unser Nawalny


Nach Heiko Maas nun Annalena Baerbock als unermüdliche Stimme gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt: Deutsche AußenministerInnen weisen stets  auf inhumane und ungesetzliche Praktiken beim Umgang mit der Opposition oder den kritischen Medien hin, wo immer sie welche wittern – ob in Russland, China oder Myanmar. Wirklich überall? Nun ja, verbündete Staaten wie die USA oder wichtige Handelspartner, etwa die arabischen Öl-Emirate, genießen da seit jeher einen gewissen Diskretionsbonus. Und in bekannter Manier geißelt auch Baerbock Peking und Moskau für deren tatsächlich üblen Umgang mit Minderheiten und Dissidenten wie den Uiguren oder Putin-Gegner Nawalny, verliert aber in London kein Wort über die mutmaßliche Auslieferung des Whistleblowers Julian Assange.


Geschmeidiges Weltgewissen


Man muss Alexei Nawalnys politische Ziele und Reden nicht unbedingt goutieren, darf auch das ein oder andere Fragwürdige in seinem geschäftlichen Gebaren argwöhnen, und kann dennoch das Vorgehen der russischen Justiz in mehreren Verfahren gegen ihn verurteilen. Mag sein, dass der Anschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok auf ihn vom August 2020 nicht mit endgültiger Sicherheit der Moskauer Autokratie anzulasten ist, dass Nawalny als Alliierter verschiedener rechtsradikaler Gruppen, als Nationalist mit rassistischer Rhetorik viel von seinem Bürgerrechtsimage eingebüßt hat und dass er als Geschäftspartner seines Bruders Oleg offenbar in unsauberes Business verwickelt war, doch rechtfertigt dies nicht die willkürlichen Begründungen, mit denen ihn russische Gerichte ins Gefängnis schicken und seine Kandidatur bei Wahlen verhindern.


Wie schwer man sich mit dem Menschen und Politiker Alexei Nawalny tut, zeigen die Einschätzungen von Amnesty International (AI). Die Organisation stufte ihn nach seiner Verhaftung im Februar zunächst als „prisoner of conscience“ ein, entzog ihm den Status aber nach diskriminierenden Äußerungen seinerseits, nur um auch diese Entscheidung im Mai wieder rückgängig zu machen, weil AI das Gerichtsverfahren gegen ihn für rechtswidrig erachtet. In der Tat scheint Wladimir Putin die Judikative in Russland zu einem Hebel der eigenen Machtdurchsetzung degradiert zu haben. Nawalny wurde so lange mit meist läppischen Anklagen, etwa wegen der Organisierung nichtgenehmigter Demos, überzogen, bis eine frühere Bewährung widerrufen und er für dreieinhalb Jahre ins Arbeitslager weggesperrt werden konnte.


Vor gut acht Jahren hatte der Oppositionspolitiker 27 Prozent der Stimmen bei der Bürgermeisterwahl in Moskau erhalten – ein Schock für die Regierungspartei. Zwar wirkt Putin in seiner Allmacht noch nicht wirklich gefährdet, doch entledigt er sich gern zeitig potentieller Rivalen. Dass seine Gesprächspartner in Westeuropa gegen die Ränke der Staatsjustiz sowie die Missachtung der Meinungs- und Handlungsfreiheit protestieren, wäre also legitim, würden sie nicht ähnlich gelagerte Fälle im eigenen Lager angestrengt übersehen…
Als Annalena Baerbock sich kürzlich in London vorstellte, kritisierte sie Putins Repressionen scharf, ließ aber die Gelegenheit aus, sich für einen Mann, der ebenso wie der russische Dissident Opfer eines polit-juristischen Komplotts geworden war, einzusetzen: Julian Assange, in der Opfer-Symbolik sozusagen der Nawalny des Westens. Dabei hatte die Grüne vor ihrem Aufstieg in die Bundesregierung mehrfach die Freilassung des australischen Whistleblowers gefordert. Aber eine freischwebende Oppositionelle kann anders reden als eine Amtsträgerin, die internationale Bande pflegen muss, zumal in die bitterböse Justizfarce um Assange mindestens drei verbündete Staaten verwickelt sind.


Vernichtungskrieg gegen Whistleblower


Julian Assange scheint ein schwieriger Mensch zu sein, einige ehemalige Weggefährten attestieren ihm egomanische Züge. Aber durch ihn und sein Netzwerk WikiLeaks erfuhr die Welt u. a. über das Ausmaß der von US-Truppen begangenen Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan. Es waren Whistleblower, die das geheime Spiel der Groß- und Mittelmächte um Dominanz und ihre skrupellosen Methoden im Internet bloßstellten. Dank Edward Snowden etwa wissen wir, was wir vorher nur vermutet hatten, dass nämlich auch die westlichen Demokratien globale Bespitzelungssysteme installiert haben.


Doch die Rache der NATO-Staaten, allen voran der USA, ist furchtbar. Die Regierungen hassen Whistleblower mehr als den äußeren Feind, ganz so, als seien die Überbringer der schlechten, aber wahren Botschaft die eigentlichen Urheber allen Übels. Zwar hat die EU Verordnungen zum Schutz der Menschen, die Job und Sicherheit riskieren, um Verfehlungen, Betrug und Gewaltverbrechen in Unternehmen, Banken, Behörden oder Armeen öffentlich zu machen, auf den Weg gebracht (wobei die Bundesrepublik in Person der SPD-Postensammlerin Katarina Barley auf der Bremse stand), doch gerade dort, wo Whistleblower in Kooperation mit investigativen Journalisten schon vor Jahrzehnten Schlimmeres verhindert haben, zeugen ihre Verfolgung und Vernichtung von administrativer Besessenheit. Und Westeuropa beteiligt sich engagiert an der modernen Hexenjagd.


Ob es sich um die staatliche Desinformation im Vietnam-Krieg handelte, um Nixons Lügen oder Reagans Irangate – stets riskierten Informanten, die sich zuerst der Wahrheit und dann erst ihrer Regierung verpflichtet fühlten, Kopf und Kragen. In einer Zeit, da Printmedien wie die „Washington Post“ oder die „New York Times“ noch ein bedeutendes Korrektiv der öffentlichen Meinung darstellten, konnte es für Whistleblower wie den Psychiater Daniel Ellsberg, der mit der Veröffentlichung der geheimen „Pentagon Papers“ quasi den Abzug der US-Armee aus Indochina einleitete, noch glimpflich ausgehen.


Inzwischen aber sitzt Edward Snowden ausgerechnet in Moskau, weil ihm keine der die Freiheit und die Moral so sehr liebenden Demokratien des Westens ein vor dem Zugriff Washingtons sicheres Exil bieten will. Schlimmer traf es Chelsea (vor der Geschlechtsangleichung Edward Bradley) Manning, eine IT-Spezialistin der Army. Sie hatte WikiLeaks Filmmaterial über einen völlig sinnlosen US-Helikopter-Angriff auf Reporter und Zivilisten im Irak zugespielt. Dafür wurde sie unter Bedingungen inhaftiert, die den UN-Beauftragten für Folter, AI und etliche Menschenrechtsaktivisten auf den Plan riefen. Manning wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt, von denen sie bis Anfang 2017 sieben absitzen musste.
Weil sie nicht bereit war, gegen ihre früheren Mitstreiter auszusagen, wurde sie 2019 zusätzlich für ein Jahr in Beugehaft genommen.


Noch Schlimmeres droht Julian Assange, dessen Enthüllungsjournalismus in der Medienwelt durchaus anerkannt, von den USA jedoch als Kapitalverbrechen eingestuft wird. Sollte er dorthin ausgeliefert und verurteilt werden, könnten bis zu 175 Jahre Gefängnis verhängt werden. Aber vielleicht müsste der Whistleblower nicht ganz so lange einsitzen. Die renommierten Investigativ-Journalisten Dorfman, Naylor und Isikoff recherchierten für den US-Mediendienst von Yahoo, dass die CIA 2017 geplant hatte, Assange aus seinem Londoner Exil in der ecuadorianischen Botschaft zu entführen und zu ermorden. Der Geheimdienst widersprach dieser Darstellung nicht…


Dies legt nahe, dass Assange im Fall seiner Auslieferung mit mindestens ebenso Schlimmem zu rechnen hat, wie es Nawalny mit seiner Lagerhaft widerfuhr. Dass der WikiLeaks-Gründer vor Gericht in den USA die Chance hat, einer harten Strafe zu entgehen, gilt angesichts eines Rechtssystems, das sich teilweise auf uralte Präzedenzurteile, immer aber auf das Prinzip „Für Gott und Amerika!“ (womit der archaische Rachegott des Alten Testaments gemeint ist) stützt und nach dem Motto „Right or wrong – it’s my country“ urteilt, als ausgeschlossen.


Demokraten graben eine Grube


Dass der neben Snowden weltweit berühmteste Whistleblower überhaupt gefangen wurde, ist ein Beispiel für eine recht dubiose internationale Zusammenarbeit von Richtern, Staatsanwälten und Regierungen, böse Zungen sprechen auch von einem widerlichen Schurkenstück. Gegen Assange wurde 2010 in Schweden wegen „minderschwerer Vergewaltigung“ und „sexueller Nötigung“ ermittelt. Dennoch ließ das Land den Australier nach England  ausreisen, beantragte aber gleich danach einen internationalen Haftbefehl gegen ihn. Großbritannien bereitete die Auslieferung nach Skandinavien vor, von wo er offensichtlich in die USA überstellt werden sollte. Auf Kaution freigelassen, flüchtete sich Assange in die Botschaft Ecuadors, das damals noch von dem linken Präsidenten Rafael Correa regiert wurde.


Der Schweizer Nils Metzer, UN-Sonderberichterstatter und Rechtsprofessor, nennt das Assange zur Last gelegte Vergehen eine „konstruierte Vergewaltigung“ und spricht von manipulierten Beweisen. Tatsächlich stellte die Staatsanwaltschaft in Stockholm – auch nach dem Widerruf eines angeblichen Opfers - irgendwann das Verfahren ein; aber darum ging es ja nun nicht mehr (auch wenn die hässlichen Vorwürfe einen trefflichen Vorwand für den Haftbefehl geliefert hatten), jetzt wollte sich Washington den „Verräter“ greifen. Metzer beschuldigt die Behörden in Schweden, Großbritannien und den USA einer „zutiefst willkürlichen Prozessführung“ und einer Bedrohung der Pressefreiheit im Kern.


Ein kleiner Teil der Schelte hätte auch auf das bitterarme Ecuador entfallen können. Correas Nachfolger im Präsidentenamt, Lenín Moreno, wandelte sich vom Linken zum strikt Rechten und kündigte Assange 2019 das Zimmer in der Londoner Vertretung, wohl um sich in Washington einzuschmeicheln. Der Botschafter verständigte Scotland Yard, dessen Beamte den Whistleblower in Einzelhaft abführten. Dann offenbarte Richterin Vanessa Barraitser einen Anflug von Mitgefühl und lehnte die Auslieferung ab, weil der Delinquent unter US-Haftbedingungen stark suizidgefährdet sei. Die Anklagen der amerikanischen Strafverfolger hielt sie allerdings weiterhin für zutreffend. Um Informationsfreiheit, Aufdeckung von Kriegsverbrechen oder Entlarvung staatlicher Wahrheitsbeugungen sollte es anschließend auch in der höchsten Instanz nicht gehen. Die Richter des High Court entschieden, dass Assange ausgeliefert werden könne.


„Das britische Justizsystem ist tot“, rief ein Demonstrant vor der Urteilsbegründung. Das mag ja sein, aber die enge britisch-amerikanische Kooperation, assistiert von Schweden und Ecuador sowie höflich beschwiegen von Frau Baerbock, hat sich im Krieg gegen indiskrete Bösewichter durchgesetzt, zwar mit einer gewissen schmierigen Methodik, jedenfalls aber nicht mit einer so plumpen Brachialgewalt, wie sie Putin gegen Nawalny anwendete.
12/2021
Dazu auch:
Die Macht will Assange (2020), Die Scheinheiligen (2013) und Gewogen und zu schwer befunden (2012) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund






Glorreicher Parvenü


Die Rangelei um Ministerposten in einer neu zu bildenden Regierung gehört zu den ebenso redundanten wie unwürdigen Schauspielen in unserer bürgerlichen Demokratie. Auf welch niedrigem Niveau sich aber der innerparteiliche Konkurrenzkampf bei den Grünen abspielt, die einst angetreten waren, alles besser und moralisch sauberer zu machen, ist schon bemerkenswert. Selbst wohlmeinende Beobachter müssen nun erkennen, dass die Öko-Partei das System, das sie eigentlich ändern wollte, vollständig verinnerlicht hat.


Kompetenzen? Scheißegal!


Man stelle sich vor, eine Partei bekommt in Koalitionsverhandlungen das Zugriffsrecht auf ein Ministerium zugesprochen und kann ein führendes Mitglied präsentieren, das über einschlägige Kenntnisse in der Materie des Ressorts verfügt. Ein Glücksfall, der nicht allzu oft vorkommt, meist ergattern ehrgeizige Amateure die Fachposten. Bei der Benennung des künftigen Landwirtschaftsministers jedoch hatten die Grünen eine respektable Option, die sie zugunsten einer schillernden Personalie ungenutzt ließen.


Anton Hofreiter wirkt mit seiner langen Mähne und der unkonventionellen Gewandung wie ein Gegenentwurf zu den Karrieristen in smartem Outfit, die inzwischen das Bild der Grünen prägen. Der Bayer, nicht gerade ein Ausbund an Eloquenz, dafür aber kantig und geradlinig, erinnert an die Gründungszeiten seiner Partei, als in deren Reihen noch alternativ und sogar links gedacht werden durfte, ohne dass die Realos gleich ihren bedenkenarmen Marsch an die Macht gefährdet sahen.


Zwar sind von Hofreiter keine tiefgründigen gesamtgesellschaftlichen Thesen bekannt, doch wenn es um Landwirtschaft geht, ist er ein Mann vom Fach und zwar einer, der den hiesigen Agrar-Wahnsinn stoppen will. So hat der promovierte Biologe ein Buch mit dem Titel „Fleischfabrik Deutschland: Wie die Massentierhaltung unsere Lebensgrundlagen zerstört und was wir dagegen tun können“ geschrieben, er fordert das Verbot des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, die Reduzierung von Pestiziden auf den Feldern und die Einschränkung von Anabolika in den Ställen.


Hofreiter will die Agrarwende, doch die Änderung der Strukturen soll nicht zu Lasten deutscher Niedrigverdiener gehen, zugleich sollen die Zerstörung kleinbäuerlicher Strukturen in der Dritten Welt durch den Nahrungs- und Futtermittelbedarf sowie die postkoloniale Handelspolitik der EU beendet werden. Es wäre spannend geworden, zu sehen, wie weit sich dieser Widerborst in der Kuscheldecke der Jamaika-Koalition hätte durchsetzen können. Aber zu diesem aufschlussreichen Showdown wird es nun nicht kommen, denn ein schwäbisches Cleverle hat ihm den Job weggeschnappt.


Opportunist gegen Zausel


Cem Özdemir wollte schon so ziemlich alles werden und so bewarb er sich um Direktmandate für den Bundestag, einen Sitz im Europaparlament, mehrmals um den Fraktions- bzw. Parteivorsitz und die Spitzenkandidatur bei Bundeswahlen – bisweilen erfolgreich, manchmal aber auch nicht. Zwischendurch produzierte er sich auch im reaktionären internationalen Thinktank „Atlantik-Brücke“, bis Friedrich Merz dort die Leitung übernahm. Und jetzt sah er seine Chance, anstelle des designierten Anwärters Hofreiter, den viele grüne Parvenüs mit FDP-Attitüden für einen unorthodoxen Zausel, ein Relikt aus alten halblinken Tagen halten, ins Agrarministerium einzuziehen.


Wie Habeck und Baerbock ist Özdemir Realo, also Mitglied des bürgerlich rechtsliberalen Mehrheitsflügels. Derzeit darf sich der ehrgeizige Bauernminister in spe über das kurze Gedächtnis in diesem Land freuen, denn kaum jemand erinnert sich noch daran, dass er den Grünen früh einen Skandal eingebrockt hat. Die Agentur Reuter berichtete damals: „Die erste nennenswerte Affäre um Begünstigung eines Grünen-Politikers hat am Freitag zur Kapitulation von Cem Özdemir geführt. Eine Woche lang stand der innenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion im grellen Scheinwerferlicht. Der Vorzeige-Multi-Kulti hatte Anfang 1999 ein zinsgünstiges 80 000-Mark-Darlehen vom umstrittenen PR-Berater Moritz Hunzinger angenommen.“ Von einem „Geschmäckle“, das die Transaktion hinterließ, schrieb der SPIEGEL.


Warum hatte Özdemir das Geld von einer zwielichtigen Figur, über die schon SPD-Scharping als Verteidigungsminister gestolpert war,  gebraucht, obwohl er als MdB doch insgesamt stolze 17.000 Mark monatlich an Gehalt und Aufwandsentschädigung kassiert hatte? Ganz einfach, ihm war jahrelang entfallen, dass auch ein Volksvertreter Steuern zu zahlen hat. Die Gegenleistung, die Özdemir für die Gefälligkeit erbrachte, fiel in den Graubereich des Lobbyismus. Dass er in dieser Zeit auch anderweitig – um Brecht zu variieren – etwas lax im Umgang mit öffentlichem Eigentum war, legt der unwidersprochene Vorwurf nahe, er habe die bei dienstlichen Flügen angesammelten Bonusmeilen privat genutzt.


Wieso konnte jemand mit einer solch – gnädig ausgedrückt – durchwachsenen Vita immer wieder neu für hohe Posten antreten und von seiner Partei auch des Öfteren berücksichtigt werden? Liegt es an seinem schier unaufhaltsamen Geltungsdrang, an der informellen Vernetzung mit den anderen Spitzenrealos oder schlicht daran, dass sich die Grünen, repräsentiert von ihm, endlich angekommen und ernst genommen fühlten in der kritik- und inhaltsfeindlichen Bundeskleptokratie Deutschland?


Ein blutiger Laie mit großer Aufgabe


Aber vielleicht verfügt Cem Özdemir über verborgene Qualifikationen und persönliche Erfahrungen, die ihn für das Amt des Landwirtschaftsministers befähigen. Wikipedia hat in fetten Lettern festgehalten, wozu sich der Ministernovize schon alles bedeutungsschwanger geäußert hat, und das ist nicht wenig: „Finanz- und Steuerpolitik… Wirtschafts- und Sozialpolitik… Infrastrukturpolitik… Außenpolitik“.


Aber Agrarpolitik? Fehlanzeige. Halt nicht ganz, Özdemir verweist selbst darauf, dass ihm der Hang zu Acker und Viehstall, damit womöglich auch das nötige Wissen, väterlicherseits quasi vererbt wurde: "Bevor mein Vater als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen ist, war er Landwirt aus einfachsten Verhältnissen." Es müssen tatsächlich die Gene gewesen sein, dann der kleine Cem kam erst in Schwaben zur Welt und erlebte den Papa nur noch als Monteur. Mit dieser Logik kann sich jemand, dessen Vater im fernen Afghanistan für die Bundeswehr Dienst getan hat, gleich auf zwei Ministerposten bewerben: im Verteidigungsressort und im Auswärtigen Amt.


Immerhin erklärt der bekennende Vegetarier ebenso forsch wie nebulös, er werde sich als Minister für das Tierwohl einsetzen: ein Begriff, auf den seine Vorgängerin, die Weinkönigin und Pharma-Sympathisantin Julia Klöckner von der CDU, das Copyright hält und den sie als willkürliches Label auf freiwilliger Basis so unverbindlich installierte, dass die Empörung über die animalischen Praktiken der Großschlächter in sanfter Verharmlosung unterging.


Die Benennung von Kabinettsmitgliedern mit Migrationshintergrund wäre angesichts der demografischen Entwicklung dringend geboten. Muss aber der. Einzige, der nominiert wird, jemand mit einer derart windigen Biografie und evidenten Sachferne sein? Müssen umgekehrt Expertise und nachgewiesenes Engagement in der Sache unbedingt einer fragwürdig angewandten Quotenregelung und der „rechten“ Gesinnung weichen? Vermutlich hätte es Hofreiter angesichts seiner künftigen Kollegen nicht geschafft, die klima- und bodenfeindlichen Agrarstrukturen radikal zu ändern, aber er hätte zumindest gewusst, wo die Scheune brennt. Mit ihrer Entscheidung pro Özdemir aber hat die grüne Spitze selbst das zarte Pflänzlein der Hoffnung auf eine nachhaltige Landwirtschaftspolitik der Eitelkeit und einem fragwürdigen Proporz geopfert.
12/2021
Der Pfadfinder in der Rubrik Helden unserer Zeit (2017)






Im Auenland der CDU


Es wird zu sehr auf die Eigenschaften und Aussagen der Personen geachtet, die sich um den quasi verwaisten Thron der CDU balgen, und zu wenig auf deren landsmannschaftliche Herkunft. Bei genauerem Hinsehen aber fällt auf, dass die Männer, die als Aspiranten genannt werden, allesamt einem Bundesland entsprungen sind: Die Nordrhein-Westfalen wollen die Führerschaft in der Christen-Union und im ganzen Staat endlich von den anderen deutschen Volksstämmen zurückerobern.


Wiege des Christen-Klüngels

 

Tief im Westen der Republik liegt das Territorium der fröhlichen Rheinländer und ihrer sturen westfälischen Vettern. Von hier aus wurde einst das ganze Land regiert, doch in den letzten Jahrzehnten drängten Deutsche aus entlegeneren Gegenden an die Macht, und auch der letzte Versuch, diese Fehlentwicklung durch die Kür des Aachener Jecken Laschet zum Kanzlerkandidaten zu revidieren, scheiterte unter feindlichem Beschuss und friendly fire aus dem Süden kläglich. Das soll sich nun ändern, zumindest in Gottes eigener Partei, der CDU, müsste doch künftig ein weißer Mann aus der Idylle an Wupper, Ruhr und Rhein das Sagen haben.


Waren das noch Zeiten, als Konrad Adenauer, ein echter Kölscher Jung, die BRD frei nach dem Evergreen „Glücklich ist, wer vergisst…“ mit Hilfe von Altnazi-Beamten und Unternehmern mit brauner Vergangenheit durch die Untiefen der bürgerlichen Demokratie lotste! Der rheinische Klüngel schaffte es zudem, Frankfurt/Main aus dem Feld zu schlagen und dem verschlafenen Bonn den Titel einer deutschen Interimshauptstadt zu erkaufen, weil Berlin damals noch ein wenig gespalten und ungünstig positioniert war. Doch 1963 waren mit der Demission von Conny A. die schönen Zeiten vorbei.


Obwohl NRW, das Herzland der BRD, reich an attraktiven Städten wie Bottrop und Herne ist, den deutschen Kunststil entscheidend prägte (Gelsenkirchener Barock), das weltweit reichste Erzbistum der Katholischen Kirche, dessen Kardinäle bis heute berühmt für ihre Diskretion in Sachen Missbrauch sind, beherbergt und an liebgewonnenen Traditionen wie dem vom Aussterben bedrohten Braunkohlebergbau bis zuletzt festhält, gelang es ihm nie wieder, eine/n der Ihren an die Regierungsspitze der Republik zu bugsieren.


Mal nominierte die Union den mumpfeligen Franken Ludwig Erhard, dann gab sie dem von den Nazis angelernten Schwaben Kurt Georg Kiesinger den Vorzug, installierte danach den ungeliebten Pfälzer Rhein-Nachbarn Helmut Kohl auf dem Thron und erkor schließlich die Ossi-Importfrau Angela Merkel zur Führungsfigur (von den norddeutschen bzw. Berliner Schmidts, Schröders und Brandts aus dem feindlichen Lager ganz zu schweigen!). Kein Wunder, dass NRW unter der Fremdherrschaft leidet und sie abzuschütteln sucht. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es lange so aussah, als würden ausschließlich NRW-Recken um den CDU-Chefsessel kämpfen.


Ein fideles Quintett, Quartett, Trio, Duo?


Zunächst zwitscherten die stets gut informierten Spatzen in den Netzen, gleich fünf Kandidaten aus Gottes, der Reben und der Kohle eigenem Landstrich würden um die Führerschaft der christlich-konservativen Reconquista buhlen, doch dann zog einer zurück, zauderten zwei andere, ließ sich der graue Wolf unter ihnen Zeit, als plötzlich ein unwürdiger Hesse seinen Fehdehandschuh ins Flöz der Arena warf.


Konsens war ja eigentlich, dass NRW das Zugriffsrecht hatte und die nach der Bundestagswahl daniederliegende CDU dringend eine inhaltliche und personelle Rundumerneuerung brauche, wie es in den gewogenen Medien hieß. Nun darf die Basis also demnächst über den künftigen Chef abstimmen, aber so richtig frisch sehen die Kandidaten nicht aus. Zwei der mutmaßlichen Bewerber sind schon vor Jahren in den Ring gestiegen, aber von Armin Laschet bzw. von Annegret Kramp-Karrenbauer vermöbelt worden.


Einer von ihnen wurde sogar schon zweimal bis zehn angezählt: Der altersstarre Neoliberale Friedrich Merz (66), neben Christian Lindner vielleicht der einzige Mensch im Land, der ernsthaft glaubt, der Markt werde es schon ohne politische Regulierung richten, egal ob es um die Umwelt, das Klima, den Verkehr oder unbezahlbares Wohnen geht. Norbert Röttgen ist zwar zehn Jahre jünger, aber als neues Gesicht wirkt er doch schon etwas überreif. Nachdem er 2012 die NRW-Landtagswahl als CDU-Spitzenkandidat gegen die SPD vergeigt hatte, flüchtete er nach Berlin, wo er im Parlament als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses wie der schwarze Doppelgänger von Minister Heiko Maas wirkt: Beide haben pausenlos etwas zur Weltpolitik zu sagen, aber keine/r hört ihnen zu.


Ambitionen auf den CDU-Vorsitz wurden auch wieder einmal Jens Spahn nachgesagt, der zwar tatsächlich erst zarte 41 Lenze zählt, aber als Leiter des Gesundheitsressorts in der Corona-Krise einen Zickzackkurs fuhr, der dem einer eiernden Kugel beim Karambolage-Billard glich. Für seine Partei aber wären die Banden nicht abgepolstert gewesen, hätte er als künftiger Boss die Kurve wieder einmal nicht rechtzeitig gekriegt. Aufgrund schlechter Umfragewerte gab Spahn edelmütig seinen Verzicht auf höhere Weihen bekannt.


Auch die neben diesen sattsam bekannten Hoffnungsträgern ins Gespräch für den Vorsitz gebrachten eher unauffälligen Rechten bevorzugen anscheinend den ehrenvollen Rückzug: Der CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus wollte die verlorenen Schafe, die sich im braunen Morast verirrt hatten, wieder heimholen. Man müsse sich „stärker als bisher“ um AfD-Wähler kümmern, sozusagen sein Herz für Rechtsextreme entdecken. Carsten Linnemann hingegen, der als Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion stets weiß, wo das Kapital steht und was es von einem Unionspolitiker verlangt, kämpfte wacker gegen die Umwelt-Hysterie. Die SPIEGEL-Journalistin Susanne Götze und die Autorin Annika Joeres schrieben in ihrem Buch „Die Klimaschmutzlobby“, dass Linnemann zu einem „Bermudadreieck der Energiewende“ zählt, das jeden klimapolitischen Fortschritt schlucke.


Das Angebot an möglichen Kandidaten war also von vornherein nicht gerade berauschend, doch vermochte die NRW-CDU wenigstens zufrieden zu konstatieren, dass nach seinerzeitigem Stand nur ein Landsmann zum Christenkönig von Deutschland ausgerufen werden konnte. Da plötzlich tauchte der  Gießener (und damit Non-NRWler) Helge Braun, Merkels Kanzleramtschef und in der öffentlichen Wahrnehmung so etwas wie der zurückgebliebene Bruder von Wirtschaftminister Peter Altmeier, auf dem Turnierplatz auf.


Und weitere Unbill droht, denn während im nordrheinischen Auenland noch eitel Sonnenschein herrschte, zogen sich im Süden bereits finstere Wolken zusammen. Als sich Brinkhaus und Linnemann in die zweite Reihe zurückzogen und die Recken Röttgen, Braun und Merz zum Kampf um den Thron bliesen, tauchte hinter ihnen schon Söder-Sauron, der Herr der Finsternis, auf.


„Im Lande Bayern, wo die Schatten drohn“


Frei nach Tolkiens dreibändiger Pseudo-Mythologie „Der Herr der Ringe“ giert auch realiter der düstere Herrscher nach der Macht. Sauron ist so etwas wie das literarische Äquivalent von Söder, beide, die Romanfigur wie der bayerische Ministerpräsident, sind nachtragend und rachsüchtig. Söder wurde von dem listigen Hobbit  Armin um die Kanzlerkandidatur gebracht, konnte sich zwar während des Wahlkampfs revanchieren, indem er den Halbling ständig vorführte, doch reicht ihm das nicht: Er will immer noch das ganze Land unter seine Kontrolle bringen.


Deshalb dürfen sich die Westlichter nicht zu sicher sein, dass es ihnen auch diesmal gelingt, einen aus ihrem Gau irgendwann zum Herausforderer des Scholzomaten zu machen. Bei Tolkien sieht Saurons düsteres Auge alles, was auf Mittelerde geschieht. Söder hat gleich zwei solche Sinnesorgane zur Verfügung, und noch niemand hat ihm einen freundlichen, offenen oder arglosen Blick attestiert. Wenn sich die christdemokratischen Zwerge und Hobbits in NRW unter Beobachtung allzu dämlich anstellen, steht ihnen der Einmarsch Sauron-Söders aus dem „Lande Mordor (Bayern), wo die Schatten drohn“ bevor. Die Gefahr naht diesmal nicht – wie gewöhnlich - aus dem Osten, wo sich die Parteifreunde längst der AfD ergeben haben, sondern aus dem Süden, wo einer, dessen Machtwille durch keinerlei Skrupel beeinträchtigt wird, seine CSU-Orks um sich schart, um die Herrschaft über die gesamte deutsche Mittelerde an sich zu reißen.
11/2021
Dazu auch:
Bote aus dem Jenseits (2018), Trio des Grauens (2020) sowie Leuchtturm im Sumpf (2021) im Archiv von Helden unserer Zeit





Wackere Fregatte


Normalerweise ist diese Rubrik Individuen vorbehalten, die sich heldenhaft blamiert oder vorbildlich den tumben Starrsinn germanischer Recken demonstriert haben. Diesmal aber geht es um ein ganzes Schiff, das heroisch durch den Indischen Ozean, den Südpazifik und das Chinesische Meer schippert. Die Fregatte Bayern der deutschen Bundesmarine sieht sich in umstrittenen Gefilden mit dem Potential zu künftigen Kriegsschauplätzen um und kündet per Nebelhorn vom Faible der Berliner Regierung für eine „regelbasierte internationale Ordnung". Die Crux dabei ist allerdings, dass sich nur die Gegner an die Regeln halten sollen.


Lust auf mehr nach Afghanistan?


Dass die Volksrepublik China Gebietsansprüche auf ein paar Inselgruppen im Pazifik recht drastisch anmeldet und dabei maritimen Nachbarn wie Vietnam, den Philippinen oder Japan ins Gehege kommt, ist nicht unbedingt förderlich für gute Beziehungen in Ostasien. Dass Peking diesbezügliche Urteilssprüche des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag ignoriert, darf man kritisieren, nur sollte man auch berücksichtigen, dass ein solches Verhalten für Großmächte quasi zum guten Ton gehört: Die USA und Russland halten die Richter in den Niederlanden schon lange für unzuständig – wenn es um eigene Unternehmungen oder Domänen geht.


Dennoch musste man bis vor kurzem keine unmittelbare Kriegsgefahr befürchten, die chinesischen Staatskapitalisten wollen die Welt lieber durch Handel und Investitionen als mit Waffengewalt erobern. Doch plötzlich sieht sich das Reich der Mitte von einer mächtigen und waffenstarrenden Allianz belagert. Die USA, in deren Think Tanks erschreckend viele Militärs und Politiker einen Krieg gegen China für denkbar halten, rüsten Australien mit Atom-U-Booten aus, die Briten kreuzen provokant vor den Küsten der Volksrepublik, und auch Japan schließt sich den von Washington orchestrierten Seekriegsübungen an. Dabei geht es eigentlich nicht um kleine umstrittene Archipele, sondern um die Vorherrschaft im Fernen Osten.


Ökonomisch befindet sich der nordamerikanische Neoliberalismus in der Defensive gegenüber dem expansiven Pekinger KP-Trust. Nach etlichen unsinnigen Abenteuern, von Libyen über den Irak bis Afghanistan, in denen die Doktrin des „Regime Building“ blutig scheiterte, wollen die US-Strategen jetzt das Match gegen den einzigen ernstzunehmenden Konkurrenten mit einem gewaltigen Coup gewinnen.


Von Großbritannien abgesehen, sind die Europäer in dieser Angelegenheit außen vor. Vollständig draußen also? Nicht ganz, durfte doch die in Karatschi gestartete Fregatte Bayern bei Übungen im Indischen Ozean ein bisschen mittun. Das wackere Schiff, dessen oberste Kriegsherrin AKK zu Hause den etappenweisen Rückzug aus Verantwortung und Politik antritt, erinnert ein wenig an den umtriebigen Außenminister Heiko Maas: überall dabei sein, aber nichts zu sagen haben. Die Bayern lief Australien an, fährt nun kreuz und quer durch den Pazifik, sozusagen als Berlins Emissärin mit der frohen Botschaft, Deutschland stehe an der Seite derer, die das internationale Recht verteidigen. Wie wir noch sehen werden, ist  dieses Recht jedoch völlig irrelevant, wenn unsere Freunde es brechen.
Vielleicht ist der Sinn dieser militärischen Kreuzfahrt aber ein ganz anderer: Nach der mit Orden belohnten glanzvollen Flucht aus Kabul soll sich die Bundeswehr auf anderen Kriegsschauplätzen umschauen, um allzeit bereit zu sein – zumindest zur Erhöhung des Militäretats.


Hat China Angst vor Bayern?


Überall war die Bayern aber leider nicht willkommen. Als sie den Hafen von Shanghai anlaufen wollte, verweigerte ihr die Führung in Peking das Andocken. Höflich verpackt signalisierte der Sprecher des Außenministeriums, Zhao Lijian, dass Deutschland zweierlei Maß anlege. Die VR China sei zu guten Beziehungen und sogar einer Kooperation der Streitkräfte beider Länder sowie zu „freundschaftlichem Austausch auf der Basis gegenseitigen Respekts und Vertrauens bereit“. Zuvor müsse Deutschland aber „günstige Bedingungen dafür schaffen“.


Natürlich könnte auch der Blick auf die Geschichte die Pekinger Führung bewogen haben, auf die militärische Visite dankend zu verzichten. Beim letzten Besuch deutscher Soldaten anlässlich der Niederschlagung des Boxeraufstands im Jahr 1900 beging das Expeditionskorps zahlreiche Gräueltaten, aufgeputscht durch die sogenannte Hunnenrede von Kaiser Wilhelm II., die in folgender Aufforderung gipfelte: „So möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“ Nun, die tausend Jahre sind noch nicht vorbei, und vielleicht fürchten die Einwohner Shanghais, ein unvorsichtiger Blick könnte von den Gästen falsch aufgefasst werden.


Opportune Doppelmoral


Nein, solche Ängste entbehren jeglicher Grundlage, die Fregatte ist ein friedliches Schiff, das die Fahne des Völkerrechts gehisst hat. In zwei Häfen ist allerdings die imaginäre Flagge fehl am Platze: So lief die Bayern Diego Garcia an, eine Inselgruppe, die zu Mauritius gehört, aber widerrechtlich von den Briten okkupiert wurde, die sie wiederum den USA als Militärstützpunkt zur Verfügung stellten. Zwei UN-Gerichtshöfe sowie die Generalversammlung der Vereinten Nationen fordern bislang vergeblich die Rückgabe des Archipels. Von Protesten deutscher  Regierungspolitiker hat man nichts gehört. Sie schickten stattdessen ein Schiff auf Goodwill-Tour vorbei.


Mittlerweile steuert die Fregatte Guam an. Diese Insel wurde von den US-Militärs zu einem riesigen Stützpunkt ausgebaut, ihre Einwohner aber genießen keine vollen Bürgerrechte. Die UN führen Guam als eins von weltweit siebzehn Territorien, die noch der Entkolonialisierung harren. Die Chancen stehen schlecht, dass die deutschen Moralisten den US-Gastgebern ins Gewissen reden und sie dazu auffordern, ihre Kolonie in die Freiheit zu entlassen.


„The same procedure“ wie jedes Jahr in jedem Land und jedem Konflikt, könnte man meinen. Vollmundig brechen die verantwortlichen Gutmenschen aus Deutschland eine Lanze für Freiheit und Völkerrecht – um hinterrücks die Frevel ihrer Verbündeten (und bisweilen auch die eigenen) abzusegnen.
10/2021
Dazu auch:
Schweinehund-Theorien im Archiv der Rubrik Medien (2016)





Die Schuld der anderen


Immer wenn in den bleiernen 1950er Jahren vom Holocaust, von der Schuld am Zweiten Weltkrieg oder von den Verbrechen der Wehrmacht die Rede war, gehörte es zu den gutbürgerlichen Gepflogenheiten in den spießigen Wohnzimmern und  miefigen Wirtsstuben hierzulande, den alles überragenden Anteil Deutschlands zu relativieren, indem man die von anderen Nationen oder Volksgruppen begangenen Vergehen dagegensetzte. Diese Art von Geschichtsrevisionismus geriet während der Brandt-Regierung ein wenig ins Abseits, feiert aber inzwischen fröhliche Wiederauferstehung, etwa in AfD-Kreisen, aber offenbar auch in der CSU, wie die Einlassungen eines Regensburger Historikers nahelegen.


„Völkermord an den Deutschen“


Die Nürnberger Nachrichten (NN) sind eine der größten Regionalzeitungen der Bundesrepublik und gelten als eine der trägsten. Ohne nennenswerte Konkurrenz in ihrem nordbayerischen Verbreitungsgebiet arrangieren sie sich mit der ökonomischen und politischen Macht dort und glänzen nur selten mit eigenständigen Recherchen (Ausnahme: NSU-Komplex). Nun aber hat einer der rührigeren NN-Redakteure, Michael Kasperowisch, in einem ganzseitigen Interview den Beweis erbracht, dass geschichtsrevisionistisches Denken und die Banalisierung deutscher Menschheitsverbrechen nicht Domänen offen rechtsextremer Kreise sein müssen, sondern auch von der intellektuellen Creme der CSU goutiert werden.


Manfred Kittel (59) ist außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Regensburg und Mitglied der allein seligmachenden Partei in Bayern. Als solches blickt er aus einem speziellen Winkel auf die Welt und korrigiert munter jene, die Schmutz in den Ecken des Vaterlands und seiner Wirkungsgebiete aufspüren. In seiner Dissertation setzte er Ralph Giordanos These, die Deutschen hätten durch Versäumnisse bei der NS-Vergangenheitsbewältigung nach 1945 eine „zweite Schuld“ auf sich geladen, die eigenwillige Ansicht, dass die NS-Erblast von Anfang an zentrales Thema der politischen Kultur in der BRD gewesen sei, entgegen.


Damit meint er nicht, die Nazi-Ideologie sei fest in der hiesigen Nachkriegsgesellschaft verankert gewesen, vielmehr schwebt ihm wohl eine ominöse Bewältigung des Grauens vor. Wie aber soll man dann Teile dieser Bewältigungskultur, etwa das Schweigen über den Nazi-Befall von Ministerien, Justizbehörden und Geheimdiensten oder die Übertragung hoher und höchster Posten an braune Verbrecher (BND-Chef Gehlen, Kanzleramtschef Globke oder BW-Ministerpräsident Filbinger) interpretieren? Als Diskretion und Resozialisierung vielleicht?


Schrille Töne kamen in dieser eher zur Tabuisierung neigenden Zeit von den Vertriebenenverbänden, denen damals nicht nur Linke Revanchismus und Ignoranz des an anderen begangenen Unrechts vorwarfen. Kittel sah sich wahrscheinlich als spätberufener Versteher landsmannschaftlichen Unwillens, als er 2009 Gründungsdirektor der nicht unumstrittenen Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wurde. Als der CSU-Professor die Wechselausstellung „Twice a Stranger“ zu Vertreibungen im 20. Jahrhundert allzu einseitig auf die Situation der deutschen Flüchtlinge 1945 fokussierte, fühlten sich die Experten und der nicht mit einbezogene Beirat brüskiert, worauf Kittel die Stiftungsleitung niederlegte.


Aber nun zeigt sich der Wissenschaftler wieder unverbrüchlich an der Seite der mittlerweile dezimierten Ost-Verbände, beruft sich gegenüber den NN auf die 2006 von der Sudetendeutschen Landmannschaft und zuvor bei den Donauschwaben ausgegebenen Parole „Vertreibung ist Völkermord“, ohne Rücksicht auf Völkerverständigung oder historische Einordnung. So trifft ihn eine Frage des Interviewers Kasperowitsch doch recht unvermittelt: „Sie plädieren nun dafür, die Vertreibung der Deutschen einen Völkermord zu nennen. Halten Sie den dritten Teil des Stiftungsnamens, die Versöhnung, eigentlich für zu hoch bewertet?“


Vertriebene als Hereros Europas?


Der seltsam fokussierte Historiker laviert in der Antwort ein wenig herum, es habe im Stiftungsrat immer wieder Diskussionen gegeben, dass man lieber von Verständigung als von Versöhnung geredet hätte. Auf weitere Nachfragen räumt Kittel ein, er würde „als Nicht-Jurist“ lieber von einem Menschheitsverbrechen sprechen. Doch Völkermord sei in der betreffenden UN-Konvention eben „sehr weit gefasst“ worden (was sogar stimmt, doch davon später), und dann argumentiert er sich in eine Sackgasse, die nahelegt, dass deutsche Doktoren und Professoren, die, zumal im Geschichtsfach, ziemlich rechtskonservative Ansichten vertreten, nicht unbedingt tiefschürfende Denker sein müssen: „Anstoß für meine Anmerkungen in dieser Richtung war die Entscheidung des Bundestags Ende Mai, die Gräueltaten durch das deutsche Kaiserreich vor 113 Jahren an den Herero und Nama als Völkermord anzuerkennen. Ich halte es für unglücklich, eines der Großverbrechen auf diese Weise herauszustellen, die es im Kontext der deutschen Geschichte gab.“


Der Professor hält also die Einordung des Ausrottungsfeldzugs gegen zwei afrikanische Ethnien als Völkermord für „unglücklich“ (ein „Unglück“, das übrigens vier Jahre lang anhielt), während er gleich darauf, die Vertreibung deutscher Bürger aus dem Osten nach Hitlers Raubzügen durch zuvor entrechtete tschechische, polnische oder jugoslawische Nachbarn mit eben jenem Etikett versehen möchte. Geschichte verläuft nicht immer logisch (auch wenn Katheder-Marxisten das bestreiten mögen), warum also sollten deutsche CSU-Historiker etwas logisch deuten können?


Kittel setzt am Ende des Interviews noch eins drauf, als ihn der NN-Redakteur fragt, ob die Entschuldigung des Stadtrats von Brünn in Tschechen für Übergriffe auf fliehende Deutsche nicht der bessere Weg für die Verständigung sei als seine Initiative: „Da widerspreche ich nicht grundsätzlich. Nur sollten in Berlin bitte immer auch die Nebenwirkungen gut gemeinter Erklärungen bedacht werden – auch wenn das Thema Kolonialismusbewältigung derzeit noch so boomt.“


Wo lebt der Mann denn? Hat er sich das Programm der ethnischen Säuberung durch die kaiserlichen Truppen näher angeschaut, ehe er es mit der sicherlich oft brutalen Rache slawischer Bauern an ihren früheren Unterdrückern verglich? Generalleutnant Lothar von Trotha trieb die Hereros in die Wüste und ließ sie dort zu Tausenden verdursten, was er so begründete: „Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. […] Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“ Kaiser Wilhelm II. unterstützte das Kriegsziel ausdrücklich, am deutlichsten aber formulierte der Chef des Generalstabs, Alfred Graf von Schlieffen, die Absicht vollständiger Eliminierung: „Der entbrannte Rassenkrieg ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.“


Das, Herr Prof. Dr. Kittel, ist ein Völkermord, gegen den nichts aufgerechnet werden kann! Und auch was den angeblichen Boom einer Aufarbeitung des grauenhaften Kolonialismus teutonischer Machart betrifft, scheint unserer Regensburger Historiker nicht von dieser Welt zu sein: In zahllosen deutschen Städten leben Hunderttausende von Bürgern größtenteils ahnungslos in Straßen und Alleen, die immer noch nach Von Trotha, Graf von Schlieffen oder dem Experten für verbrannte Erde in Ostafrika, Lettow-Vorbeck, benannt sind.


Ursachen ausgeklammert


Natürlich ist Professor Kittel viel zu vorsichtig, um die Vertreibung der Deutschen in einem Atemzug mit dem Holocaust zu erwähnen (was einen internationalen Shitstorm ausgelöst hätte), also zieht er die Hereros, deren Tragödie weniger globale Aufmerksamkeit erfahren hat, zum irrwitzigen Vergleich heran. Dabei nutzt er die etwas ungenaue Formulierung des Artikels II in der betreffenden UN-Konvention, die als Völkermord u. a. definiert

a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

b) die Verursachung von schwerem körperlichem oder

seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; ...


Naiv ausgelegt, könnte so jeder rassistische Neonazi-Übergriff als Völkermord durchgehen. Einem Historiker sollte man aber doch die Einordnung des juristischen Textes in den geschichtlichen Kontext zutrauen (wenn er nicht arglistig täuschen will). Die Hereros wehrten sich gegen weiße Herrenmenschen, die ohne Einladung in ihr Gebiet eingedrungen waren und ihnen ihr Land wegnahmen, und wurden wegen dieser Unbotmäßigkeit mit der vollständigen Ausrottung bedroht. Etwa zwei Drittel von ihnen überlebten diesen Völkermord nicht.


Zweifellos kam es auch bei der Vertreibung der Deutschen im Osten zu zahlreichen Verbrechen, doch müssen die Ursachen der verbreiteten Wut in Ländern und Regionen, die von der Wehrmacht überfallen und von SS-Schergen teilweise entvölkert wurden, in Betracht gezogen werden. Mord ist stets eine mit kriminellem Vorsatz begangene Tat, niemand aber wird allen Ernstes behaupten, die 1945 auf Rache sinnenden tschechischen Bauern im Sudetenland hätten zunächst Hitlers Einmarsch geplant, um sich dann nach dessen Niederlage das Hab und Gut ihrer deutschen Nachbarn unter den Nagel reißen zu können.


Bei aller leicht durchschaubaren Rabulistik könnte Kittel eine wichtige Funktion erfüllen, sozusagen eine Marktlücke für die CSU schließen: Die Ansicht, der deutschen Schuld an Krieg, Euthanasie oder Holocaust könne kein Alleinstellungsmerkmal zugeordnet werden, da andere Nationen sich ähnliche Schweinereien geleistet hätten, ist weit verbreitet in unserer Bevölkerung, wird aber selbst von erzkonservativen Politikern und Publizisten selten offen vertreten. So können damit bislang nur die Rechtsextremen punkten. Wenn nun ein Wissenschaftler sich die Mühe macht, mithilfe haarsträubender historischer Vergleiche zu suggerieren, den Deutschen sei ja ähnlich übel mitgespielt worden wie den Opfern des germanischen Herrenmenschentums, erlangen die Forderungen, einen Schlussstrich unter die Verbrechen der Vergangenheit zu setzen und die Feinde von damals mit rhetorischen Retourkutschen zu kontern, „seriöse“ Weihen.


Und die CSU muss sich nicht mehr damit begnügen, mittels ökologischer Lippenbekenntnisse im Lager der Grünen zu wildern, sie kann durch die Verharmlosung der historischen Verantwortung nun auch die Wähler von AfD und NPD, der ganz Rechten also, umgarnen – wie in den seligen Zeiten eines Franz Josef Strauß.

08/2021

Dazu auch:

Völkermord als Test im Archiv von Politik und Abgrund (2018)






Der kleine Prinz


Heroen sind dünn gesät in diesen finsteren Zeiten, und so bin ich froh, dass eine renommierte Institution des deutschen Pressewesens mich auf der Suche nach einem Protagonisten für diese Rubrik unterstützt und mir dabei vor Augen geführt hat, dass sich ein Recke nicht unbedingt durch Tapferkeit und Opfermut auszeichnen muss, sondern auch qua Geburt zur ehrwürdigen Übermenschengilde gezählt werden kann, solange dies durch die Regenbogen-Journaille oder als seriös verschriene Mediendienste testiert wird. Und so sehe ich mich in der Lage, Ihnen heute den bislang jüngsten Helden unserer Zeit zu präsentieren.


Die alte Dame dpa


Seit vielen Jahrzehnten ist die Deutsche Presse-Agentur (dpa) der wichtigste Multiplikator und Zulieferer von Infos, Meldungen oder Stellungnahmen, mithin von Nachrichten für die Printmedien, im von germanischer Sprache geprägten Raum. Natürlich leidet auch die eher unauffällig auftretende große alte Dame des publizistischen Großhandels unter den sinkenden Auflagen sowie der schwindenden Akzeptanz ihrer Abnehmer. Zugleich aber profitiert die dpa von einem Trend in den Zeitungen, der für deren Mitarbeiter zwar Stressabbau darstellt, zugleich aber das Profil der Blätter verschwimmen und das Niveau sinken lässt: Immer mehr Redakteure hieven immer mehr Berichte oder sogar Kommentare der Agentur auf die Seiten, ohne sie zuvor noch zu redigieren, zu gewichten oder selbst noch zusätzlich zu recherchieren.


Scheinbar entschloss sich die stets im sprachlichen Mittelmaß navigierende dpa angesichts der infolgedessen gestiegenen Verantwortung für das Weltbild der Deutschen, nicht nur international Bedeutsames oder harte Fakten an Frau und Mann zu bringen, sondern der von Pandemie, Klimawandel und Staatsverschuldung gebeutelten Bevölkerung auch Leichtes, Lockeres, Erfreuliches zu präsentieren. Und so schaffte sie es mit einem ebenso liebenswürdigen wie sinnfreien Artikelchen (plus Foto eines munteren Buben) zu einem Dreispalter in etlichen Flaggschiffen des Regionaljournalismus, etwa den Nürnberger Nachrichten: „Prinz George wird acht.“


Für alle, die sich nicht in Europas Königshäusern die Klinken in die Hand geben, sei angemerkt, dass es sich bei besagtem Schorsch um den Sohn von Kate und William, den Enkel von Charles-ohne-Thron und den Urenkel der unendlichen Monarchin Elizabeth II von England handelt. Was aber macht die Nachricht und diesen Bengel so wichtig?


Ein rundum rundes Jubiläum


In Krisenzeiten sehnt man sich nach Unterhaltung, Spaß und unverfänglichem Klatsch. Da reichen die Bundesliga, blutige Tatorte, Brachial-Comedy mit Mario Barth oder kostspielige Realsatire mit Andi Scheuer längst nicht mehr. Insofern sollte man sich fröhliche und unschuldige Idole suchen wie diesen kleinen Prinzen. Mit acht Jahren hat George ziemlich sicher noch keine Seitensprünge begangen, hat sich nie wie der launige Onkel Harry als Nazi verkleidet oder wie Uropa Philip halb China verprellt, indem er britische Gaststudenten in Peking davor warnte, sie könnten Schlitzaugen bekommen. Es haftet ihm nichts Tragisches an wie der in schlechter Gesellschaft so jäh verblichenen Oma Diana, sein Gin-Verbrauch dürfte den der seligen Queen-Mum bei weitem nicht erreichen, und sehr viel von den Multimillionen-Apanagen, die das Haus Windsor von Arbeiterklasse und Mittelschicht bekommt (alles darüber zahlt kaum Steuern), hat er auch noch nicht auf den Kopf gehauen.


Warum aber, wird sich nun ein Skeptiker fragen, ist ausgerechnet das achte Wiegenfest des blaublütigen Knaben solches Aufsehen wert? Geht es sonst nicht immer um runde Geburts- oder Todestage, vom fünfzigsten bis hoch zum tausendsten Jubiläum? Sollten etwa den versierten Korrespondenten der dpa die Sujets, Ideen oder Phantasien mangels anregender Alkoholika ausgegangen sein?


Man sehe sich aber die Acht einmal genauer an, sie beinhaltet nämlich das Runde sogar zwiefach – gleich einer aufeinandergetürmten Doppel-Null. Und ist es angesichts der Kriminalgeschichte des englischen Königtums (Richard III. als Kindesmörder, Heinrich VIII. als Gattinnenkiller etc.) nicht eine unblutige, aber durchaus berichtenswerte Heldentat eines künftigen Kronprinzen, im perfiden Albion einfach acht Jahre alt zu werden?


Eine Welt ohne Royals?


Schließlich bringt die englische Monarchie ein wenig Glanz in die Backsteinhütten ihrer Untertanen, aber auch in die Einzimmerwohnungen und Altersheime deutscher Rentnerinnen und Witwen. Alte Männer allerdings ziehen hierzulande in der Regel pralle Möpse auf Seite 1 von BILD den Familienfotos der Windsors vor. Insgesamt jedoch lässt sich frei nach dem Mops-Spezialisten Loriot konstatieren: „Ein Leben ohne Royals ist möglich, aber sinnlos.“


Diesen Satz würden die Verleger und Journalisten der Regenbogenpresse sofort unterschreiben, doch auch die Edel-Gazetten und die öffentlich-rechtlichen Funk- und TV-Medien möchten nicht auf ihr gerüttelt Maß an Hofberichterstattung verzichten. Der unnütze Charme der Hocharistokratie ist den Bürgern viel Geld wert und lässt sie Luxusprobleme, die nicht ihre sind, in einer Glamour-Welt, zu der sie keinen Zutritt haben, gewissenhaft erörtern.


Sollte sich Karl Marx geirrt haben? Bestimmt nicht das Sein, sondern der (schöne) Schein das Bewusstsein? In jedem Fall wollen wir Prinz George aus ganzem Herzen gratulieren. Er dürfte noch ein knappes Jahrzehnt bis zu seinem ersten handfesten Skandal (über den wir dann aber alles wissen wollen) vor sich haben.

08/2021

Dazu auch:  

Das wirklich Wichtige im Archiv der Rubrik Medien (2017)






Die fröhlichste Null


Drei KanzlerkandidatInnen – so viele hatten wir ja noch nie! Da müssen wir natürlich genau hinschauen, um nicht dem/der Falschen unsere teure Stimme zu geben. Doch je mehr wir uns inhaltlich mit den AspirantInnen beschäftigen, desto krasser beschleicht uns das Gefühl, in einem wirren Panoptikum nach einem/r Auserwählten suchen zu müssen, und am Ende bleiben uns nur unorthodoxe Wege der Entscheidungsfindung.


Die grüne Pandora


Gemessen an der Fülle des Materials, die Wikipedia über ihre beiden Mitbewerber um die Kanzlerschaft anbietet, suggeriert der schmale Eintrag zu Annalena Baerbocks Vita, Wirken und inhaltlicher Position, dass es sich bei der Grünen-Kandidatin um ein eher unbeschriebenes Blatt handelt. Um mehr Beachtung sowie politisches Gewicht zu erlangen, hat sie ein Büchlein mit dem Titel „Jetzt – Wie wir unser Land erneuern“ geschrieben (oder schreiben lassen), das leider seinen Zweck verfehlte. Statt sich mit Baerbocks schwammigen Thesen zu beschäftigen, spottete die Öffentlichkeit darüber, dass die Erneuerin (oder ihr Ghostwriter Michael Ebmeyer, der auch schon für Heiko Maas in die Tasten griff) auf Althergebrachtes rekurrierte, will sagen: mehrere Passagen, u. a. von der Bundeszentrale für politische Bildung und vom Parteikollegen Trittin abgeschrieben hat.


Programmatisch fällt Baerbock nicht aus dem grünen Rahmen: Ein wenig ökologischer soll es zugehen, ansonsten aber weitgehend wirtschaftsfromm, schließlich hat man sich mit dem System arrangiert. Eine harmlose Liebäugelei mit der Wiedereinführung der Vermögenssteuer lässt sich als mutmaßlicher Juniorpartner der Union ohnehin nicht durchsetzen. Dankenswerterweise plädiert die Kandidatin für den Abzug der US-Atomwaffen aus der Bundesrepublik und widerspricht damit den Falken der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung, die fordern, „dass Deutschland an der nuklearen Teilhabe festhalten und nötige Modernisierungsschritte umsetzen muss“. Ansonsten aber liegt Baerbock aber ganz auf der kriegerischen Linie, die einst Joschka Fischer den Grünen verordnete, als er in der Regierung Schröder die völkerrechtswidrigen Bombardierungen der deutschen Luftwaffe in Serbien mittrug. Forsch postuliert sie, zum Auftrag der Bundeswehr gehörten gegebenenfalls „robuste Militäreinsätze“.


So robust wie in Afghanistan? Oder darf es noch ein wenig mehr sein, etwa in der Ukraine? Ihr Kollege Robert Habeck war schon mal kurz dort und möchte nun das Kleptokraten-Regime in Kiew, das gegen die rebellischen Ostprovinzen Krieg führt, aufrüsten: "Waffen zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, Defensivwaffen, kann man meiner Ansicht nach der Ukraine schwer verwehren.“ Dass das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz genau solche Exporte verbietet, scheint die Grünen, die von einer EU-Interventionsarmee und einer tragenden deutschen Militärrolle träumen, schon lange nicht mehr zu interessieren.


Lange Zeit hatten die Grünen geglaubt, mit dem Spitzenduo Baerbock/Habeck eine Wundertüte aufgetan zu haben, deren Figuren das der Großen Koalition müde Wahlvolk bezaubern könnten, ohne dass es auf den Gehalt ihrer Aussagen ankäme. Schließlich entschieden sie sich für die unbedarfte, der rechtsbürgerlichen Konvention verpflichtete Annalena B. als Kanzlerprätendentin und glaubten, ein Fass aufgemacht zu haben. Doch nun stellt sich heraus, dass sie die Büchse der Pandora öffneten, deren Seuchen und Plagen die Partei hinter eine SPD auf niedrigem Stimmenniveau zurückwerfen wird, mit dem heißen Atem der FDP-Neoliberalen im Nacken.


In die SPD eingeschleust?


Die Parteistrategen, die vorzeitig und ohne Not den in Empathie und Temperament leicht eingeschränkt wirkenden Bundesfinanzminister Olaf Scholz, genannt Scholzomat, zum SPD-Kandidaten gemacht haben, waren entweder schlicht irre oder vom schwarzen Feind eingeschleuste Saboteure. Oder sie waren nach dem krachenden Scheitern des Hanseaten bei der Wahl zum Parteivorsitzenden der Meinung, was den Sozialdemokraten zu schlecht ist, reicht fürs deutsche Volk noch allemal.

Als wäre Scholz in der Rolle des SPD-Spitzenmanns nicht schon unattraktiv genug, macht er unentwegt mit Skandalen, Regelverstößen und Versäumnissen auf sich aufmerksam. Durch den SPIEGEL wurde soeben ruchbar, dass er Experten seines Ministeriums ein Steuerreformkonzept ausarbeiten lässt, natürlich nicht für die in den letzten Zügen liegende Legislaturperiode, sondern für den eigenen Wahlkampf. Dass Scholz öffentliche Ressourcen anzapft, um sein persönliches Waterloo im September zu verhindern, mag man ihm noch als lässliche Sünde durchgehen lassen, zwei folgenreiche Verfehlungen der jüngeren Vergangenheit aber lasten schwer auf seinem Ruf.


Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), für die sein Ministerium verantwortlich ist, versäumte es, das mit Luftbuchungen jonglierende Unternehmen WireCard zu kontrollieren. Während die BaFin stattdessen gegen einen Journalisten, der den Skandal aufgedeckt hatte, ermittelte, warb Scholz weiterhin unverdrossen und in enger Kumpanei mit Kanzlerin Merkel und Wirtschaftsminister Altmaier für die Betrugsfirma.


Wegen illegaler Cum-Ex-Geschäfte hätte 2016 das Finanzamt Hamburg 47 Millionen Euro von der Privatbank M.M.Warburg & CO zurückfordern müssen. Wie NDR und ZEIT berichteten, traf sich Scholz als Erster Bürgermeister dreimal mit Christian Olearius, dem Mitinhaber der Bank. Seine Finanzbehörde ließ unterdessen die Millionenforderungen verjähren. Befragt, was er wohl mit dem Bankier besprochen habe, vermochte sich Scholz an nichts mehr zu erinnern. Nun ja, vielleicht prädestiniert ein schlechtes Gedächtnis zur Kanzlerschaft. Helmut Kohl wusste später ja auch nichts mehr von illegalen Spenden und Geldkoffern.


Um in der hanseatischen Begriffswelt zu bleiben: Mit einem solchen Kapitän und einem ebenso blassen wie wetterwendischen Steuermann Maas an Bord wird das Tempo der SPD-Talfahrt wohl noch einige Knoten zulegen.


Gerissen aus der Bütt


Er kommt aus Aachen, und der Frohsinn eines Elferratschefs lacht ihm derart naiv aus dem Gesicht, dass man annehmen möchte, er könne nicht bis drei zählen. In Wirklichkeit ist er nicht nur ein erzkonservativer Machtmensch, sondern auch ein gerissener Taktierer, wie seine favorisierten Gegner Friedrich Merz und der bayerische Parvenü Markus Söder feststellen mussten. Armin Laschet sagt über seinen geistigen Hintergrund, seine Familie sei „rheinisch-katholisch“, also wohl der Woelki-Fraktion innerhalb der allein seligmachenden Katholischen Kirche zugehörig.


Zu fetten Skandalen reichte es bei Laschet nie, eher zu kleineren Ungereimtheiten, etwa als die Landesregierung von NRW im April 2020 Schutzausrüstung zur Eindämmung der Corona-Pandemie im Wert von 38,5 Millionen Euro ausgerechnet bei dem Textilunternehmen Van Laack kaufte, für das der Sohn des Ministerpräsidenten, Johannes Laschet, als Vermittler und Influencer arbeitete. Es habe schnell gehen müssen, und weder er noch sein Filius hätten einen müden Euro an dem Deal verdient, wiegelte Armin ab. Vermutlich ist der Vorgang lediglich dem bizarren Faible von Unionspolitikern für karnevaleske Masken und gute Beziehungen zuzuschreiben.


Manchmal verteidigt Armin Laschet den politischen Gegner, so auch den chauvinistischen Sozialdemokraten Thilo Sarrazin. Der sei „kein Rechtsradikaler“, und er selbst halte dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ trotz einiger Schwächen für einen „wichtigen Diskussionsbeitrag“. Bäume und deren Besetzer mag Laschet dagegen weniger. Jedenfalls unterstützte er RWE-Chef Martin Schmitz, der den Hambacher Forst der Energieversorgung opfern wollte, ausdrücklich – bis das Oberverwaltungsgericht Münster die Totalrodung des Waldes stoppte, weil der Konzern nicht nachweisen konnte, dass ohne den Kahlschlag tatsächlich kein Strom mehr fließen werde. Ein Herz für sparsame Unternehmer bewies Laschet, als seine Landesregierung die Vorschrift kippte, dass bei öffentlichen Ausschreibungen nur noch Firmen, die ihre Beschäftigten nach Tarif entlohnten, zum Zuge kommen sollten.


Wackere Mitstreiter bietet Laschets CDU für den Urnengang auf: Für Südthüringen möchte Hans-Georg Maaßen beweisen, dass sich die AfD im Bundestag locker rechts überholen lässt. Und der CDU-Spitzenkandidat in Mecklenburg-Vorpommern, Philipp Amthor, weiß, dass man als Lobbyist viel mehr Geld verdienen kann, wenn man selbst im Parlament sitzt.

Programm und Inhalte haben bei Wahlkämpfen der Union noch nie eine Rolle gespielt. Armin Laschet weiß das und wartet gelassen grinsend ab, dass sich die anderen Parteien in Widersprüche verstricken. Denn am Ende setzt sich immer die fröhlichste Null gegen all die trüben Tassen durch.


Die nicht ins Kanzleramt wollen


Die anderen Parteien mit Chancen auf den Einzug in den Bundestag haben darauf verzichtet, Kanzlerkandidaten aufzustellen. Die Linke will sich angesichts der zu erwartenden sechs bis sieben Prozent nicht lächerlich machen, zumal sie ihrem einstigen Glamour-Girl Sahra W. nach deren Ausflug in rechte Argumentationsschemata nicht mehr über den Weg traut.

Bei der AfD hätte Bernd Höcke allenfalls für die Reichskanzlerschaft kandidiert, und Alice Weidel, das Edelfräulein des deutschen Rechtspopulismus, will sich nicht in aussichtslosem Kampf aufreiben. Sollen sich doch die Drei auf der großen Bühne nach Kräften blamieren, während die eigene Partei in ihren sächsischen und thüringischen Trutzburgen mit eherner Geduld der Wiedergeburt deutscher Größe harrt.


Christian Lindner hätte vielleicht schon gewollt, schließlich ist es ja seine Spezialität, mit wohlgesetzten Worten ein Nichts zu umreißen – ein Metier, in dem er den drei Kandidaten haushoch überlegen ist. Was ihn dann doch „Bedenken first“ setzen ließ, waren vermutlich die Angst vor der ständigen Nörgelei des Parteifreundes Kubicki und die Einsicht, nichts wirklich Vorzeigbares in der bisherigen Karriere zustande gebracht zu haben.


Ganz neue Entscheidungshilfen


Gesetzt den Fall, jemand möchte am 26. September nur für eine Partei stimmen, die einen personellen Vorschlag für das Kanzleramt unterbreitet, so hätte der/die Betreffende drei Optionen – soweit dieser positiv besetzte Begriff auf die Wahl zwischen Not und Elend anwendbar ist. Angesichts der intellektuellen, politischen und moralischen Statur der drei KandidatInnen wird es ihm schwerfallen, sich nach logischen Kriterien zu entscheiden. Doch da weist ihm das jetzige Kabinett mit einer denkwürdigen Entscheidung möglicherweise den Weg.


Seit 1. Juli sind Online-Casinos im gesamten Bundesgebiet legal. Das bedeutet, dass der Staat mehr Steuereinnahmen verzeichnen kann, dass mehr Menschen spielsüchtig werden und sich die persönlichen Insolvenzen sowie die Selbstmorde verzweifelter Loser mehren. Das bedeutet aber auch, dass nach Herzenslust und zu jeder Zeit gezockt werden darf. Warum also nicht in der Wahlurne den Würfel entscheiden lassen oder eine von drei Karten, vorzugsweise Luschen, ziehen?


Anschließend könnte man nach dem Vorbild der Sportwetten viel Geld auf diese vernünftige Wahlentscheidung setzen. Aber da ist doch die internationale Wett-Mafia, die trickst, fälscht, besticht und manipuliert, höre ich verzagte Bedenkenträger mahnen. Aber das ist doch in der Politik genauso, entgegne ich, das gehört schließlich zu unserer freien Marktwirtschaft.

07/2021

Dazu auch:

Grünes Atom-Faible im Archiv von Politik und Abgrund (2021)

Trio des Grauens (2020) und Olaf der Schreckliche (2019) im Archiv von Helden unserer Zeit







Ihres Vaters Tochter


„Was macht eigentlich…?“ oder „Wie geht es heute…?“ hießen früher beliebte Rubriken, in denen halb vergessene Berühmt-heiten von anno dazumal biedermeierlich abgefeiert wurden. Wäre die Dame, deren illustre Laufbahn im folgenden skizziert wird, von Skrupeln behaftet, könnte sie im Grunde froh sein, wenn ihr Name aus dem öffentlichen Interesse ins Abseits der Anonymität verschwunden wäre. Aber Monika Hohlmeier ist die Tochter von Franz Josef Strauß und dürfte schon im Elternhaus gelernt zu haben, dass jeder Skandal, der nicht zum endgültigen Aus der Karriere führt, eine/n stärker macht.


Die Jobs des Ex-Gatten


Manchmal glaubt man, einen Namen, dessen Träger/in sich hinreichend desavouiert hat, nie mehr hören zu müssen. Man erschrickt dann regelrecht, wenn sich die vermeintlich ins Nirwana der Bedeutungslosigkeit eingegangene Person wieder zu Wort meldet, und zwar aus gehobener Position und mit moralischem Impetus. Die Vergabe von EU-Finanzhilfen müsse an die Einhaltung rechts-staatlicher Kriterien gekoppelt werden, drohte Monika Hohlmeier den Halb-Autokratien Polen und Ungarn. Hohlmeier, die fast zur gleichen Zeit mit einem Maskengeschäft in Verbindung gebracht wurde, kennt sich damit aus, was man/frau in einem Rechtsstaat so alles tun und vor allem lassen sollte.


Beinahe unbemerkt hat sich die umtriebige Strauß-Tochter einige Funktionen und Posten im EU-Parlament gesichert: So ist sie u. a. Mitglied im Haushaltsausschuss und sinnigerweise auch gleich im Haushaltskontrollausschuss, im Sonderausschuss gegen organisiertes Verbrechen, Korruption und Geldwäsche (eine gewisse Expertise dürfte ihr nicht abzusprechen sein) und innenpolitische Sprecherin der konservativen EVP-Fraktion.


Wie man politische Ämter zur Unterstützung liebgewonnener Menschen nutzt, hatte die smarte Oberbayerin schon bald gelernt, was nicht weiter schwer war, gaben sich doch im Hause Strauß die Spezis und Amigos permanent die Türklinke in die Hand. Aber nicht immer klappte es mit dem karitativen Wirken. Als sie beispielsweise in ihrer Machtvollkommenheit als Kultusministerin 2004 ihren Pressesprecher Peter Brendel zum Direktor des Gymnasiums in Pfaffenhofen ernannte, wurde diese Beförderung erst einmal gerichtlich kassiert.


Auch mit dem Menschen, dem sie die intensivste Zuwendung angedeihen ließ, verlief nicht alles reibungslos. Monika schildert die Annäherung an ihr späteres Ehegespons auf ihrer Homepage, in kryptischer bis schlüpfriger Diktion: „Auf dem Rücken meines Jagdpferdes Appolonia lernte ich meinen Mann Michael Hohlmeier kennen.“ Die frischgebackene Frau Hohlmeier, von deren Amtszeit im bayerischen Schul- und Kultusministerium vor allem der Versuch, die Lernmittelfreiheit im Freistaat abzuschaffen, in Erinnerung geblieben ist, kümmerte sich liebevoll, wenn auch von Neidern scheel beäugt, um das Auskommen des Gatten.


Bereits 1998 hatte Monikas Bruder Max, der seinen Auftritt noch als reichlich unbedarfter Zeuge in der Bestechungsaffäre um den Rüstungslobbyisten Schreiber haben sollte, Michael H. einen Job als Controller in der Unternehmensgruppe WABAG vermittelt. Nur wenig später quittierte Hohlmeier den Posten, gerade noch rechtzeitig, denn nun ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen die WABAG wegen des Verdachts auf Betrug und Untreue. Michael wanderte weiter und verdingte sich im Medienimperium des Strauß-Intimus Leo Kirch, ehe er auf der Suche nach etwas Solidem auf dem Terrain des Kultusministeriums fündig wurde: Er wurde zum stellvertretenden Direktor des Sehbehindertenzentrums Unterschleißheim berufen. Für diesen Karrieresprung war es sicher nicht hinderlich gewesen, dass das Ressort seiner Gattin der Einrichtung gerade erst einen Erweiterungsbau für 8,5 Millionen Euro spendiert hatte.


Etwas Stimmenkauf, ein wenig Erpressung


Für richtigen Ärger und ihr vorläufiges Scheitern aber sorgte Monika Hohlmeiers Streit mit den Münchner Parteifreunden. Es muss um 2004 recht fidel im schwarzen Kreisverband der Landeshauptstadt zugegangen sein. Um sich Abstimmungsmehrheiten zu sichern, wurden Aufnahmeanträge gefälscht und Stimmen gekauft. Der JU-Funktionär Maximilian Junker bezichtigte die von Kindheit an mit Durchstechereien vertraute Chefin der Mitwisserschaft, der Fraktionsvorsitzende im Stadtrat, Hans Podink, erkannte einen „Abgrund von Lüge und Täuschung“ und beschuldigte Hohlmeier, ihn an der Aufklärung gehindert zu haben.


Als Monika Hohlmeier im Juli 2004 ihren Gegnern in einer Krisensitzung damit drohte, Dossiers über sie zu verwenden, war das Maß voll. Sie musste den Münchner CSU-Vorsitz abgeben, verlor sukzessive ihre anderen Parteiämter und trat schließlich als Kultusministerin zurück. Die Landtagsfraktion verweigerte ihr 2005 einen Sitz im Haushaltsausschuss, und drei Jahre später scheiterte sie als hintere Listenkandidatin für den Bezirk Oberbayern bei den Landtagswahlen. Wenigstens kannte die loyale Parteisoldatin die Schuldigen: „Die Münchner CSU ist ein Intrigantenstadl, in dem nur noch Mauscheleien und Intrigen herrschen.“


Als Politikerin schien Hohlmeier vernichtet, doch die würdige Tochter dachte daran, wie ihr Vater die SPIEGEL-Affäre, die illegalen Waffenexporte nach Israel, den Schützenpanzer-Skandal etc. überstanden hatte. Auch wusste sie, dass es in der Führungsriege der Union Bewährungshelfer gab, die gefallene Söhne und Töchter der Partei nicht im Stich ließen, einen Meineidbauern zum Innenminister (Zimmermann) und einen Besoffenen hinter dem Steuer, der einen polnischen Kleinwagenbesitzer totfuhr, zum Wirtschafts- und Verkehrsminister machten (Wiesheu). Vielleicht hatte Monika H. aber auch noch ein paar Dossiers über Führungspersönlichkeiten auf Lager. Wie dem auch sei, jedenfalls wurde ihr geholfen.


Comeback über Bayerisch-Sibirien


Wenn du denkst, es geht nicht mehr / kommt von irgendwo ein Lichtlein her lautet ein trostspendender Kinderreim. Für Monika Hohlmeier leuchtete das Lichtlein der Hoffnung im hohen Norden Bayerns, in Oberfranken.

Es ist ein eher rauer und dünn besiedelter Landstrich mit waldreichen Mittelgebirgen und der höchsten Brauereidichte der Welt. Wie staunten nun die eigensinnigen Bewohner der manchmal als Bayerisch-Sibirien verspotteten Provinz, als ihnen die CSU-Parteiführung eine auswärtige Spitzenkandidatin namens Monika Hohlmeier für die Europawahlen 2009 vor die Nase setzten. Bislang hatte man gemutmaßt, dass die Dame Oberfranken höchstens vom Namen her kenne.


So aber gelangte die Strauß-Tochter politisch nach Brüssel und wenig später wohnsitzmäßig nach Lichtenfels, wo einst Adam Riese die Kunst des (Be)Rechnens gepflegt hatte. Es begann still um sie zu werden, sieht man davon ab, dass 2018 die Coburger Staats-anwaltschaft erfolgreich die Aufhebung ihrer Immunität beim EU-Parlament beantragte, weil sie beim Einparken ein fremdes Fahrzeug beschädigt und sich „unerlaubt vom Unfallort entfernt“ hatte. Welch vernachlässigbarer Fauxpas angesichts der stattlichen Reihe von Alkoholfahrten und Karambolagen, die von CSU-Lokalpolitikern aktenkundig geworden waren.


Gute Freundinnen


Was die deutschen Abgeordneten im EU-Parlament so treiben, rangiert in den Medien meist unter ferner liefen, und so erhielt Monika Hohlmeier die verdiente Beachtung erst wieder, als ihr Name im Zusammenhang mit einem FFP2-Maskendeal auftauchte. Andrea Tandler, Tochter des ehemaligen CSU-Generalsekretärs Gerold Tandler, dessen Laufbahn mit Finanzskandalen gepflastert war, suchte für die Larven der Schweizer Firma Emix Großabnehmer, und Hohlmeier vermittelte ihr den Kontakt zur chronisch überforderten damaligen Gesundheitsministerin in München, Melanie Huml. Eine Summe von bis zu 50 Millionen Euro soll zur Debatte gestanden haben.


Das Münchner Ministerium kaufte die Masken zum Stückpreis von 8,95 €, ein Schnäppchen, wenn man bedenkt, dass wenig später das Dreierpäckchen bei den Discountern für weniger als 2 € zu haben war. Und wieder moserten Übelwollende gegen die hilfsbereite Frau Hohlmeier.

Die setzte sich zur Wehr: Sie habe nichts an dem Handel verdient, sei Andrea Tandler vor allem wegen der langjährigen Freundschaft mit ihr zur Seite gesprungen. Überhaupt habe sie in den Zeiten der Pandemie nur ein wenig helfen wollen.


Und das scheint mir die Crux im Leben der Monika Hohlmeier, dass sie stets Pech hat und missverstanden wird. Oder um Goethes Faust reziprok zu deuten: „Sie ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft.“

06/2021

Dazu auch:

Maskenball der Union in der Rubrik Helden unserer Zeit (2021)

Prinzip Belohnung im Archiv von Politik und Abgrund (2018)






Könige von Deutschland


Mitten in dieser unserer Republik existiert eine Monarchie mit sieben Millionen Untertanen, die Abgaben zahlen, sich in Vereinen und Kasten zusammenrotten und – mehrheitlich – blind den Befehlen ihrer Oberen gehorchen. Und das ist gar nicht so leicht, denn neben dem gekrönten Haupt, das wohl bald seine Kopfzierde verlieren wird, kämpfen noch andere Fürsten um Macht und Einfluss – und das mit Unterschleif, Verleumdung und Tücke, ganz so, als wären die finsteren Ränke der Fantasy-Serie „Game of Thrones“ für die hiesige Realität adaptiert worden. Bei diesem sinistren Königreich handelt es sich – Sie werden es längst gemerkt haben – um den Deutschen Fußball-Bund (DFB).


Ein bisschen Schmu muss sein


Dem Verband gehören 24.500 Fußballvereine an, damit ist er die größte Sportorganisation der Welt. Regiert wird er, zumindest nominell, von einem Wahlmonarchen, dem Präsidenten, auf den sich die höchsten Funktionäre im Vorfeld einigen und dessen vordringliche Aufgabe es ist, Ruhm und Reichtum des Reichs zu mehren. Das wiederum ist von solcher Bedeutung, dass die Spitzenpolitiker der diese Enklave umgebenden Republik Schlange stehen, um mit den verschwitzten jungen Recken des Nationalteams auf ein Foto kommen oder dem König (derzeit noch Fritz Keller) die Hände schütteln zu dürfen.


Dass kickende Kinder auf dem Platz elf Freunde sein wollen, dass für Hunderttausende Amateure neben dem sportlichen Erfolg vor allem das Vereinsleben zählt, dass all das während der Corona-Zeiten – obwohl vorwiegend draußen stattfindend – untersagt war, kümmert den Hochadel des DFB, dessen vier mächtigste Potentaten heillos zerstritten sind, kaum. Wichtig ist für sie, dass die Profis unter zahllosen Ausnahmeregeln ran dürfen und so der Rubel rollt. Angesichts der üppigen TV-Einnahmen wird sich mancher königliche Funktionär darüber Gedanken machen, ob die Untertanen, also das Fußvolk der Vereine und die Zuschauer, für die Show überhaupt noch benötigt werden.


Leider aber rollt der Rubel bisweilen in die falschen Kassen. Da flossen 6,7 Millionen Euro des DFB über die „Lichtgestalt“ Franz Beckenbauer ins Abseits, respektive in die Taschen korrupter FIFA-Funktionäre, um sich so die Ausrichtung der Sommermärchen-WM 2006 in Deutschland zu erkaufen. Über diese Affäre stolperten nacheinander die Verbandspräsidenten Niersbach und Zwanziger. Weil die Einnahmen aus der Bandenwerbung bei Heimländerspielen 2014 und 2015 in den Steuererklärungen falsch deklariert waren, um Geld am Finanzamt vorbei zu schleusen, nahm die Staatsanwaltschaft Frankfurt Ermittlungen auf. Dem DFB, satzungsgemäß ein Verein, droht nun der Verlust der Gemeinnützigkeit. Zwar ist die Förderung des Jugendsports sicherlich lobenswert, doch fragt man sich schon, wie eine Organisation, die zwei der weltweit bekanntesten kriminellen Vereinigungen, dem europäischen Fußballverbandes UEFA und der weltweiten Kicker-Union FIFA nämlich, angehört, überhaupt in den Ruch der Gemeinnützigkeit gelangen konnte.


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Die Ermittlungen laufen konkret gegen Friedrich Curtius, den Generalsekretär, und Stephan Osnabrügge, den Schatzmeister, somit zwei der mächtigsten Fürsten im DFB. Beschuldigt werden sie der Mitwisserschaft in der Causa Steuerhinterziehung. Drollig nimmt sich dagegen ein Mediencoup der beiden aus, auch wenn er nicht billig für den DFB war: Der musste nämlich 15.000 Euro Startgeld und danach weitere 1200 Euro monatlich an die PR-Agentur Esecon dafür zahlen, dass sie die Wikipedia-Seite über Curtius, den Lieblingsfeind von König Keller, umschreibt und die freundliche Fälschung fortlaufend pflegt. Für den Fußballbund unterschrieben den Vertrag Friedrich Curtius himself und Hauptkassier Stephan Osnabrügge.


Auch dem Vize-König im deutschen Fußballreich, Rainer Koch, früher Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München, wird allerlei Mitwisser- und auch Mittäterschaft nachgesagt. Der einst als Förderer der Amateurvereine gepriesene Funktionär sammelte Posten, und zwar vorzugsweise in den obersten Etagen des Profi-Fußballs. So führt er den Süddeutschen Fußballverband und sitzt im Exekutiv-komitee der UEFA, und wenn ein DFB-Präsident wegen irgendwelcher unsauberen Verstrickungen abdanken musste, sprang er als Interimschef ein. Nach dem jeweiligen Interregnum begnügte er sich wieder mit der Position des Vize.


Nicht nur böse Zungen sagen ihm nach, dass er alles über den Stimmenkauf für die WM-Ausrichtung 2006 gewusst habe. Vor zwei Jahren geriet er darüber hinaus ins Gerede, weil er einem alten Geschäftsfreund, dem Kommunikationsberater Kurt Diekmann, einen „undurchsichtigen und hochdotierten“ Vertrag (Sport1) mit dem DFB verschafft hatte. Die SZ argwöhnt bis heute, mit den Honoraren sollten frühere Tätigkeiten Diekmanns für Koch & Co abgegolten werden.


An der Vereinbarung waren offenbar auch Curtius und Osnabrügge beteiligt, die zusammen mit dem Vize als die drei fürstlichen Musketiere gegen König Fritz Keller opponierten. Der Winzer aus dem Badischen, vom biederen SC Freiburg gekommen, galt zunächst als Hoffnungsträger, u. a. weil er die unsinnige Vergabe der WM 2022 nach Qatar kritisierte. Doch angesichts der Intrigen seines Hochadels platzte Keller der Kragen und ihm unterlief eine sprachliche Entgleisung, wie sie in keiner Situation und gegenüber keinem Gegner gerechtfertigt werden kann.


Ein Fußballfunktionär wie der Blutrichter?


Die in der Bundesrepublik vorherrschende Vergessens- und Verdrängungskultur ließ es völlig normal erscheinen, dass der DFB erst im Jahr 2000 damit begann, die eigene Rolle während des Nationalsozialismus, als jüdische Trainer und Spieler aus den Stadien und dann aus dem Leben verschwanden, zögerlich aufzuarbeiten. Insofern ist es erst einmal erstaunlich, dass Keller für seinen Intimfeind Koch eine Vergleichsperson bemühte, die vielen hierzulande zumindest bis zu dieser Entgleisung gar nicht mehr geläufig war. Dass der DFB-Präsident aber diese historische Figur und ihre schreckliche Effektivität kannte und dennoch seinen Kontrahenten verbal mit ihr gleichsetzte, machte den Eklat völlig unentschuldbar.


Rainer Koch ist ein obskurer Multi-Funktionär und Intrigant, aber mit Roland Freisler, dem Präsidenten von Hitlers Volksgerichtshof, der mehr als 2600 Todesurteile verhängte und als Teilnehmer der Wannseekonferenz einer der Chef-Logistiker des Holocausts war, mit diesem wohl fürchterlichsten Juristen der Geschichte, darf er nicht verglichen werden. Irgendwie erinnert diese Missachtung jeglicher Verhältnismäßigkeit an die Corona-Leugner, die sich Judensterne anstecken.


Jetzt steht der DFB vor einem Scherbenhaufen. Seine Landes- und Regionalfürsten entzogen Keller und Curtius das Vertrauen. Beide werden gehen müssen. Nicht geschasst wurde seltsamerweise Schatzmeister Osnabrügge, doch der hat ohnehin angekündigt, beim nächsten DFB-Bundestag nicht mehr kandidieren zu wollen. Das Gleiche gilt für den ewigen Rainer Koch, der allerdings bis dahin nach Kellers Abgang noch einmal in seine Lieblingsrolle als Interimspräsident schlüpfen darf. Was sich wie eine Machtparabel à la Macbeth, Richard III oder ein anderes Königsdrama von Shakespeare anließ, endet in einer konfusen Farce mit lauter Leichen, aber das ist halt so im Kapitalismus, wenn Inhalte den systematischen Irrgang der Dinge stören.


Witzbolde, vermutlich aus Bayern, haben übrigens die Namen der uneinsichtigen Vorbestraften Rummenigge (Uhrenschmuggel) und Hoeneß (Steuerhinterziehung) als künftige DFB-Monarchen ins Spiel gebracht.

05/2021

Dazu auch:

Fußball über Gräbern in der Rubrik Medien

Fifa-Sepp und Licht-Franz im Archiv von Helden unserer Zeit (2014)





Fake à la Biden


„Alternative Fakten“, von höchster Stelle gestreute Fakes und optimistische Deutungen verheerender Ergebnisse – all diese medialen Kunstgriffe schienen integrative Bestandteile der Trump-Ära zu sein und somit nach der Abwahl ihre Existenzberechtigung verloren zu haben. Doch nun ordnet der neue Herr im Weißen Haus den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan an und befleißigt sich einer ähnlichen Rhetorik wie sein irrlichternder Vorgänger.


Wie man ein Scheitern schönredet


Dass die GIs und mit ihnen die subalternen Alliierten das Land im Hindukusch verlassen, ist verständlich und begrüßenswert, wird doch so die endlose Verlängerung eines Konflikts verhindert, der nicht zu gewinnen war und mehr „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung anrichtete, als er Verluste bei den Kombattanten forderte. Insofern klingt Bidens Botschaft zunächst vernünftig: „Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden. Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen nach Hause zu kommen.“


Donald Trump hatte die boys schon bis Mai home holen wollen, da fängt Biden gerade erst an mit der Evakuierung, die symbolträchtig am 11. September abgeschlossen sein soll, genau zwanzig Jahre nach dem Tag also, an dem das New Yorker World Trade Center von Al Qaida in Schutt und Asche gelegt worden war. Dies war schließlich auch der Grund für die USA gewesen, in das Gastland von Osama bin Ladens Islamistenbande einzumarschieren. Biden als vierter Präsident mit diesem Klotz am Bein beendet nun das „Engagement“ und könnte ehrlich feststellen: „Wir schleichen uns aus Afghanistan davon, weil es uns nicht gelungen ist, die Lage dort zu stabilisieren und der fundamentalistischen Terroristen (mit deren Vettern wir einst selbst verbündet waren) Herr zu werden.“


Biden tönt stattdessen, die ursprüngliche Mission des Einsatzes sei „erfüllt“. Seine Administration ließ er verlautbaren, das Ziel, dass Afghanistan Terroristen nicht mehr als Zufluchtsort diene, sei erreicht worden. Handelt es sich bei diesen Statements um Anzeichen einer kollektiven Bewusstseinseintrübung? Oder feiert Trumps ganz eigene Logik eine fröhliche Wiederauferstehung? Al Qaida ist nicht verschwunden, sondern nur ein wenig untergetaucht, und im angeblich von Terroristen gesäuberten Land macht sich der Islamische Staat breit, flankiert von als Mujahedin getarnten Banditen und lokale Warlords. Dazu haben die Taliban, die ebenfalls zu religiösem Berserkerwahn neigen, in den Verhandlungen mit den USA keine ernsthaften Zugeständnisse gemacht.


Bedingungsloses Abhauen


Schon unter Trump waren von den USA „ernsthafte Friedens-gespräche“ mit der Regierung in Kabul als Voraussetzung für den eigenen Truppenabzug postuliert worden. Die Taliban aber denken gar nicht daran, mit Feinden, die sie nicht ganz zu Unrecht als Marionetten Washingtons betrachten, seriös über eine Nachkriegszeit in demilitarisierter Koexistenz zu reden. Sie wollen an die ungeteilte Macht zurück, sobald die fremden Truppen abgezogen sind.


Von wegen Ziele erreicht: Die US-Regierung argumentiert offen, dass die Forderung von Garantien zum Schutz der Zivilbevölkerung oder der Anerkennung des Kabuler Regimes lediglich dazu führen würde, dass die Truppen doch im Land bleiben müssten. Nicht einmal den kleinen Finger haben die Taliban offenbar ihren mächtigen „Verhandlungspartnern“ gereicht. Oder wie es ein Regierungs-sprecher in Washington formulierte: „Der Präsident hat entschieden, dass ein auf Bedingungen basierender Ansatz, der der Ansatz der vergangenen zwei Jahrzehnte war, ein Rezept für einen ewigen Verbleib in Afghanistan ist.“


Also nichts wie weg, und die ebenso korrupten wie unfähigen Statthalter in Kabul sich selbst überlassen! Deren Delegierte tagen übrigens seit September vorigen Jahres in Doha mit Taliban-Abgesandten. Mehr als eine Einigung bei zwei, drei Verfahrensfragen ist dabei bisher nicht herausgekommen, was auch nicht weiter verwundert, warten die Islamisten doch nur geduldig ab, bis ihnen das Land wie ein fauler Apfel in den Schoß fällt.


Mindestens so schnell wie die US-Militärs werden die westlichen Verbündeten Afghanistan verlassen, hatten sie sich doch durch ihre Beteiligung an der Intervention das Wohlwollen des Großen Bruders in Washington und einen schnellen und vor allem dauerhaften Sieg erhofft. Dass die Soldaten, von denen leider einige durch Kriegsverbrechen auffielen, in die sichere Heimat zurück wollen, ist verständlich, mussten sie doch die Fehleinschätzungen ihrer Regierungen, ob in Großbritannien, Italien oder Australien, vor Ort ausbaden, in einem Konflikt, „der als sinnloser Einsatz in die Geschichte eingeht“ (Tobias Matern in der SZ).


Maas hat das vorletzte Wort


In Vasallentreue zu den USA hatte Deutschland Truppen nach Afghanistan entsandt, die sich aus diversen Kämpfen weitgehend heraushielten, wenn nicht gerade ihr Oberst Klein für ein Massaker an über hundert Dorfbewohnern, die ein wenig Benzin hatten abzweigen wollen, verantwortlich zeichnete. Dennoch verloren 53 Bundeswehr-angehörige in den beinahe zwanzig Jahren des Einsatzes ihr Leben. Kein Wunder, dass die Lage im Land als zu gefährlich für die bis an die Zähne bewaffneten deutschen Soldaten gehalten wurde. Nicht zu gefährlich für abgelehnte Asylbewerber schätzen hingegen die hiesigen Behörden die Situation ein und schieben fleißig nach Afghanistan ab.


Und wofür erbrachte die Bundeswehr die Opfer? Für nichts und wieder nichts, am allerwenigsten aber für die unter dem Krieg leidende Bevölkerung, wie ein außenpolitischer Sprecher Gerhard Schröders später in aller Klarheit feststellte: "Die Entscheidung, nach Afghanistan zu gehen, hatte null Prozent mit Afghanistan zu tun und hundert Prozent mit den USA. Wenn Bin Laden sich auf den Fidschi-Inseln versteckt hätte, wären wir dahin mitgegangen."


Während also Bundeswehrsoldaten gewissenhaft das eigene Leben schützten, übten sich deutsche Politiker in markigen Durchhalte-parolen. „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“, schwadronierte der ehemalige SPD-Verteidigungsminister Peter Struck. Demnach können wir ab jetzt davon ausgehen, dass Deutschland in höchster Gefahr ist, weil niemand mehr die Barbaren im afghanischen Gebirge bekämpft. Und Ex-Bundespräsident Horst Köhler brachte endlich auch die Wirtschaft ins Spiel und lobte das militärische Engagement, „um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege…“

Mit der Zeit und der sich immer klarer abzeichnenden Erfolglosigkeit verstummten die Befürworter des Interventionsirrsinns. Und als alles gesagt schien und keiner mehr das Thema in Erinnerung bringen mochte, kam der Mann, der immer noch eine letzte Plattitüde auf Lager hat: Heiko Maas. „Wir wollen nicht durch einen zu frühzeitigen Abzug aus Afghanistan riskieren, dass die Taliban zurückkehren zur Gewalt und versuchen, mit militärischen Mitteln an die Macht zu kommen“, belehrte der deutsche Außenminister die NATO-Spitzen in Brüssel. Ihm war offenbar völlig entgangen, dass die Zeloten nie von der Gewalt und der Rückeroberung der Macht gelassen hatten. War aber auch egal, denn das letzte Wort hatte ohnehin Chef Biden.


Dass der 59. Präsident der USA die geordnete Flucht aus Afghanistan befiehlt, mag verständlich sein, will er doch seine Soldaten, die dort nie etwas zu suchen hatten, vor dem Terror schützen, den nun die Einheimischen allein zu erdulden haben werden; dass er aber ganz im Stil des 58. Präsidenten, wenn auch in moderaterem Tonfall, flunkert und ein totales Debakel in einen ansehnlichen Teilsieg umdeutet, lässt Schlimmes für die Zukunft befürchten.

04/2021

Dazu auch

Zwischen den Stühlen in der Rubrik Medien

Chronik des Versagens im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2020)




  


Leuchtturm im Sumpf


Plötzlich reden sie von der Verantwortung ihrer Mandats-träger, wollen diese bei der „Ehre“ packen und fordern lückenlose Aufklärung über Nebeneinkünfte, die selbst-ernannten Sittenwächter der Union. Seit Bekanntwerden der Maskenschiebereien geben sie vor, unerbittlich im Morast persönlicher Bereicherung nach verräterischen Spuren von Parteifreunden zu fahnden. Dabei wäre es so einfach, das spezielle Verhältnis prominenter Christdemokraten zu Geld und anrüchigem Geschäftssinn exemplarisch offenzulegen, man bräuchte nur im Bundeskabinett anzufangen. Denn dort ragt Jens Spahn für alle sichtbar wie ein Leuchtturm, dessen Feuer wie Gold glänzen, über dem schwarzen Sumpf aus Vorteilnahme und Durchstecherei auf.


Ein fleißiger Lehrling


Schon in frühen Jahren waren für Jens Spahn zwei Dinge klar: Er würde in der Politik ganz nach oben streben, am besten bis zur Kanzlerschaft, und er wollte Kohle, vorzugsweise in Betongold investiert. Mit solcher Entschlossenheit schaffte er bereits als 22-jähriger den Sprung in den Bundestag und ergriff den Beruf, der sich ausschließlich mit Geld und dessen Vermehrung befasst - er wurde  Bankerlehrling. Und er muss ein fleißiger Azubi gewesen sein, schon weil er schnell kapiert hatte, dass seine beiden Faibles sich trefflich ergänzten.


Bis vor ein paar Monaten galt Spahn nicht wenigen als künftiger Kanzlerkandidat, da war er bereits seit drei Jahren  Bundesgesund-heitsminister und schien Corona allein mit markigen Ermahnungen und nassforschen Ankündigungen in die Schranken weisen zu können. Mittlerweile, nach Fehlern in der Masken- und Vakzine-Beschaffung, Pannen bei der Impfkampagne und einem Immobilien-kauf, der irgendwie deplatziert wirkte, ist der Mann aus Ahaus in NRW nur noch ein Hoffnungsträger a. D. der Union, und der SPIEGEL fordert gar seinen Rücktritt.


Mitten im ersten Jahr der Pandemie, im Sommer 2020, als Experten bereits vor einer zweiten Welle warnten, scheint die Aufmerksamkeit des für die Bekämpfung zuständigen Ressortchefs durch ein eigenes Projekt abgelenkt gewesen zu sein. Spahn leistete sich nämlich eine Villa im Berliner Edelkiez Dahlem für stolze 4,125 Millionen Euro. Eine solche Summe kann auch ein Minister mit geschätzten Gesamt-einkünften von monatlich 20.000 Euro nicht ohne Weiteres aufbringen, also sprang die Sparkasse Westmünsterland mit Krediten für einen großen Teil der Summe ein. Bei eben diesem Geldinstitut in seinem Wahlkreis war Spahn von 2009 bis 2015 im Verwaltungsrat gesessen, und das Berliner Luxusschnäppchen war nicht der erste Immobilienkauf, bei dem ihm diese Bank Geld lieh.

Möglicherweise sind in diesem Fall keine juristisch relevanten Verfehlungen nachweisbar, doch hinterlässt es einen üblen Geschmack im Volksmund, wenn immer mehr Mandatsträger der Union dabei ertappt werden, wie sie ihrer politischen Verantwortung in inzestuöser Nähe zu Geschäft und Profit gerecht werden. Und wenn an ihrer Spitze ein Mitglied der Bundesregierung auftaucht, lohnt es sich, das symbiotische Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft näher zu beleuchten. Gerade Spahns Vergangenheit gibt dafür einiges her.


Das eigene Wohl im Auge


Einen Tag nach seinem Einzug in den Bundestag am 17. Oktober 2002 ist der Nachwuchsparlamentarier schon unterwegs auf Einkaufstour. In den t-online-news schreibt Jonas Mueller-Töwe: „Seitdem profitiert der Privatmann Jens Spahn immer dann finanziell, wenn auch der Politiker Spahn einen Karrieresprung macht.“ Er erwirbt seine erste Immobilie, eine Wohnung mit 91 m 2, von einem Parteifreund. Da er gerade erst Bankkaufmann geworden war und ab jetzt das große Verdienen als MdB losgehen sollte, nimmt er natürlich ein Darlehen auf. Zehn Jahre später – Spahn sitzt bereits mit überdurchschnittlichen (!) Bezügen im Verwaltungsrat der Sparkasse Westmünsterland – übernimmt diese einen Teil der Forderungen von der Bank, die den Kredit einst gewährt hatte. Wohl aus Anhänglichkeit (Spahn ist ein Jahr zuvor aus dem Gremium ausgeschieden) sichert sich das heimische Institut einen weiteren Teil des Darlehens. Muss nichts Verwerfliches sein, fügt sich nur erstaunlich glatt zusammen…


Im Bundestag wirft sich Spahn auf die Gesundheitspolitik, nicht wegen irgendwelcher Expertise, sondern weil die CDU dort personelle Defizite hat und er doch auf sich aufmerksam machen möchte. Für Angela Merkel werkelt er ab 2005 an einer Gesundheitsreform, gründet aber gleichzeitig mit seinem Bürochef die Agentur Politas, die auch Firmen aus der Pharmabranche berät. Das muss nicht zu Interessenkonflikten führen, könnte es aber, zumal Politas sich in der Eigenwerbung als Türöffnerin für den Bundestag empfiehlt: „Ganz gleich, ob es um eine Anhörung, ein Hintergrundgespräch oder um eine Plenardebatte geht. Wir sind für Sie dabei.“ Nun ist dabei noch nicht mittendrin, aber ein bisschen nach Lobbyismus ersten Grades riecht das schon, und Spahn scheint eine Zeit lang auch gut damit verdient zu haben.


Dann profiliert sich Spahn als „Rentenpolitiker“, indem er die Erhöhung der Altersbezüge 2008 als „Wahlgeschenk“ ablehnt und den Werktätigen (oft in prekärer Stellung) eine (sich mit den Jahren verteuernde) private Altersvorsorge empfiehlt. Das verschafft ihm Sympathien bei den Neoliberalen in der Union – und bei den privaten Rentenversicherern. Und prompt wird er ein Jahr später Mitglied im Aufsichtsrat der Signal Iduna Pensionskasse. Dieses eine Mal nimmt sein ansonsten wenig sensibler Gaumen ein Geschmäckle wahr und er zieht sich 2010 aus freien Stücken von dem Posten zurück, weil er zum gesundheitspolitischen Sprecher der CDU berufen wird und Böswillige einen weiteren Interessenkonflikt wittern könnten.


Dafür realisiert Spahn eine mit seiner politischen Funktion brillant harmonierende Geschäftsidee, als ihn 2013 der damalige Finanzminister Schäuble, der selbst ein ganz eigenes Verhältnis zu Geld (beim CDU-Spendenskandal auch gern im Briefumschlag) hat, als Staatssekretär holt: Er erwirbt für 15.000 Euro 1,25 Prozent an der Pareton GmbH, einem Startup-Unternehmen, das eine Steuer-Software entwickelt und kassiert dafür auch noch 3000 Euro aus einem Fördertopf des Wirtschaftsministeriums. Die zahlt er nach lauter Kritik wieder zurück, auch steigt er bei Pareton wieder aus. Irgendwie war es der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln, dass ein üppig besoldeter Staatssekretär im für Steuern zuständigen Ministerium mit all seinem Hintergrundwissen im Nebenjob an privat erstellten Steuerprogrammen mitverdient und dafür auch noch aus Steuergeldern gefördert wird.


Die Freunde nicht vergessen!


In der Sozialdebatte gab sich Jens Spahn zur Freude der CDU-Wirtschaftsvereinigung immer knallhart, etwa als er den Hartz-IV-Empfängern mal die Meinung geigte, dass sie pausenlos klagten, statt mit ihrem reichlichen Geld richtig zu wirtschaften: Niemand brauche in Deutschland zu hungern, dozierte der Armutsexperte, jeder habe „das, was er zum Leben braucht“.


Freunden, Bekannten oder Besserverdienenden scheint der Minister indes herzlich zugetan zu sein und sie nach Kräften fördern zu wollen. Wie wäre es anders zu erklären, dass er den alten Kumpel Markus Leyck, von dem er übrigens auch eine Wohnung in Berlin-Schöneberg gekauft hatte, zum Chef-Digitalisierer für das ganze  Gesundheits-wesen ernannt hat, ganz ohne lästige Ausschreibung?


Und hätte Spahn sonst die Benefiz-Aktion für die Apotheken des Landes, die den Bund eine halbe Milliarde Euro kostete, gegen Bedenken der eigenen Beamten durchgesetzt? Wie der Recherche-verbund von NDR, WDR und SZ herausfand, wurde die Summe für die freie Abgabe von FFP2-Masken dem Apothekerverband pauschal zur Verfügung gestellt, der sie an die einzelnen Geschäfte verteilte. Hätten die Ladenbesitzer die Larven selbst bestellt, an die Kunden abgegeben und dann Rechnungen gestellt, wäre eine Maske auf 1,50 € gekommen, so wurden 6 € pro Stück zulasten des Steuerzahlers fällig.


Unlängst zog der bekannte Berliner CSU-Politiker Niels Korte seine Kandidatur für den nächsten Bundestag zurück. Auch er soll in Maskengeschäfte verwickelt gewesen sein und dabei von Kontakten zu Jens Spahn profitiert haben – was sich nun nicht mehr als so opportun herausstellt. Die nähere Umgebung des einstigen Shooting Stars der Union gleicht mittlerweile mehr und mehr vermintem Gelände.


Kein Wunder, dass Spahn zunehmend nervös reagiert. Er ließ Erkundigungen über Journalisten, die sich beim Berliner Grundbuchamt über seinen jüngsten Villenerwerb informiert hatten, einholen und versuchte eine Zeit lang, die Veröffentlichung des Kaufpreises zu verhindern, letztendlich vergebens. Seiner Meinung nach sei die Angelegenheit „Privatsache“, ließ er wissen. Wenn‘s nur so einfach wäre. Abgeordnete und Minister sind zumindest von Anspruch und Auftrag her gewählte Vertreter und Diener des Volkes. Und hat nicht die Bevölkerung dieses Landes ein Recht darauf, das Finanzgebaren derjenigen, die es bezahlt und von denen es sich regieren lässt, zu kennen? Sollte es nicht stutzig werden dürfen, wenn sich der zuständige Seuchenbekämpfer mitten in der Vorbereitung auf die nächste Infektionswelle mit der Aufstockung seines Immobilien-Portfolios beschäftigt?


Als Donald Trump sich im US-Wahlkampf weigerte, seine Steuererklärung zu veröffentlichen, rümpften die Deutschen die Nasen. Da habe einer etwas zu verbergen, sagten sie beinahe unisono. Aber kennen sie denn die Steuererklärungen der eigenen Politiker?

04/2021

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Maskenball der Union im Archiv dieser Rubrik (2021)

Habe die Ehre! in der Rubrik Medien (2021)

Armutsexperten im Archiv der Rubrik Medien (2018)






Maskenball der Union

 

Wenn sich die ehrlichen, die naiven und die geheuchelten Aufregungen um die Extra-Profite beim Schutzmasken-Deal ein wenig beruhigt haben, wird es Zeit, den Herren Georg Nüßlein (CSU) und Nikolas Löbel (CDU) dafür zu danken, dass sie im Duett den lockeren bis kriminellen Umgang deutscher Parlamentarier mit dubiosen Geldern entlarvt haben. Quasi im Selbstversuch haben die beiden schwarzen Volksvertreter getestet, wie weit man in pekuniärem Eigeninteresse gehen kann, bis man auffliegt und von scheinheiligen Kollegen an den Pranger gestellt wird.

 

Makler statt Vertreter

 

Obwohl: Als Vertreter des Wahlvolkes wollten sich die beiden Bundestagsabgeordneten nicht mehr sehen, eher als Makler zwischen dem produzierenden Gewerbe und der bedürftigen Bevölkerung. Makler machen ihr Geld damit, etwas Knappes auf dem Markt, das ihnen nicht gehört, etwa Wohnraum, an Verzweifelte zu vermitteln und diese dann deftig abzukassieren. (Damit verdient man wesentlich mehr als ein Vertreter.) Im Falle von Nüßlein und Löbel handelte es sich bei den fraglichen Waren um Schutzmasken, die in Pandemie-Zeiten begehrt und wegen der organisatorischen Planlosigkeit der Regierenden rar waren.

 

Als die Räume des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Georg Nüßlein nach Aufhebung der Immunität auf richterliche Anordnung hin durchsucht wurden, ging es nicht nur um den Vorwurf der Bestechlichkeit, sondern auch um den Verdacht der Steuerhinterziehung. Dass der bayerische Schwabe seine Beziehungen innerhalb der Partei und zum Münchner Gesundheitsministerium genutzt hat, um einem Maskenproduzenten den großen Deal mit den Behörden im Freistaat zu ebnen und dafür mutmaßlich 660.000 Euro „Provision“ einstrich, riecht durchdringend nach Korruption, kann aber möglicherweise nicht als solche strafrechtlich geahndet werden. Da Nüßlein aber wohl meinte, dass er am Volk verdienen könne, ohne dass dieses sich das Recht herausnehmen dürfe, einen Teil des Reibachs als Steuern zurückzuholen, droht ihm nun übler Zoff mit den Finanzbehörden.

 

Die Süddeutsche Zeitung fühlte sich an selige „Amigo“-Zeiten erinnert, stieß sie bei ihren Recherchen doch auf eine illustre Gesellschaft, die auch irgendwie bei der Maskenbeschaffung zwischen Jens Spahn, der glücklosen bayerische Gesundheitsfee Melanie Huml und einem Schweizer Hersteller mitmischte. Die Namen klingen wie ein Who’s Who der legendären CSU-Großfamilie, ohne die im Freistaat einst nichts ging, nicht in der Politik, und erst recht nichts im Business: Entworfen hatte die Kaufverträge für das Huml-Ressort Rechtsanwalt Alfred Sauter, der einst als Justizminister über die Affäre um die Wohnungsbaugesellschaft LWS stolperte, bei der Anbahnung zarter Bande zwischen den Geschäftspartnern halfen die skandalerprobte Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, die nach Brüssel weggelobt wurde, als sie dahoam der Partei zu peinlich schien, und Andrea Tandler, Tochter von Gerold, der 1991 nach der Steueraffäre um Bäderkönig Eduard Zwick demissionieren musste.

 

Während sich die Öffentlichkeit noch darüber wunderte, dass außer dem Anwaltshonorar von Sauter nur die Nüßlein-Provison angefallen sei und andere Beteiligte sozusagen ehrenamtlich gehandelt hätten, outete sich der Mannheimer CDU-Bundestagsabgeordnete Nikolas Löbel als Masken-Dealer (250.000 € „Verdienst“) und wies so nach, dass nicht nur CSU-Mandatsträger in der Pandemie-Ära ein Schnäppchen zu entdecken wissen. Allerdings kassierte er für sein Engagement fast zwei Drittel weniger als sein bayerischer Kollege. Im Freistaat weiß man halt von Beginn der Parteikarriere an, wo die größten Kartoffeln reifen – obwohl dem ehemaligen Oberhaupt der schwarzen Familie das Ergebnis wohl immer noch zu mickrig gewesen wäre.

 

Zwei Eisbergspitzen

 

Alles nur Peanuts! hätte Franz Josef Strauß, der Patronus Bavariae und der CSU, dessen Konterfei schon beim kleinen Markus über dem Bettchen hing, verächtlich gepoltert, denn auf seinem mit Affären gepflasterten Weg ging es stets um höhere Einsätze. Doch gerade jetzt kann Söder den Rat des großen FJS nicht gebrauchen, hat er doch prächtig in die Rolle des ehrlich besorgten, sich kümmernden Landesvaters und omnipotenten Corona-Dompteurs gefunden. Organisatorisch ist ihm allerdings nicht so arg viel gelungen, und wenn jetzt noch ruchbar wird, dass einige Parteifreunde das Gesundheitswesen als Basar verstehen, muss er sich beim launigen Schimpfen auf andere Bundesländer und unfähige Kollegen ein wenig zurücknehmen.

 

Und Strauß ist ja auch nicht mehr die neueste Nummer. Missratene Ziehkinder, wie eben Georg Nüßlein, versuchen es zwar immer noch mit den alten Tricks, aber die Karawane ist längst weitergezogen ins Heilige Land des klinisch reinen Lobbyismus. Ob Artenschutz auf deutschen Feldern weiter sabotiert werden darf, die extrem fahrlässige SUV-Produktion weiter angekurbelt oder der Kohleausstieg kriminell verzögert wird, ob die Bundeswehr endlich ihre eigenen Drohnenmorde begeht oder sich Wirtschaftsminister Altmaier Importgesetze gleich von Pharma-Abgesandten schreiben lässt – es ist ein sauberer Handel um Marktanteile, Paragrafen, Verhinderungsmissionen in der EU, Parteispenden, spätere Aufsichtsrats- oder Vorstandsposten für verdiente Politiker an die Stelle des schmuddeligen Händeaufhaltens von anno dazumal getreten.

 

Insofern darf man froh sein, dass die beiden Tollpatsche Nüßlein und Löbel ihre Nasen wie Spitzen eines Eisbergs aus der trüben Melange, die das wahre Ausmaß verdeckt, gestreckt haben. Was NGOs, Fachleute und kritische Journalisten schon lange als Käuflichkeit auf höchstem Niveau entlarvt haben, wird nun endlich in seinen randständigen Auswüchsen erkannt. Damit der Durchblick nicht allzu penetrant wird, blockiert aber vor allem die Union die exakte Offenlegung der Nebeneinnahmen, akquirierten Spenden und „nützlichen“ Kontakte der Bundestagabgeordneten, die ja laut Artikel 38 des Grundgesetzes nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Dabei würden viele Menschen gern wissen, wie so ein Gewissen aus der Nähe ausschaut.

  

Geld aus exotischen Quellen

 

Die allgemeine Erregung über die Käuflichkeit oder Geldgier gewählter Politiker wird sich wieder legen, und selbst wenn das „völlig zahnlose Lobbyregister“ (Abgeordnetenwatch) scharf modifiziert werden sollte (und vielleicht sogar Regierungsmitglieder eine Durchleuchtung fürchten müssten), wird nicht die Frage sein, ob die Union und andere Parteien es umgehen werden, sondern wie sie es anstellen. Einstweilen lassen sich nur die erstaunlichsten Kuriositäten aus den parlamentarischen Reihen dokumentieren, die dummerweise dem neuen Faible der Unionschristen für das Wort Transparenz hohnsprechen.

 

Nehmen wir nur Philipp Amthor, das menschgewordene Maskottchen der internationalen Lobbyisten-Zunft, schwer gescholten, weil er sich für ein paar Aktienoptionen der halbseidenen IT-Firma Augustus Intelligence als Türöffner für Altmaiers Wirtschaftsministerium benutzen ließ: Gerade erst wurde er zum CDU-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern gekürt.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wiederum muss von irgendwoher ganz viel Geld haben, das er gern in teure Immobilienobjekte investiert. So kaufte er dem früheren Pharma-Manager Leyk Dieken 2019 eine Wohnung für eine knappe Million Euro ab. Weil der Minister den Verkäufer offenbar sehr sympathisch fand, und der sozusagen aus der gleichen Branche kam, machte er ihn wenig später zum Chef-Digitalisierer des deutschen Gesundheitswesens. Glückliche Zufälle gibt es, denen keine Transparenz gewachsen ist…

 

Ein exotischer Fall schwarzer Käuflichkeit lässt uns die Umwertung aller Werte fürchten. Früher verstand man unter einer Bananenrepublik einen Staat, in den man entweder einmarschierte (USA) oder dessen Politiker man einfach kaufte (BRD-Wirtschaft). Jetzt aber sieht es ganz so aus, als schlügen die Bananenrepubliken zurück. Nun, vielleicht ist das nicht die richtige Bezeichnung für Aserbaidschan, da dort nicht Südfrüchte in Stauden wachsen, sondern Kaviareier in Stören; jedenfalls hat der dortige Autokrat Ilham Alijew gleich zwei CDU-Bundestagsabgeordnete, Karin Strenz und Axel Fischer, auf seine Lohnliste gesetzt, wie erstaunte BKA-Beamte feststellen durften. Um bei eisigen Metaphern zu bleiben: Der Schneeball löste eine Lawine aus, mit der CDU-MdB Mark Hauptmann aus Thüringen, eifriger PR für das Regime in Baku überführt, in den Abgrund sauste. Die einen oder anderen Maskengewinnler und Diktatorensöldner aus der Union werden wohl noch folgen – die parlamentarischen Helfershelfer deutscher Automobil- und Rüstungskonzerne dürften hingegen in Amt und Würde bleiben.

 

Verzweifelt versuchen sich die Granden der Union nun wie dereinst Roland Koch nach der hessischen CDU-Spendenaffäre als „brutalstmögliche Aufklärer“ zu präsentieren, doch ernten sie nur noch Spott und Mitleid. In derart wirren Zeiten wird auch ein so bedächtiger Parteichef wie Armin Laschet unvorsichtig. Der ARD erklärte er, die Politik versuche mit allen Mitteln, die Menschen zu schützen. "Wer dann Geschäfte macht mit diesem Schutz, wer sich daran persönlich bereichert - der ist kein Volksvertreter. Und der muss das Parlament auch schleunigst verlassen." Hoffentlich hat Laschet das nicht allzu ernst gemeint, sonst steht er irgendwann ziemlich allein im Plenarsaal und beginnt langsam, das alte Sprichwort zu verstehen: Der Eisberg stinkt vom Kopf her oder so ähnlich.

03/2021

Dazu auch:

Er ist wieder da (2020) und Guter Pharma-Onkel (2019) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit 

  




Krösus tritt ab

 

Warum Jeff Bezos als Chef der Handelskrake Amazon demnächst abdankt, ob ihn neue Unternehmungen reizen oder er nur ungestört in seinem Geldspeicher schwimmen möchte, ist unwesentlich. Was an diesem Oligarchen interessiert, ist die kalkulierte Widersinnigkeit seines Geschäftsmodells: Er setzt auf die neuesten IT-Entwicklungen, wenn es um die interne Logistik, die Kontrolle und Manipulation von Kunden geht, aber er behandelt das Gros seiner Mitarbeiter wie ein Prinzipal des ausgehenden Mittelalters. Er war nie ein Mann der neuen Zeit, sondern ein klassischer Kapitalist, der von technologischen Entwicklungen, die andere angestoßen hatten, profitierte.

 

Quelle oder Otto – in globaler Dimension

 

Der Hauch des digitalen Abenteuers, die Legenden von der in kalifornischen Garagen erdachten Umformung der Welt per Internet, wie sie Larry Page (Google), Steve Jobs (Apple) oder selbst Bill Gates (Microsoft) umwehten, wurden Jeffrey Preston Bezos nie zugeschrieben. Auch fehlte ihm der messianische Auftritt eines Mark Zuckerberg, der vorgibt, Menschen in den sozialen Medien zusammenzubringen und so die Erde zu einem besseren Ort zu machen, während er tatsächlich alle verwertbaren Daten abgreift, um seine User zu gläsernen und lenkbaren Superkonsumenten zu konditionieren.

 

Jeff Bezos orientierte sich zunächst mehr am Geschäftsprinzip des guten alten Bertelsmann Lesering, nur dass er die Schmöker über das Internet anbot, nicht über Print-Kataloge. Das funktionierte so gut, dass der studierte Informatiker beschloss, den Leuten künftig alles online zu verhökern, was von der Grundidee mehr in Richtung Quelle () oder Otto Versand ging, allerdings mit den Mitteln, den Methoden und der Maßlosigkeit der New Economy. Als Bezos 1994 Amazon gründete, hatte er nicht vor, die Welt zu verändern, er wollte vielmehr jegliche erdenkliche Ware an jeden potentiellen Kunden bringen und damit Geld verdienen. Viel Geld – schließlich hatte er in seinen jungen Berufsjahren in New Yorker Vermögensverwaltungen Lunte gerochen.

 

Im Gegensatz zum altbackenen Versandhandel warb Amazon nicht freundlich um Käufer, sondern lauerte ihnen nach aggressivem Tracking auf, machte die arglosen Besucher scheinbar unverfänglicher Websites mit unschlagbaren Angeboten zu Konsumsüchtigen, die, ohne dass sie es sich hätten leisten können, nach Dingen gierten und griffen, die sie im Grund nicht brauchten. So stieg Bezos mit einem geschätzten Vermögen von 200 Milliarden Dollar für kurze Zeit zum reichsten Menschen der Welt auf, bis er von Elon Musk überholt wurde, weil der sich auf das für den Bürger Liebste und Wertvollste auf der Welt konzentriert hatte, das potente Auto.

 

Doch während Musk fieberhaft daran arbeitet, dass die E-Fahrzeuge, die er in immer größeren Massen produzieren lässt, zu Robotern, die Menschen fahren, mutieren, sorgte Bezos an der Spitze von Amazon dafür, dass in seinen riesigen Logistikzentren (und Lieferflotten) Menschen wie Roboter, nämlich möglichst ohne humanoide Unzulänglichkeiten, funktionierten.

 

Früh- oder vorkapitalistische Verhältnisse

 

Das Geschäftskonzept, das Bezos so erfolgreich rund um den Globus durchsetzte, basiert auf Steuervermeidung durch Verschieben der Gewinne, auf Monopolisierung des Einzelhandels zulasten kleiner Geschäfte und belebter Innenstädte, auf Umweltverschmutzung durch Millionen Tonnen von Verpackungsmüll sowie Flächenversiegelung für Logistikzentren – und auf der Ausbeutung seiner Beschäftigten in archaischem Ausmaß.

 

Natürlich machen sich auch die meisten anderen großen Player im Eldorado des Internet-Business der multiplen Übervorteilung von Staaten und Steuerzahlern schuldig, doch wollen Google oder Facebook zumindest ihre wichtigen Angestellten, Cyber-Freaks, Design-Illusionisten und Trend-Schnüffler, bei der Stange halten, indem sie ein Disneyland von Arbeitswelt um sie herum erschaffen (während die Sklavenarbeit nach China vergeben wurde). Bei Amazon hingegen verpacken die wichtigsten Mitarbeiter Waren, fahren Pakete bis in die Nacht aus und verzweifeln kollektiv angesichts einer Zeittaktung, die jeden Toilettengang zur Leistungsverweigerung werden lässt. Derzeit wehren sich in den USA die Auslieferer des Konzerns dagegen, dass in ihren Fahrzeugkabinen Kameras montiert werden, die jede Sekunde ihrer Arbeitszeit und jede ihrer Bewegungen überwachen.

 

Und das bei einer erbärmlichen Entlohnung. Wo sich eine Tarifbindung umgehen lässt, zahlt Amazon nach Gutdünken, also weniger als üblich. Und wenn in einem Land strittig ist, nach welchem Tarif entlohnt werden muss, kämpft das Management stets um den niedrigsten. In Deutschland fordert die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di für die Amazon-Beschäftigten die Einstufung nach dem Einzelhandelstarif. Der Konzern, dem Betriebsräte ein Gräuel sind, will aber nur nach dem schlechter dotierten Logistiktarif berappen, was zu Streiks wie denen an sechs deutschen Standorten vor Weihnachten führte.

 

Wenig Lohn für atemlose Plackerei, Arbeitnehmerrechte vernachlässigbar oder völlig ignoriert – mit solchen Maximen konnte sich Jeff Bezos zum Krösus der modernen Zeit krönen, wobei sein Verständnis von Arbeitsverhältnissen zwar nicht antik, aber doch feudal oder bestenfalls frühkapitalistisch sein dürfte. Die Vorgaben und Forderungen der Gemeinschaft, die ihm die Kunden stellt, negiert er, und für seine Lohnabhängigen mag er kaum die Mittel zu deren Reproduktion aufbringen.

 

Im Mai 2013 widerfuhr Jeff Bezos eine Ehrung, die – wie es im blumigen Jargon der Börsenzocker immer so schön heißt – die Phantasien der Anleger beflügelt haben dürfte: Auf seinem globalen Kongress wählte ihn der Internationale Gewerkschaftsbund  zum „Schlechtesten Chef der Welt“ – ein Titel, den man sich erst mal mit brutaler Ausnutzung des „Humankapitals“ verdienen muss. Den wirklich wichtigen Akteuren aber verheißt er steigende Aktienkurse und hohe Dividende.

 

Neues Glück mit Biden

 

Doch Bezos kann auch anders, neben dem schnellen Dollar interessiert ihn offenbar auch die politische Mitwirkung hinter den Kulissen: Bereits 2014 übernahm er die Washington Post (WP), einst das Flaggschiff des investigativen Journalismus in den USA. Das Blatt schoss von Anfang an gegen Donald Trump, was Bezos sicherlich goutierte, benötigt er für sein Business doch ungehinderten sowie möglichst zoll- und abgabefreien Zugang zu allen Märkten, während der erratische Nationalist im Weißen Haus mit seinen protektionistischen Maßnahmen und rachsüchtigen Sanktionen die halbe Welt verprellte. Wegen der schlechten Kritiken in der WP ließ Trump keine Gelegenheit aus, seinen Kontrahenten via Twitter zu beleidigen, und versuchte offenbar, ihm auch ökonomisch zu schaden.

 

Wegen der dubiosen Vergabe eines Militärauftrags im Wert von zehn Milliarden Dollar klagte Krösus gegen Gröpaz (den Größten Präsidenten aller Zeiten). US-Kampfeinheiten sollten mit Clouds im Internet ausgerüstet werden, um die direkte Kommunikation zwischen Pentagon und Frontlinie zu verbessern und sicherer zu machen. Obwohl Amazon als aussichtsreichster Anwärter galt, ließ Trump den Auftrag Microsoft zuschanzen. Vor einem Jahr teilte ein Washingtoner Gericht die Ansicht von Bezos, der Präsident habe unzulässigen Druck ausgeübt und stoppte die Vergabe bis auf Weiteres.

 

Nebenher macht dieser Streit zweier Alphamännchen deutlich, in welchen Bereichen die sich früher so philanthropisch gebärdenden IT-Startups inzwischen ihr Geld verdienen, in unserem Beispiel als Optimierer des modernen Kriegshandwerks, im Fall von Facebook oder Google als Zuträger der US-Geheimdienste. Es wird auch klar, dass jemand, der gegen Trump war, nicht unbedingt ein guter Mensch sein muss. Kaum war Joe Biden gewählt, gratulierte ihm Jeff Bezos, der die Amazon-Leitung am 1. Juli abgeben wird, auf Instagram in höchsten Flötentönen: „EinigkeitEinfühlungsvermögen und Anstand sind keine Merkmale einer vergangenen Ära.“

 

Die Befürworter eines von den USA dominierten Freihandels werden sich schon einig darin sein, die Umwandlung des Menschen zum abhängigen Konsumenten weltweit voranzutreiben, und wie einfühlsam Biden seine Kollegen zu dirigieren weiß, zeigt sich schon daran, dass die deutsche Bundeskanzlerin in vorauseilendem Gehorsam sogleich den Kriegszehnten aufzustocken verspricht. Nur das mit dem Anstand kapieren die Amazon-Beschäftigten nicht so ganz. 

02/2021 

Dazu auch:

Die Gottgleichen im Archiv von Politik und Abgrund (2020)                     

  

 

 

 

 

 

 Merz zeigt es Trump

 

Wider Erwarten geriet die Kür des neuen CDU-Parteivorsitzenden nicht zur befürchtet trübsinnigen Herrenrunde. Das Verdienst hierfür gebührt einzig und allein Friedrich Merz, der mit einer launigen Rede vor den körperlich und geistig An- wie Abwesenden und seinem beispielgebenden Verhalten nach der Wahlniederlage für hohen Unterhaltungswert sorgte. Da nicht erst seit den Vaterlandselogen des redseligen Außenministers Heiko Maas Deutschland als weltweiter Klassenprimus in puncto Benimm und Eigenlob gilt, scheint es mir nicht vermessen, auswärtigen gescheiterten Politikern, etwa in den USA, den Ex-Kandidaten Merz als leuchtendes Vorbild ans Herz zu legen.

 

Ein Herz für Arme und Frauen

 

Gut, bei Gegnern wie Armin Laschet mit seinem rheinischen Frohsinn und dem strebsamen Bemühen, der beste Merkel aller Zeiten zu werden, sowie Norbert Röttgen, von dem als einstigem Umweltminister keinerlei Spuren und als Vorsitzendem des Auswärtigen Ausschusses lediglich Sprechblasen in Erinnerung blieben, muss man nicht gerade glänzen, da genügt eine Durchschnittsleistung. Friedrich Merz aber wollte sein Bestes geben, gab auch alles und wurde leider von allen missverstanden.

Umsichtig hatte der Mann aus Brilon die neoliberale Skrupellosigkeit, die ihn einst zum deutschen Statthalter der Großinvestoren-Krake Blackrock aufsteigen ließ, an der Garderobe abgegeben und hob bei der Bewerbungsrede an, in forschem Ton kräftig zu menscheln.

 

Zunächst beruhigte er die wegen Covid-19 um Leib, Leben und Reisen bangenden Zuhörer, es gebe einen Weg heraus aus der Krise, eine Lösung per Impfserum. Und wer hat`s erfunden? Natürlich ein Deutscher, teilte uns der Orator triumphierend mit. Wie überhaupt diese unsere Heimat (unter ihm) wieder die globale Führungsrolle übernehmen solle, die ihr zusteht.

 

Nun zeigte sich, dass der mittelständische Multimillionär nicht mehr nur auf Profite oder Steuererklärungen fixiert ist, sondern auch den Klimawandel, die Armut und das weibliche Geschlecht als ernstzunehmende Themen entdeckt hat. Für die Umwelt sollte man schon irgendetwas tun, aber erzählen lässt er sich als mit allen Wassern abgebrühter Wirtschaftsjurist noch lange nichts. Gretas „Narrativ“ lehnt er ab und stellt ihre Befürchtungen und Vorwürfe mit eigenen Worten so dar: „Ihr habt gestern nichts getan, und morgen geht die Welt unter. Deswegen müssen wir heute das System ändern.“ Nein, kontert Friedrich, „die Welt geht morgen nicht unter“. Wir atmen beruhigt auf, denn wir können laut Merz auch dieses Problem lösen, mit Technologie, mit Wasserstoff, nicht mit Wind und Sonne. Morgen vielleicht noch nicht, aber doch irgendwann. Die Natur soll sich nicht so haben, ein Macher wie er hat schließlich noch andere Baustellen. Wir aber dürfen unser schönes System, dem wir das Ganze zu verdanken haben, doch behalten.

 

Wie BILD, Lieblingsblatt der Unionspolitiker, die ein „Herz für Kinder“ zu haben vorgibt, während sie sich gerne über angebliche Hartz-IV-Erschleichung im Großfamilienmilieu echauffiert, hat auch Friedrich Merz irgendwo in seinem Inneren ein bisschen Empathie für „diejenigen, die sozial schwach sind“ gefunden. Denn sie „finden gerade bei unserer Partei Herz und Zuwendung“. Auf Gags von solcher Qualität wartet man selbst bei Laschets schmissigster Büttenrede vergeblich.

      

Und Merz vergisst auch „ein Wort zu den Frauen“ nicht. Ihn kränkt offensichtlich, dass ihm des Öfteren vorgehalten wird, er habe die in seiner hochsauerländischen Heimat seit der Steinzeit festgeschriebene Verteilung der Geschlechterrollen verinnerlicht, und so ruft er kompetente Zeuginnen zu seiner Verteidigung auf: „Aber wenn ich wirklich ein Frauenproblem hätte, wie manche sagen, dann hätten mir meine Töchter längst die Gelbe Karte gezeigt – und meine Frau hätte mich nicht vor 40 Jahren geheiratet.“ Nun, die Töchter konnten sich ihren Vater nicht aussuchen, geschweige denn, ihm mit Platzverweis drohen. Aber was war damals in die Gattin gefahren?

 

Es hat alles nichts genutzt. Das Mittelmaß in der Person Armin Laschets siegte über das bühnenreife Original, das als Kanzler Deutschland mithilfe von Bierdeckel-Formeln und gegen Null tendierenden Unternehmenssteuern gerettet hätte. Doch erst jetzt, in der Niederlage, zeigte sich Friedrichs wahre Größe.

 

Mach ich halt Wirtschaftsminister

 

Statt über die Unvernunft des CDU-Stimmviehs zu lamentieren, bot Merz sogleich Armin Laschet, der so gern als guter Mensch und Versöhner in die Annalen seiner Partei eingehen möchte, an, statt Peter Altmaier Wirtschaftsminister im Merkel-Kabinett zu werden. Nehmen wir dies als Zeichen des guten Willens und der Fairness eines edlen Verlierers, denn mehr als eine symbolische Geste konnte es angesichts der schnöden Realität nicht sein.

 

Laschet outete sich sofort als falscher Ansprechpartner, da er zwar in Düsseldorf, nicht aber im Berliner Kabinett das Sagen hat und es dort eingedenk des drohenden Schattens eines bayerischen Sankt Markus möglicherweise auch künftig nie bekommen wird. Angela Merkel wiederum dachte nicht im Traum daran, einen erprobten Minister gegen den ehrgeizigen Quälgeist Merz auszuwechseln, schon gar nicht Altmaier, ihren jovialen Dicken, mit dem sie höchst einvernehmlich die Geschäfte der berühmten Firma WireCard gefördert hatte.

 

So ist es wiederum das kleingeistige, neiderfüllte und bürokratische Kalkül in der deutschen Politik, das eine ehrliche Haut und seltene strategische Begabung dazu zwingt, ihr Mäntelchen an der Garderobe abzuholen und ihr Geld wieder im sozialdarwinistischen Umfeld der global operierenden Heuschrecken zu verdienen.

 

So geht Niederlage!

 

Dennoch verdient solches Verhalten unsere Achtung, mehr noch, es reizt zur Nachahmung. Führen wir uns nur das Drama um den abgewählten US-Präsidenten Donald Trump vor Augen, der wie ein trotziger Dreijähriger plärrte, er habe die Wahl nicht verloren und werde sich nicht aus seinem Kinderzimmer namens Oval Office vertreiben lassen, schon weil die neuen Hausherren nichts als Demokraten, Lügner, Fälscher und andere Bösewichter seien. Er hätte sich ein Beispiel an Friedrich Merz nehmen sollen, der nach seiner Niederlage ganz einfach einen anderen Posten für sich reklamiert hatte und sich, als er den auch nicht bekam, ganz versöhnlich für etwaige „Irritationen“ entschuldigte und lediglich dem armen Armin Laschet damit drohte, ihn zu unterstützen.

 

Der Versuch war‘s wert, und wäre auch eine Option für Trump gewesen. Hätte der nicht auf Biden zugehen und ihm ein wenig Hilfe anbieten können: „Joe, du hast zwar nicht gewonnen, aber Schwamm drüber, wenn du mich als Justizminister nominierst.“ Biden hätte seine Ruhe gehabt, und Donald wäre als zuständiger Ressortleiter für die Begnadigung derjenigen seiner kriminellen Kumpel, die er in den letzten Tagen im Amt bei der Amnestie vergessen hatte, sowie für die Hinrichtung zahlloser geistig oder psychisch behinderter, minderjähriger oder nichtweißer in US-Gefängnissen einsitzenden Todeskandidaten fachlich zuständig gewesen.

 

Und selbst wenn sein Angebot bei Biden auf taube Ohren gestoßen wäre, hätte er sich wie Friedrich Merz mit Anstand in die Versenkung verabschieden können. 

01/2021 

Dazu auch:

Trio des Grauens im Archiv dieser Rubrik (2020)

Bote aus dem Jenseits im Archiv dieser Rubrik (2018)


  

  


Wie tickt der Andi?

 

Was denkt sich der Bundesverkehrsminister, wenn er eine Panne an die andere reiht, Hunderte Millionen von Steuergeldern beim Maut-Debakel in den Sand setzt, die Republik betoniert und es als höchst peinlicher Weihnachtsmann sogar in die internationale Presse schafft, wie unlängst geschehen? Viele Bürger fragen sich das, und es findet sich nicht nur eine Antwort. Andi Scheuer denkt grundsätzlich nicht, sagen die einen; der loyale Niederbayer weiß die Automobilindustrie sowie den Patronus Bavariae in Gestalt von Markus Söder hinter sich und braucht sich deshalb um nichts scheren, meinen die anderen. Dritte indes mutmaßen, dass Scheuer sich durch treue Dienste eine lukrative Position in der Wirtschaft für die Zeit nach dem absehbaren Karriereende verdient hat und ihm deshalb sein Ansehen im Volke schnuppe sein kann.

 

Andi und das Diminutiv

 

Nicht nur zahlreichen hiesigen Zeitungen, auch dem Schweizer Blick war die letzte große, aber schnöde missachtete Geste des Verkehrsministers eine Notiz wert. Der hatte dem völlig überlasteten Pflegepersonal des Klinikums in Passau, einem zeitweilig bundesweiten Corona-Hotspot, attestiert, hier werde „unglaubliche Arbeit geleistet“. Scheuer, ein Mann der raschen Tat, wollte es nicht mit Beifall vom Balkon herab bewenden lassen, sondern übergab der Belegschaft 3000 Beutelchen mit Plätzchen und dem Gruß „Ein herzliches Dankeschön für Ihre wertvolle Arbeit. Ihr Andreas Scheuer.“

 

Doch die so reich Beschenkten verschmähten die Weihnachtsgabe. „Guetsli? Nein, danke!“ textete der Blick in niedlichem Schwyzerdütsch. Bei den PflegerInnen am Ende ihrer Kräfte kamen die Süßigkeiten nämlich gar nicht gut an, sie hätten sich ganz unbescheiden bessere und vor allem sicherere Arbeitsbedingungen, eine Reduzierung der Überstunden und eine angemessene Entlohnung gewünscht. Der Personalratsvorsitzende Rüdiger Kindermann geriet sogar derart in Rage, dass er seine Plätzchenration vor der Passauer CSU-Geschäftsstelle abstellte und im BR wütete, er habe genug von der „Symbolpolitik“, bei den Tarifverhandlungen käme den Beschäftigten im medizinischen Dienst ja trotzdem niemand entgegen.

 

In Deutschland fehlen rund 100.000 Stellen in der Pflege. Die Politik hat alles getan, um diese Misere weiter anzuheizen, indem sie den Gesundheitssektor durch Privatisierungen und Schließungen kommunaler Kliniken zur marktwirtschaftlichen Spielwiese umgestaltete und so zwangsläufig Akkord-Betreuung bei Hungerlöhnen in Kauf nahm. Andi Scheuer ist das nicht direkt vorzuwerfen, war er doch im heldenhaften Kampf für die Maut, die SUVs und gegen das Tempolimit anderweitig engagiert, seiner Partei in Bayern aber sehr wohl.

 

Mit prekärer beruflicher Perspektive und dürftiger Bezahlung schafft man keine neuen Jobs (und damit Entlastung in der Pflege). Scheuer weiß das sehr wohl und befleißigt sich vorsichtshalber des Diminutivs, der Verkleinerungsform: Statt Arbeitsplätzen bietet er Plätzchen an, und als Bezahlung sollen auch weiterhin Scherflein genügen.

 

Der missverstandene Andi

 

Der widersetzliche Passauer Personalratschef Kindermann kritisierte dennoch, statt Lob und ein paar Plätzchen sei eine Reform des Personalschlüssels notwendig, um die „jahrzehntelange Überlastung der Pflegekräfte“ zu beenden. Seine KollegInnen hätten ohnehin keine Zeit, während der Arbeit Plätzchen zu essen.

 

Schon wieder hat einer Deutschlands obersten Verkehrsplaner gründlich missverstanden. Natürlich sollen die Klinikmitarbeiter nicht am Gebäck naschen, während sie Spritzen setzen, Einläufe verabreichen oder sich gerade das Corona-Virus einfangen. Vielmehr hat Scheuer daran gedacht, dass nicht jede/r nach einer Sonderschicht von zwölf bis sechzehn Stunden noch Lust hat, sich einen Schweinsbraten mit Knödeln zuzubereiten, bevor er/sie erschöpft in die Falle sinkt. Und da könnte so ein trockener, kalorienreicher Keks genau das Richtige zur Erhaltung der Arbeitskraft sein.

 

Andi sei getröstet: Nicht jeder Mäzen wurde sogleich verstanden, mancher edle Spender erntete Hohn statt Dank, doch am Ende zählt einzig und allein die gute Absicht.

 

Andis großes Herz

 

Damit die so oft ungerechte und ignorante Öffentlichkeit wenigstens Kenntnis davon erhält, dass sein großes Herz nicht nur für Raser, sondern auch für die Kümmerer, die solche nicht selten im OP zusammenflicken und auf der Intensivstation pflegen müssen, schlägt, hat Scheuer einen Fototermin wahrgenommen. Laut Süddeutscher Zeitung hat „er sich mit Werkleiter, ärztlicher Direktorin, Pflegedirektor und einem mit Plätzchen überladenen Rollwagen vor dem Krankenhaus“ ablichten lassen.

 

Damit folgte er der bei Politikern und anderen Millionären überaus beliebten Devise „Tu Gutes und rede darüber“ – und das passenderweise in seinem Passauer Wahlkreis. Schade nur, dass auf dem Foto lediglich die besserverdienende Hautevolee des Klinikums zu sehen ist und nicht ein gestresster Pfleger. So musste zumindest symbolisch der Rollwagen die einzige Beziehung zur hautnahen Arbeit am Patienten herstellen.

 

Viele Bürger, die sich heute über Andi Scheuer das Maul zerreißen, werden ihm noch nachtrauern, wenn er nach der anstehenden Wahl nicht mehr am Kabinettstisch Platz nehmen wird. Er mag ein vielseitiger Versager und eine menschgewordene Katastrophe für die Umwelt sein, aber – Ernst beiseite - seit dem FDP-Clown und Teppichschmuggler Dirk Niebel hatten wir keinen Minister von solchem Unterhaltungswert mehr. 

01/2021 

Dazu auch:

Zwei trübe Tassen (2020) und Tricky Dirk (2013) im Archiv dieser Rubrik 

  




2020



Bock namens Blackrock

 

Es erinnerte an eine jener Metamorphosen, wie sie in Märchen oder in der Bibel - man denke nur an die Verwandlung des bösen Saulus in den Apostel Paul – vorkommen. Ursula von der Leyen, einst aalglatte Kriegsministerin in Berlin, verkündete als Präsidentin der Europäischen Kommission in Brüssel den Green Deal, der die Erde vor dem menschgemachten Ökocid bewahren soll. Leider leben wir aber nicht in Disneyland, und so wurden nach und nach die Haken an dem ambitionierten Plan sichtbar.

 

Frisch bekehrte Umweltschützerin

 

Die dem niedersächsischen Geldadel entstammende Ursula erwarb den aristokratischen Titel, indem sie 1986 ihren Heiko von der Leyen ehelichte. Die höheren Weihen hielten sie nicht davon ab, sich in die bürgerlichen Niederungen der Politik zu begeben. In mehreren Bundesregierungen diente sie zunächst als Ministerin für Arbeit und Soziales, dann als Chefin im Verteidigungsressort. Wegen ausgeprägter und für den Steuerzahler äußerst kostspieliger Kontakte zu Unternehmensberatern schien ihr der Boden im Kabinett ein wenig zu heiß zu werden, als die drei Feen, die lupenreinen Demokrat*innen Macron, Merkel und Tusk sie ohne jegliche Legitimation durch Wahl vorbei am Europaparlament par ordre du mufti zur Kommissionspräsidentin machten.

 

Ursula von der Leyen hatte stets auf ein professionell gestyltes Erscheinungsbild und geräuschlosen Gehorsam der Untergebenen in ihren Zuständigkeitsbereichen geachtet, als nachdenkliche und kritikfähige Politikerin war sie bislang nicht wahrgenommen worden, als Umweltschützerin erst recht nicht. Ohne Widerrede gehörte sie Bundeskabinetten an, die in Brüssel strengere Emissionsregeln blockierten und eine naturfeindliche Agrarindustrie förderten. Und so überraschte die sonst so glatt, kalt und berechnend wirkende Erste Dame Europas, als sie mit einem Hauch von Empathie in der Stimme die Kommissare und Abgeordneten der EU dazu aufrief, viel Geld in die Hand zu nehmen, um die Welt zu retten.

 

Freihändig mit großen Summen umzugehen, war von der Leyen schon von ihren Berliner Ministerien her gewohnt, existierte doch innerhalb der Bundesregierung quasi keine Kontrolle. So konnte von der Leyen zu Beratern berufen und spendabel alimentieren, wen immer sie wollte. In der Europäischen Union aber ticken die Kontrolluhren anders, und so schlug die gewählte Bürgerbeauftragte Alarm angesichts der Einschaltung einer ökonomisch mächtigen, aber ökologisch wenig bewanderten Global Player aus der Investoren-Hautevolee, genau genommen des Tabellenführers. Die Irin Emily O‘Reilly kritisierte die Vergabe eines Auftrags der EU-Kommission an Blackrock , den größten Vermögensverwalter der Welt.

 

In Berlin war von der Leyen in die Bredouille geraten, weil sie in ihren Ministerien Hunderte von Millionen an Consulting-Unternehmen wie McKinsey verschleudert hatte. Ohne erkennbaren Nutzeffekt, wie der Bundesrechnungshof monierte, und unter Umgehung der eigenen Beamten und Fachleute. Was aber sind selbst die erfolgreichsten Firmenberater gegen den Giganten der Finanzmärkte, der für seine Kunden an die sieben Billionen Dollar verwaltet und investiert? „Think big!“ sagte sich die frischgebackene EU-Präsidentin und bat Blackrock, Konzepte zu entwickeln, wie europäischen Banken Investitionen in nachhaltige Energien statt in Kohle, Gas und Öl schmackhaft gemacht werden könnten – schließlich will von der Leyen ein Programm mit einem Volumen von einer Billion Euro durchsetzen. Die NGO Change Finance stellt dazu allerdings in einem offenen Brief an von der Leyen fest, dass damit „der Bock zum Gärtner gemacht wird“.

 

Totengräber als Weltenretter?

 

EU-Ombudsfrau O’Reilly kritisierte, dass die Kommission bei der Auftragsvergabe, mögliche Interessenkonflikte von Blackrock außer Acht gelassen habe. Der Großfinancier hält an 27 der 30 DAX-Unternehmen, von Siemens über Vonovia und die großen Automobilkonzerne bis hin zur Deutschen Bank, Anteile in einer Quantität, die es ihm im Zusammenspiel mit anderen Investoren ermöglicht, die künftigen Geschicke der Konzerne zu lenken oder zumindest mitzubestimmen. Das bedeutet, dass die Panzerattacke gegen die Umwelt, die VW, Daimler und BMW mit der SUV-Produktion fuhren, oder der systematische Betrug der Autobauer bezüglich der Schadstoffemissionen kaum ohne das Wissen oder wenigstens die nachträgliche Billigung des brandneuen Umweltratgebers Blackrock stattgefunden haben können.

 

Auch anderswo gerierte sich der mächtigste Unternehmenspate der Welt wenig menschenfreundlich und besorgt um die Zukunft unseres Planeten. So ist Blackrock mit Beteiligungen u. a. an U.S. Aerospace und Defense ETF der weltweit größte Investor in der Rüstungsindustrie. Um der strengen Kontrolle durch die Finanzbehörden zu entgehen, spendete der Konzern großzügig an US-Politiker gleich welcher Couleur, also auch an Leugner der Klimakrise. Dass Friedrich Merz, Stehaufmännchen des Neoliberalismus und ausgewiesener Öko-Analphabet, jahrelang deutscher Statthalter von Blackrock  war, zeugt ebenfalls nicht von profundem Umweltbewusstsein. Doch der oberste Chef will das nun ändern. 

 

Jedes Jahr schickt der Blackrock-Vorstandsvorsitzende Larry Fink an die Chefs der Konzerne, in die sich der Vermögensverwalter eingenistet hat, einen Brief, in dem er ihnen mitteilt, wohin der Hase zu laufen habe. Anfang 2020 mahnte der Milliardär die CEOs, Klimarisiken bei ihren Investitionen stärker zu beachten und kündigte an, seine Firma werde diesbezüglich auf mehr Transparenz bestehen. Diese Initiative klingt gut, kann nicht schaden, ist aber nicht der Angst um die Menschheit geschuldet, sondern der Sorge um die Profitabilität der eigenen Beteiligungen, denn Fink fürchtet, solche Risiken könnten „den langfristigen Werterhalt“ der Unternehmen gefährden.

 

Die Absichtserklärung eines Investors, der als Exxon-Partner bis 2017 auf Umweltzerstörung durch die Förderung fossiler Rohstoffe gesetzt hat, der als Nestlé-Financier für die Rodung von Regenwäldern und über seine Bayer-Beteiligung für die Ausbringung von Glyphosat sowie für die Samenpatentierung, die Zehntausende indische Bauern in den Selbstmord treibt, verantwortlich ist, genügt also, um ihm die strategische Führung im Kampf um die Bewohnbarkeit der Erde anzuvertrauen? Die Expertise der Klimaforscher, der Biologen, Geologen und vor allem der Aktivisten, die bereits gewarnt hatten, als die Malaise noch nicht so spürbar war, ist also zweitrangig, möglicherweise auch unerwünscht.

 

Blackrock wird’s schon richten. Und Ursula von der Leyen wird schon wissen, dass die Einschaltung von Blackrock, laut Guardian übrigens immer noch einer der weltweit größten Investoren in fossile Energien, nicht billig wird, selbst wenn er nicht eigene Interessen oder die seiner Milliardärskunden in den Mittelpunkt stellen sollte.

       

Wozu noch Verschwörungstheorien?

 

In der Finanzkrise ging Blackrock der US-Notenbank bei der Abwicklung des Versicherungsunternehmens AIG und der Investmentbank Bear Sterns zur Hand und kassierte für diesen patriotischen Dienst mindestens 180 Millionen Dollar. Frau von der Leyen aber erteilt ohne größere Rücksprache, Ausschreibung oder Kosten-Nutzen-Analyse einen Riesenauftrag, ganz wie wir es aus ihrer Zeit als Berliner Ministerin kennen. Nicht zu Unrecht nannte Martin Küper sie in einem Artikel für t-online-news „die Wiederholungstäterin“.

 

Sie erörtert die Situation der Welt nach wie vor am liebsten mit Gleichgesinnten und beauftragt diejenigen, ein Problem zu lösen, die selbst ein Teil dieses Problems sind. Sie bewegt sich in einer sich selbst genügenden Blase, aus der Banker, Konzernstrategen und Spekulanten (und manchmal auch geduldete Journalisten) heraus auf die Welt schauen und sich Geistesblitze zuwerfen, auf dass alles beim alten bleibe und doch weiter funktioniere. Hätten nicht Donald Trump und die Verschwörungstheoretiker den Begriff „Elite“ derart unzutreffend und inflationär strapaziert, dass man ihn scheut, um nicht in falscher Gesellschaft vermutet zu werden – hier ließe er sich anwenden, und durchaus in negativem Sinn.

 

Vielleicht ist es genau diese hermetische Abschottung des Klüngels aus Entscheidern, Oligarchen und ihren Hiwis aus der Politik vom großen Rest der Gesellschaft, die leichtgläubige, frustrierte und reizbare Menschen an die Phantasmagorien von Corona-Leugnern oder Reichsbürgern glauben lässt. Wahr ist nur, dass valide Informationen aus den Kreisen der Reichen und Mächtigen dürftig fließen und oft vorab bereits in deren Sinn interpretiert und gewichtet werden. Das ist aber keine klandestine Verschwörung, es handelt sich vielmehr um ein wesentliches Merkmal unseres Systems, das nur nicht für jeden erkennbar ist. 

  

Natürlich mag jemand einwenden, Ursula von der Leyen handle vielleicht etwas intransparent, sei aber doch tief im Innersten von der Notwendigkeit, die Wälder, Tiere, Menschen zu retten, überzeugt. Dies setzt allerdings ein Mitgefühl voraus, das sie als EU-Kommissarin in einer anderen dringlichen Sache geschickt verbarg: Den griechischen Ministerpräsidenten Mitsotakis, der Flüchtlinge auf Inseln in überfüllten Lagern dahinvegetieren und ihre Boote in der Ägäis abdrängen lässt (in Richtung Türkei oder Meeresgrund), versicherte sie ihres „vollen Rückhalts“. Sein Land sei „der europäische Schild“, ganz so, als müsse man sich gegen verängstigte Menschen in Todesnot wehren wie einst die adligen Vorfahren ihres Mannes gegen feindliche Ritter oder – besser noch – die Hunnen. 

12/2020 

Dazu auch:

Mutter der Beratung im Archiv dieser Rubrik (2019)

 

  



Trump zum Letzten

 

Gesetzt den Fall, Donald Trump gelänge es nicht, mithilfe der von ihm eingesetzten Richter die verlorene Wahl zu einem Sieg umzubiegen, würden wir einen vier Jahre lang Rasenden Roland als keifendes Rumpelstilzchen von der Bühne gehen sehen. Und in dem Schwank, der unter dem Titel Freedom & Democracy in the USA läuft, beträte ein weiterer Greis die Bretter, die zumindest für God‘s Own Country die Welt bedeuten. In der Bundesrepublik wird Joe Biden wie ein vorweihnachtlicher, vom Himmel hoch gekommener Engel gefeiert, während sich kritische Beobachter fragen, was sich, abgesehen vom rhetorischen Stil, eigentlich ändern könnte.

 

PR-Prinzip Massenhysterie

 

Der Ton ist allerdings wirklich ein anderer geworden. In sanftem Timbre und gemäßigter Sprache verspricht Joe Biden, die Amerikaner wieder zu einen, die vier Jahre lang nichts anderes als das „Teile und herrsche!“ in vulgärster Form vernommen haben, von einem Mann, der die Bevölkerung in die Guten, die bedingungslos hinter ihm standen, und die Schweinehunde, also die Journalisten, Demokraten, die Schwarzen und fiesen Latinos, die Schwulen, die Linken, Bürgerrechtler und weitere Zweifler, eingeteilt hatte. Mit Lug, Trug und einer perversen Geschicklichkeit hatte es Donald Trump immerhin geschafft, die Mehrheit der weißen und fast die Hälfte aller Bürger hinter sich zu bringen. Und wäre da nicht sein irrlichterndes und menschenverachtendes Handeln in der Corona-Krise gewesen, würde er möglicherweise jetzt als Titelverteidiger aus dem Weißen Haus grüßen.

 

Seine Nichte, die Psychologin Mary Trump, attestierte dem schrillen Populisten mit dem aufgebrezelten Äußeren eines Horror-Clowns pathologische Persönlichkeitsstörungen; ich bin mir da nicht ganz sicher. Trump stellte eine einzige Provokation in Wort und Bild dar, er brüskierte Intellektuelle, Wahrheitssuchende und Wissenschaftler, aber von einigen verbalen Kurzschlüssen und cholerischen Anfällen mal abgesehen tat er vieles aus Kalkül, zerschlug dabei das Porzellan vorsätzlich und zielgerichtet. Zumindest die weißen Arbeitslosen im Rust Belt, dann der White Trash, bestehend aus nationalistischen Cowboys, bewaffneten Rassisten oder irren Verschwörungstheoretikern, sowie die um ihre Erträge fürchtenden Unternehmer der Old Economy sahen in ihm den begnadeten Showstar, der so ganz anders war als seine blutleeren Gegner, die politischen Exegeten der anderen Kapitalfraktion.

 

Natürlich können auch Psychopathen bauernschlau agieren, doch spricht die lange Reihe seiner skrupellosen Erfolge gegen die Diagnose einer durchgängigen seelischen oder geistigen Krankheit (wenn auch nicht gegen Neurosen). Niemand würde aber behaupten wollen, dass er sich im rationalen Gleichgewicht befand, doch verstand er es als Hysteriker, seine Anhänger, die keine juristischen oder ökonomischen Inhalte und spitzfindige Begründungen seines Tuns hören mochten, allein durch erratisches, aber stets unterhaltsames Gebaren in seinen Bann, seine Aura, zu ziehen. Wie ein Popstar der 1960er Jahre entfachte er so durch Hybris und eigene Gemütsschwankungen eine veritable Massenhysterie.

 

Ein paar Fußstapfen bleiben

 

Von Trump wird mehr bleiben, als uns lieb sein kann, und das betrifft nicht nur Stilfragen. Er schützte die heimische Wirtschaft mittels Sanktionen, Embargos oder auch nur Drohungen vor billigeren und qualitativ höherwertigen Produkten aus dem Ausland, er zwang Kanada und Mexiko in eine neue, die US-Ökonomie begünstigende Freihandelsunion, befreite die Fracking-Prospektoren von lästigen Umweltauflagen und ging daran, der BRD deren Gas nach Bestrafung der an der konkurrierenden Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 beteiligten Firmen aufzudrängen. An all dem wird Joseph Biden nicht rütteln. Und gegen die Umwandlung des Justizapparats via Ernennungen in eine republikanische Machtinstanz kann er gar nichts unternehmen.

 

Der künftige Präsident mag ein Jünger des freien Marktes und der Globalisierung sein, er wird den Konzernen neue Freihandelsverträge bescheren und eher für das vom Neoliberalismus geschätzte Laissez-faire in der Weltwirtschaft stehen, doch Vorteile für America first, die Trump ähnlich den Kolonialautokraten des 19. Jahrhunderts mit ökonomischer Erpressung herausgeholt hat, dürfte auch er nicht mehr aufgeben wollen.

 

Trump kannte keine Überzeugung und keine Reflexion. Er dachte von Deal zu Deal, und suchte die persönliche Machterhaltung durch ständig neue Schnäppchen abzusichern. Als Bauunternehmer hatte er sich noch gegen die Waffenarsenale in privaten Händen ausgesprochen, als Kandidat und Präsident sicherte er sich durch martialische Aufrüstungsappelle die Unterstützung der mächtigen National Rifle Association. Religion war Trump einst herzlich egal gewesen; um die vielen Millionen Stimmen der rechten Anhänger evangelikaler Freikirchen zu bekommen, mauserte er sich zum bigotten Kreationisten-Fan.

 

Allzu viel Überzeugung und ergebnisoffenes Nachdenken sollte man auch von Biden nicht erwarten. Zwar will er die USA zurück in die Weltklimakonferenz führen und sich um die Umwelt kümmern, aber gegen das zerstörerische Fracking und die Nuklearenergie, deren ewig strahlende Reste unter den Prärien und Wüsten der USA schlummern, hat er nichts. Um den Bruch internationalen Rechts durch den Ausstieg aus dem Atomvertrag mit dem Iran zu kaschieren, hatte Trump plötzlich ein Junktim zwischen einer klar definierten Vereinbarung und den Aktivitäten der Mullahs in der Nahost-Region hergestellt (als würden dort nicht alle global wichtigen Akteure herumpfuschen). Da die Europäer brav dieser argumentativen Krücke folgten, wird Biden jetzt versuchen, die Rückkehr der USA zur Vertragstreue und die Aufhebung fragwürdiger Sanktionen von neuen Bedingungen abhängig zu machen.

 

Kampf im System statt Krieg der Systeme

 

Kein Zweifel, man atmet etwas freier nach Trumps Abwahl. Zwar hatte der Narzisst im Weißen Haus einen heißen Krieg immer als schlechten Deal angesehen und daher meist vorsichtiger agiert als so mancher Falke bei den Demokraten (wenngleich ein krachender Abgang mit Angriffen auf den Iran nach jüngsten Meldungen nicht ganz auszuschließen ist), im eigenen Land aber provozierte er von Anfang an Unruhen, mobilisierte den weißen Pöbel, demolierte das zarte Pflänzchen staatlicher Krankenversicherung und schuf dem Corona-Virus (nicht seinen Opfern) ein ideales Ambiente, gönnte den superreichen Kumpanen den gleichen gegen Null tendierenden Steuersatz wie sich selbst, hebelte Umweltgesetze aus und überzog die Medienlandschaft mit Lügen.

 

Was Trump so unberechenbar machte, war die gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei diametral entgegengesetzten Geisteslagern: Er agierte höchst modern, wenn auch mit zweifelhaften Methoden, indem er die gesamte Netz-Community zu dem geschockten bis begeisterten Publikum seiner manchmal willkürlichen, oft aber auch taktisch cleveren brachialen Weltdeutungen, Ankündigungen oder Wendemanöver machte. Kein Politiker vor ihm hat jemals die (a)sozialen Medien effektiver genutzt und missbraucht als er, der die alten, klassischen Medien, die nachzufragen und die Faktenlage zu prüfen drohten, pauschal als fake news abtat. Andererseits war Trump der Protagonist des alten Kapitalismus, der nach Kohle, Öl, Benzin und Schichtarbeiterschweiß riecht, zog das Faustrecht des Stärkeren der diplomatischen Belagerung vor, anders als Biden. Und weil niemand genau weiß, ob er seinen Jähzorn zügeln und seine gedanklichen Amokläufe notfalls stoppen kann, sind so viele froh, dass er abtreten muss, so als würde die Lunte aus einem Pulverfass gezogen.

 

Joseph Biden hingegen wirkt etwas antiquiert im Habitus, wie ein honoriger, aber aus der Zeit gefallener Gentleman, steht aber für Handelsabkommen à la TTIP, die es Konzernen ermöglichen, die Gesetzgebung ganzer Staaten von privaten Schiedsgerichten sanktionieren oder annullieren zu lassen, und für mehr militärischen Druck auf Russland. Nachdem das herrschende ökonomische System weltweit keine Konkurrenz mehr zu fürchten hat (auch der chinesische Staatskapitalismus wirkt eher wie ein Teil vom Ganzen), ringen eben im Inneren zwei Fraktionen um den entscheidenden Einfluss, mit Trump und Biden als auserwählten Kämpfern.

 

Weil aber der Letztere so freundlich im Umgang und derart sachlich im Ton ist, glaubt die deutsche Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer, in vorauseilendem Gehorsam sogleich die Rüstungsausgaben erhöhen zu müssen. Was vernünftig vorgebracht wird, entbehrt jedoch inhaltlich manchmal jeglicher Vernunft, etwa wenn potentielle Kriegsparteien, die über mehrfaches Overkill-Potential verfügen, noch weiter Superwaffen anschaffen sollen. Die Bundesregierung, die sich schon allein angesichts der geografischen Lage Deutschlands eigentlich zuallererst bei Biden dafür verwenden müsste, Trumps Kündigung des Start-II-Vertrages zur Rüstungsbeschränkung in Europa rückgängig zu machen, setzt plötzlich wieder auf militärische Optionen bis hin zur „nuklearen Teilhabe“. Trump hatten Merkel & Co noch misstraut, Bidens Intentionen aber glauben sie zu verstehen. Wenn sie sich da nur mal nicht täuschen… 

11/2020 

Dazu auch:

Unsinn von Uncle Joe in dieser Rubrik und Trumps America im Archiv dieser Rubrik (2016)          

 

 

  

  



Trio des Grauens

 

Zweimal lieferten sich in den USA zwei Polit-Greise vor laufenden Kameras einen verbalen Schlagabtausch mit wenig Inhalt, aber viel Unterhaltungswert für Misanthropen. Die Junge Union (JU) wollte es den TV-Dompteuren von Trump und Biden gleichtun und lud die drei Kandidaten für den CDU-Bundesvorsitz in ein wegen Corona fast leeres Studio zur Debatte und virtuellen Fragestunde ein. An Inhaltlichem hatten Laschet, Röttgen und Merz ähnlich Dürftiges zu bieten wie die beiden Amerikaner, doch übten sie sich in dröger Langeweile statt in telegenem Foulplay.

 

Zwei alte „Parteifreunde“

 

Norbert Röttgen und Armin Laschet kennen und hassen sich seit geraumer Zeit innig. Drei Jahre lang agierte Röttgen als Bundesumweltminister, ohne positive Spuren zu hinterlassen, dann stieg er 2010 gegen den damaligen NRW-Integrationsminister Laschet in die Bütt, um ihm das Amt des CDU-Landesvorsitzenden wegzuschnappen. Als er zwei Jahre später als Spitzenkandidat bei den Landtagswahlen krachend gegen die SPD-Vorsitzende Hannelore Kraft verlor, weigerte er sich, als Oppositionsführer in Düsseldorf zu bleiben und beschloss, sein Karriereglück wieder in Berlin zu suchen.

 

Kanzlerin Merkel aber bestrafte den wankelmütigen Loser, und so musste dieser fürderhin sein Leben als einfacher Abgeordneter fristen, bis er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag werden durfte. Deswegen gibt sich Röttgen in der Diskussion als der erfahrene Weltpolitiker, der „Aufbruch, Erneuerung, Veränderung“ und – natürlich – mehr und schnellere Digitalisierung anmahnt, den Deutschen eine „zu ausgeprägte Sicherheitsmentalität“ und „zu viel Angst vor dem Scheitern“ vorwirft. Sollten seine Landsleute tatsächlich aus der Geschichte gelernt haben? Röttgen wohl nicht, denn er profilierte sich zuletzt als Kalter Krieger mit Stoßrichtung gen Osten. Sein Plattitüden-Bonmot in der müden Debatte lautete: „Wir müssen verstehen, was in der Welt um uns herum vorgeht.“

 

Da gibt sich Armin Laschet bodenständiger und leutseliger, wirkt er doch stets ein wenig wie der Abgesandte eines Elferrates im rheinischen Karneval. Und er lobt sein gut dreijähriges Wirken als NRW-Ministerpräsident über den grünen Klee. Die Tönnies-Skandale, die Weigerung seiner Regierung, in öffentlichen Ausschreibungen nur tarifgebundene Firmen zu berücksichtigen, die ersten Corona-Hotspots in der Republik – das alles bleibt unerwähnt. Wenn aber Intimfeind Röttgen Defizite in der Bildung und die schleppende Digitalisierung kritisiert, präsentiert Laschet sein Bundesland quasi als schulisches El Dorado und IT-Paradies auf Augenhöhe mit dem Silicon Valley.

 

Überhaupt ist Digitalisierung das Zauberwort, mit dem jeder kulturelle und soziale Inhalt wie eine Altlast einfach weggebeamt wird. Als stärke allein die PC-Ausstattung und nicht die Kompetenz der Lehrer die künftige Lebenstüchtigkeit der Schüler, als könne nur die Künstliche Intelligenz die Welt vor Krieg, Umweltzerstörung und Armut retten.

    

Der Turbo-Kapitalist

 

Als der Dritte im Bunde versucht sich Friedrich Merz in die Herzen der traditionell weit rechts stehenden JU zu reden. Er war deutscher Aufsichtsratschef der weltgrößten Fondsgesellschaft BlackRock und weiß also, wie man Unternehmen, in die man sich eingekauft hat, zu bestimmten Strategien zwingt, etwa zur Entlassung halber Belegschaften, um durch schlanken Profit die Milliarden der Investoren zu mehren. Jetzt aber schlägt er neue Töne an: „Ich stehe für eine ökologische Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft.“

 

Bislang hatte der neoliberale Millionär den Markt vor allen sozialen Verpflichtungen schützen wollen, und ökologische Belange galten ihm lediglich als Bremsklötze auf der turbokapitalistischen Rallye; aber was tut man nicht alles, um naiven Jungunionisten die Schimäre einer empathischeren Seite des ansonsten nassforschen Ego zu verkaufen.

 

Man muss bei Friedrich Merz genau hinhören, um seine Vorstellung von einer Wolfsgesellschaft, in der die ökonomisch Schwachen keine Hilfe von der Elite erwarten dürfen, herauszufiltern. Auf die Frage, wann denn Arbeitnehmer seiner Meinung nach künftig in den Ruhestand gehen dürften, nennt er kein konkretes Alter. Er halte nichts von starren Zeiten, Freiheit fände er besser. Die Menschen sollten in Rente gehen, wenn sie wollten. Es sollte sich bis zu Merz herumgesprochen haben, dass ein Großteil der heutigen Beschäftigten von seiner Altersrente nicht wird leben können. Diese Menschen werden weiter arbeiten wollen, weil sie arbeiten müssen, wenn sie überleben wollen. Auch eine Art der Entscheidungsfreiheit à la Merz.

 

Es kommt nichts Besseres nach

 

Wie hatten wir alle gehofft, dass die bleierne Merkel-Zeit endlich enden möge. Wenn man nun aber die Auftritte der drei Möchtegern-Nachfolger, ihre Taten und Worte bewusst wahrnimmt, schwant einem, dass wieder einmal nichts Besseres nachkommt. Dies gilt auch für den Fall, dass mit Markus Söder und Jens Spahn noch zwei Nachzügler, die sich nach anfänglicher Fehleinschätzung und Zögerlichkeit via mediale Dauerpräsenz zu (vermeintlichen) Corona-Dominatoren hochstilisierten, in den Kampf um die Kanzlerkandidatur eingreifen sollten.

 

Eigenlob statt selbstkritischer Reflexion, Worthülsen statt Inhalten, Schlagworte anstelle perspektivischer Analyse: Alles spielt sich auf dem eigentlich für Donald Trump typischen geistigen Niveau ab, wenn auch weniger hysterisch und ohne dessen offensichtliche Lügen. Dies gilt nicht nur für die Matadoren der CDU, die SPD hat einen Kandidaten gekürt, der sich in seiner gesellschaftlichen Relevanz kaum von der christdemokratischen Konkurrenz abhebt.

 

Sollte es in der Union beim Dreikampf der intellektuell öden Bewerber um die Nachfolge Angela Merkels bleiben, wird sich der ansonsten desinteressierte Beobachter höchstens noch fragen, ob er dem Machtkampf ein Trios des Grauens beiwohnt oder doch eher den ewigen Zänkereien einer reichlich grauen Troika.   

10/2020 

Dazu auch:

Bote aus dem Jenseits im Archiv dieser Rubrik (2018)

 

  



Er ist wieder da


Dass der adelige Herr mit den zehn Vornamen wieder aktiv ist, konnten wir der Berichterstattung über den Wirecard-Skandal entnehmen. Wie fleißig (und offenbar auch erfolgreich) der fränkische Freiherr von und zu Guttenberg in Ministerien und bei der Kanzlerin antichambrierte, deckten Recherchen der Internet-Plattform Abgeordnetenwatch auf. Der einstige Politstar der CSU avancierte zum mit allen Wassern gewaschenen Lobbyisten für dubiose Unternehmen – und Doktor ist er jetzt auch wieder.


Der Charme des gegelten Aristokraten


Es sah nach einer großen politischen Karriere aus, einem Aufstieg ins wichtigste Amt der Bundesrepublik, einem Höhenflug, den stramm rechte Militaristen, die jeunesse dorée des Jetset, die Wirtschaftsoberen und die Leserinnen der Regenbogenpresse gleichermaßen goutiert hätten. Karl-Theodor von und zu Guttenberg brillierte weniger durch seine Leistungen als Wirtschafts- und dann Verteidigungsminister als durch telegene Auftritte, vorgebracht mit einem Charme, den nur finstere Querulanten für etwas schmierig hielten, der einer Mehrheit der Bevölkerung aber den Hauch der großen weiten Welt und vielen Frauen das Bild des Traumschwiegersohns suggerierte.


Vergessen die Zeiten, da der gemeine Bürger unter der Willkür des Adels ächzte – die Eskapaden der Aristokratie ernähren die Schreiber und Verleger der Regenbogenpresse, die TV-Hofberichterstattung aus europäischen Königshäusern erzielt Quote, und vor allem Damen aus der älteren Generation bangen bei jeder Geburt eines fürstlichen Kindes mit. Da kam es gut an, dass Karl Theodor einem Geschlecht entstammte, das im Gegensatz zu verarmten Standeskollegen, die einfache Menschen gegen Geld adoptieren müssen, finanziell ordentlich gesattelt war und sich auch schon politische Meriten verdient hatte: Sein gleichnamiger Großvater war Mitbegründer der CSU von Stadtsteinach gewesen, hatte im Bundestag als überzeugter Kalter Krieger gegen die Ostverträge gestimmt und in der Huyn-Affäre wider Ludwig Erhards CDU-Außenminister Schröder intrigiert.


Karl Theodor jun., der standesgemäß eine gebürtige Gräfin von Bismarck-Schönhausen geehelicht hatte, zeigte früh ein gewisses Faible für Aufschneiderei, ein eher lockeres Verhältnis zu Tatsachen und jene Nähe zur internationalen Finanzelite, die ihm auch heutzutage in seinem aktuellen Job als Edel-Lobbyist zustattenkommt. So schönte er seinen beruflichen Werdegang, als er etwa, gerade erst Wirtschaftsminister geworden, auf seine reichen ökonomischen Erfahrungen als geschäftsführender Vorsitzender der Guttenberg-Stiftung verwies. Das TV-Magazin Panorama sprach angesichts magerer 25.000 Euro Umsatz im Jahr 2000 (laut Creditreform) von einer „Übertreibung“. Der Baron behauptete auch, als „Freier Journalist bei der Tageszeitung Die Welt“ gearbeitet zu haben, die aber erklärte, er sei lediglich Praktikant in der Redaktion gewesen. „Berufliche Stationen in Frankfurt und New York“ entpuppten sich ebenfalls als Praktika von wenigen Wochen Dauer.


Gravierender war da schon seine offenkundige Affinität zu internationalen Großbanken: Als Wirtschaftsminister legte Guttenberg 2009 einen Gesetzesentwurf zur Zwangsverwaltung maroder Geldinstitute vor, mit dessen Ausarbeitung er die Kanzlei Linklaters beauftragt hatte. Diese wiederum unterhielt enge Geschäftsbeziehungen zu etlichen Großbanken. Obwohl der Vorgang bekannt und heftig umstritten war, wurde der Entwurf von Linklaters weitgehend übernommen, und der Baron diente sich so zum Liebling der Finanzwelt hoch.


Trotz solcher Ungereimtheiten wurde Guttenberg immer populärer und galt, angesichts eines verbrauchten Regierungspersonals und einer bräsigen Kanzlerin, in seiner adretten Jugendlichkeit als ihr designierter Nachfolger, bis herauskam, dass er sich seinen Doktortitel mehr oder weniger erschlichen hatte. Auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit musste der Freiherr auf den akademischen Grad verzichten und im März 2011 als Minister zurücktreten. Er verschwand in der Versenkung, wo er aber nicht untätig blieb.


Ein Advokat des Krieges


Jene Mischung aus standesbewusster Hybris und geistiger Hochstapelei, die ihn im politischen Ranking nach oben gespült hatte, wurde ihm zum Verhängnis, als es um ernsthafte Arbeit und wissenschaftliche Standards ging und er statt dessen Plagiat und Mogelei ablieferte. Aber sie half ihm auch wieder, im selbstgewählten US-Asyl Zugang zu jenen geschlossenen Gesellschaften zu finden, in denen die Zukunft der Welt von Investoren, ehemaligen Staatsmännern und Publizisten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zerredet wird.


Im Thinktank Center for Strategic and International Studies in Washington D.C. übte Guttenberg seit September 2011 eine ominöse Tätigkeit als „Distinguished Statesman“ aus. Und im November desselben Jahres sprach er auf dem Halifax International Security Forum von einer „Krise der politischen Führung innerhalb der EU“.


Schon als Verteidigungsminister hatte der Baron 2010 offenbart, wie für ihn entschlossenes Handeln einer europäischen Führung auszusehen habe und – ganz in neo-imperialistischem Stil – gefordert, die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands auch militärisch abzusichern. Ohne politisches Amt, sozusagen als freischaffender Militärexperte, zog er 2013 ungehemmt vom Leder: In einem Beitrag für das Wall Street Journal mahnte Guttenberg die Bundesregierung, sich im Falle eines israelischen Luftschlages gegen den Iran voll auf die Seite des Aggressors zu stellen und durch zivile und militärische Unterstützung ein „kraftvolles Signal der Solidarität gegenüber Israel“ zu geben. Dummerweise einigten sich die Weicheier in Berlin, Washington, Moskau und Brüssel auf den Atomvertrag mit Teheran.


Dass die Bundesregierung im August 2013 die Beteiligung Deutschlands an einem Militärschlag gegen Syrien ausgeschlossen hatte, rügte der Freiherr in der New York Times als Ausdruck einer „Kultur des Widerwillens“ in der Berliner Außenpolitik, ganz so, als wolle er fragen, warum man sich denn vor ein bisschen Krieg ekeln sollte?


Wenn Guttenberg nicht gerade damit beschäftigt war, militärische Abenteuer herbeizureden und zu –schreiben, erschloss er sich neue Geschäftsfelder. Der elegante und eloquente Aristokrat wirkte geradezu wie der Prototyp des erfolgreichen Vertreters. Also entschied er sich, seine Talente in der fünften Dimension des Klinkenputzens, dem Lobbyismus, zu erproben.


A bisserl was geht immer


Mittlerweile hatte Karl Theodor von und zu G. an der University of Southampton ein Studium der Wirtschaftsgeschichte mit einer anscheinend korrekt verfassten Dissertation beendet. Sein Doktorvater war der Ökonom Richard A. Werner, der laut Wikipedia die „Annahme der vollkommenen Information und die deduktive Vorgehensweise“ vermeidet und sich mehr für Modelle, „die sich zu Vorhersagen eignen“, interessiert. Nun, das Reich der Fakten war ja auch noch nie die geistige Heimat des Barons, aber immerhin ist der Doktortitel wieder da. Die akademischen Bemühungen hielten das Multitalent unter den Schaumschlägern indes nicht davon ab, Politik und Wirtschaft weiter emsig zu verkuppeln.

 

Die stets diskret im Hintergrund wirkende US-Investmentbank BDT & Company (Handelsblatt: „Berater der Milliardäre“), die sich vor allem für große Familienunternehmen interessiert und sich u. a. an dem Autozulieferer Schaeffler beteiligte, setzte den umtriebigen Freiherrn als Türöffner ein, um ihre Kontakte zur deutschen Politik zu vertiefen. Diesem gelang es, Jens Spahn am 7. September 2018 zu einem „Round-Table-Gespräch“ (Synonym für Mauschelei in elitärem Rahmen) des Geldinstituts mit 15 Vertretern großer Familienunternehmen zu lotsen.


Sattsam bekannt ist der erfolgreiche Versuch Guttenbergs, die Bundeskanzlerin sowie ihre Minister für Wirtschaft und Finanzen als Klinkenputzer für Wirecard bei der chinesischen Regierung zu instrumentalisieren und den deutschen Botschafter in Peking zum Laufburschen für die Unternehmensinteressen zu degradieren. Schade nur, dass zu bald ruchbar wurde, dass Wirecard mit der Wahrheit ebenso lax umging wie der Baron selbst in früheren Zeiten.


Und da ist da noch Guttenbergs Beteiligung als Aktionär und Vorstandsmitglied am mysteriösen IT-Startup Augustus Intelligence, das nach eigenen Angaben Lösungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz für andere Unternehmen entwickelt. Auffällig wurde die Firma aber bislang vor allem durch blendende Beziehungen zu Hans-Georg Maaßen, dem stark rechtslastigen früheren Verfassungsschutzchef, und vor allem zu Philipp Amthor, dem aufstrebenden Jünglingswunder der CDU. Letzterer setzte sich bei Wirtschaftsminister Altmaier für Augustus ein und erhielt dafür Silberlinge in Form von Aktienoptionen. Ob es Amthor oder dem Baron zu verdanken war, dass Andi Scheuers Verkehrsministerium, das gerade an einem Aktionsplan Digitalisierung und künstliche Intelligenz in der Mobilität werkelte, sich mit Augustus Intelligence beriet, ist letztendlich zweitrangig. Während aber der junge CDU-Streber über die Nutzung von Polit-Kontakten zum eigenen materiellen Vorteil stolperte, durfte Guttenberg in trautem Tête-à-Tête der Bundeskanzlerin die Vorzüge seines Unternehmens näherbringen.


Das Treffen war vom Kanzleramt geheim gehalten worden. Erst die Recherche der NGO Abgeordnetenwatch, die auch den Spiegel und den Berliner Tagesspiegel zu eigenen Nachforschungen inspirierte, zerrte das intime Verhältnis des adligen Cheflobbyisten zur Staatsmacht ans Licht der Öffentlichkeit. Das Wissen darum, dass die Wirtschaft stets ihre Beziehungen zu Politikern auf wichtigen Posten spielen lässt, um Aufträge zu ergattern, Gesetze zu verhindern oder selbst an ihnen mitzuschreiben und Abstimmungen zu manipulieren, ist mittlerweile Allgemeingut. Frappierend an der Causa Guttenberg ist allerdings, wie keck und ungehindert ein Mann, der nicht den besten Leumund besitzt, ein gefallener Engel der CSU sozusagen, die Türen zu den obersten Entscheidungsgremien durchschreiten kann, um seine brisante Vertreterware anzubieten. Und dann ist es wieder wie einst in der TV-Serie „Monaco-Franze“: Ein bisserl was geht immer… 

09/2020 

Dazu auch: 

Lobbykratie BRD im Archiv von Politik und Abgrund (2013)


 



 

Einäugig mit Zwergen


(Zum Titel dieser Kolumne ist eine Klarstellung vonnöten: Man spricht gewöhnlich vom „Einäugigen unter Blinden“, doch würde das in diesem Kontext bedeuten, dass sich schwer sehbehinderte Menschen als Versager diffamiert sähen. Mit Zwergen wiederum sind hier keineswegs Kleinwüchsige gemeint, sondern Politiker, die wichtige Aufgaben mit sehr geringem Verstand wahrnehmen. Was hingegen Markus Söder betrifft, kann man ihm guten Gewissens attestieren, dass er schon im Kinderzimmer durch das Poster seiner Vaterfigur Franz Josef Strauß auf den rechten Blick sowie die rigorose Selbstdarstellung hin konditioniert wurde, dass ihm aber das zu Reflexion und sozialer Verantwortung notwendige Licht des linken Auges fehlt.)


Gut, Söders einst glänzendes Image hat angesichts der jüngsten Testungspanne die ersten Schrammen abbekommen, aber immer noch sehen ihn etliche Bundesbürger als tatkräftigen Landesvater – möglicherweise nicht nur für Bayern, sondern sogar für die ganze Republik. Obwohl viele seiner Fans auch an Fußball-Weisheiten glauben, haben sie das Kicker-Mantra, dass stets das Team zählt, nicht der Solist, kaum verinnerlicht. Sie müssten sich sonst fragen, wo Söder seine CSU-Spitzenmannschaft rekrutiert hat: in der Zwergschule oder doch eher in einer Beschützenden Einrichtung?


Der Ankündigungsweltmeister


 „Söder kann Kanzler“, lobte unlängst der in den Fremdsprachen Deutsch und Englisch gleichermaßen eloquente EU-Schwabe Günther Oettinger den bayerischen Ministerpräsidenten, und Austrias Kanzler Sebastian Kurz schickte ein ambivalentes, wohl auch von CSU-Gegnern geteiltes Kredo hinterher: „Ich traue Markus Söder alles zu.“ Da reift einer zum Kandidaten für den Chefposten in der nächsten Bundesregierung heran, möchte man meinen. Noch aber ziert sich Söder, ganz so, als wolle er von Verzweifelten um Bewerbung gebeten werden.


Es hat Markus Söder nicht geschadet, dass er in der Corona-Krise zunächst Lockdown und dann Maskenpflicht für überflüssig hielt, nur um sich jeweils zwei Wochen später an die Spitze der Befürworter zu stellen. Auch die Tatsache, dass im Freistaat die Letalität unter Corona-Kranken mit am höchsten ist, dort also im Verhältnis mehr Covid-19-Infizierte sterben als in fast allen anderen Bundesländern, drang bislang nicht ins Bewusstsein der Bürger. Was sich in den Umfrageergebnissen niederschlug, war Bewunderung für seine fulminante Selbstbeweihräucherung und sein energisches Handeln, auch wenn sich dieses immer wieder als bloßer Aktionismus entpuppte. Jetzt aber sind Söder ein paar Zacken aus der Krone gefallen.


Kaum hatte er den Rest der Republik belehrt, man müsse in der Landwirtschaft dem Beispiel Bayerns mit (angeblich) kleineren Betrieben folgen, brach in den Pferchen für die Hilfskräfte niederbayerischer Gurkengroßbauern und Konservenfabriken Corona aus, und zwar mit einem solchen Durchseuchungsgrad, dass die zuvor betroffenen Schlachthöfe von Tönnies in NRW dagegen wie Reha-Einrichtungen aussehen.


Für die Galerie installierte Söder Testzentren an den Grenzen oder auf Flughäfen, während doch ständig wiederholte (aber weniger medienwirksame) Viren-Screenings in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen wesentlich dringlicher wären, wo infizierte Mitarbeiter leicht zu Todesengeln für die Patienten und Senioren werden können. Und als dann aus dem Urlaub nach Bayern Heimkehrende getestet wurden, geschah dies derart überhastet und wenig durchdacht, dass die Ergebnisse nicht übermittelt wurden und fast tausend Infizierte in ganz Deutschland ahnungslos ihre Nächsten und Arbeitskollegen anstecken durften.


Natürlich war Söder nicht vor Ort und somit auch nicht unmittelbar an dem Desaster beteiligt, aber als Regierungschef, Initiator und vor allem weltmeisterlicher Ankündiger zeichnete er für die Durchführung und personelle Ausstattung einer staatlichen Maßnahme zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit verantwortlich.

   

Avanti dilettanti!


Als Schuldige an der Test-Katastrophe war bald die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml ausgemacht, die schon seit Beginn der Pandemie reichlich überfordert wirkt. Ein paar Ehrenamtliche sollten die Seuche an vorderster Front stoppen, für die Dokumentation stand keine EDV zur Verfügung, so dass wie im 19. Jahrhundert mit Papier und Bleistift – zum Teil unleserlich – hantiert wurde. Und als ihr die folgenschwere Panne gemeldet wurde, ließ Huml nochmals zwei wichtige Tage verstreichen, ehe sie die Öffentlichkeit alarmierte.


Doch Söder mochte seine Gesundheitsministerin nicht wegen erwiesener Unfähigkeit entlassen, er sorgte allerdings dafür, dass sie nichts mehr zu sagen hat, verordnete er ihr doch gleich drei Vormünder und unterstellte die Testzentren dem Innenministerium seines treuen Vasallen Joachim Herrmann. Melanie Huml mag tatsächlich nicht die hellste Kerze auf der Torte sein, doch ist sie mit ihren Defiziten in der Führungsriege der CSU nicht allein. Man fragt sich langsam, welche Gurkentruppe Markus Söder für München und Berlin zusammengestellt hat und warum er an solch multiplen Versagern so lange festhält.


Über die Pleiten eines Andreas Scheuer noch viel zu schreiben, hieße Eulen nach Athen oder – um dem Niveau des Verkehrsministers gerecht zu werden – Spatzen nach Ulm zu tragen. Kongenial agiert sein Kollege im Berliner Kabinett, Horst Seehofer, unverbindlich mäandernd in der Flüchtlingspolitik, aber konsequent im Ableugnen von rassistischen Strukturen in der Polizei, weil es seiner Meinung nicht gibt, was es nicht geben darf. Diese beiden Koryphäen des politischen Desasters wurden von Söder höchstpersönlich in die Bundeshauptstadt entsandt, auf dass am bayrischen Wesen ganz Deutschland genesen solle. Zu beiden gesellt sich noch Seehofers Altlast Alexander Dobrindt als Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, der vielen als der geistige Vater der Maut-Posse gilt.


Wissen sie zu viel, ist er zu weich?


Markus Söder war nie ein Teamplayer, sein Ego dürfte über Trump‘sche Ausmaße verfügen. Und derzeit offenbart er, dass er wohl deswegen Mannschaftskapitän oder Trainer eben nicht kann. Fehlt es an Menschenkenntnis, oder haben ihn taktische Spielchen und regionale sowie wirtschaftskonforme Rücksichtnahmen zu einer solch kruden Personalpolitik bewogen? Dass Seehofers Berliner Irrfahrt das Resultat eines Deals, der den Sessel des Ministerpräsidenten für Söder freimachte, war, ist noch nachzuvollziehen. Warum der aber seine Gestaltungsmacht nicht nutzt, um Angela Merkel von der Lachnummer der Republik, Andreas Scheuer, zu befreien, indem er der neuen Freundin dessen Ablösung nahelegt, bleibt ebenso sein Geheimnis wie die Bestätigung der hilf- und ahnungslosen Melanie Huml in ihrem Amt.


Dass Söder zu weich, zu human wäre und kollegial dächte, wird keiner, der seinen unaufhaltsamen Aufstieg unter brachialem Ellbogeneinsatz in Bayern beobachten durfte, unterstellen. Hatte vielleicht die eine oder andere Personalentscheidung ein Geschmäckle, gab es Absprachen, von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren sollte, wissen einige Leute zu viel von internen Kungeleien? Wir werden es wohl nie erfahren, die CSU-Omertá ist seit Jahrzehnten intakt.


Allerdings könnte Söders Unfähigkeit, sich mit kompetenteren Parteigenossen und Partnern statt mit Polit-Zwergen zu umgeben, auf Dauer auch Wähler abschrecken. Man stelle sich vor, er müsste nach der nächsten Bundestagswahl die Mehrheit der Regierungsmitglieder benennen! Dann würde wohl ein Horrorkabinett drohen…  

08/2020  

Zwei trübe Tassen im Archiv dieser Rubrik (2020)

Von Bayern lernen? in der Rubrik Politik und Abgrund (2020)

 

 

  


Unsinn von Uncle Joe

 

Jede Nation hat den Präsidenten, den sie verdient, heißt es im Volksmund. Demnach scheint die US-Amerikaner mit Donald Trump die gerechte Strafe ereilt zu haben. Doch nach vier Jahren sieht es so aus, als rede sich der republikanische Berserker im Weißen Haus um Kopf und Amt, und der Demokrat Joseph Biden hat plötzlich gute Chancen, im November sein Nachfolger zu werden. Allerdings würde dann auch nicht gerade eine Lichtgestalt an die Spitze der Vereinigten Staaten treten.

 

Immer mal für einen Krieg gut

 

Eigentlich ist der Präsidentschaftskandidat Biden derzeit in einer beneidenswerten Lage, er muss ganz einfach nur – nichts tun und am besten dazu schweigen. Mit rhetorischen Amokläufen hat Amtsinhaber Trump in weiten Teilen der US-Wählerschaft Zweifel an seiner mentalen Verfassung sowie an seinem intellektuellen Vermögen geweckt. Zugleich führt er das Land in der Corona-Pandemie auf einen tödlichen Weg und angesichts der allgegenwärtigen Polizeigewalt gegen Afroamerikaner in einen blutigen Konflikt, dem die Kontrapunkte struktureller Rassismus, verweigerte Bürgerrechte und fehlende Chancengleichheit zugrunde liegen.

  

Joseph Biden, in den USA wegen seiner ältlich-freundlichen Art gern Uncle Joe genannt, konnte sich hingegen in eine selbstgewählte Quarantäne verfügen, aus der nur einige bedächtige und staatsmännische Statements in die von Trump irritierte Öffentlichkeit drangen. Und das war auch gut so, denn der demokratische Präsidentschaftsbewerber, mit 77 noch dreieinhalb Jahre älter als sein Kontrahent, versteht sich ebenfalls darauf, mit launigen Bemerkungen Klarheiten zu beseitigen und allgemeines Rätselraten oder Kopfschütteln auszulösen.

 

Biden blickt auf eine ordentliche politische Karriere ohne große Skandale (vorausgesetzt man lastet ihm die dubiosen Ukraine-Geschäfte seines Sohnes Hunter nicht mit an und hält einige Me-too-Vorwürfe für frei erfunden), aber auch ohne nennenswerte Höhepunkte. Er wurde sechsmal zum Senator des Bundesstaates Delaware gewählt, saß dem Komitee für Außenpolitik im US-Senat vor und gab schließlich acht Jahre lang Obamas ziemlich unauffälligen Vizepräsidenten. Der Sohn eines Autohändlers studierte Jura und arbeitete als Rechtsanwalt, ehe er im Kongress ein wenig Lobby-Arbeit für die halbstaatliche Eisenbahngesellschaft Amtrak oder die Hühnerverarbeitungsindustrie von Delaware leistete. Irgendwie muss man ja das millionenschwere Vermögen verdienen, das für einen Politiker in den USA wohl obligatorisch ist. Also business as usual, könnte man meinen, steckte nicht auch bei Onkel Joseph der Teufel im Detail.

 

Gleich dreimal bewies Biden nämlich, dass er zu den Falken innerhalb der Demokratischen Partei gerechnet werden durfte: Er überzeugte Bill Clinton, den völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien zu führen, an dem u. a. auch die Bundeswehr beteiligt war. Nach den mit 9/11 betitelten Terroranschlägen unterstützte er den republikanischen Präsidenten George W. Bush, als dieser US-Streitkräfte nach Afghanistan entsandte und forderte sogar eine Aufstockung der Bodentruppen dort. Als Bush das Märchen von den versteckten Massenvernichtungswaffen als Vorwand nahm, um den Irak anzugreifen, fand er Biden an seiner Seite – während dessen Parteikollegen mehrheitlich gegen den Krieg optierten.

 

Ein wenig erinnert das an Hillary Clinton, die den vorsichtigen Obama-Kurs in Syrien missbilligte und als Präsidentschaftskandidatin ein hartes militärisches US-Eingreifen in Aussicht stellte. Im Gegensatz dazu kann man Donald Trump vorwerfen, dass er die Welt fortlaufend ins Chaos stürzt, den Hang zu Kriegsabenteuern aber darf man dem von Deals, nationaler Größe durch Wirtschaftssanktionen und profitablen Lösungen träumenden Egomanen nicht unterstellen.

  

Mit wem spricht und wofür kandidiert er?

 

Joe Biden ist also derzeit Nutznießer der Regel, wonach Reden nur Silber, Schweigen jedoch Gold sei. Wenn er aber spricht, wird allerlei Kryptisches, Ungereimtes und sogar Törichtes freigesetzt. Schon in den Rededuellen mit seinem noch älteren Parteikonkurrenten Bernie Sanders, dessen Pech es war, dass sein gemäßigt sozialdemokratisches Programm von den Eliten und den Bibelgläubigen in den USA als „kommunistisch“ verteufelt wurde, wirkte Biden überfordert und unbeholfen, sodass damals jene Zweifel an seiner geistigen Fitness aufkamen, die Trump jetzt mit lächerlichen Mitteln zu verstärken sucht.

 

Über einen Ausspruch Bidens, der auf Facebook publiziert wurde, zerbricht sich heute noch die halbe Welt den Kopf: "Wir können Donald Trump nur wiederwählen, wenn wir uns nicht in dieses kreisartige Todeskommando begeben – es muss eine positive Kampagne sein." Vielleicht sollte man das Zitat schlicht als Unsinn und kleinen Lapsus abtun, immerhin gilt auch für einen US-Präsidentschaftskandidaten die euphemistische Relativierung „Nobody`s perfect“ – wie es Biden ja auch auf seine ganz eigene Art festgestellt hat: „Wenn wir alles richtig machen, wenn wir es mit absoluter Gewissheit machen, gibt es immer noch eine dreißigprozentige Chance, dass wir es falsch machen.“

 

Die Stuttgarter Zeitung listete eine ganze Reihe von verbalen Fehlleistungen Bidens auf, schließlich können wir Deutschen, die mit Heinrich Lübke einst einen Weltmeister des unfreiwilligen Humors als Bundespräsidenten hatten, davon nie genug bekommen. So verwechselte der Bewerber zwei Interviewpartner von verschiedenen TV-Sendern miteinander, ebenso wie seine Frau Jill mit seiner Schwester Valerie bei der Vorstellung in Los Angeles, weil die beiden blondierten Damen kurz zuvor die Plätze getauscht hatten. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in South Carolina erklärte er staunenden Anhängern, er werde jetzt für den Senat (und nicht das Weiße Haus) kandidieren. Einmal erzählte Biden die rührende Geschichte eines amerikanischen Afghanistan-Veteranen, der einen Orden ablehnte, weil er seinen Kameraden nicht retten konnte. Recherchen ergaben, dass weder die Hauptperson noch die Story in der Realität existiert hatten, worauf der ertappte Märchenonkel Joseph leichthin erklärte: „Die Details sind irrelevant, wenn es darum geht, große Entscheidungen zu treffen.“

 

Sicherlich überwiegt weltweit die Meinung, alles sei besser als vier weitere Jahre Trump. Aber muss die Alternative wirklich so dürftig sein? Manchmal nämlich sind Bidens Entgleisungen von inhaltlich relevanter Art. Und dann muss man sich tatsächlich fragen, von welchem (Un)Geist der potentiell nächste Hausherr im Oval Office beseelt ist.

 

Illustre Ahnengalerie

 

In New York brüskierte der Kandidat afroamerikanische Gesprächspartner, indem er eine ganz eigene Farbenlehre propagierte, in der die eigene Person das entscheidende Kriterium ausmachte:  "Wenn Sie Schwierigkeiten damit haben, herauszufinden, ob Sie für Trump oder für mich sind, dann sind Sie nicht schwarz!" Afroamerikaner, die sich nach Jahrzehnten herber Enttäuschungen (auch unter der Regierung ihres Brother Barack Obama) von Biden und den Demokraten abwenden, gehören also nach seinem Dafürhalten nicht mehr ihrer ursprünglichen Ethnie an.

 

Mit Recht verurteilte Biden die chauvinistischen Äußerungen und Handlungen Trumps, nur schrieb er diesem ein angebliches Alleinstellungsmerkmal in der US-Historie zu, und dies zeugte von profunder Geschichtsvergessenheit: Der Amtsinhaber sei der erste Rassist im Weißen Haus, behauptete Biden in einer Online-Debatte mit Gewerkschaftern.

 

Es hat unter den 45 US-Präsidenten der Vereinigten Staaten eine ganze Reihe seltsamer und manchmal auch gefährlicher Figuren gegeben. Alkoholiker wie Grant waren darunter, ein zweitrangiger Schauspieler wie Reagan, ein notorischer Lügner wie Nixon, ein intellektuell Minderbemittelter wie George W. Bush, darüber hinaus mehrere Korrupte und Kriegsverbrecher. Allein unter den ersten fünf Staatsoberhäuptern aber waren vier Sklavenhalter, darunter auch die Gründeridole George Washington und Thomas Jefferson…

08/2020 

Dazu auch:

Erbarmen, Obama! und Bush kann lesen! im Archiv dieser Rubrik (beide 2014) 

  



Zwei trübe Tassen

 

Dass die Bundesregierung ein Hort fachlicher Kompetenz und intellektueller Brillanz sei, wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen. Die beiden trübsten Tassen aber hat die CSU ins Kabinett entsandt. Immerhin ist kaum zu bestreiten, dass die Fehlleistungen der Minister Andreas Scheuer und Horst Seehofer stets einen gewissen Unterhaltungswert haben.

 

Was nicht sein darf, gibt es nicht

 

Im Grunde ist das, was unsere beiden Helden so abliefern, umweltschädlich, konzerndevot und teuer für den Steuerzahler (Scheuer) oder ignorant und ethnischer Diskriminierung Vorschub leistend (Seehofer), doch nach all den ohne Konsequenzen bleibenden Tölpeleien der beiden in den letzten Jahren bleibt einem nur noch, über sie zu lachen – wenn man nicht verzweifeln will.

 

Dass die Polizei hierzulande Probleme mit Menschen dunkler Hautfarbe hat, ist nicht nur den Betroffenen aufgefallen. Die UN-Expertengruppe zu Menschen afrikanischer Abstammung war zu dem Schluss gekommen, Racial Profiling, quasi Vorverdacht wegen ethnischer Zugehörigkeit, sei unter deutschen Polizeikräften weit verbreitet. Diese Erkenntnis wiederum bewog die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), der Bundesregierung zu empfehlen, eine unabhängige Expertenstudie zu dem Problem erstellen zu lassen, um gegebenenfalls Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

 

Das Justizministerium begrüßte das Vorhaben, nur war es leider nicht die richtige Adresse. Zuständig wäre der von seinem Nachfolger Markus Söder ins Berliner Innenministerium entsorgte Ex-Ministerpräsident Horst Seehofer gewesen, doch der mauerte, stellte sich „vor die Beamten“, schloss „strukturellen Rassismus“ generell aus, beklagte die ständige Kritik an der Polizei und nannte diese „zum Teil auch Verunglimpfung“. Er verhielt sich damit ähnlich wie anlässlich der Enttarnung rechtsradikaler Seilschaften in den Sicherheitskräften: Es handle sich um Einzelfälle, keineswegs um besorgniserregende Entwicklungen.

 

Auch wenn Infos aus Polizei-Computern dazu genützt werden, Linken-Politikerinnen mit der Ermordung zu drohen, einer türkischen Rechtsanwältin von hessischen Beamten die Entführung ihres Kindes angekündigt wird oder Afrikaner von den Sicherheitskräften ständig kontrolliert und bisweilen auch rassistisch beleidigt werden – Horst Seehofer setzt auf althergebrachten Korpsgeist und schließt lästige Aufklärung in pubertär-trotzig anmutender Diktion aus: „Wir können nicht jede Woche ein Wünsch-dir-was spielen."

 

Peinlich nur für den Innenminister, dass neben dem Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, dem Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke, und vielen anderen Fachleuten auch einer der obersten Ordnungshüter der Republik die Studie befürwortete. Seehofer habe den Sicherheitsbehörden einen „Bärendienst“ erwiesen, erklärte Sebastian Fiedler, Chef des Bundes deutscher Kriminalbeamter. So sei der Eindruck entstanden, es gebe „etwas zu verstecken“.

 

Das Innenministerium konterte mit einer denkwürdigen Begründung für die vom Minister angeordnete Untätigkeit: Racial Profiling sei „in der polizeilichen Praxis verboten“, teilte ein Sprecher mit. „Insbesondere Personenkontrollen müssen diskriminierungsfrei erfolgen … Weder die Polizeigesetze des Bundes noch die einschlägigen Vorschriften und Erlasse erlauben eine solche Ungleichbehandlung von Personen.“ Bei entsprechenden Vorkommnissen handle es sich um absolute Ausnahmefälle.

 

Na dann ist doch alles in Butter. Nach dieser Logik gibt es auch keine Mafia-Strukturen, weil ja organisiertes Verbrechen in der rechtlichen Praxis verboten ist. Viele, viele Einzelfälle bleiben absolute Ausnahmen und können sich gar nicht zu strukturellem Rassismus zusammenrotten, denn der ist ja vom Gesetz her gar nicht erlaubt.

 

Was haben wir denn eigentlich geändert?

 

Unangefochtener König der Clowns in Berlin ist seit Langem Andreas Scheuer, unter dessen Händen sich alle Projekte zu Seifenblasen verflüchtigen, ob es sich nun um die Maut für Ausländer, die Verkehrswende oder den Kampf gegen die Luftverschmutzung handelt. Dennoch darf man Seehofers CSU-Kollegen nicht unterschätzen: Scheuer ist der effektivste umweltpolitische Bremser in Diensten der Automobilkonzerne, wie sich auch bei seinem vorerst letzten Streich zeigt, bei dem er eine eigene Panne nutzen will, um eine der Tempo-Mafia unangenehme Regelung zurückzunehmen.

 

Die jüngste Novellierung der Straßenverkehrsordnung (StVO) hatten die zustimmungspflichtigen Bundesländer dazu genutzt, strengere Strafen für Raser in das Gesetz aufzunehmen: Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen von 21 km/h in Orten bzw. 26 km/h  außerhalb sollten die Temposünder ihre Führerscheine für einen Monat abgeben müssen.

 

Diese vernünftige Maßnahme war als Vorbeugung gegen die Urheber der am häufigsten auftretenden Todesursache auf Deutschlands Fahrbahnen gerichtet, wurde aber von den Autobauern und den PS-Fans des ADAC als Affront empfunden – ein Porsche- oder SUV-Fahrer muss doch seine Potenz auch einmal auf einer Stadt- oder Landstraße beweisen dürfen! Also ruderte Andreas Scheuer gehorsam zurück, kündigte an, die neue Vorschrift aus dem Bußkatalog zu entfernen und wies die Länder an, sie bis dahin gar nicht anzuwenden. So viel zu einem großen Herz für Speedfreaks und zur Gesetzestreue eines Verkehrsministers…

 

Als die meisten Bundesländer nicht mitziehen wollten, kam der Fehlerteufel seinem eifrigen Jünger Scheuer zur Hilfe. Die Beamten seines Hauses hatten bei der Formulierung der Novelle vergessen hineinzuschreiben, auf welche rechtlichen Grundlagen sich die Änderung überhaupt bezog. Normalerweise checkt das Bundesjustizministerium jedes neue Gesetz innerhalb von vier Wochen bis auf den letzten Buchstaben, diesmal aber hatten die zuständigen Mitarbeiter nur wenige Tage zu einer kursorischen Überprüfung, weil sie den Text vom säumigen Scheuer erst kurz vor dem Termin der Verabschiedung erhalten hatten.

 

Als klar war, dass ein Formfehler vorlag, konnte das Schlitzohr aus dem niederbayerischen Passau, das nicht die Intelligenz, aber die Unverschämtheit und Bauernschläue eines Franz Josef Strauß geerbt zu haben scheint, von den Bundesländern fordern, wieder die alte StVO anzuwenden und damit Unbill von den flotten Verkehrsgefährdern fernzuhalten. Bislang gingen 14 von 16 Bundesländern darauf ein, doch die Unsicherheit bleibt: Gilt alt, gilt neu, oder gilt im Augenblick gar nichts?

 

Treffend charakterisierte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) Scheuers dummdreisten Coup: „Besondere Chuzpe braucht es, die Schlamperei in der Umsetzung der Verordnung zu nutzen, um eine unliebsame Regelung auszuhebeln.“

 

Ein Duo der Extraklasse

 

Lässt man den Schaden, den die beiden permanent anrichten, mal außer Acht und gönnt sich ein paar sinn- und sorgenfreie Minuten, muss man anerkennen, dass die CSU-Minister Seehofer und Scheuer ein Slapstick-Duo der Extraklasse bilden. Sie stolpern über Gesetze, zerschlagen politisches Porzellan, brüskieren gleichermaßen Migranten, Umweltverbände und EU-Abgeordnete, agieren wie einst Laurel & Hardy alias Dick und Doof in seligen Stummfilmzeiten.

 

Die deutschen Bürger mögen Comedy, je seichter, desto lieber, was vielleicht erklärt warum Pleiten-Horst und Pannen-Andi immer noch im Amt sind. Doch es widerstrebt mir, die beiden Verhinderer und Saboteure lediglich als ein Paar naiver Komiker durchgehen zu lassen. Hinter ihrem widersinnigen Tun steckt ein gerüttelt Maß finsterer Energie.

 

Kürzlich starb Ennio Morricone, der etliche Italo-Western mit schwülstig-süffigen Klängen unterlegt hatte. Einer der berühmtesten dieser Filme war Sergio Leones „The Good, the Bad and the Ugly“, woraus der deutsche Verleih etwas einfallslos „Zwei glorreiche Halunken“ machte, Clint Eastwood und Lee Van Cleef somit als verschlagene, des Öfteren irrende Helden mit unsauberen Methoden beschrieb. Das kommt dem Phänomen Seehofer/Scheuer schon ziemlich nahe.

07/2020

Dazu auch: 

Karriere eines Klons (2018) und Horsts Welt (2014) im Archiv dieser Rubrik

Der kann nichts dafür im Archiv von Politik und Abgrund (2019)

 

  



Sanfte Rassisten

 

Es scheint so, als habe die brutale Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch weiße Polizisten in Minneapolis im Nachhinein doch noch einen positiven Effekt gezeitigt: Zunächst in den USA, dann in vielen anderen Ländern, darunter auch Deutschland, gingen Abertausende auf die Straße und demonstrierten gegen Rassismus, Polizeigewalt und soziale Ungleichheit. Allerdings steht zu befürchten, dass hierzulande zu exklusiv auf Trumps Amerika gestarrt wird und dabei die eklatante Diskriminierung vor der eigenen Haustür dezent in den Hintergrund rückt.

 

„Ausrutscher“ oder Strategie?

 

Auch in Deutschland pflegen Politik und Behörden bisweilen einen veritablen Rassismus, der aber nicht so verbalradikal daherkommt wie sein US-Pendant, sondern eher im volkstümlich-hinterfotzigen Gewand. So erklärte 2016 der damalige CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer augenzwinkernd, dass es noch lange nicht gleichwertig ist, wenn Zwei das Gleiche tun: "Entschuldigen S' die Sprache, das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist - weil den wirst Du nie wieder abschieben…“

 

Damit umschrieb der begnadete Vereinfacher in humoriger Sprache, was ein Großteil der bayerischen Bevölkerung so oder ähnlich ausdrücken würde: Die Pflicht des Negers ist, nach Hause zu gehen oder sich brav ausweisen zu lassen, statt sich einen Platz in unserer Gesellschaft erschleichen zu wollen, indem er Sport treibt und frömmelt wie wir. Insofern war Scheuers Invektive kein rhetorischer Ausrutscher, sondern ein anschauliches Beispiel für alltägliche Diskriminierung.

 

Wenn Behördenmitarbeiter an der Grenze oder auf der Straße stichprobenartig kontrollieren, wird von hundert Reisenden oder Passanten unter Garantie der oder die einzige Dunkelhäutige den Pass oder die Fahrkarte vorzeigen und das Anwesenheitsmotiv erklären müssen. Das mag in Frankreich oder Tschechien ähnlich sein, stößt einem aber in dem Land mit der aggressivsten rassistischen (nie gründlich aufgearbeiteten) Vergangenheit besonders übel auf. Da kann das Bundesjustizministerium ruhig ein Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität auf den Weg bringen – die eingeschliffenen Vorurteile werden davon nicht erfasst.

 

Dass die SPD-Vorsitzende Saskia Esken wegen ihrer zutreffenden Feststellung, in der deutschen Polizei existiere ein „latenter Rassismus“ mit einem Shitstorm seitens der Sicherheitskräfte, der zuständigen Gewerkschaft und der rechtsbürgerlichen Politik überzogen wird, zeigt nur, wie wenig bereit die deutsche Öffentlichkeit mehrheitlich ist, sich der bitteren Realität zu stellen. Dabei hätte ein einfacher Analogieschluss zur Bestätigung der These genügt: In der deutschen Bevölkerung gibt es mehr oder weniger latenten Rassismus, quer durch die Regionen, sozialen Schichten und bürgerlichen Parteien bis hin nach ganz rechts, zur AfD – die Polizei aber ist Teil dieser Gesellschaft, und nicht gerade der progressivste.

 

Auch in der eigenen Partei wird Eskens Mahnung immer wieder durch ignorante Politik konterkariert. So setzte eine Große Koalition in Nürnberg, der selbsternannten „Stadt der Menschenrechte“,  die Beförderung des bisherigen Einwohneramtschefs Olaf Kuch zum Stadtrechtsdirektor durch. Kuch gilt als rechtskonservativ und war als Leiter der Ausländerbehörde laut Bayerischem Flüchtlingsrat "nicht nur regional, sondern bundesweit dafür bekannt, äußerst restriktiv und unmenschlich" gegenüber Migranten und Geflüchteten zu agieren. Im Klartext: Immer wenn die „Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung innerhalb der geltenden Gesetze möglich gewesen wäre“, wurde dennoch abgeschoben: Azubis, Schüler, langjährig Berufstätige, Familien, kranke alleinerziehende Mütter. Selbst biedere Handwerksmeister rebellierten gegen Kuch, weil sie ihre Lehrlinge und Mitarbeiter verloren. Kein Hinderungsgrund aber für die SPD, den als „schnellster Abschieber im Lande“ apostrophierten strammen CSUler zu unterstützen, während die Grünen in diesem Fall konsequent blieben, wegen der Personalie Kuch die Koalitionsverhandlungen abbrachen und so auf lukrative Posten verzichteten.

 

Nur bei Haustieren gibt es Rassen

 

Der Umgang eines Staates (und seiner Bevölkerung) mit Menschen, die vor Krieg, Hunger oder Unterdrückung Schutz auf seinem Gebiet suchen, liefert ebenso die Indizien für offenen, latenten oder fehlenden Rassismus wie die Behandlung von Minderheiten und Bürgern mit Migrationshintergrund. Und da sieht Deutschland – nach dem Abklingen einer von einer empathischen Minorität in Gang gesetzten Euphoriewelle zu Beginn der „Flüchtlingskrise“ – gar nicht gut aus.

 

Wirtschaftliches Konkurrenzdenken, Angst vor „Überfremdung“, vor der oft unterstellten Kriminalität der anderen oder die irrige Annahme einer „weißen oder nationalen Überlegenheit“ munitionieren auch in anderen Ländern klammheimliche, bisweilen auch offen aggressive Xenophobie, in Deutschland haben sie jedoch eine besonders lange, von einer tödlichen Klimax während des Nationalsozialismus überragte Tradition. Preußisches Herrenmenschendenken und adlig-militärischer Vernichtungswillen hatten bereits die Ausrottungsfeldzüge im heutigen Namibia und in Südostafrika mit der Minderwertigkeit der Indigenen und der eigenen rassischen Überlegenheit gerechtfertigt, was in der Ära des Kolonialismus durchaus üblich war, aber in typisch teutonischer Perfektion den Nazis eine Blaupause für den späteren Holocaust lieferte.

 

Der Begriff „Rasse“ wird in der Wissenschaft ausschließlich zur Kategorisierung von Haustieren verwendet (bei der wilden Fauna spricht man von Arten). Für Menschen ist er obsolet, da die verschiedenen Ethnien genetisch kaum unterscheidbar sind und sich im Lauf der Zeit ordentlich vermengt haben (spätestens seit Homo Sapiens und Neandertaler gemischte Doppel bildeten). Den Begriff „Rassismus“ hingegen kann man begründet anwenden, wenn Menschen dem pseudo-philosophischen Humbug von der Überlegenheit der eigenen Gruppe verfallen sind.

 

Dass ein in der Humanbiologie ungültiger Begriff Eingang in unsere Verfassung fand, beweist, dass deren Väter offenbar in alten Denkschemata gefangen waren. Deshalb liegen die Grünen richtig, wenn sie den Absatz 3 im Artikel 3 des Grundgesetzes, der dekretiert, dass niemand „wegen … seiner Rasse … benachteiligt oder bevorzugt werden“ dürfe, dahingehend ändern wollen, dass niemand mehr „rassistisch benachteiligt“ werden darf. Die Union ist dagegen, sie hält an der „Rasse“ fest, die zwar für Menschen nicht gilt, aber der Stammtisch-Klientel, die gerne mal von „Kanaken“ , „Bimbos“ oder „dem Itzig an sich“  schwadroniert, seit Urzeiten ans Herz gewachsen ist.

 

Solches Vokabular benutzen hier die rechten Politiker (mit Ausnahme einiger AfD-Granden) normalerweise nicht, sie nennen schließlich auch Demonstranten nicht „Abschaum“ wie US-Präsident Trump (lassen wir legendäre Beschimpfungen durch den großen FJS mal außen vor), sie bevorzugen, wie etwa Andreas Scheuer, die witzige Diskriminierung. Knallhart und ungerührt aber zeigen sie sich, wenn Geflüchtete im Mittelmeer absaufen oder in überfüllten libyschen Lagern zugrunde gehen. Wer auf „Black-Lives-Matter“-Demos geht, sollte die Medien und die Politik immer daran erinnern, dass auch Flüchtlingsleben zählen.

  

Relativierer an die Front

 

Dass im Jahr 1900 ein tumber Kriegstreiber wie Kaiser Wilhelm II. in seiner „Hunnenrede“ deutsche Invasionstruppen ins Reich der Mitte mit dem Befehl, keine Gefangenen zu machen, auf „dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“, entsandte, wird man dem preußisch-militaristischen Hohenzollern-Ungeist zurechnen. Doch auch der heute noch als Vordenker des honorigen Bürgertums von Liberalen wie Konservativen verehrte Soziologe und Nationalökonom Max Weber sah, als er die US-Südstaaten bereiste, „schwarze Halbaffen“ auf den Plantagen schuften. Der Rassismus hatte sich folglich auch in die intellektuellen, angeblich humanistisch gebildeten Kreise eingeschlichen.

 

Heutzutage wird in Medienrunden eher verbal abgerüstet. Die Auftritte deutscher Ordnungshüter seien keineswegs mit dem brutalen Vorgehen ihrer Kollegen in Minneapolis oder Atlanta zu vergleichen. Offenen Rassismus wie in einflussreichen rechten US-Gruppierungen gebe es in der arrivierten deutschen Politik und im Beamtentum nicht, höchstens missverständliche Äußerungen. Dass einige NSU-Morde möglicherweise hätten verhindert werden können, wären die ermittelnden Beamten nach den ersten Taten nicht mit ethnischen Vorurteilen an die Arbeit gegangen („Soko Bosporus“), wird dabei unterschlagen. Wie hätte wohl die Bundesregierung reagiert, wären statt dunkelhäutiger und muslimischer Habenichtse blonde, gutsituierte und ethnisch nahestehende Norweger auf der Flucht vor einer Naturkatastrophe in ihrer Heimat an unseren Grenzen und Küsten angekommen?

 

Im ARD-Presseclub relativierte Alexander Kissler vom Monatsmagazin Cicero, das den weitgehend geistfreien Neoliberalismus mit ein paar spitzfindigen Vignetten intellektuell aufpeppen will, den Anspruch der Black-Lives-Matter-Bewegung: Es wäre seiner Meinung nach besser gewesen, die Demonstranten hätten „All Lives Matter“ skandiert, es gebe ja schließlich auch afroamerikanischen Chauvinismus und schwarze Gewalt.

 

Demzufolge wären wir alle Opfer eines strukturellen oder latenten Rassismus, die Dunkleren vielleicht ein wenig mehr, die Helleren ein bisschen seltener. Aber was diese jedwede Schuld und Urheberschaft nivellierende These so verführerisch macht, ist die scheinbar versöhnliche Vorstellung: Wir sitzen alle im selben Boot. Möglich, allerdings werden die Unterprivilegierten, Flüchtlinge und Migranten früher ertrinken, und die Schwarzen werden schneller erschossen. 

06/2020

Dazu auch:

Karriere eines Klons im Archiv dieser Rubrik (2018)

Völkermord als Test im Archiv von Politik und Abgrund (2018) 

  




Der Mann nach Trump

 

Trotz Versagens in der Corona-Krise, hoher Arbeitslosigkeit und erratischer Außenpolitik wird Donald Trump wohl im November als US-Präsident bestätigt, sollten sich nicht die Wähler in einigen Swing-States doch noch für den blassen Gegenkandidaten Joe Biden entscheiden. Die Vereinigten Staaten, vier weitere Jahre regiert von einem Greis, der in der Tagespolitik bereits Anzeichen von Demenz in einer bislang unbekannten aggressiven Form zeigt – das lässt für den Weltfrieden und die Menschenrechte fürchten. Doch es könnte noch schlimmer kommen, nämlich dann, wenn 2024 der jetzige Außenminister Mike Pompeo zum Sturm aufs Weiße Haus antreten sollte.

 

Der seinen Chef nie enttäuscht

 

Vertragsbrüche pflastern Trumps außenpolitischen Weg. Der Präsident selbst tut sich schwer, die zahlreichen Verletzungen internationalen Rechts rational zu erklären, daher brauchte er einen Gefährten, der mit skrupelloser Eloquenz der Welt verklickert, warum für die USA keine Vereinbarung heilig ist. Er hat in dem 56-jährigen republikanischen Rechtsaußen Mike Pompeo einen Kompagnon gefunden, der nicht nur rhetorisch, sondern auch inhaltlich voll hinter dem ultra-nationalistischen Kurs steht, ja in brutaler Konsequenz sogar noch über die Pläne seines Vorgesetzten hinausgeht.

 

In der für ihn typischen cholerischen und narzisstischen Art hat Donald Trump in den dreieinhalb Jahren seiner Präsidentschaft etliche Minister und Sicherheits- oder Gesundheitsberater irritiert und dann gefeuert, der 2018 zum Außenamtschef beförderte Pompeo aber stand stets treu an seiner Seite und rechtfertigte standhaft jede neue Provokation aus Washington vor der internationalen Öffentlichkeit. Der in Kalifornien geborene, aber im erzkonservativen Präriestaat Kansas politisch sozialisierte Republikaner ist kein wetterwendischer Populist wie sein Präsident, sondern ein knallharter Reaktionär, und so rechtfertigt er aus tiefer Überzeugung, was für Trump bloße Machtspielerei ist.

 

Wenn Trump Israel zur völkerrechtswidrigen Annexion großer Teile des Westjordanlandes ermutigt, nennt Pompeo dies eine „Friedensvision“. Wenn sein Präsident mit der Weltgesundheitsorganisation bricht, weil diese in der gegenwärtigen Krise versagt und Chinas Schuld vertuscht habe, schließlich sei das Covid-19-Virus einer chinesischen Forschungsstätte entsprungen, hält Pompeo den Zweiflern, also der WHO und einer überwältigenden Mehrheit internationaler Wissenschaftler, ohne den geringsten Ansatz eines Belegs entgegen, es gebe „überwältigende Beweise“, dass das Corona-Virus aus einem Labor in Wuhan stamme.

 

Fast 32 Jahre lang hatte der INF-Vertrag zwischen den USA und der UDSSR (später Russland) gehalten, der durch den Verzicht beider Großmächte auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen mit nuklearer Option den Frieden in Europa sicherer machte. Anfang 2019 kündigte Mike Pompeo das Abkommen. Im Mai dieses Jahres spricht der Außenminister nun vom US-Ausstieg aus dem Open-Skies-Agreement, das seit 2002 Luftaufklärung über dem jeweils gegnerischen Territorium als vertrauensbildende Maßnahme erlaubte. Manchmal wirkt Pompeo wie der Herold einer globalen militärischen Dystopie als Zerrspiegel aller friedensfördernden Utopien.

 

Den Iran hatte Mike Pompeo schon in seiner Zeit als CIA-Chef im Visier. Alle Kriege und Konflikte im Mittleren und Nahen Osten lastete er Teheran an, und so propagierte er von Anfang an den Ausstieg der USA aus dem internationalen Atomabkommen. In der Administration scheint er bei der jüngsten folgenschweren Provokation, der Ermordung des iranischen Generals Soleimani im Irak, sogar die treibende Kraft gewesen zu sein. Jedenfalls berichtete die Washington Post, Pompeo habe schon Monate zuvor mit Trump über eine Drohnenattacke auf den hohen Militär gesprochen.

 

Ein frommer Falke

 

Mike Pompeo hat alles, was einen Mann nach Ansicht der Hardliner im Bible Belt der USA zur Kandidatur auch für höchste Staatsämter befähigt: Umweltschutz hält er für Unsinn, die Kennzeichnung von Lebensmitteln für überflüssig und den Klimawandel für den Spleen einiger Wissenschaftler. Er diente fünf Jahre lang in der Armee, brachte es bis zum Hauptmann, wurde aber nicht in den Golfkrieg geschickt. Danach verdiente er mit Anteilen an Luftfahrt- und Rüstungszulieferern viel Geld, was aus Sicht seiner Landsleute unabdingbare Voraussetzung für eine Politikerkarriere ist. 

 

In dieser Zeit kooperierte er erstmals mit den Koch-Brüdern Charles und David, zwei Multimilliardären, die enorme Mittel für die (endgültige) Umwandlung der USA in einen Gottesstaat mit Steuer-Minimierung für Reiche ausgeben. Mit ihrer Hilfe wurde er 2010 für Kansas ins Repräsentantenhaus gewählt. Nach einem kurzen Zwischenspiel als CIA-Direktor geriet er ins Blickfeld von Donald Trump, der erkannte, dass Pompeo alle Eigenschaften eines Rechtsextremen, der sich den Weg zur Macht ohne rechtliche Skrupel auch über Leichen bahnt, in sich vereinigte.

 

Alles, was der Präsident nur aus Gründen der Opportunität für sich reklamiert, hat Pompeo von Anfang an verinnerlicht: Während Trump in früheren Jahre für schärfere Waffengesetze plädierte und sich erst in letzter Zeit für die zivile Aufrüstung ausspricht, um die Stimmen und Gelder der militanten Rechten abzugreifen, wurde Pompeo schon vor etlichen Jahren  lebenslanges Mitglied der mächtigen Waffenlobby NRA. Donald Trump hat eigentlich mit Religion wenig am Hut, doch er benötigt dringend die Unterstützung der Evangelikalen, jener weißen Mitglieder zahlreicher protestantischer Sekten, für die das Alte Testament ein Grundgesetz und Darwin ein Irrlehrer aus der Hölle ist. Mike Pompeo hingegen ist tatsächlich gläubiger Presbyterianer, er war Diakon und unterrichtete in der Sonntagsschule. Bis heute kämpft er fanatisch gegen das Recht auf Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe.

 

Offenbar hängt er tatsächlich dem alttestamentarischen Gott der Rache an und nicht dem verweichlichten Gottessohn im zweiten Teil der Bibel. Seine Feinde liebt er jedenfalls nicht, wenn man seinen Äußerungen glauben darf: Edward Snowdon beispielsweise „sollte von Russland zurückgebracht werden und es sollte ihm ein richtiger Prozess gemacht werden, und ich glaube, das gebührliche Ergebnis wäre die Todesstrafe für ihn“. Julian Assange ist für den Mann, der den US-Geheimdiensten völlig freie Hand lassen will, „ein Betrüger und Feigling“. Das Gefangenenlager in Guantanamo würde er nie schließen, kann dort doch relativ diskret gefoltert werden, was er ausdrücklich billigt.

 

Im Januar 2019 ernannte Pompeo den Republikaner Elliot Abrams zum Sondergesandten für Venezuela. Der Neokonservative hatte in den 1980er Jahren mittelamerikanische Diktatoren, darunter den guatemaltekischen Massenmörder Ríos Montt, unterstützt und war in Reagans Iran-Contra-Affäre verwickelt. Nicht anzunehmen, dass für Abrams eine Rolle als Vermittler und Friedensstifter vorgesehen ist.

 

Das ist vielleicht der wesentliche Unterschied zu Donald Trump: Der blondierte Egomane erpresst andere Staaten, lügt und betrügt, droht mit Embargo und Gewalt, scheut aber kriegerische Abenteuer; Pompeo hingegen spielt nicht und täuscht nicht an, er meint es todernst. Als die USA gemeinsam mit Verbündeten und Gegnern den Atomvertrag mit Teheran aushandelten, erklärte Pompeo, eine bessere Option sei es,  „mit nicht einmal 2.000 Fliegerstarts alle iranischen Nuklearkapazitäten zu zerstören“. Seit den ersten Kontakten der Obama-Administration mit Teheran war sein offen formuliertes Ziel, ein mögliches Abkommen „rückabwickeln“ zu lassen.

 

Wer, wenn nicht Pompeo?

 

Sollte Trump im November für eine zweite Amtszeit wiedergewählt werden, seine kurze, aber viele angebliche Gewissheiten und Regeln in der internationalen Politik hinwegfegende Ära noch vier weitere Jahre andauern, werden die Republikaner nach einem Nachfolger suchen, der seine Kampagnen gegen die Reste europäischer Aufklärung, gegen Meinungsvielfalt, Menschen anderer Hautfarbe oder Religion oder sexueller Ausrichtung im eigenen Land und gegen ungehorsame Staaten weltweit erfolgreich fortsetzt; Mike Pompeo könnte der Auserwählte sein, und dann würde aus einem diffus begründeten Vorstoß gegen alles Progressive ein Kreuzzug mit logistischem Potential werden.

 

Die mutmaßlich aus der Antike stammende Binsenweisheit „Es kommt nichts Besseres nach“ könnte sich bewahrheiten, wenn von US-Bürgern, die nichts hören, sehen, sagen und vor allem denken wollen, das Mandat Trumps verlängert wird, wenn wir noch einmal eine Olympiade an gefährlichen Wirrungen relativ unbeschadet überstehen und wenn dann ein evangelikaler Nationalist im Weißen Haus versuchen würde, die Schimären seines Vorgängers Realität werden zu lassen.

 

Mike Pompeo plant möglicherweise tatsächlich den großen Coup, jedenfalls hält er sich ein teures persönliches Wahlkampfteam, obwohl er selbst in nächster Zeit nicht direkt zur Abstimmung steht. Sollte er dereinst an die Spitze des Staates gelangen, wäre das der ultimative Triumph der Restauration, die Trump eingeleitet hat, indem er durch die Ernennung rechtskonservativer Richter auf Lebenszeit das höchste Bundesgericht für eine unabsehbare Periode zu einer Bastion der Rückwärtsgewandten gemacht hat. Die geistige Enge des gottesfürchtigen Mittelalters könnte dann im Verein mit der Faustrecht-Mentalität des Wilden Westens, den ungeheuren ökonomischen, digitalen und militärischen Mitteln in den Händen weniger Fundamentalisten die USA endgültig zum Reich der geist- und kritikfeindlichen Hierarchien machen: John Wayne statt Martin Luther King, Calvin statt Chomsky, Bezos anstelle von Baez… 

05/2020 

Dazu auch:

Die Macht der Brüder im Archiv von Helden unserer Zeit (2017)

  





Der Gnadenlose

 

Der Bundestagspräsident bekleidet in der Bundesrepublik den zweithöchsten Staatsrang und gilt kraft seines Amtes in der politischen Lyrik als moralische Instanz. Wolfgang Schäuble von der CDU hat trotz etlicher dunkler Flecken in der Biografie derzeit den hohen Posten inne und nutzt den Vertrauensvorschuss, um angesichts der Corona-Krise in Zeitungsinterviews  nachdenklichen Sozialdarwinismus zu propagieren.

 

Schulmeister mit schmutziger Weste

 

Der hat uns gerade noch gefehlt: Nachdem Markus Söder uns pausenlos in väterlichem Ton sein grenzenloses Notstandsmandat und unsere gottgegebene Gehorsamspflicht in der Covid-19-Ära ans Herz legt, wir die Selbstbeweihräucherung des frischgebackenen Seuchen-Fachmanns Jens Spahn über uns ergehen lassen müssen und dann noch von Angela Merkel in redundanter Rhetorik belehrt werden, nach welchen ständig wechselnden Kriterien wir vielleicht irgendwann unsere Grundrechte zurückbekommen, meldet sich nun Wolfgang Schäuble als Krisenanalytiker zu Wort.

 

Was der zweite Mann im Staat seinem Volk zu sagen hat, ist nicht – wie der Ethik-Rat und Teile der Nobelpresse uns weismachen wollen – sehr bedenkenswert, sondern – wie uns genaues und kritisches Nachlesen lehrt - höchst bedenklich. Dass Schäuble überhaupt qua Position als Respektsperson ernst genommen wird, ist angesichts seiner Vita äußerst verwunderlich, war der jetzige Bundestagspräsident doch tief in die absurde CDU-Spendenaffäre verstrickt, brachte durch zögerliches oder widerwilliges Handeln die Republik im Cum-Ex-Skandal um Unsummen, prägte für die südlichen EU-Staaten das Bild des hässlichen Deutschen neu und gab sich dabei gnadenlos und sozialdarwinistisch – ganz so, wie er es auch in seinen jüngsten Statements zur Covid-19-Situation wieder durchscheinen lässt.

 

Eigentlich wollte Schäuble vor grauen Vorzeiten ja nicht in der repräsentativen Nomenklatura der Republik in die oberste Etage klettern, sondern auf der Leiter der politischen Macht. Bundesinnenminister und CDU-Chef war er da schon, und als Nachfolger des Bundeskanzlers Kohls sahen ihn auch bereits viele, als er im Februar 2000 von seinen Ämtern als Fraktions- und Bundesvorsitzender der Christdemokraten zurücktrat. Kurz zuvor hatte er zugegeben, 1994 eine Bar-Spende über 100.000 € vom Waffenhändler Karlheinz Schreiber entgegengenommen zu haben, die von seiner Partei rechtswidrig als „sonstige Einnahme“ verbucht worden sei. Schäuble will den Umschlag mit dem Geld des kriminellen Mäzens nicht geöffnet, sondern gleich weitergeleitet haben.

 

Wer (nach eigenen Angaben) derart unbedarft in die Spendenfalle tappt, verdient aus Sicht der Union eine ordentliche Resozialisierung. Und so wurde denn Schäuble auch in die Kabinette der Bundeskanzlerin Angela Merkel berufen, ab 2009 gar als Finanzminister. So weich der evangelische Badener nach seinem Vergehen selbst fiel, so hart zeigte er sich anderen, vor allem Ärmeren und Widerspenstigen, gegenüber.  Von der rigorosen semi-calvinistischen Erwerbsethik, die den Turbokapitalismus vorwegnahm und das Recht des pekuniär Stärkeren predigte, geprägt, versuchte er (ziemlich erfolgreich), während der internationalen Finanzkrise südeuropäischen Staaten wie Griechenland und Italien „Reformen“, die in Wirklichkeit Demontagen der Sozial- und Gesundheitssysteme bedeuteten, als Gegenleistungen für Finanzhilfen (tatsächlich Kredite zu hohen Zinsen) aufzuzwingen. Zwei Folgen: Deutschland, insbesondere sein Bankenwesen, verdiente im Endeffekt an der Krise, und bei Ausbruch der Corona-Seuche starben in Spanien wie in Italien Tausende von Menschen, weil auf Berliner Befehl an der medizinischen Qualität und der Kapazität der Kliniken bis zur Bedürftigkeit gespart worden war.

 

Gnadenlos gab sich Schäuble auch gegenüber politischen Gegnern im Inneren: Als im November 2016 das Finanzgericht Hessen in zweiter Instanz die Gemeinnützigkeit der regierungskritischen NGO attac bestätigte, erteilte er höchstpersönlich Weisung, Beschwerde dagegen einzulegen. Mittlerweile gefährdet dieser politisch-juristische Vorstoß, der den Sumpf unangepasster Vereine austrocknen sollte und vom Münchner Oberfinanzgerichtshof brav umgesetzt wurde, nicht nur attac, sondern auch die Petitionsplattform Campact und die Anti-Nazi-Organisation VVN in ihrer ExistenzWeitere unbotmäßige Organisationen werden folgen.

 

Doch Wolfgang Schäuble konnte auch großzügig, oder sagen wir: langmütig, sein: Von seinem Vorgänger Steinbrück hatte er die Cum-Ex-Affäre, eine Art Hütchenspiel mit Aktien und Dividenden über Grenzen hinweg, bei dem einmal gezahlte Steuern vom Staat mehrfach rückvergütet wurden, geerbt. Sieben Jahre sah der sonst so scharf rechnende Badener trotz mehrerer Warnungen und Handlungsaufforderungen aus Politik und Verwaltung zu, ehe er die Geschäfte 2016 per Gesetz verbieten ließ; sieben Jahre, in denen dem bundesdeutschen Fiskus bis zu 42 Milliarden Euro entgingen…

 

Bürger, wollt ihr ewig leben?

 

Dieser Mann amtiert also inzwischen als Vize der Republik und möchte uns Untertanen nahebringen, worauf es in der Covid-19-Zeit wirklich ankommt bzw. welche Hitparade von Werten und Grundrechten gültig ist, damit wir uns unsere maßlosen Ansprüche an Staat und Gemeinwesen endlich abschminken. Im Berliner Tagesspiegel philosophierte er auf die Frage nach Kriterien für politische Entscheidungen in der Krise: „…Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

 

Wer Schäubles Faible für den konservativen Staat als Hüter des unchained Unternehmertums kennt, kann das getrost so interpretieren: Die Freiheit von Markt und Kapitalakkumulation darf nicht durch humanistisches Gefasel vom Schutz des Daseins eingeschränkt werden, die Gesellschaft muss ohne Rücksicht auf Verluste wieder in derselben Konstellation funktionieren wie vor Corona.

 

Im Grundgesetz wird tatsächlich erst im Artikel 2 („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“) die geistige und physische Existenz der Bürger garantiert, während sich der Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“)  auf ein immaterielles und schwer zu definierendes Gut kapriziert. Aus dieser etwas willkürlich wirkenden Reihenfolge zieht Schäuble den Schluss, die Würde sei der einzig absolute Wert. Auch noch als posthumes Attribut, nachdem ihr betagter Träger eventuell bei der Triage durchgefallen und ohne medizinische Hilfe verstorben ist? Ohne (handfestes) Leben ist aber keine (luftige) Würde denkbar, weshalb das philosophische Rätsel, ob das Ei früher als das Huhn da war, hier keinen Sinn macht. Würde ohne Leben gibt es nicht, umgekehrt geht es leider. Schäuble beantwortet das Rätsel dennoch – frei übersetzt - mit der unsinnigen Behauptung, vor den Hühnern käme die Freilandhaltung.

 

Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet ein Vordenker der Partei, die sich fanatisch für den Schutz der ungeborenen (kaum entwickelten und noch unbewussten) Existenz eingesetzt hat, die Erhaltung menschlichen Lebens in hohem Entwicklungs- und Bewusstseinsstadium zur Disposition stellt, um ein politisch-ökonomisches System, das soeben in seiner Fürsorgepflicht versagt hat, am Laufen zu halten. Hans-Rüdiger Minow, Dokumentarfilmer und Vorstandssprecher von „Zug der Erinnerung“, schreibt in einem Gastkommentar für German-Foreign-Policy dazu: „Ein Staat, der den Erhalt des menschlichen Lebens der Wirtschaftsfreiheit überlässt, gibt sich auf oder ergibt sich Barbaren.“

 

Als der Tagesspiegel angesichts der erratischen Berliner Reaktionen auf die ersten Infektionen zu fragen wagte, ob die Regierung nicht vieles hätte verhindern können, wenn sie den eigenen Pandemieplan von 2012 ernst genommen hätte, verschanzte sich Schäuble erneut hinter der Verfassung: „Die korrekte Antwort ist: Nach dem Grundgesetz ist Katastrophenschutz Sache der Länder. Der Bund ist nur für Zivilschutz zuständig, also im Krieg.“ Bleibt unklar, warum dann überhaupt ein bundesdeutscher Pandemieplan kreiert wurde und ob sich Bundeskanzlerin Merkel jetzt überhaupt als Krisen-Koordinatorin versuchen darf. Zudem ging es darum, die Ratschläge der WHO zur Vorbeugung umzusetzen - und die wurden Staaten erteilt, nicht Bundesländern.

 

Weil das Tagesspiegel-Interview so viel Aufsehen erregte und von Wirtschaftsverbänden, aber auch vom Deutsche Ethikrat, dessen Mitglieder zu neun Zehnteln von der Bundesregierung ernannt werden und sich vor allem den „Wirtschaftsrechten“ verpflichtet fühlen, überschwänglich goutiert wurde, legte Schäuble letzte Woche im Offenburger Tageblatt nach. Er habe „die Sorge, dass die Menschen den Eindruck gewinnen, der Staat könne jetzt für alles aufkommen". Eine Sorge, die er angesichts der unverschämten Forderungen von Konzernen nicht zu hegen scheint. Es könne nämlich der Staat "am Ende für Hilfen und Sozialleistungen nur so viel aufwenden, wie erwirtschaftet wird“. Man müsse gemeinsam entscheiden, wie sich eine Erholung der Wirtschaft zustande bringen lasse.

   

Damit ist eben jene Wirtschaft gemeint, die zu einem beträchtlichen Teil Lebensgrundlagen in Deutschland und anderswo zerstört, ob es sich um Auto- und Pharmakonzerne, die die Umwelt vergiften, oder Rüstungsbetriebe, die den Tod exportieren, handelt. Erwirtschaftet worden ist genug, nur nicht sehr nachhaltig. Und geflossen sind die Gewinne bestimmt nicht in die Sozialleistungen zur Lebenserhaltung, für die nun der Staat angeblich nicht gar so viel aufbringen kann.  


Betreuer und Ideologen

 

Während der Pandemie scheint sich eine Art Arbeitsteilung zwischen den führenden Systembewahrern eingespielt zu haben. Auf der einen Seite bevormunden die Söders, Spahns und Merkels im Habitus allwissender Kümmerer das Volk, entziehen ihm Rechte, sprechen Verbote aus und mildern die Härten ab, wenn die Bürger brav waren. Als sanfte Populisten lenken sie mit sonorer Penetranz von den eigenen Versäumnissen ab und verstehen es dabei, durch Endlos-Wiederholungen die (vorgebliche) eigene Umsicht und Tatkraft in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu rücken.

 

Der Part, den Menschen klarzumachen, dass keine Seuche an den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft rütteln darf und dass im Notfall die Schwachen und Alten Opfer bringen (oder sein) müssen, fällt dem nachdenklich wirkenden und spitzfindig formulierenden Wolfgang Schäuble zu. Zwar klingt das, als habe er das Für und Wider von sozialer Austeritätspolitik und großflächigen Konzernsubventionen ergebnisoffen erwogen, doch stand in Wirklichkeit das Ergebnis bei einem Wirtschaftsradikalen seines Schlages von vornherein fest.

 

Schäuble ist kein Verbal-Rabauke wie der grüne Rechtsaußen Boris Palmer, in der Sache aber kommt er diesem doch sehr nahe, wenn es um das faktische Primat der Privat-Ökonomie gegenüber der Lebenserhaltung geht. Und die bedingungslose Alimentierung von Wirtschaftszweigen, die nicht unbedingt zum Wohle und Nutzen der Menschen produzieren, aber dennoch als „systemrelevant“ geadelt werden, verteidigt er wesentlich feinsinniger als Söder oder Scholz. Diese sind eben nur Handwerker der Macht, die zeitweise die Bevölkerung unter Betreuung stellen, Schäuble hingegen ist für die ideologische Rechtfertigung und die Apotheose des deregulierten Marktes zuständig. Und so kann ein aus triftigen Gründen in ganz Europa und in aufmüpfigen Kreisen des eigenen Landes verrufener Hardliner des Systems in die Rolle des weisen Mahners schlüpfen. Man möchte ihm mit Greta Thunberg zurufen: „How dare you!“ 

05/2020 

Dazu auch: 

Wirres im Virenland in der Rubrik Politik und Abgrund

Die Rache des Staates im Archiv von Politik und Abgrund (2019) 

 

 

 

 

 

 

 

Modi räumt auf

 

Drakonische Notstandsmaßnahmen haben wg. Corona derzeit weltweit Hochkonjunktur. Wenn aber eine Ausgangssperre verhängt wird und die Betroffenen keine Wohnung und keinen Zugang zu Nahrung haben, zugleich aber keine öffentliche Hilfe erwarten können, scheint Verhungern für die Armen das probate Mittel zu sein, um eine Insubordination zu vermeiden und der Infizierung mit Covid-19 zu entgehen. Indiens Premierminister Narendra Modi, fanatischer Hindu und neoliberaler Ultranationalist zugleich, betreibt nicht zum ersten Mal eine „alternativlose“ Politik.

 

Potemkinsche Toiletten

 

Indien ist ein Subkontinent der Superlative: Das höchste Gebirge der Erde liegt zu einem Gutteil auf seinem Territorium, demnächst wird es China als bevölkerungsreichstes Land auf dem Globus ablösen, und es gilt als die größte Demokratie der Welt. Nirgendwo sonst klaffen aber auch die Gegensätze zwischen Reich und Arm, technologischem Fortschritt und mittelalterlicher Rückständigkeit, hohem politischen Anspruch und desillusionierender Wirklichkeit so weit auseinander wie auf der südasiatischen Halbinsel. Vergangenes Jahr wurde Narendra Modi, Heilsbringer der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit und Hoffnungsträger der einheimischen Oligarchen, als Premierminister wiedergewählt.

 

Nun zeigt der autoritär regierende Premier, dass er gewillt ist, angesichts der aktuellen Pandemie rigide Sicherheitsmaßnahmen auch dort durchzusetzen, wo es eigentlich nicht möglich ist, weil das Chaos des sozialen Elends alle Ordnungsstrukturen längst zerstört hat. Was bedeutet eine Ausgangssperre für Hunderte Millionen von Menschen, die seit Jahren an Straßenrändern, auf Baustellen oder in Türeingängen hausen? Wie sollen sie in ihre Heimatdörfer zurückkehren, aus denen sie wegen des Hungers nach Delhi oder Mumbai geflohen waren, wenn es keinen öffentlichen Verkehr mehr gibt? Und wie sollen umgekehrt auf dem Land die Kleinpächter ihre kümmerlichen Ernten einbringen, wenn die Helfer aus der Stadt nicht mehr zu ihnen gelangen können?

 

Bisweilen liest man hierzulande in „nachdenklichen“ Betrachtungen, das Coronavirus behandle die Menschen, Bedürftige wie Begüterte, gleich, niemand sei vor ihm gefeit. Tatsächlich aber infiziert sich Armut häufiger und stirbt schneller. In den USA fallen die unterprivilegierten Schwarzen und Hispanics der Seuche bevorzugt zum Opfer, und in Indien zählt man die Bettler und Tagelöhner, die auf der Straße an dem Virus verrecken, erst gar nicht mehr. Sollte die Seuche sie nicht holen, erliegen sie eben der totalen Auszehrung oder krepieren unter den Knüppeln der berüchtigten Polizei.

 

Es ist nicht das erste Mal, dass Narendra Modi unsinnige oder zutiefst inhumane Entscheidungen trifft und sie als verantwortungsbewusste zivilisatorische Verbesserungen deklariert. So wollte er nach dem Amtsantritt 2014 der Welt eine Nation präsentieren, die hygienische Standards der Ersten Welt realisiert. Die Mehrheit seiner Landsleute, vor allem auf dem Land, defäkierte aber wie vor Jahrtausenden neben den Hütten oder auf dem freien Feld. Also ordnete Modi an, überall moderne Klohäuschen aufzustellen, was auch alsbald geschah. Es fehlte aber an Kläranlagen, Kanalisation, Wasserressourcen und Aufklärung der Bevölkerung, so dass die sanitären Örtchen potemkinsche Klos blieben. Rund 300 Millionen Toiletten wurden gebaut, doch die Bauern schissen weiterhin nebenan auf den Acker.

 

Auf dem Weg zum Gottesstaat?

 

Als wesentlich folgenschwerer dürfte sich das im vorigen Jahr vom Oberhaus verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz erweisen. Dies erlaubt allen Religionsangehörigen, die vor 2014 aus Pakistan, Bangladesh oder Afghanistan nach Indien geflohen waren, die Einbürgerung, nicht aber der Mehrheit der Immigranten, den Moslems, die nach wie vor elf Jahre lang darauf warten müssen – mit zweifelhaften Aussichten. 

 

Denn der Zelot Modi hat die Diskriminierung der rund 200 Millionen Mohammedaner, die Indien zur drittgrößten islamischen Nation machen, schon bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus vorangetrieben: Er ließ dem einzigen Bundesstaat mit muslimischer Mehrheit, Jammu-Kaschmir, die Autonomie entziehen, das Internet dort abstellen und die lokalen Politiker ins Gefängnis werfen. Zudem ordnete er an, dass Moslems ihre Nationalität per Urkunde beweisen müssen, auch wenn sie in Indien geboren sind. Dies führte im Land der schludrigen Bürokratie dazu, dass nun Millionen Menschen plötzlich staatenlos sind.

 

Zur Demütigung der ungläubigen Landsleute spannte Modi sogar den Obersten Gerichtshof ein. Der erlaubte unlängst den Bau eines Tempels in Ayodha genau dort, wo 1992 eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert von Hindu-Fanatikern zerstört worden war. Nur zur Erinnerung: Viele der berühmtesten Monumente Indiens, darunter das Taj Mahal, stammen aus der Epoche der muslimischen Mogul-Kaiser und werden heute offiziell als Beispiele für die Hochkultur des Subkontinents aufgeführt. Dem Premier scheinen diese Nationaldenkmäler eher peinlich zu sein. Mittlerweile mutmaßt nicht nur die SPIEGEL-Korrespondentin Laura Höflinger, dass „Narendra Modi das Land in einen Gottesstaat verwandelt“.

 

Im Februar 2002 kam es nach einem Anschlag auf einen Zug mit hinduistischen Pilgern im nordwestlichen Bundesstaat Gujarat zu Auseinandersetzungen zwischen den Religionsgemeinschaften, in deren Folge über 2000 Moslems, darunter viele Frauen und Kinder, getötet und weitere 150.000 in Flüchtlingslagern interniert wurden. Chef Minister der dortigen Regierung war damals Modi, dem bald vorgeworfen wurde, die Massaker nicht verhindert, sie möglicherweise sogar angeheizt zu haben. Zwar sprach ihn ein indisches Gericht erwartungsgemäß frei, doch verweigerten ihm die USA 2005 wegen seiner „Verantwortlichkeit für schwere Verletzungen der Religionsfreiheit“ die Einreise. Dies sieht die heutige Administration in Washington ganz anders – Modi wird als Bündnispartner gegen China, den Iran und für ungebremsten Kapitalismus benötigt.

 

Der Premierminister stützt sich auf die Janata-Partei (BJP), die aus der vornehmlich von den oberen Kasten im Norden unterstützten Bewegung der Hindu-Nationalisten hervorging. Der BJP gelang es, die Jahrzehnte währende Herrschaft der Kongress-Partei unter dem Nehru-Gandhi-Clan zu durchbrechen, doch verlor sie die Macht wegen interner Streitigkeiten wieder. Erst seit 2014 Modi die Wahl gewann, konnte sie sich fest an der Spitze etablieren. Im Gegensatz zum Kongress, der zumindest formal einen säkularen Staat unter Wahrung von Minderheitenrechten anstrebt, propagiert die BJP eine indische Kultur und Identität, in der der Islam keinen Platz hat. Die Partei wurde zum Sammelbecken ultra-religiöser, rassistischer, aber auch mafiöser Karrieristen, inzwischen auch aus den unteren Kasten. Die heimliche Verehrung, die Nathuram Godse, der Mörder Mahatma Gandhis, in der BJP genießt, zeigt deren Affinität zum Faschismus: Gandhi, der Gewaltlosigkeit und Versöhnung mit den Moslems propagierte, gilt vielen Parteimitgliedern als Verräter, weil er der Teilung des Landes zugestimmt und so ein hinduistisches Groß-Indien, dem auch Pakistan und das heutige Bangladesh zugeschlagen worden wären, verhindert hatte.

     

Wie Demokratie zur Farce wird

 

Kein Zweifel, auch ohne Modi und seine BJP wäre Indien ein zutiefst gespaltenes Land. Die Kongress-Partei etablierte eine Kleptokratie, in der Neureiche, aber auch die aus der Feudalzeit übriggebliebenen Maharadschas und Nabobs den Staat und das Volk ausplünderten. Zwar gelang es vor allem in den südlichen Bundesstaaten Kerala und Karnataka, hervorragende Hochschulen zu installieren, doch die Ingenieure aus Cochin verdienten ihr Geld in den arabischen Emiraten und die legendären Programmierer von Bangalore arbeiteten in den USA, ihr Know-how und ihre Kreativität kamen nie dem eigenen Volk zugute.

 

Indira Gandhi regierte jahrelang mit diktatorischen Vollmachten, Nehru und Shastri führten Kriege gegen Pakistan und China, unter der Kongress-Partei blühten Korruption und Ämterschacherei. Für die Kleinpächter auf dem Land, die Unberührbaren in den Städten und die rechtlosen Frauen blieb fast alles wie in der Kolonialzeit. Die Menschen konnten nicht lesen und schreiben, waren als Diener, Kulis und Knechte vom Wohlwollen ihrer Brotgeber abhängig, zugleich aber baute Indien die Atombombe und befand sich seitdem permanent am Rande eines nuklearen Konflikts mit dem unappetitlichen Regime in Pakistan. Politische Gegner, ob militante maoistische Naxaliten, verzweifelte Dorfbewohner in Assam oder intellektuelle Korruptionskritiker, wurden von Sicherheitskräften erschossen oder verschwanden in Foltergefängnissen. 

 

Das archaische Kastensystem hat weiter Bestand und ist wesentlich auch heute noch entscheidender für die Lebensführung und die Chancen als die Gesetze des Staates. Im Rahmen der Seelenwanderung wird man nolens volens in einen bestimmten, unabänderlichen Status hineingeboren, einen Arbeitsvertrag hingegen bekommt man nur in den seltensten Fällen – schlechtes Karma halt.

 

Dieser Sumpf, den die Kongress-Partei hinterließ, ist nun der ideale Nährboden für die Demagogen der BJP. Modi senkt die Steuern, und alles jubelt. Tatsächlich profitieren von dieser Maßnahme die Unternehmer, denn das Volk sieht sich zum großen Teil gar nicht in der Lage, Steuern zu zahlen. Dass der Premier in bestem monetaristischem Sinne Sozialleistungen gekürzt hat, werden nur die wenigen bemerken, zu denen die staatlichen Almosen überhaupt durchsickerten. Dass Modi den Kaschmir-Konflikt schürt und Luftangriffe auf Terroristen-Camps in Pakistan durchführen lässt, goutieren – ungeachtet der Gefahr eines Atomkriegs – die meisten Hindus, seien sie nun wohlhabend oder mittellos.

 

Dass der Verstand ins Koma fällt, wenn religiöse Hysterie die Oberhand gewinnt, ist nicht auf Indien beschränkt, nimmt dort aber besonders bizarre Formen an. In Karnataka erlebte ich selbst, wie der klassische und kaum jemals verifizierte Vorwurf, Moslems hätten ein heiliges Rind geschlachtet, Straßenunruhen und Streiks auslöste. Die BJP nutzte solche Schaudermärchen stets zu ihren Gunsten aus, aber jetzt präsentiert sich Modi als entschlossener Krisenmanager, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden bei einem recht- und heimatlosen Prekariat, das sich größtenteils aus seinen Glaubensgenossen rekrutiert. Der verarmte Hindu-Mob, den er instrumentalisierte, um an die Macht zu kommen, fällt nun inhumanen und absurden Hygienedekreten zum Opfer. 

 

Wenn Covid-19 zu irgendwelchen außer-medizinischen Erkenntnissen führen sollte, dann vor allem zu der Einsicht, dass die Methodik und die propagandistische Ausschlachtung der Seuchenbekämpfung die (in)humanen Intentionen der Verantwortlichen verraten.

     

Es wird Zeit, sich den Mann in Neu Delhi, der dem Westen derzeit als pflegeleichter Verbündeter gilt, näher anzuschauen. Im Schatten von rechten Hasardeuren wie Bolsonaro, Duterte oder Erdoğan hat der vergleichsweise mächtigere Modi, de facto Herr über ein Schwellenland mit fast 1,4 Milliarden Einwohnern sowie eine Atomstreitmacht, einen politischen und sozialen Kurs eingeschlagen, der dem Vielvölkerstaat eine atomare Auseinandersetzung, einen Bürgerkrieg oder gar einen Genozid bescheren kann, der die Armen ärmer und hungriger macht, gleichzeitig aber die Allmacht der Reichen als gottgewollt absichert. Zumindest letzteres widerspricht ja nicht unbedingt den Interessen unserer offiziellen Politik im Westen... 

04/2020 

  



Unser täglich ALDI

 

Wenn runder Geburts- oder Todesjahre illustrer Persönlichkeiten, vor allem solcher von Künstlern oder Politikern, gedacht wird, sind die Jubilare meist schon vor geraumer Zeit verblichen. So erinnert etwa die Stadt Bonn derzeit feierlich an ihren berühmtesten Sohn, Ludwig van Beethoven, der vor 250 Jahren die ersten Dissonanzen seines Lebens hören durfte, während die wenigen US-Amerikaner, für die Geschichte nicht erst mit Donald Trump beginnt, in diesem April den 75. Todestages von Franklin D. Roosevelt memorieren werden. Eher ungewöhnlich ist, dass bereits sechs Jahre nach dem Ableben der posthume Hundertste eines Einzelhändlers der Deutschen Welle (DW) den Anlass zu einer ausführlichen Reflexion liefert. Aber immerhin handelte es sich um Karl Hans Albrecht, den älteren der beiden ALDI-Brüder, der 2014 als damals reichster Mann Deutschlands starb. Der Discounter-König, dem der SPIEGEL die Aldisierung der Gesellschaft zuschrieb, hat tatsächlich das kollektive Bewusstsein und Verhalten hierzulande beeinflusst wie wenige andere.

 

Die großen Gleichmacher?

 

Bereits 1913 wurde ALDI (Kürzel Albrecht Diskont) gegründet, und 107 Jahre später erwirtschaften die beiden noch heute unter diesem Namen firmierenden Unternehmensgruppen zusammen einen höheren Umsatz als alle anderen Einzelhandelskonzerne hierzulande. Der signifikante Aufstieg zu den Lieblingsversorgern des deutschen Konsumenten begann erst 1961, als die Gebrüder Albrecht ihr Unternehmen in ALDI Süd (Karl) und ALDI Nord (Theo) aufspalteten. Die Philosophie und das Marketing-Konzept der beiden Chefs blieben praktisch identisch, nur wirkten Angebot und Präsentation von ALDI Nord noch spartanischer als die Pendants in den Filialen von Karls Süd-Kette.

 

Die Idee hinter ALDI war damals neu; sie ging nicht – wie sonst so oft in dieser Branche – auf angelsächsische Vorbilder zurück, schien (anfangs) demokratisch, ja sehr sozial, weil in den Läden alle willkommen waren und sich fast jeder Kunde einen Einkauf leisten konnte. In der Tat waren die ALDI-Filialen Oasen für die weniger Betuchten. Und wer heute behauptet, sich vor Jahrzehnten nie als Student oder Lehrling das Lebensnotwendige dort oder bei den bald danach entstehenden Discount-Epigonen zusammengekauft zu haben, schwindelt oder muss Kind reicher Eltern gewesen sein. Nicht ohne Grund heißt es, dass ein entwickeltes kapitalistisches System für die leibliche Reproduktion seiner Untertanen sorgen muss, denn es braucht wohlgenährte, wenn auch nicht unbedingt mündige Arbeitskräfte und Kunden für seinen Fortbestand. Offenbar lässt sich das durch die Schnäppchen-Doktrin regeln.

 

Nun waren die Albrecht-Brüder außerhalb ihrer Marktdomäne weder ökonomische Vordenker noch wirtschaftsliberale Philosophen, sie hatten nur schlicht erkannt, dass die Konkurrenz durch die eigene Konzentration auf das Wesentliche, nämlich  ein begrenztes Sortiment von Waren in riesigen Mengen zu moderaten Preisen loszuschlagen, abgehängt werden konnte. Sie erzogen viele Deutsche, die noch die schlechten Kriegs- und Nachkriegsjahre in lebhafter Erinnerung hatten, dazu, nicht mehr auf die Marke oder die (vermeintliche) Qualität zu achten, sondern ausschließlich auf den Kassenbon – ein Verhalten, das die Kunden auch dann nicht mehr ablegten, als sie sich mehr und Besseres leisten konnten.

 

Ernährung und Verführung der Massen

 

Allein mit dem Verramschen namenloser Dutzendware hätte Karl Albrecht bis zu seinem Tod wohl schwerlich die mehr als 18 Milliarden Euro zusammenraffen können. Als er erkannte, dass einerseits andere Lebensmittel-Discounter wie Lidl sein Konzept nachahmten, andererseits die Vollsortimenter wie Edeka oder REWE nun auch Produkte zu Kampfpreisen verkauften, erweiterte er das Angebot seiner Süd-Kette und führte nun auch Markenartikel. Und tatsächlich entdeckte der Mittelstand, dass Geiz chic ist und preiswerte Weine im einst als Unterschicht-Basar verspotteten ALDI um die Ecke ganz passabel munden konnten.

 

Beide ALDI-Besitzer scheuten die Öffentlichkeit und galten als penibel und höchst sparsam. Sie setzten dem Halbwelt-Image russischer Oligarchen mit ihrer Glamour-Entourage, der lautstarken Hybris klassischer US-Milliardäre wie Trump oder Bloomberg und den digitalen Allmachtphantasien der Egomanen aus dem Silicon-Valley ein Modell der Markteroberung entgegen, das durch harte, sorgfältige Planung, akribische Detail-Tüftelei und geradlinige Rücksichtslosigkeit gekennzeichnet war – unternehmerische Wertarbeit made in Germany halt.

 

Wert, nämlich materiellen, hatte diese Tätigkeit allerdings vor allem für die ALDI-Eigentümer. Kleine Firmen, die ihre gesamte Produktion an den Vorgaben des Discounters ausrichteten und dann darum bangen mussten, vom Allmächtigen Albrecht weiter Aufträge zu bekommen, erfuhren bald, dass nur das Auspressen von „Partnern“ Milliarden generiert. „Aldisierung heißt auch Druck auf Zulieferer, gelegentlich aufflackernde Skandale um Ausbeutung in der Dritten Welt, Argwohn gegenüber Gewerkschaften und Glaube an die unbedingte Überlegenheit schierer Marktmacht in allen Lebensbereichen“, schrieb der SPIEGEL. Dass der Konzern den Bananenpflanzern in Ecuador und Kolumbien nur noch sieben statt acht Dollar pro Kiste zahlt, gefährdet zwar die Existenz der dortigen Bauern, ist aber für die hiesige Profitmaximierung unabdingbar. In Lateinamerika fand man eine Bezeichnung für die rigorose Lohn- und Preispolitik der Albrechts: The ALDI price.

 

Bei ALDI muss man schnell arbeiten, wird aber nicht reich – zumindest wenn man zum Filial-Fußvolk zählt. Die Rentabilität eines Ladens wird laut DW-Recherche errechnet, indem der Monatsumsatz durch die Mitarbeiterstunden geteilt wird. In manchen ALDI-Märkten schlagen bis zu tausend Euro pro Arbeitsstunde zu Buche. Wenn ein annähernder Betrag nicht zustande kommt, müssen halt weniger Leute schneller arbeiten – oder der um seinen Job fürchtende Mitarbeiter schreibt seine Überstunden nicht mehr auf. Zwar kalkulieren die anderen Einzelhandelskonzerne mittlerweile ähnlich, aber Lehrmeister waren auch hier die Albrecht-Brüder, sowohl auf dem Personalsektor als auch im Fachbereich Kundenmanipulation.

 

Denn die Konsumenten, die anfangs wirklich froh waren, billig einkaufen zu können, wurden bald in einen Schnäppchensog gezogen, in dem Nachhaltigkeit, sinnvolle und gesunde Ernährung, korrekte Information oder vernünftige Entscheidungshilfen keine Rolle spielten. An unentbehrlichen Grundnahrungsmitteln, fair gehandelten Waren oder tiergerecht produziertem Fleisch wird nämlich nur ein Bruchteil des Gesamterlöses verdient. Entscheidend ist, dass der Konsument auch das Überflüssige, das Ungesunde und die diversen Suchtmittel mitnimmt.

    

Bedarf und Scheinbedürfnis

 

Fast jeder Mensch gönnt sich täglich die kleine unvernünftige Extravaganz, handle es sich um die zahnzerstörende Schokolade, die dickmachende Mettwurst, das leberschädliche Bier oder den plastikkontaminierten Früchtejoghurt mit ausschließlich künstlichen Aromen. Wenn man kein fanatischer Asket oder überzeugter Veganer ist, gehört es zum normalen Leben auch eines sich ansonsten relativ gesund ernährenden Bürgers, jeden Tag eine Portion Dreck zu essen und ein Glas Gift zu trinken. Davon aber führen die ALDI-Filialen ein überreichliches Angebot. Und nicht genug damit: Die Kunden werden mittels geschickter Platzierung, gezielter Preisgestaltung und attraktiver Werbung so weit konditioniert, dass sie für ein spontanes Bedürfnis halten, was ihnen am meisten schadet: süße Liköre, kalorienreiche Fertiggerichte, geschmacksverstärktes Formfleisch, vitaminloses Dosengemüse unter vielem anderen.

 

Dieses Anfixen von Kunden ist natürlich nicht auf dem Mist der Albrechts gewachsen. Europäische Verhaltensforscher, US-Behavioristen und skrupellose Lebensmittelchemiker haben seit dem Eintritt von Coca Cola in die Weltgeschichte daran gearbeitet, bei Konsumenten Süchte zu wecken und zu pflegen. Und ALDI ist nur eine unter vielen Ketten, die Ständer mit minderwertigem Zuckerzeug als Barrieren so in den Laufweg oder vor die Kasse stellen, dass am Handy hängende Mütter gar nicht anders können, als ihre vor Sehnsucht quengelnden Kleinkinder durch rasche Bedürfnisbefriedigung ruhigzustellen. Aber in Deutschland haben die Albrecht-Ketten die Lockmechanismen am besten adaptiert und exportieren nun ihr perfektes Verkaufssystem in die USA, nach China und Australien.

 

Karl und Theo Albrecht waren in der Tat die versorgungstechnischen Lehrmeister der Nation in Sachen Ernährung und Befriedigung sekundärer Wünsche – mehr als 4000 ALDI-Filialen allein in Deutschland können nicht irren.  Auch nach dem Tod der Brüder wirkt ihr Credo, demzufolge jede/r alles kaufen sollte, wenn es nur billig genug ist, weiter. Da können weltfremde AgrarministerInnen, moralisierende Grüne oder empörte Bauern (deren Verbandsführer, meist Großbauern, oft ebenfalls „aldisiert“ denken) noch so zetern, das Fleisch vom wildlaufenden Schwein und die Milch von der frei weidenden Kuh sind nicht konkurrenzfähig, sonst lägen sie im Schnäppchenregal. 

03/2020 

 

  



Björn und die Doofen

 

Der Begriff „Held“ ist durchaus ambivalent zu verstehen. So zählen auch in unserer Rubrik nicht nur siegreiche, kraftstrotzende Kämpfer und Wohltäter der Menschheit  zu dieser Spezies, sondern auch Figuren, die erst ins Rampenlicht gestoßen werden mussten, die hineinstolperten oder den Heroismus eher unfreiwillig karikierten. Etwas aber mussten sie öffentlich bewirkt haben, selbst wenn es sich um Falsches, Dummes oder Übles handelte. Insofern ist Björn Höcke tatsächlich ein Held unserer Zeit, ein Rosstäuscher, der, assistiert von CDU- und FDP-Politikern, welche auf ihn hereinfielen oder ihre kleinbürgerlichen Machtgelüste mit seiner Hilfe ausleben wollten, die Heuchelei der konservativen Parteien entlarvte, ihre Demokratie- und Toleranzmantras als Lippenbekenntnisse bloßstellte und ihr Personal in einen heillosen Bruder- und Schwesterkrieg trieb. 

 

Ein Heros mit fiesen Tricks

 

An negativen Helden herrscht kein Mangel in der deutschen Militär- und Geistesgeschichte. Erwähnt seien beispielhaft der General Paul von Lettow-Vorbeck, der im ersten Weltkrieg einen völlig sinnlosen Feldzug gegen die englische Armee in Südostafrika führte und dabei durch seine Taktik der verbrannen Erde Zehntausende der indigenen Bauern dem Hungertod auslieferte, oder Hagen von Tronje, der Meuchelmörder im Nibelungenlied, der aufgrund des Kadavergehorsams gegenüber seinem König noch den Nazis als Urbild deutscher Mannestreue galt. Und da sind wir nicht mehr so weit weg von Höcke, dem AfD-Führer von Thüringen, dessen Gruppierung Der Flügel sogar seiner eigenen rechtsradikalen Partei als so extrem erschien, dass sie ihn vor drei Jahren (vergeblich) loswerden wollte.

 

Damals setzte sich Höcke durch, gewann an Einfluss innerhalb der Bundes-AfD, wird heute „in der Mitte der Partei“ (Gauland) gesehen und hat seinen Landesverband zu einer entschlossenen Sturmtruppe formiert. Um aber die Gegner, die rechtsbürgerlichen Politiker, die ihm zunehmend erfolglos das Reservoir der Hasswähler streitig zu machen suchten, vorzuführen, genügten ihm die tumben teutonischen Heroen nicht, und er wählte einen listigen Griechen (immerhin Arier) zum Vorbild: Odysseus war trotz der Homer`schen Elogen ein heimtückischer Sack, der, weil er das Spiel nicht mit fairen Mitteln gewinnen konnte, den Trojanern ein Friedens- und Abschiedsgeschenk machte, das eine ganze Kultur zerstörte. Es zeugt von der löchrigen Halbbildung der Net-Designer, dass sie die Kampfbazillen, die fremde Kreationen zerstören, Trojaner nennen, und nicht Hellenen oder Danaer.

 

Björn Höcke setzte also auf die Eitelkeit eines FDP-Kleingeists, schenkte ihm die Landtagsstimmen seiner AfD-Gefolgsleute und machte ihn – Arm in Arm mit der CDU-Fraktion – zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten. Der Kater am nächsten Morgen war in den beiden etablierten Parteien groß. Köpfe rollt en, Entsetzen wurde geäußert, und in Merkels Christenverein hub ein Abgrenzungstremolo an, das die eigentlich essentielle Frage übertönte, warum gerade jetzt jene Rechtsaußen der Werte-Union, die immer schon mit dem rechtsextremen Schmuddelclub geliebäugelt hatten, und jener Neoliberale namens Merz, der als Ghostwriter des Wirtschaftsprogramms der AfD hätte durchgehen können, an Einfluss gewannen.

  

Eifrig diskutiert wurde in den Parteigremien und in den Kommentarspalten der Edelpresse, wie die staatstragenden Fraktionen auf den fiesen, aber durchsichtigen Trick Höckes hatten hereinfallen können. Gefragt wurde, wie das verlorengegangene Vertrauen wieder herzustellen sei. Verschwiegen wurde, dass es erhebliche inhaltliche Schnittmengen von Union, FDP und AfD gibt. 

  

Ein bisschen Macht und null Charakter

 

Gewiss, der Fünf-Prozent-Ministerpräsident Thomas Kemmerich ist ein eher kleines Licht unter den maßgeblichen Armleuchtern im Parteienspektrum – und das selbst im an sich bereits bescheidenen Maßstab der FDP. Ein Mann aus der zweiten Reihe wollte einmal in seinem Leben alle Spotlights auf sich gerichtet sehen, und ihm war ziemlich egal, dass er dafür mit Gestalten, denen gerichtlich das Siegel Faschist zugebilligt worden war, paktieren musste. Es ist allerdings auch für die bundesweite FDP und ihre nassforschen Aushängeschilder bezeichnend, dass Inhalte und Faktenchecks hinter Image-Ballons und markige Hohlphrasen zurücktreten müssen. Diese Partei steht für nichts, von Liebesdiensten für die Wirtschaft und Karriereversprechungen mal abgesehen. 

 

Prompt fiel auch Bundeschef Christian Lindner (Wahlslogan: „Bedenken second“) auf Höckes Finte herein. Die Befindlichkeit von Antifaschisten, Humanisten,  jüdischen Bürgern oder Migranten in Thüringen zählt für den zunehmend flügellahm werdenden Jungstar des Polit-Entertainments zu den Lappalien.

 

In der CDU hatte es schon vor der Wahl zum Erfurter Landtag eine starke Gruppe von strikt rechten Mandatsträgern und Vordenkern gegeben, die ihre dezent eingefärbten Schafspelze liebend gern für eine Rudelbildung mit den Wölfen der AfD verhökert hätten. Stellvertretend sei der CDU-Berater Karl-Eckard Hahn genannt, der am Wahlprogramm der Partei mitgeschrieben hat, sich aber als Mitglied der rechtsradikalen Akademikerverbindung „Deutsche Gildenschaft“ häufig mit AfD-Bundesbrüdern traf. 

 

Welche Rolle ihr Fraktionsvorsitzender  Mike Mohring kurz vor und nach der Wahl Kemmerichs gespielt hat, ist noch nicht ganz geklärt. Allerdings bleiben nur drei realistische Möglichkeiten der Deutung: Entweder ist Mohring leicht beschränkt und wurde deshalb von der AfD düpiert; oder er wollte spontan ein Spielchen mit ungewissem Ausgang riskieren, um einen billigen Triumph über die Gegenseite zu erringen; oder aber Mohring war von Anfang an in einen eiskalten parlamentarischen Putsch involviert. Wie dem auch sei, neben Björn Höcke hat sich auch Mike Mohring um die Demontage der CDU-Bundesvorsitzenden AKK verdient gemacht.

 

 Die AfD, intern aber vor allem der Flügel, darf sich als Siegerin in einer Schlammschlacht, in der sie den Kontrahenten die Regeln aufgezwungen hat, fühlen. Björn Höcke und sein Mentor, der Rechtsextremist Götz Kubitschek, haben zumindest für den Augenblick ihr Ziel erreicht und die kulturelle Hegemonie errungen. Außerhalb der eigenen Szene kennen sie nur Feinde, die mit schrillen Shitstorms und mit Scheinargumenten, welche aber bei den misstrauischen Verlierern des Ostens und den Deutschnationalen des Westens gut ankommen, mundtot zu machen sind. Empathie und soziale Verantwortung haben im von ihnen propagierten Naturrecht des Stärkeren nichts zu suchen, und Ihre Methoden entbehren der historischen Reflexion. Man kann einen Höcke nicht mit den Nazigrößen gleichsetzen – er hat weder einen Krieg begonnen noch Juden umgebracht -, aber brachiale Propaganda, Verleumdung und Unwahrheiten setzt er so perfide ein, als seien jene seine Lehrmeister gewesen.

    

Empörung an der Oberfläche

 

Was den Umgang mit der AfD für manche Politiker in der Union und der FDP, die wirklich nichts mit ihr zu tun haben wollen (und sei es nur, weil sie die Konkurrenz fürchten), so schwer macht, ist die eigene Vergangenheit. Haben nicht die Seehofers, Söders, Spahns und Lindners einst selbst vor der begrifflich entmenschten Flüchtlingswelle gewarnt, den starken Staat gefordert, die Sicherheit des anständigen Bürgers vor messerschwingenden Subjekten dunklerer Hautfarbe versprochen und sich damit auf die argumentative Ebene der Rechtspopulisten begeben? Und heute wundern sich CDU und CSU, die einst selbst im Revier der erklärten Rassisten wilderten, dass die eigenen Parteien von der AfD mittels der WerteUnion eines Hans-Georg Maaßen unterwandert wird.

 

Unterscheiden sich denn die gesellschaftlichen Ansätze der attackierten Parteien, die sich selbst als Mitte der Gesellschaft definieren, so grundsätzlich von denen der Angreifer? Wir dürfen nicht vergessen, dass die AfD einst als wirtschaftsliberale Partei gegründet wurde. Und auch heute noch ähneln die ökonomischen Vorstellungen der Ultra-Rechten in weiten Teilen der Idolisierung des sogenannten freien Marktes durch die FDP. Die AfD, selbsternannte Partei der kleinen Leute, will am System für reiche Leute nichts ändern, es im Gegenteil noch stärken. Die Rentenversicherung soll privatisiert werden, die Arbeitslosenversicherung desgleichen, und das Bankengeheimnis würde zur uneinnehmbaren Festung gegen kleinliche Recherchen ausgebaut. Von den Steuerplänen der FDP hat die AfD den Stufentarif abgekupfertder laut Bund der Steuerzahler Reiche begünstigen, den Staat aber 20 Milliarden jährlich kosten würde. In einem solchen Modell könnten Lindners Liberale und große Teile der Union eigene Positionen wiederfinden. Derartige Intentionen verfestigen das sozialdarwinistische Szenario des ständigen Wettbewerbs (mit uneinholbarem Vorsprung für die ökonomische Elite) und des Survival of the Fittest, das dem Kapitalismus die ideologische Basis geliefert, aber auch als Rechtfertigung für die nationalsozialistischen Selektionsexzesse gedient hat.

 

Auch in der Außen- und Wehrpolitik sind die rechtsbürgerlichen Parteien und die AfD gar nicht so weit auseinander.  Die Rechtspopulisten lehnen die derzeitigen Auslandeinsätze ab (was zunächst vernünftig wirkt), konterkarieren dies aber in ihrem „Militärprogramm“, wo sie nicht nur das Recht auf deutsche „Teilhabe“ an der nuklearen Rüstung postulieren, sondern auch fordern, die Bundeswehr habe „Aufgaben im Ausland … an jedem Ort der Erde wahrzunehmen“, und zwar nach eigenem Gutdünken, nämlich „gegen den Willen anderer Staaten“. Solche Großmannsucht findet sich auch in der Union, doch bescheidet man sich dort noch mit Waffenlieferungen oder ausgewählten Interventionen nach dubiosen Absprachen.

 

Es existieren nicht wenige Berührungspunkte zwischen den „seriösen“ Konservativen und den sich ein wenig rüpelhaft benehmenden Rechtsextremen, und in die neoliberalen Wurzeln teilen sich ohnehin beide Gruppen. Diese diskret verschwiegene Verwandtschaft dürfte auch der Grund dafür sein, dass Parteisprecher und Journalisten sich scheuen, inhaltliche Schlüsse aus Höckes Streich zu ziehen. Sie müssten zugeben, wie weit sich die AfD bereits in die ominöse  Mitte der Gesellschaft und des Parteienspektrums geschlichen hat, wie bereitwillig sich „bürgerliche“ Politiker zu Handlangern der Ultra-Nationalisten machen lassen, um ein Stückchen persönlicher Macht zu bewahren oder zu erlangen. Dann müsste man auch darüber reden, dass ein Wähleranteil von über 30 Prozent in manchen Regionen bedeutet, dass das latente Potential an Chauvinisten, Geschichtsrevisionisten und Militaristen weitaus größer sein muss, was dadurch verborgen bleibt, dass sich viele klammheimliche Sympathisanten – noch – in den sogenannten anständigen Parteien verbergen.

 

Und so wird über subjektive Fehleinschätzungen, persönliche Irrtümer, Peinlichkeiten oder Karriere-Scharmützel geredet und geschrieben, und dabei außer Acht gelassen, dass Höckes Influencer die Union sturmreif für die Übernahme durch einen erzreaktionären Propagandisten der Systemperfektionierung geschossen haben. Als deutscher Ex-Statthalter von BlackRock, der weltweit größten Finanzmacht also, weiß Friedrich Merz, wie die Privilegien von Eliten zu verteidigen und auszubauen sind.

02/2020 

Dazu auch:

Bürger zu den Waffen und Wo bitte ist die Mitte? im Archiv von Medien (2019)

Die dümmsten Kälber im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2018)  

 

 

 


 


Peers teures Erbe

 

Es ist an der Zeit, einen großen deutschen Politiker und Wirtschaftslenker für ein paar Zeilen aus der wohlverdienten Versenkung hervorzuholen: Peer Steinbrück, einst Wirtschaftsminister und SPD-Kanzlerkandidat, war der letzte Recke einer noblen Gilde, die es bereits unter seinen Ziehvätern Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zu ihrem Anliegen gemacht hatte, die deutsche Sozialdemokratie von ihrem Faible für Kapitalismus light zu befreien und für den zeitgemäßen Kapitalismus unchained  zu begeistern, was allerdings von vielen Sozialromantikern im Wahlvolk nicht goutiert wurde. Heute tingelt Steinbrück als hochbezahlter Festredner über die Seminare der Finanz-Hautevolee und als bescheiden begabter Kabarettist über die Kleinkunstbühnen. Dass er einst als Minister ein Gesetz zuließ, das Finanzjongleuren und Bankern die Taschen füllen und die Steuerzahler Milliarden kosten sollte, gehört dem Vernehmen nach nicht zu den Sujets seiner Auftritte. 

 

Wir schreiben uns ein Gesetz

 

Bevor Peer Steinbrück 2005 sein Amt als Bundesfinanzminister der ersten GroKo unter Kanzlerin Angela Merkel antrat, wollte er in den Koalitionsverhandlungen schon einmal deutlich machen, welche Klientel ihm besonders am Herzen lag. Nachdrücklich setzte er sich für die Deregulierung der Finanzmärkte ein – ein Glaubensbekenntnis, dessen Konsequenzen uns spätestens während der „Bankenrettung“ durch den Staat bewusst werden sollten. Die durch die Berufung Steinbrücks an die Spitze des Ressorts hoffnungsfroh gestimmten Bankiers, Investoren und Börsenmakler legten denn auch sogleich entfesselt los.

 

Seit 2003 hatten sie nach einer Möglichkeit gesucht, einen gemeinsam ausbaldowerten Trick, mit dem sich der Fiskus nicht etwa nur umgehen, sondern sogar zur Geldquelle umgestalten ließ, zu legalisieren. Der Bundesverband deutscher Banken schickte Steinbrücks Ministerium einen in seinem Auftrag verfassten „ersten Entwurf eines steuergesetzlichen Formulierungsvorschlags“, der einen Teil des Paragraphen 20 (Kapitalvermögen) in folgende Worte goss:

 

"Zu den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören [...] Einnahmen, die an der Stelle der Bezüge im Sinne der Nummer 1 von einem anderen als dem Anteilseigner nach Absatz 2a bezogen werden, wenn dieser die Anteile mit Dividendenberechtigung erworben aber ohne Dividende erhalten hat."

 

Der unklaren Rede listiger Sinn (vereinfacht): Wenn jemand Aktien, die er noch gar nicht bezahlt hat, vor der Dividendenausschüttung (Cum) an andere über Landesgrenzen hinweg weiterverkauft, muss er Kapitalertragssteuer zahlen, die er aber vom Staat zurückerstattet bekommt. Die Aktien gehören in diesem Zeitraum zwei oder mehreren Eignern. Die Käufer erhalten die Aktien nach der Dividendenzahlung (Ex) und verlangen nun vom Finanzamt ebenfalls die Steuerrückerstattung, obwohl sie keinen Euro Ertragstaxe gezahlt haben.

 

Der größte Steuerbetrug der BRD

 

Null verstanden? Macht nichts, derartige Spitzfindigkeiten sind auch nicht für unsereins erdacht.  In der Welt der Hochfinanz aber funktionierten sie und sollten den deutschen Fiskus und somit die Bürger mehr als zehn Milliarden Euro kosten. Was später als Cum/Ex-Skandal bekannt wurde und als der „größte Steuerbetrug der Bundesrepublik“ (abgeordnetenwatch) gilt, harrte aber erst der Legalisierung durch einen tatkräftigen Finanzminister, und 2007 war es dann so weit. Steinbrücks Ressort übernahm den Entwurf der Banken- und Beraterlobby fast wortwörtlich in das Steuergesetz, worauf die „deregulierte“ Abzocke begann.

 

Übrigens schrieben die Ministerialbeamten auch die rechtliche Begründung aus einer Vorlage der Bankenlobby von 2002 ab; aber nicht hundertprozentig: In dem rabulistischen Text, der ausführt, warum eine Aktie Käufern und Verkäufern gleichzeitig gehören kann (um sich einmal Gezahltes mehrfach zurückerstatten zu lassen), änderten Steinbrücks Staatsdiener energisch einen Buchstaben („Leerverkaufes“ musste von nun an ohne letztes „e“ auskommen).

 

Woher wissen wir das alles so genau? Schon frühzeitig hatten zwei Landesministerien vor der Neuregelung gewarnt. Als Steinbrück längst eine Fußnote der Geschichte war, das muntere Abgreifen aber weiterging, weil Nachfolger Schäuble alles laufen ließ, obwohl er informiert war, schlug eine  Mitarbeiterin des Steuerzentralamts in Bonn Alarm, recherchierten TV-Sender und Printmedien. Die minutiöse Kenntnis des in seiner kriminellen Raffinesse kaum zu überbietenden Vorgangs aber verdanken wir der NGO abgeordnetenwatch, die das Material des vom Bundestag eingesetzten Untersuchungsausschusses akribisch auswertete.

 

Bereits im Oktober 2005 hatte das NRW-Finanzministerium in Düsseldorf die Kollegen vom Bundesressort darauf aufmerksam gemacht, dass eine betrügerische Methode zu einem Bestandteil geltenden Rechts hochgejuxt werden sollte: „Mit den komplizierten Regelungen soll offenbar lediglich die bisherige Bankenpraxis (…) legalisiert werden.“ Zwei Monate später wies das Finanzministerium von Schleswig-Holstein die Berliner Beamten darauf hin, dass nach der Banker-Version des Gesetzes „ein höheres Dividendenvolumen bescheinigt und steuerlich berücksichtigt wird, als von der Aktiengesellschaft tatsächlich ausgeschüttet würde“. Mit anderen Worten: Es wird eine höhere Steuer veranschlagt, als die Dividende eigentlich wert ist. Diese „fiktive“ Summe aber bekommen die Dealer vom Staat zurück – und zwar doppelt!

 

Es waren Qualitätsmedien, die den Skandal aufarbeiteten, denn die Politik, allen voran Steinbück-Nachfolger Schäuble, sah zunächst keinen Handlungsbedarf, waren doch großzügige Parteienfinanciers unter den Nutznießern. Die ZEIT und das ARD-Magazin Panorama rollten 2017 die Aufdeckung des Verbrechens nochmals auf, das sechs Jahre früher von der erwähnten Mitarbeiterin des Bundeszentralamts für Steuern in Bonn entdeckt wurde, als ihr  ein Sammelantrag auf Steuerrückerstattungen in verdächtiger Höhe auffiel. Das Recherchezentrum Correctiv stieß zu dem investigativen Team, durchforstete gemeinsam mit Panorama und ZEIT 180.000 Seiten und machte die Cum/Ex-Affäre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Wie genau bis auf Punkt und Komma aber die Finanz-Lobbyisten zu Steinbrücks Zeit den Ministerialbeamten den Gesetzestext diktierten, erfuhr man erst jetzt durch abgeordnetenwatch.

 

Und so etwas soll nicht mehr passieren, die diskrete Kooperation von Steuerbeamten und Steuervermeidern darf künftig nicht mehr ins Licht einer unverständigen Öffentlichkeit gezerrt werden.  Der Bundestag hat am 19.Dezember vorigen Jahres mit den Stimmen von Union, SPD und AfD eine „Bereichsausnahme für Beratungen von Finanzbehörden“ beschlossen. Dies bedeutet, dass Dokumente aus solchen Unterredungen nicht mehr kraft des Informationsfreiheitsgesetzes angefragt werden können.  So werde die „Vertraulichkeit von Sitzungen“  gesichert, erklärte der Sozialdemokrat Jens Zimmermann, als sei es nicht immer schon eher um die Abschottung von Kungeleien gegangen. 

 

Verjährt, vergeben und vergessen

 

Jetzt, dreizehn Jahre nach der Gesetzgebungsfarce, finden Gerichtsprozesse gegen die Beutegeier statt, aber in vielen Fällen weiß man nicht, was überhaupt justiziabel sein kann, wenn doch damals Betrug höchstoffiziell zu Recht wurde und dies bis 2012 blieb. Manch Strafbewehrtes mag auch schon verjährt sein, so wie sich die Regierung bei der Aufklärung Zeit gelassen hat. Inzwischen weiß man auch, dass der langjährige Finanzrichter Arnold Ramackers von der Banker- und Spekulantenbande fürstlich honoriert und in Steinbrücks Ministerium eingeschleust wurde, um dort als Referent die Entscheidungen in der Cum/Ex-Causa maßgeblich zu beeinflussen.

 

Bleibt die Frage: Wusste Peer Steinbrück, welchen finanziellen Schaden sein Ministerium für die Bundesrepublik anrichtete, nahm er dies billigend in Kauf, um seinen Freunden auf dem Finanzmarkt einen lukrativen Gefallen zu tun? Oder war dem obersten Dienstherrn die eigene Behörde entglitten, fehlte es dem arroganten Besserwisser gerade auf seinem Spezialgebiet an Durchblick? War er also unfähig oder doch ein williger Zuarbeiter der pekuniären Jongleurs- und Magierzunft? In letzterem Falle hätte die SPD nach Gerhard Schröder, dem Genossen der Bosse, damals einem Kumpan der Companies ihre politische Zukunft ein Stück weit anvertraut.

 

Ob Schludrigkeit oder Vorsatz – Peer Steinbrück wird nie zur Verantwortung gezogen werden, wie das bei einst führenden Politikern halt so Usus ist. Einsicht, Bedauern oder Reue hat das Alpha-Männchen der kurzatmigen Politökonomie jedenfalls nie gezeigt. Vielleicht hat er sich damals aber auch ins Fäustchen gelacht. Zuletzt jedenfalls trat er mit dem Kabarettisten Florian Schroeder in einer „Satire-Show“ auf und machte sich über (nein, nicht die eigenen Fehler, sondern) die Große Koalition lustig. 

01/2020 

Dazu auch:

Lobbykratie BRD im Archiv von Politik und Abgrund (2013)

Die Steinbrück̓ im Archiv der Rubrik Medien (2013)

  

   

 

  


Ein Boris für die BRD


Die westlichen Partner machen es uns vor, doch Deutschland zockelt hintennach: In etlichen Ländern, zuletzt in Großbritannien, übernehmen schräge Figuren mit enormem Unterhaltungswert, wenigen Inhalten und keinerlei Skrupeln die Regierungsgeschäfte, während hierzulande trotz (vielleicht auch wegen) der AfD der charismatische Populismus noch in von Langweiler*innen ausgelatschten Kinderschuhen steckt. Laut, schrill und bedenkenlos statt scheinheilig, pseudoseriös und hinterrücks lautet die aktuelle internationale Devise.


Betrug mit Glamour


Wie kann es sein, dass Figuren, denen man kein Wort, geschweige denn ein gebrauchtes Auto abnehmen würde, in Ländern, die sich zur „westlichen Wertegemeinschaft“ zählen, von den Medien hochgejuxt und von den Wählern in höchste Ämter gehievt werden? Und warum zeigt sich ausgerechnet in Deutschland, das sich einst als besonders anfällig für desaströsen Populismus und verheerenden Führerkult erwies, kein starker Mann, der in puncto Demagogie, Glamour und Machtwille mit den Showstars in Washington, London oder Rom mithalten kann?


Wenn Verschleierung, geschicktes Ausweichen und Ablenkung noch allein zu den Kardinaltugenden politischer Volkstribunen zählten, wäre mir nicht bange um die hiesige Parteienelite, doch inzwischen sind rabulistische Rechtfertigungen und Unschuldsbeteuerungen mega-out. Es darf auf der großen Bühne coram publico nach Herzenslust gelogen, beleidigt, verleumdet und diskriminiert werden, und an Entschuldigungen oder Richtigstellungen sollten die Akteure nicht einmal denken – solches Geplärre ist nämlich nur etwas für moralisierende Weicheier. Aber: Die Attacke muss mit krimineller Eloquenz und brutalem Charme vorgetragen werden, Fähigkeiten, die den deutschen Politikdarstellern offenbar abgehen.


Wenn ein Minister oder Parteivorsitzender in unserem Land vor die Mikrofone tritt, darf man pedantisch gemurmelte Euphemismen, apathisch klingende Bekundungen guten Willens und gehauchte Gedankenstriche, zwischen denen sich die Wahrheit hinter gefälliger Politur verflüchtigt, erwarten. Beim Verschweigen oder handfesten Lügen ertappt, windet sich so ein Polit-Star routiniert wie ein säumiger Beamter durch Dementis und Relativierungen – in der Hoffnung, dass irgendwann das Grundthema in Vergessenheit gerät. Dabei haben Trump, Johnson oder Salvini (der sich gerade im Wartestand befindet) längst nachgewiesen, dass man seine Fälschungen und Irrtümer verteidigen, wiederholen, ja aufbauschen muss, um Erfolg zu haben.

   

Fake ist die Wahrheit von morgen


Fake-Fakten sind lange genug und in ständig gesteigerter Lautstärke oder immer fetter gedruckt zu wiederholen, damit sie an Plausibilität und Akzeptanz gewinnen. An den investigativen Artikeln, dem pingeligen Diskurs in der besseren bürgerlichen Presse oder den abgehobenen Warnungen von Wissenschaftlern liest sich kein Mensch mehr die Sehkraft kaputt, lässt sich doch die Wahrheit oder das was man dafür hält, aus den einfachen und bunten Bausteinen monomanischer Meinungsmache in den Social Media zusammenbasteln. Wen interessiert der Beweis für eine Behauptung, wenn die Form ins Auge wie ins Ohr sticht und der Inhalt die eigenen Ängste oder Vorurteile bestätigt.


Donald Trump mag Milliardär sein und die US-Konzerne gegen ausländische Konkurrenz, einheimische Umwelt oder die Rechte der nationalen Beschäftigten munitionieren – für seine Anhänger bleibt er der unkonventionelle Außenseiter, der gegen die politische und wirtschaftsaristokratische Elite kämpft. Sein „Klartext“ auf Twitter findet mehr Likes als differenzierte Nachfragen, und wenn er sarkastisch den Klimawandel als Schimäre abtut, alle Gegner der Hexenjagd zeiht oder der halben Welt mit Vergeltung droht, dann kommt das so pointiert und genial verkürzt daher, dass der ohnehin schon lese- und denkfaule Kunde in Sekundenschnelle geistig infiziert wird und das ohnehin bereits schwindende Bewusstsein verliert.


Mit Lügen über die Zahlungen Großbritanniens an die EU und zynischen Scherzen hat auch Boris Johnson reüssiert. In den Labour-Hochburgen Nordenglands haben ihn Arbeiter gewählt, weil der manchen Beobachtern ein wenig infantil erscheinende Absolvent der höchst exklusiven Elite-Bildungsstätten von Eton und Oxford den Kämpfer gegen das Establishment gab und sich dabei so erfrischend grob gebärdete, dass sein menschenverachtender Zynismus als Authentizität goutiert wurde. Wie Trump gibt er nie einen Fehler zu, bleibt grundsätzlich Belege schuldig und diffamiert in bester polemischer Manier. Für viele Briten war seine Tour de Fake offenbar originell und schmissig genug, um ihm die Führung im bröckelnden Königreich anzuvertrauen.


Einmal geäußerter und verbreiteter Unsinn darf nie öffentlich zurückgenommen, korrigiert oder abgeschwächt werden. Nach dieser Devise verfahren Trump, Johnson, Salvini in Italien oder Orbán in Ungarn mit Erfolg. Die wenigsten Bürger in unseren Staaten beschäftigen sich analytisch mit der Vergangenheit; und bis sich die Behauptungen und Vorstellungen der Chef-Populisten als unwahr oder unrealiserbar erweisen, sind sie schon wieder uninteressante Vergangenheit (und der Output neuer Lügen beschlagnahmt die Aufmerksamkeit). Nun sind auch die Deutschen für eine dezidierte Geschichtsvergessenheit bekannt, bleibt also die Frage: Warum gibt es in der drögen Politikerszene hierzulande keinen Boris oder Donald?      

Wo bleibt Germany ̉s next Superpopulist?


Niemand kann ernsthaft behaupten, die Deutschen seien in der Vergangenheit gegen Chauvinismus, Größenwahn und Rassendünkel gefeit gewesen. Und auch heute gibt es hier nicht wenige Figuren, die auf Kundgebungen und vor allem übers Internet entsprechende Stimmungen schürten. Es fehlen bislang aber Propaganda-Superstars, weil möglicherweise das vorhandene Personal nicht so recht überzeugt und die fanatischsten Ideen bei uns (noch) allzu düstere und damit wenig publikumswirksame Assoziationen wecken.


Speisen sich einschlägige "Ideen" doch aus einer trüben Quelle, deren wichtigste Ingredienzien einst mythischer Kitsch à la Tolkien, Untergangsphantasien, Kriegsgeilheit und Ausrottungspraxis waren. Man kann Johnson und Trump vieles vorwerfen, darf ihnen aber keine suizidalen Gewaltträume unterstellen – sie kämpfen dafür, dass die Welt in ausgesuchten Teilen weiter existiert, zumindest bis zu ihrem eigenen Ableben.


An der Spitze der Rechtspopulisten in der Bundesrepublik stehen mit Höcke oder Meuthen Armleuchter, an denen man den Odel und die braunstichige Fellzeichnung vergangener Zeiten unwillkürlich wahrzunehmen vermeint, nicht Showtalente, die nie um publikumswirksame Gags verlegen wären. Ein Trump braucht keine faschistoide Ideologie, ihm genügt eine rücksichtslose Schlagfertigkeit, die ihn zu üblen Gags, die wie aus der Maschinenpistole kommen und der National Rifle Association oder anderen Lobbyisten-Vereinigungen höchst genehm sind, befähigt. 


Und der hölzernen und dumpfen Rhetorik des kürzesten Deutschen Reichs, wie sie heute noch teutonischen Rettern des Abendlandes zur Nachahmung dient, setzt Boris Johnson eine bösartige, in Teilen unmenschliche, zugleich aber amüsante Diktion und die defätistische Nuancierung eines Hardrock-Headbangers entgegen. Das kommt heutzutage an.


Es lebte einst im südlichen Bayern ein Mann, der die Gabe der derben Volkstümelei und das Talent zu kriminellen Machinationen im Übermaß besaß. Etliche Affären pflasterten den Weg des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, der beinahe die Stufen zum Kanzlerthron empor geführt hätte. Mal täuschte FJS die Öffentlichkeit bei seinem Versuch, SPIEGEL-Herausgeber Augstein in den Knast zu bringen, mal kassierte er beim Onkel-Alois-Skandal kräftig ab, dann wieder ließ er Waffen nach Israel schmuggeln. Strauß beschimpfte Andersdenkende als „Ratten und Schmeißfliegen“, bediente die Stammtisch-Klientel perfekt und genoss vor allem in Bayern einen Ruf als schlitzohriger Filou und ausgschamter Hund, als schlauer Machtmensch also. Er beschimpfte, redete übel nach, nahm aber nie etwas zurück und entschuldigte sich bei keinem seiner Opfer. Alle wussten von seinen Leichen im Keller, und doch blieb nie lange etwas an ihm hängen. Das Pech von FJS war seine frühe Geburt. Er war damals seiner Zeit weit voraus und könnte heute in einer Liga mit Johnson, Trump und Salvini spielen.


Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass die Republik im rechten Spektrum, also in den meisten Bundestagsparteien, nur über unterdurchschnittlich begabte und meist farblose Politiker verfügt. Ein Boris J. könnte mit seinen gefährlichen, aber launigen Zuspitzungen und Vereinfachungen die nationalistischen Vorurteile und Humorvorstellungen tumber Massen weitaus stimmungsvoller anheizen als die AfD-Zwerge. Und seine Fans wären dann möglicherweise zu gewichtigeren (Un)Taten fähig als die Pegida-Spinner… 

01/2020 

Dazu auch:

Irrsinn mit Methode im Archiv der Rubrik Medien (2019)

Berserkers Rückhalt im Archiv von Politik und Abgrund (2019)      

 




2019


Aufbruchweltmeister


Obwohl sich die SPD derzeit eher im Abbruchstadium befindet, will sie den Aufbruch wagen – wieder einmal. Auf dem Berliner Parteitag wurde forsch ein neues Sozialstaatskonzept und damit eine an sich erfreuliche Rolle rückwärts angekündigt, hatten die Genossen unter Kanzler Schröder doch das alte weitgehend gekippt. Doch es liegt im Wesen der SPD, dass vollmundige Ankündigungen rasch an Lautstärke verlieren und entschlossene Reformer bald vom Apparat zu Jasagern ohne Ecken und Kanten glattgebügelt werden, und so muss man sich auch bei diesem als Linksruck apostrophierten Neustart fragen: Wohin geht es, und wenn, wie lange?


Im Prinzip dagegen, aber…


„Mehr Demokratie wagen“ forderte vor 50 Jahren Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung. Die Aufbruchsparole seiner sozialdemokratischen Enkel („In die neue Zeit!“) klingt da ein wenig pauschaler und beinhaltet semantisch eine Tautologie. Denn wenn die SPD in eine wie auch immer geartete Zukunft startet, dann ist die Zeit auf jeden Fall neu; ob sie zusätzlich gut wird, steht auf einem anderen Blatt.


Dass die obersten Genossen in ihrem jäh erwachten Heldentum an Don Quijote erinnern, liegt an der Diskrepanz zwischen Worten und Taten, die schon ihre Vorväter auszeichnete. Wie der Ritter von der traurigen Gestalt trabten sie stets in unzureichender Rüstung auf Hindernisse des Systems zu, wichen ab, strauchelten, verirrten sich, verloren den Weg gar so gründlich, dass sich nach manchem Aufbruch unversehens noch hinter dem Ausgangspunkt wiederfanden.


Die Regierung Brandt etwa konnte auf eine ansehnliche Ostpolitik verweisen, während sie ansonsten derart lammfromm den US-Machinationen zusah, dass sie nicht einmal dem Sozialdemokraten Allende in Chile ihre Kenntnisse über den von der CIA geplanten Militärputsch gegen ihn mitteilten. Vor den Mördern des Generals Pinochet flüchtende Genossen mochte man damals in Bonn auch nicht aufnehmen. So viel zum Thema Solidarität und Menschenrechte…


Tatsächlich änderte sich während der fünf Jahre sozialliberaler Koalition unter Brandt gesellschaftlich einiges in der BRD, doch war dies vornehmlich den Aktivisten der 68er Bewegung zu verdanken, die mit ihrem Protest und der Mobilisierung jugendlicher Massen die zaudernde SPD zum Jagen trugen. Dass sich die Arbeiterpartei eine mögliche Änderung der ökonomischen Machtverhältnisse nicht einmal im Ansatz vorstellen wollte, hatte sie schon in der vorangehenden Großen Koalition angedeutet, als Prof. Karl Schiller als Wirtschaftsminister in trauter Zusammenarbeit mit Franz Josef Strauß im Finanzressort die SPD für das ganz große Kapital hoffähig machte.


Unter Helmut Schmidt gelang der Aufbruch nach hinten, gesellschaftspolitisch in die bleierne Zeit der mit den RAF-Morden begründeten Repression kritischen Denkens, militärpolitisch in die Nachrüstung, die mit ein wenig Pech Mitteleuropa wieder zum Kriegsschauplatz hätte machen können. Schmidt, dem Oskar Lafontaine einmal die Sekundärtugenden eines KZ-Wächters attestiert hatte, funktionierte die SPD endgültig zum Dienstleistungszentrum der deutschen Wirtschaft um.


Nach einigen Aufbruchsaspiranten, die bereits in den Startblöcken hängenblieben (Vogel, Engholm, Scharping, Lafontaine) bewies Gerhard Schröder, dass man mit extrem wirtschaftsliberaler Politik die Partei um sich scharen kann. Um regieren zu dürfen und Posten zu behalten, schluckten die Genossen unter heldenhafter Selbstüberwindung unter anderem folgende Kröten: die Einführung von Hartz IV zum Schaden von Arbeitslosen, die „Öffnung“ des Arbeitsmarktes für prekäre und befristete Arbeitsverhältnisse, die Aussetzung der Vermögenssteuer und einen völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz in Serbien.


Wenn sie in der Folgezeit mal gegen Herzensanliegen der Unternehmen aufbegehrten, kehrte sich diese Unbotmäßigkeit binnen Kurzem in vorauseilenden Gehorsam um, etwa als vor sechs Jahren Wirtschaftsminister Gabriel eine Reduzierung der Rüstungsexporte, vor allem in Länder außerhalb der NATO, predigte und anschließend mehr Ausfuhrgenehmigungen in berüchtigte Staaten wie Saudi-Arabien unterschrieb als jeder seiner Vorgänger.


Es ist das Dilemma der Spitzengenossen, dass ihnen niemand mehr die zahllosen Absichtserklärungen abnimmt, hatten sie doch stets lauteren Herzens hehre Prinzipien beschworen und sich dann wieselflink der Macht des Faktischen gebeugt.


Rebellion auf der Spielwiese


Der Berliner Parteitag beschloss eine ganze Reihe sozialpolitischer Maßnahmen, für die man zwar keine geistige Urheberschaft hätte beanspruchen könnte, die aber leichte soziale Verbesserungen brächten, wenn sie denn rigoros umgesetzt würden (was aber so abrupt wohl gar nicht vorgesehen ist). Da wird „perspektivisch“ (d.h. am Horizont) ein Mindestlohn von zwölf Euro postuliert – eine Forderung, die von der Linken und später von den Grünen schon vor geraumer Zeit formuliert wurde (und inzwischen selbst dem VDK zu niedrig erscheint). 


Mit dem brandneuen Aufbruch soll auch Schröder weitgehend ungeschehen gemacht werden: Arbeitslose, die etliche Jahre eingezahlt haben, würden länger Stütze erhalten, die beschämende Hartz IV-Leistung für die Kleinsten wiche einem höheren Kindergeld, und die Vermögenssteuer soll auch wieder erhoben werden; dazu eine wirkliche Stärkung des Mieterschutzes oder eine (schon wieder) „perspektivische“ Überwindung der Schuldenbremse, um die Investitionen in die Infrastruktur nicht wie bisher Privatunternehmen, die alle Gewinne für sich beanspruchen, die Risiken aber auf den Staat abwälzen können, zu überlassen. Zum komplexen Dauerbrenner Klimaschutz ist der Partei gerade mal ein „sozial gerechter und wirksamer CO 2-Preis“ eingefallen.


So etwa sieht also das „neue“ Sozialstaatskonzept der SPD aus. Moment mal! Es ist doch erst zwei Jahre her, da führte die Partei Koalitionsverhandlungen mit der Union. Sahen sich die Genossen damals noch nicht durch die Wähler genötigt, ein wenig am Profil zu feilen, sind ihnen diese Punkte erst jetzt eingefallen, oder waren ihnen die die Inhalte angesichts der Chance, wieder mitregieren zu dürfen, herzlich egal? Heute hört man von Sympathisanten und gewogenen Journalisten immer wieder, die SPD habe doch in der Regierung prima gearbeitet, sie könne dies nur nicht kommunizieren. Es ist eher so, dass Christenunion und Wirtschaft dem „Partner“ enge Grenzen vorgegeben haben, innerhalb er nach sich nach Herzenslust austoben durfte, ohne das neoliberale Gesamtkunstwerk in Frage zu stellen.


Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sind angetreten, um diesen engen Rahmen zu sprengen. Aber kaum haben sie die SPD vom Alptraum der Scholzomat-Herrschaft befreit, sehen sie sich einer unüberwindbaren Barriere gegenüber: Sie werden keine einzige der vagen, aber so akribisch notierten Forderungen durchsetzen können, weil der Koalitionsfeind keine Nachverhandlungen in essentiellen Fragen zulässt. Also müssten sie die SPD eigentlich aus der GroKo herausführen, doch da klappern angesichts der jüngsten Umfrageergebnisse die an satte Diäten gewohnten Zähne. Selbst der Sturmbock der Palastrevoluzzer, Juso-Chef Kevin Kühnert, will sein Trennungsgebot plötzlich nicht mehr ganz so apodiktisch verstanden wissen.

      

Der Unvollendete


In Deutschland gibt es ein schier endloses Heldendrama, das in Schicksalsschwere und Tragik dem Nibelungen-Epos ähnelt. Es handelt vom Aufbruch junger Recken, die nacheinander auszogen, das Establishment in Partei und Gesellschaft das Fürchten zu lehren und dabei ausnahmslos seltsame Wandlungen durchlebten, ehe sie nach Niederlage und Gedächtnisverlust wieder in den Schoß des Systems zurückkehrten. Die einen verschwanden in gnädiger Anonymität, die anderen landeten auf unwichtigen, aber gut dotierten Posten, nur einige wenige, die es gar nicht ernst gemeint hatten mit der radikalen Veränderung, erreichten durch List und Tücke die Spitze. Wir reden über die Juso-Vorsitzenden.


Ein Klaus Uwe Benetter wurde aus der SPD ausgestoßen, weil er von Staatsmonopolistischem Kapitalismus gesprochen hatte. Heute darf jeder Juso den Begriff ungestraft in den Mund nehmen, sofern er keine Konsequenzen daraus zieht, Benetter aber wurde als geläuterter Rechter wieder in die SPD aufgenommen. Eine Andrea Nahles galt als Rebellin, bis man sie kurz Höhenluft an der Parteispitze schnuppern ließ und sie daraufhin zur angepassten, wenn auch glücklosen Allerweltsgöre mutierte. Der Hesse Holger Börner kam aus der anderen Ecke und drohte anfangs den Grünen mit der Dachlatte, ging jedoch – mit typisch sozialdemokratischem Anpassungsgeschick – später in Wiesbaden eine Koalition mit Erzfeind Joschka Fischer ein.


Karsten Voigt und Wolfgang Roth waren Hoffnungsträger der Parteilinken, versanken aber klaglos im Mainstream des amorphen Wahlvereins. King war wieder einmal Gerhard Schröder, aber den hatte man nicht einmal in jungen Jahren für einen Linken gehalten, als er noch den Jusos vorsaß.


Und nun Kevin Kühnert. Einiges, was er zum Zustand der Gesellschaft und seiner Partei gesagt hatte, klang ganz gut. Doch nun muss er sich zufriedengeben mit ein bisschen mehr Mindestlohn irgendwann, mit der Pflichtübung für die Galerie, das unaufschnürbare Klimapaket anreichern zu wollen, mit Hubertus Heil als beharrendem Gegengewicht und mit einer Koalition, die einfach so weitermachen wird wie bisher. Wieder einmal dürften sich die Weichspülmittel der Partei, die noch jeden Rotschimmer sauber ausgewaschen haben, als stärker erweisen als der gute Wille.


Auch die neue Heldenriege scheint bereits begriffen zu haben, dass die Stärke der SPD nie in tatsächlicher Veränderung, sondern stets in der folgenlosen Ankündigung des eigenen Handelns (oder Verhinderns) lag: „Mit uns nicht!“ So klang das eindeutige Verdikt der Genossen – bevor sie der letzten Mehrwertsteuererhöhung zustimmten.  „Ohne uns!“ hieß es, als die Union vor zwei Jahren einen Juniorpartner für die GroKo suchte. „Nie möglich mit der SPD!“ schlossen die Genossen kategorisch die Maut für ausländische PKWs aus. Die Konsequenzen solch heroischen Widerstands sind bekannt.


 „Kampf für die Umwelt und gegen die Erderwärmung!“ lautete die Parole, ehe die SPD-Spitze doch noch komfortable Ausnahmen für den Braunkohle-Tagebau oder die Automobilindustrie kreierte. Und so wird man es auch diesmal nach dem Aufbruchsparteitag wieder bei moralischen Appellen oder hilflosen Drohgebärden belassen und sich am Ende fügen, um nicht baldige Wahlen zu riskieren, nach denen man unter zehn Prozent fallen könnte.


Ganz ohne „ideologisches“ Getöse oder wohlfeile Euphemismen geht da CDU-Wirtschaftsminister Altmaier vor, der sich über die dringenden Empfehlungen der Kohlekommission hinwegsetzt und in seinem Haus ein Kohleausstiegsgesetz formulieren lässt, das die Inbetriebnahme des noch nicht ganz fertiggebauten Steinkohlekraftwerks Datteln 4 für nächsten Sommer vorsieht. Während Kanzlerin Merkel die Vorreiterrolle Deutschlands beim Klimaschutz in aller Welt besingt, soll daheim also eine fossile Energieerzeugung von vorgestern für Profit sorgen – und der SPD-Partner schweigt beschämt dazu.


Während die Union also die Muskeln spielen lässt, bejammern die Sozialdemokraten – auch Esken und Walter-Borjans sind da keine Ausnahme – die miserable Darstellung ihrer Arbeit in der Regierung. Doch manchmal geht es in der Politik nicht um die schönste Präsentation, die vollmundigste Absichtserklärung und die eloquenteste Verteidigung des Status quo. Nicht weil sie ihre „Erfolge“ unter Wert verkauft, wählen viele Leute die SPD nicht mehr, sondern weil sie der Partei keine Glaubwürdigkeit mehr zubilligen und keine substanziellen Änderungen mehr von ihr erwarten. 

12/2019

Dazu auch:

Die frohe Botschaft im Archiv von Politik und Abgrund (2018)        

 

 




Olaf der Schreckliche


Ob ihn die SPD nun nächste Woche zum (geteilten) Parteivorsitzenden kürt oder nicht – es war längst überfällig, Finanzminister Olaf Scholz ein Denkmal in dieser Rubrik zu setzen, denn keiner verkörpert die heutige Sozialdemokratie so punktgenau wie er. Sein holzschnittartiges Antlitz ist das wahre Gesicht eines politischen Wahlvereins im Abstiegsstrudel, und seine Entwicklung steht beispielhaft für die wundersame Reifung eines jungen Gegners des Systems zu dessen treuem Hüter.


Junger Wilder vor der Wahl


Scholz hat einen skandinavischen Vornamen wie der Comic-Held Hägar der Schreckliche, ein ziemlich uneinsichtiger Wikinger, der mit dem Hanseaten den Hang zu tumber Rechthaberei teilt. Beim Finanzminister äußert sich dies etwa im Festhalten an der schwarzen Null zu einer Zeit, da dringendst staatliche Investitionen in die Pflege, den Umweltschutz, die Energiewende oder den öffentlichen Verkehr nötig und die Zinsen bei der dafür erforderlichen Neuverschuldung mikroskopisch gering wären. Stattdessen werden die gesamtgesellschaftlichen Zukunftsprojekte an spekulierende Investoren vergeben, die in Public Private Partnerships strategisch wichtige Autobahnabschnitte, Brücken und demnächst vielleicht Schulen bauen und betreiben dürfen, in der Regel stattliche Rendite dabei erwirtschaften und im Falle von Reparaturen oder Verlusten bequem auf staatliche Mittel zurückgreifen können.


Das ist ein Musterbeispiel für Stamokap (Staatsmonopolistischen Kapitalismus): Der Staat fungiert als Aufreißer, Servicebetrieb und Rückversicherer für die Wirtschaft – herrliche, risikolose Zeiten für Unternehmer, gefährliche, da möglicherweise teure Unwägbarkeiten für die steuerzahlenden Bürger. Es waren die Jusos, die einst den Stamokap-Begriff in die Debatte einführten, und Olaf Scholz war einer von ihnen. Ende der 1980er Jahre forderte er in Artikeln keck „die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie“.


Davon wollte er nichts mehr wissen, als er 1998 in den Bundestag gewählt wurde. Er wandte sich sogleich an seine früheren Feinde aus Juso-Tagen und ließ sich von ihnen, also den Rechten in der Fraktion, fürsorglich beraten. Laut der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) konnte er nun über den „fachlichen und sachlichen Schwachsinn“ seiner früheren Thesen sogar lachen. Wieder war ein Sozialdemokrat als Systemveränderer gesprungen und als Bettvorleger des Kapitals gelandet.


Irgendwie ferngesteuert


Schon 2002 beschrieb die FAS Scholz als „Apparatschik“, der gemäß einem Weggefährten „wie versteinert zuhörte und uns dann in langatmigen Reden die wahre Lehre eintrichtern wollte – ohne ein Lächeln“. Auch heute noch erinnert der Finanzminister in seiner starren Mimik an eine Kasperl-Marionette, nur dass die „wahre Lehre“, die er jetzt verkündet, in weiten Teilen von einem Industrie-Lobbyisten stammen könnte.


In der Zeit wurde Olaf Scholz von dem Redakteur Jan Roß 2003 wegen seiner mechanisch wirkenden Wortwahl als Scholzomat bezeichnet – ein Spitzname, der ihm bis heute blieb und ihm erstaunlicherweise behagt. Er habe die Titulierung als „sehr treffend“ empfunden und sich nie bei Redaktionen darüber beschwert, freute sich Scholz darüber, dass ihm offenbar alles Menschliche fremd ist.


Bereits 2001 bewies Olaf Scholz als damaliger Hamburger Innensenator, dass ihm zumindest die menschliche Unversehrtheit nicht sehr am Herzen liegt. Er führte die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln zur Beweissicherung bei Drogendealern ein. Obwohl die Hamburger Ärztekammer vor erheblichen gesundheitlichen Gefährdungen warnte und Justizsenator Roger Kusch anmerkte, die Implementierung der Zwangsmaßnahme kurz vor den Bürgerschaftswahlen habe „einen Geruch von Unseriösem“ gehabt, hielt Scholz stur an dem schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitssphäre und das körperliche Wohlbefinden fest, auch dann noch, als der Verdächtige Achidi John bei der qualvollen Prozedur starb. Schließlich verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2006 den Brechmitteleinsatz als menschenrechtswidrig.


Olaf Scholz scheint auch über eine – gelinde ausgedrückt – sehr selektive Wahrnehmung zu verfügen. Während nach den Demonstrationen anlässlich des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg 115 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten, 92 davon wegen Körperverletzung im Amt, angestrengt wurden, befand er als damaliger Erster Bürgermeister der Hansestadt lapidar: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“


Schnürer des Klimapäckchens


Ehrensache unter rechten Genossen, dass Scholz auch Schröders Agenda 2010, die sozialen Kahlschlag und Umverteilung von unten nach oben begünstigte, vorbehaltslos unterstützte. Aus dem aufmüpfigen Stamokap-Juso war ein veritabler Freund des Kapitals geworden.


Stolz präsentierte Olaf Scholz als Verhandlungsführer der Sozialdemokraten im Koalitionsausschuss vor zwei Monaten das Klimapaket der Bundesregierung, das zwischen konservativ (SPD) und ganz konservativ (Union) vereinbart worden war. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich das Klimaschutzgesetz jedoch als windiges Wetterpäckchen, in dem sich zwar eine kümmerliche CO 2-Bepreisung fossiler Brennstoffe oder ein paar Subventionen für Häuslebauer eingewickelt fanden, aber Essentials wie ein sofortiger Kohleausstieg fehlten. 


Aufatmen bei der Industrie und Empörung in den Umweltverbänden waren die Folge. Während beinahe alle Wissenschaftler das Ergebnis als nicht ausreichend einstuften und die Ökonomin Claudia Kemfert es gar als „sozial ungerecht“ klassifizierte, verkündete der Vizekanzler in exquisiter Ignoranten-Manier ein dickes Eigenlob: „Was wir vorgelegt haben, ist ein großer Wurf.“


Kein Zweifel, Olaf Scholz ist der würdige Repräsentant einer Partei, die eine kapitalistische Wirtschaftsordnung und einen von Finanzoligarchen dominierten „freien“ Markt mittlerweile für gottgegeben hält. Es hat keiner rechtsextremen Fake-Kampagnen bedurft, um die Glaubwürdigkeit der SPD zu erschüttern, dafür haben die Genossen mit Wort und Tat höchstselbst gesorgt. Wenn man allerdings noch über ein Quäntchen Mitgefühl für geistig Arme verfügt, sollte man es nicht einmal dieser Partei gönnen, einen solch flachen Langweiler wie Olaf den Schrecklichen in einer Führungsposition ertragen zu müssen. 

11/2019

Dazu auch:

Die frohe Botschaft (2018) und Verramschter Verkehr (2015) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund 








Guter Pharma-Onkel


„Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein.“ Diese Worte legte William Shakespeare seinem Dramen-Titelhelden Gaius Julius Caesar, der sich zu Recht von hageren Verrätern umzingelt sah, in den Mund. Angela Merkel dachte ähnlich und beförderte Peter Altmaier vom Kanzleramts- zum Wirtschaftsminister. Der feiste Saarländer mit dem onkelhaften Charme scheint kein Wässerchen trüben zu können. Abgeordnetenwatch entlarvte ihn allerdings jetzt als durchtriebenen Kümmerer. Wenn sein energischer Einsatz auch nicht den Bürgern galt, sondern – wie sein Amt als Konzernfürsprecher es vorsieht – den Wünschen der Lobbyisten und des Großhandels…


Wer schreibt Gesetze für wen?


Dass Lobbyisten den Bundestag fürsorglich belagern, wissen wir seit langem; dass Emissäre aus Konzernen der Pharmabranche oder der Automobilindustrie an Gesetzen und Regierungsentscheidungen mitwirken, wurde spätestens während des Gerangels um den Glyphosat-Einsatz auf hiesigen Feldern und der Verhinderung strengerer EU-Abgasnormen durch Deutschland vermutet; dass aber ein Unternehmen einen Bundesminister dazu bringt, die Pläne eines Kollegen zu durchkreuzen, ist an Chuzpe kaum zu überbieten.


Gesundheitsminister Jens Spahn hatte Ende vergangenen Jahres angekündigt, die „Importförderklausel“, die deutsche Apotheker dazu zwingt, kostengünstigere Medikamente aus dem Ausland zu verkaufen, einzuschränken. Diese Verpflichtung hatte die Krankenkassen finanziell entlasten sollen, zeitigte aber aufgrund des damit verbundenen Verwaltungsaufwands kaum Wirkung. Auch war es zu Skandalen gekommen, als unter den eingeführten Arzneimitteln toxische, verunreinigte bzw. wirkungslose Produkte aus kaum zu kontrollierenden Fabriken in Billiglohnländern entdeckt wurden. Zusätzlich hatte Spahn aber wahrscheinlich auch das Wohl der deutschen Pharmaproduzenten im Auge. Nicht aber das der deutschen Pharma-Importeure!


Die Firma Kohlpharma ist mit einem Jahresumsatz von 660 Millionen Euro der größte deutsche Importeur von Medikamenten, und ihre Zentrale ist im saarländischen Merzig angesiedelt, dem Wahlkreis von Peter Altmaier. Was lag also näher, als einen „beratenden“ Lobbyisten auf den Bundeswirtschaftsminister anzusetzen, um die Einfuhrerlöse generierende „Importförderklausel“ zu retten?


Dass der Vorgang bekannt wurde, ist das Verdienst des Rechercheverbunds von SZWDR und NDR. Dass eine lückenlose Aufdeckung der schmierigen Kooperation von Politik und Unternehmen gelang, ist indes der NGO Abgeordnetenwatch zu verdanken, die das Informationsfreiheitsgesetz nutzte, um eine Veröffentlichung einer Akte des Wirtschaftsministeriums zu erzwingen.


Altmaiers Ressort sollte nämlich Spahns Vorstoß beurteilen. Die Fachleute im Wirtschaftsressort empfahlen daraufhin, den Plänen des Gesundheitsministers zuzustimmen, was aber ihrem Chef gar nicht zusagte. Vom Lobbyisten der Firma Kohlpharma, die immerhin schon dem CDU-Kreisverband ihre Räumlichkeiten für Veranstaltungen zur Verfügung gestellt hatte, alarmiert, sorgte er dafür, dass am 10. Dezember 2018 in der internen Vorlage das Wort „Zustimmung“ durchgestrichen und handschriftlich durch „Leitungsvorbehalt“ ersetzt war. Der Minister verstand offenbar die im Diensteid geäußerte Intention, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden, in erster Linie als Verpflichtung, einen ihm und seiner Partei nahestehenden Pharmahändler vor Verlusten zu bewahren.


Sein Wille geschehe!


Doch Anfang Januar drohte neues Ungemach seitens des Parteifreundes Jens Spahn. Der kündigte nämlich an, er wolle die „Importförderklausel“ nicht mehr nur einschränken, sondern ersatzlos streichen. In den Tagen danach führte Altmaier mehrere Telefongespräche mit dem Geschäftsführer von Kohlpharma, wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken zugeben musste, und ließ anschließend als serviler öffentlich-rechtlicher Hüter privaten Profits die Muskeln spielen.

 

In einer „Lobbymail“ des Unternehmens vom 11. Januar wurde nämlich dem Minister eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, die künftige Gewinne von Kohlpharma nur unwesentlich beeinträchtigen würde: Statt zu prüfen, ob ein ausländisches Heilmittel 15 Prozent oder 15 Euro billiger ist als ein deutsches Produkt, wie es im ersten Spahn-Entwurf vorgesehen war, müssten die Apotheken nun mit erheblichem Aufwand feststellen, ob sie Arzneien teils dubioser Herkunft aus fernen Ländern verkaufen müssen: dann nämlich, wenn bei einem Preis von 100 Euro die Importware 15 Prozent billiger ist als einheimische. Zwischen 100 und 300 Euro Warenwert sind es dann nur noch 15 Euro, und ab 300 Euro reichen 5 Prozent, um Medikamente made in Germany vom deutschen Markt zu verdrängen.


Diese Regelung erscheint halb willkürlich, halb raffiniert, aber sie ist beinahe maßgeschneidert für die Bedürfnisse des Pharma-Importeurs von der Saar: Je hochpreisiger (und damit gewinnträchtiger) das Produkt ist, desto weniger Einsparung für die Kassen würde schon zum Verkauf der Einfuhrware verpflichten, desto eher käme Kohlpharma zum Zug.


Das Gesundheitsministerium lehnte den seltsam differenzierenden Vorschlag der Kohlpharma-Experten ab, ebenso die überwältigende Mehrheit im Bundesrat (mit Ausnahme des Saarlands sic!). Und dann sprachen sich auch noch Altmaiers Referenten im eigenen Ressort dagegen aus, doch der Wirtschaftsminister bewies, dass die Treue zum heimatlichen Kapital allemal schwerer wiegt als fachliche Bedenken. Das Schwergewicht von der Saar nahm den jungen Kollegen in den Schwitzkasten, der knickte ein, und bereits am 21. Januar hieß es in einer Mail des Gesundheitsministeriums an das Wirtschaftsressort: „Wie bereits angekündigt, haben sich BM Altmaier und BM Spahn nach hiesiger Kenntnis zur Importregelung verständigt.“


Es wurde exakt der Vorschlag des Kohlpharma-Lobbyisten übernommen. Im Juni dieses Jahres beschlossen Bundesrat und Bundestag die neue Importregelung, die alles verkompliziert und doch fast alles beim Alten lässt: Abgesehen von wenigen Ausnahmen für bestimmte Medikamente, sind die Apotheken auch weiterhin verpflichtet, Importware zu verkaufen.

          

Das System schlägt zurück


Die Schlüsse, die aus dieser Farce zu ziehen sind, muten zunächst positiv an, relativieren dann aber diese Bewertung schnell und lassen schließlich Übles befürchten: „Immer wieder gab es den Verdacht, dass Lobbyist:innen ihre eigenen Gesetze schreiben. Jetzt können wir einen solchen Fall nachweisen“, frohlockte Abgeordnetenwatch stolz. In der Tat liegt in diesem Fall der Beleg für die Instrumentalisierung von Regierungsmitgliedern durch die Wirtschaft in Wort und Schrift vor, doch scheinen die entlarvenden Recherchen keinerlei Konsequenzen zu zeitigen – zumindest nicht für die belasteten Akteure.

 

Peter Altmaier bleibt im Amt und kann sich neuen Gefälligkeiten für Konzerne widmen, die Öffentlichkeit nahm den skandalösen Sachverhalt am Rande zur Kenntnis und ging achselzuckend zur Tagesordnung über, so dass auch Verlierer Jens Spahn im Stillen seine Wunden lecken kann, ohne sein plötzliches Zurückweichen rechtfertigen zu müssen. Und Kohlpharma macht weiter prächtige Geschäfte.

 

Treffen wird es hingegen bald die Überbringer der bösen Nachricht. Abgeordnetenwatch ist (noch) als „gemeinnütziger Verein“ eingetragen und kann sich somit über absetzbare Spenden finanzieren. Seit Attac die Gemeinnützigkeit entzogen wurde, ahnt man, dass ein Konglomerat aus Politik, Verwaltung und Justiz unbotmäßigen NGOs systematisch das Wasser abdrehen möchte. Da wird der Katalog der als förderwürdig im Sinne politischer Bildung anerkannten Zwecke auf 25 Items reduziert. Aufklärung der Bevölkerung, Aufdeckung von Missständen und Unregelmäßigen (vor allem solchen, die von Bundes- oder Landesregierungen verantwortet werden) oder Recherche zur intensiveren Informierung der Bevölkerung gehören nicht dazu.

 

Letzte Woche wurde der Kampagnenplattform Campact die Gemeinnützigkeit entzogen. Nun darf man darauf warten, dass Abgeordnetenwatch dasselbe widerfährt. Dieser Staat möchte seine Bürger nicht mit Wahrheiten oder Hintergrundinformationen behelligen. Dieses System benötigt die Friedhofsruhe, um seine Geschäfte in pietätvollem Schweigen abwickeln zu können. Seine Helden, wie etwa Peter Altmaier, stehen nur im Rampenlicht, wenn sie nichts Wesentliches zu sagen haben, und führen die Anordnungen der Wirtschaft ansonsten lieber im Stillen aus. 

10/2019 

Dazu auch: 

Die Rache des Staates (2019) und Gemeiner Nutzen (2014) im 

 Archiv der Rubrik Politik und Abgrund 






Die Antipoden


In der Auseinandersetzung, ob und wie die sich immer deutlicher abzeichnende Klimakatastrophe zu bekämpfen sei, kristallisieren sich zwei antagonistische Projektionsfiguren heraus: die junge Schwedin Greta Thunberg und der rechtsextreme brasilianische Präsident Jair Bolsonaro. Im geopolitischen Meinungsspektrum liegen sie so weit auseinander wie antipodische Länder oder Kontinente. Sind die beiden Wortführer und ihre Positionen aber tatsächlich symptomatisch oder gar richtungsweisend  für den Kampf um (bzw. gegen) die Umwelt oder müssen noch ganz andere Herangehensweisen und Inhalte ins Kalkül gezogen werden?

      

Lichtgestalt und Finsterling


Man kann vom Hype um Greta Thunberg halten, was man will, ein positiver Aspekt ist anzumerken: In einer Zeit, die in den sozialen Medien von gestylten, den Konsumrausch anheizenden InfluencerInnen geprägt wird, schafft es eine unscheinbare, eher kindlich wirkende Heranwachsende, große Teile der angeblich völlig unpolitischen und bedenkenlos hedonistischen Jugend in eine weltweite Kampagne für Nachhaltigkeit und zum Schutz der Umwelt einzubinden. Noch dazu lebt die junge Schwedin mit dem Asperger-Syndrom, einer Form des Autismus, die zwar eine normale Entwicklung der Intelligenz, manchmal auch außergewöhnliche Talente („Inselbegabungen“) zulässt, aber gängige Gefühlsregungen und das Empfinden und Leiden mit anderen behindert.


Asperger-Autisten müssen sich die sozial notwendige Empathie regelrecht aneignen, sie haben Probleme mit Humor und Ironie, gelten als stur, pedantisch genau und äußerst fokussiert in Wort und Handlung. Zu mutmaßen, Greta Thunberg sei in ihrem Kampf gegen den Klimawandel „fremdgesteuert“, wie es die Rechten gerne tun, ist Unsinn; sie mag von ihren Eltern auf die Umweltproblematik aufmerksam gemacht worden sein, doch bei der Gestaltung ihrer Kampagne Fridays for Future ist sie gerade wegen ihrer Andersartigkeit weniger manipulierbar als „ganz normale“ Aktivisten (oder ihre Gegner).


Auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht Jair Bolsonaro, ein erklärter Militarist und Rassist, der in seinem Eifer, einen menschengemachten Klimawandel zu leugnen, selbst die Trumps und Gaulands hinter sich lässt. Er dekretiert die Feuerrodung in Amazonien (und wundert sich dann über gigantische Waldbrände), öffnet geschützte Regionen den Soya-Magnaten, Rinderbaronen sowie Prospektoren und missachtet die Rechte der indigenen Bevölkerung. Die (zugegeben mickrige) EU-Hilfe zur Bekämpfung der verheerenden Feuer lehnt er großspurig ab, und auf die Ankündigung der Bundesregierung, wegen seines Fehlverhaltens 35 Millionen Euro für Regenwald-Projekte vorerst nicht zu überweisen, antwortet er herablassend: „Ich möchte auch der geliebten Frau Angela Merkel eine Nachricht hinterlassen: Nehmen Sie diese Knete und forsten Sie Deutschland wieder auf.“



In der höhnischen Replik eines skrupellosen Populisten, in dessen kurzer Amtszeit das Tempo der Abholzung der für das Weltklima immens wichtigen Regenwälder am Amazonas um 212 Prozent gestiegen ist, steckt ein Körnchen Wahrheit. Die Nationen des Westens sorgen sich um die fernen ökologischen Ressourcen, die sie für ihren eigenen Bedarf seit Jahrhunderten ausbeuten lassen, malträtieren währenddessen aber ihre unmittelbare Umwelt.


Wie Yin und Yang stehen sich also die Lichtgestalt Greta Thunberg und der Naturzerstörer Jair Bolsonaro gegenüber, allerdings nicht in Ergänzung, sondern in unversöhnlichem Widerspruch. Der Schwedin unterstellen Kritiker unbedarften Aktionismus, im Brasilianer sehen andere das Böse an sich. Ganz so einfach ist es nicht, in der modernen Welt existieren stets Machtinstanzen und ökonomische Interessen im Hintergrund, aber auch Ansätze nachhaltiger Zukunftsgestaltung. Alles interagiert (wenn auch oft unglücklich) und zwingt uns dazu, jeden Schritt und jede Maßnahme auf Sinn, Praktikabilität und Intention zu prüfen, dabei aber die systemischen Ursprünge nicht aus den Augen zu verlieren.

    

Vom Nutzen kleiner Schritte


Die Thunberg-Kampagne hat Hunderttausende, vielleicht Millionen von Kindern und Jugendlichen rund um den Globus aufgerüttelt, ihnen die bedrohliche Situation auf unserem Planeten vor Augen geführt. Unterstützt wird sie von Naturschützern und NGOs, begleitet von Lippenbekenntnissen einiger Politiker, darunter auch solchen in Regierungsverantwortung. Es wäre nun leicht, den Mangel an Gesellschaftsanalyse, an Durchsetzungsmöglichkeit, überhaupt die Intention, systemimmanentes Versagen durch emotionale Aktionen zu bekämpfen, ins Lächerliche zu ziehen. Natürlich haben die Katheder-Marxisten, die wissen, wie es geht, aber über die „Kapital“-Exegese nicht hinauskommen, im „klassischen Sinn“ recht, wenn sie den Ansatz der Schülerbewegung für „unpolitisch“ halten.


Aber aus der Einsicht in die Existenz eines globalen Desasters lassen sich die Erkenntnis der Hintergründe und die Demaskierung der Verursacher ableiten. Sofortiges Handeln ohne Aussicht auf die irgendwann notwendige Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mag auf orthodoxe Linke aktionistisch und kurzsichtig wirken, doch sind auch persönliche Verhaltensänderungen oder verschärfte Umweltgesetze, wenn schon nicht für eine soziale Umwälzung, so doch als (bescheidene) Bremsen des globalen Raubbaus, relevant. Warum nicht in dialektischem Sinne jetzt handeln (Plastik und Bodenfraß verbieten, Kerosin verteuern oder weniger Fleisch essen etc.) und zugleich perspektivisch ein anderes politisches Bewusstsein anstreben und mit diesem neuen Wissen irgendwann die Produktionsmittel vergesellschaften und nachhaltig einsetzen?


Auch kleine Schritte, selbst im Privaten, können die Entwicklung der Erde zu einem Wüstenplaneten, auf dem das System letztlich egal wäre, verlangsamen. Und wer Thunberg die nötige Voraussicht abspricht, sollte sich die Frage stellen, was alle sozialistischen und revolutionären Gruppierungen in den letzten fünfzig Jahren zum Schutz unserer Lebensgrundlagen unternommen (oder unterlassen) haben. Dennoch darf bei allem Verständnis für den Enthusiasmus der Fridays-for-Future-Bewegung die Macht- und Systemfrage nicht außen vor bleiben.


Das System ist die Katastrophe


Hinter dem Bemühen Jair Bolsonaros, Brasilien radikal marktkompatibel zu machen und die Vernichtung der Regenwälder als natürlichen Verschleiß zu verharmlosen, stehen die Agrar- und Fleischindustrie, Pharmakonzerne mit Gen- und Pestizid-Know-how, professionelle Goldsucher, internationale Minenkonzerne, Erdölprospektoren, korrupte Staatsjuristen, die ihm politische Gegner aus dem Weg räumten, der US-Präsident und – neben vielen weiteren – die deutsche Wirtschaft, die den Amtsantritt des Dreiviertelfaschisten euphorisch begrüßte, weil sie beste Geschäfte witterte. VW do Brasil beispielsweise entsinnt sich mit wohligem Schaudern der intimen Zusammenarbeit mit der einstigen Militärdiktatur, deren bekennender Fan Bolsonaro noch heute ist.


Die ökonomische und in ihrem Gefolge die politische Macht der westlichen Hemisphäre steht – trotz publikumswirksamer Kritik durch Macron und Merkel – also ziemlich geeint hinter einem Mann, der ein geistfeindlicher Lautsprecher sowie Evangelikaler ist und wissenschaftliche Erkenntnisse über die Enstehung des Universums ebenso wie Gefahren durch die systematische Umweltzerstörung leugnet – aber letzteres tun unsere natürlichen Alliierten Donald Trump und Boris Johnson schließlich auch. Langsam beschleicht einen der Verdacht, Bolsonaro sei lediglich die Vogelscheuche, die man zum Schutz der Felder von NestléBayer oder VW aufgestellt hat, der Pistolero, den sich im Italo-Western die reichen Rancher als Bodyguard leisten, auch wenn sein Gebaren menschlich nicht gerade einwandfrei ist.


Der moderne Kapitalismus in seinen globalen Ausformungen, handle es sich um die Produktionssparte, die Bankenhierarchie oder das Börsenspiel, hat kein Interesse an irgendwelcher nachhaltigen Nutzung von Böden, Ressourcen oder menschlicher Arbeitskraft. Die Quartalsberichte müssen stimmen, damit die Kurse steigen, Konkurrenten sind auf Abstand zu halten, auch wenn dafür Qualitäts- und Sicherheitsstandards geopfert werden müssen, und Wachstum ist zu generieren, selbst wenn dadurch die Natur, die Zukunft und die Gesundheit von Beschäftigten, Konsumenten und Anwohnern zerstört werden. Die CEOs oder Hedgefonds-Investoren gehen nach ein paar Jahren in den vergoldeten Ruhestand und lassen meist  mehrere Sintfluten hinter sich zurück. Für diese Kurzsicht-Taktiker, die sich gerne von Wirtschaftsmagazinen als strategische Denker feiern lassen, ist Bolsonaro ein nützlicher Idiot mit schlechten Manieren.


Gegen solche Machinationen haben Greta Thunberg und die demonstrierenden Schüler in 160 Ländern kein Konzept, vielleicht wissen sie auch wenig davon. Wie sollten sie auch, haben ja doch die Väter/Mütter und Großeltern, soweit sie jemals von Nachdenklichkeit angefallen wurden oder sich jäh der rebellischen 68er Jugendzeit entsannen, den Weg in die Mystifizierung der eigenen Vita, ins Ungefähre einstiger Revolutionsromantik und in ein Gedankenkonstrukt, das die eigene Anpassung rechtfertigt, gewählt.

   

 Vom Fehlen der Gesellschaftsutopie


„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, hatte einst Helmut Schmidt apodiktisch gesagt und damit schenkelklopfende Zustimmung bei den Rechten in der eigenen Partei eingeheimst. Tatsächlich hat der einstige Bundeskanzler durch seine unbedingte Hinwendung zur wirtschaftsfreundlichen „Realpolitik“ und durch die Absage an alle emanzipatorischen Phantasien den Niedergang seiner Partei wohl  beschleunigt. Heute läuft die Sozialdemokratie (nicht nur hierzulande) den entscheidenden Themen nach, verspricht hier ein wenig Wende in der Klimapolitik, dort ein bisschen Fürsorge für die sozial Schwachen, möchte gar eigene Geschenke ans Kapital (Abschaffung der Vermögenssteuer unter Schröder) zurücknehmen, und findet doch kein kohärentes Gesellschaftskonzept.


Und wie der SPD geht es auch den anderen Parteien und vielen NGOs: Die Verknüpfung zwischen Profitmaximierung und Umweltzerstörung, Krieg und Rüstungskonzernen, Pharma- sowie Agrarindustrie und Bauernelend, „Freihandel“ und Flucht, digitaler Überflutung und totaler Kontrolle, ungehemmter Werbung und geistiger wie materieller Verarmung lässt sich nicht durch das Aufschnüren des einen oder anderen Knötchens lösen, das erfordert Analyse und radikalen, aber durchdachten Richtungswechsel.


In solchen Zeiten klingt selbst ein katholischer Papst, der gegen die Abholzung der Regenwälder, die Korruption und die Spekulation wettert, revolutionärer als ein Politiker der Linken in Deutschland oder der Vorsitzende der Kommunistischen Partei in China. Der Blick auf die Zusammenhänge, der die Entwicklung einer sozialen Utopie (die zwar nicht eins zu eins verwirklicht würde, aber immerhin substanziellen Fortschritt bedeutete), in der sich auch eine Greta Thunberg, aber kein Jair Bolsonaro wiederfinden könnte, überhaupt erst ermöglichen würde, ist verloren gegangen.

09/2019 

Dazu auch:

Prima Klima in Rio im Archiv von Politik und Abgrund (2019)     







Um Kopf und Kragen


Kaum war es Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) gelungen, den Zugriff des bleichen Wiedergängers Friedrich Merz auf den CDU-Parteivorsitz abzuwehren, hüpfte sie fröhlich von einem Fettnäpfchen zum nächsten. Mit bewundernswerter Konsequenz redete sie sich in kurzer Zeit um Kopf und Kragen, also um ihre Glaubwürdigkeit – und womöglich um die Kanzlerkandidatur der Union.


Heute so, morgen so


Man kann Kramp-Karrenbauers Agenda seit Dezember 2018 durchaus als Gebrauchsanleitung zur Selbst-Demontage verstehen. Um Widersacher Merz zu verhindern, kaufte sie dessen rechten Gefolgsmann Paul Ziemak, der in der ganz großen Politik ähnlich unbedarft wirkt wie sie selbst, mit dem Angebot, ihn zum CDU-Generalsekretär zu machen, ein. Lange galt AKK als treue Gefolgsfrau von Angela Merkel. Kaum an die Parteispitze gewählt, „emanzipierte“ sie sich von der bedeutenden Farblosen aus der Uckermark, indem sie dem rechten Flügel der Christenunion verkündete, was er hören wollte.


So freuten sich die Nationalisten in der Union, dass AKK in der Flüchtlingsfrage die strenge Domina gab und vom lauen Merkel-Kurs abwich. Die neoliberale Kapitalfraktion wiederum nahm mit Befriedigung zur Kenntnis, dass sie ihre 2012 geäußerte Ansicht, der Spitzensteuersatz solle erhöht werden, als Kanzlerkandidatin in spe eilends revidierte und im Januar dieses Jahres im TV-Talk von Sandra Maischberger erklärte, die arg geplagten Reichen nicht höher belasten zu wollen.


Nun reichen den deutschen Bürgern solch abrupte Überzeugungswechsel nicht, einer Aspirantin für das wichtigste Amt die Sympathie zu entziehen – sie sind sie ja von Politikern der meisten Parteien sattsam gewohnt. Da musste AKK schon noch einige weitere Peinlichkeiten nachliefern, um in den Umfragen den Rausch der Tiefe erleben zu dürfen.


Als der begabte Schwadroneur Emanuel Macron im März ein Manifest zur Zukunft Europas vorstellte und darin wenigstens einen sinnvollen Vorschlag, nämlich die Einführung eines EU-weiten Mindestlohns, unterbreitete, lehnte AKK, wohl eingedenk des mickrigen Notentgelts in Deutschland, dies brüsk ab und fabulierte stattdessen etwas nebulös von einer Strategie zur Förderung von Konvergenz, um in den Mitgliedsstaaten gleichwertige Lebensverhältnisse zu erreichen. Theoretisch könnte man nach dieser Maßgabe den Mindestlohn hierzulande noch ein wenig absenken, um das Existenzniveau des deutschen Arbeitnehmers dem des bulgarischen anzugleichen.


Donald Trump hingegen hat bei AKK einen Stein im Brett. So unterstützt sie ihn ziemlich unverblümt bei seinem Versuch, die deutsche Wirtschaft per Sanktionsandrohung zum Rohstoff-Einkauf in den USA zu zwingen, indem sie erklärt, dass Nord Stream 2 kein Herzensanliegen für sie sei. Und als neue Kriegsministerin stellte sie sich voll und ganz hinter Trumps Forderung, Deutschland müsse aufrüsten und sein Militärbudget auf zwei Prozent und dann weiter erhöhen. Schuldig blieb sie aber die Antwort auf die bange Frage, wofür das zusätzliche Geld denn ausgegeben werden sollte: für höhere Gehälter von noch mehr Beratern, für neue Waffensysteme, deren Kosten sich zwischen Bestellung und Auslieferung vervielfachen (die dafür aber nicht funktionieren), oder für die Gorch Fock?


  

AKK als Net-Dompteuse


Ganz Mutter der Kompanie, hatte AKK aber ein Zuckerl für die Soldaten, für das sie aber nicht zahlen möchte: „Wir wollen sehr zügig zu einer Lösung kommen mit der Bahn, in der klar ist, wenn jemand mit Uniform und Dienstausweis Bahn fährt, dann soll er das auch frei machen können.“ Gerne, erwiderte der Staatskonzern, wünschte sich aber 38 Millionen Euro pro Jahr dafür und dachte dabei an uns Steuerzahler in Zivil, die wir für seine Defizite aufkommen müssen. Und welche Uniformierten sind gemeint? Darf künftig auch der Müllwerker in Kluft umsonst mitfahren? Er hat ja schließlich Sinnvolleres für die Gemeinschaft geleistet als der gemeine Soldat.


Nach der Europawahl nahm sich AKK, die offenbar der Meinung ist, eine Parteivorsitzende und künftige Kanzlerin müsse zu allem ihren Senf geben, die freie Meinungsäußerung im Netz vor. Einen gemeinsamen Aufruf zahlreicher YouTube-Blogger, nicht für die Union zu stimmen, kritisierte sie als „klare Meinungsmache vor der Wahl“. Was wäre denn, wenn 70 Zeitungsredaktionen dazu aufriefen, nicht die CDU zu wählen, fragte sie rhetorisch? Keine Angst, Frau AKK, das tun die nicht, und es ist es doch auch ganz angenehm, BILD, die Welt, die FAZ und viele andere als klammheimliche Wahlhelfer hinter sich zu wissen.


In diesem Zusammenhang entfuhr AKK eine kryptische Bemerkung von großer sinnentleerter Schönheit: „Was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten auch für den digitalen Bereich? Ja oder nein?“  Nun, das könnte schon ein wenig nach Domestizierung des Internet riechen. Aber vielleicht ist es damit wie mit den Orakelsprüchen im antiken Delphi; die hat damals auch keiner verstanden.


Zuvor schon hatte sich AKK mit dem Youtuber Rezo angelegt, der in polemischem Tonfall, aber sachlich durchaus fundiert die Politik und vor allem die Unionsparteien wegen ihrer Versäumnisse, etwa in der Klimapolitik, angegriffen hatte. Statt inhaltlich dagegenzuhalten, regte die sicht- und hörbar inhaltlich Überforderte an, mit „Meinungsmache“ (ein Unding für Politiker?!) im Netz anders umzugehen. Die Net-Community verspürte auch hier einen Hauch von Zensur und wird wohl in Zukunft die CDU-Chefin eher skeptisch beäugen als liebhaben.

  

Ein bisschen Parteiausschluss


Weil sie Angst vor den neuen Freunden auf der äußersten Unionsrechten, deren Avancen an die AfD, etwa in Brandenburg, und absurden Warnungen vor einem Linksruck der Partei bekam, nahm sich AKK einen notorischen Unruhestifter und Chauvinisten-Versteher vor und blamierte sich nochmals tüchtig.


Christdemokrat Hans-Georg Maaßen, der als Verfassungsschutz-Chef geschasst worden war, weil er die Neonazi-Brutalitäten von Chemnitz eigentümlich wohlwollend interpretiert hatte, fiel als Mitglied des extrem rechten Think Tanks Werte-Union mit AfD-Apologien und Kritik an der eigenen Partei  auf. Das ging AKK denn doch zu weit, so dass den Unbelehrbaren warnte: „Es gibt aus gutem Grund hohe Hürden, jemanden aus der Partei auszuschließen. Aber ich sehe bei Herrn Maaßen keine Haltung, die ihn mit der CDU noch wirklich verbindet.“


Hoppla, dachte sich da so manches unbeleckte Parteimitglied, AKK meint also, der Maaßen sei in völkischem Galopp über die Hürden des Ausschlussverfahrens gehüpft. Der Ex-Schlapphut aber rief sogleich den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer zum geistigen Putsch auf und wünschte sich von diesem, dass er sich „von bestimmten Positionen, die von der CDU auf Bundesebene propagiert werden, emanzipiert“. Kretschmer gehorchte sofort: „Bei aller berechtigten Kritik an Hans-Georg Maaßen – wir schließen niemanden aus der CDU aus, nur weil er unbequem ist.“ Unbequem? Etwa so inkommod wie die AfD oder die militant besorgten Bürger von Chemnitz?


Indes ruderte AKK eifrig zurück. Sie habe keineswegs den Parteiausschluss Maaßens gefordert. Jedes CDU-Mitglied könne seine eigene Meinung haben, das „macht uns auch interessant“. Dass der Kampf um die Kanzlerkandidatur in der Union tatsächlich wieder interessant geworden ist, verdankt sich aber allein der Inkompetenz und Geschwätzigkeit der Vorsitzenden. Schon wetzen sie die Messer, die ehrgeizigen Parteikollegen wie der Sozialdarwinist Friedrich Merz, der knallharte Parvenü Jens Spahn oder Arnim Laschet, der nette Onkel aus NRW. 

08/2019 

Dazu auch:

Der fünffache Maaßen im Archiv von Helden unserer Zeit (2018)

Mutter der Beratung in der Rubrik Helden unserer Zeit     

 

 

 

 

 




Sigmar G. reloaded


„Was macht eigentlich…?“ So oder ähnlich werden Pressekolumnen oder Doku-Schmonzetten in Funk und Fernsehen betitelt, die sich mit Persönlichkeiten beschäftigten, welche aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit ins Halbdunkel des Vergessens gerutscht sind. Einer der Ehemaligen, der sich immer wieder zu Wort meldet und undurchsichtig wie eh und je im Polit-Business wuselt, benötigt solch nostalgische Auffrischung des kollektiven Gedächtnisses gar nicht: Sigmar Gabriel äußert sich weiterhin zu allem und jedem, und er ist das Wendehälschen geblieben, das er immer schon war.


Gegen oder für Uschi?


Wie beim Hütchenspiel täuscht Gabriel in der Politik bisweilen Positionen an, um schließlich ganz andere einzunehmen. Seine Meinungen gleichen impressionistischen Farbklecksen, die später von den trüben Schichten wohlfeiler „Realpolitik“ überdeckt werden. Ein prächtiges Exempel für seine atemberaubende Flexibilität lieferte der Sozialdemokrat erst vor kurzem ab.


Als die öffentliche Meinung sich noch über die Art und Weise, wie die vehement versagende Kriegsministerin Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission weggelobt wurde, echauffierte, stimmte Gabriel mit schroffen Kommentaren ein: Anfang Juni sprach er im SPIEGEL-Interview von einem „beispiellosen Akt der politischen Trickserei“. Mit einer Konsequenz, die ihm als Parteichef stets abging, forderte er seine SPD dazu auf, von der Leyens Berufung zu verhindern. „Sie muss es aufhalten, sonst macht sie bei diesem Schmierentheater mit und die EU-Wahlen zur Farce.“


Knapp zwei Wochen, also eine Ewigkeit in seiner ganz eigenen  politischen Zeitrechnung, später flötete Gabriel in der Bild am Sonntag:  "Sie kann eine gute Kommissionspräsidentin werden, das steht völlig außer Frage." Als wandlungsfähiger Genosse gelangte er somit zu der Einsicht, dass man ein solches Talent ja wohl besser nicht abservieren sollte.


Hansdampf in allen Think Tanks


Er wolle jetzt erst einmal gutes Geld verdienen, ließ Gabriel die Headhunters der Wirtschaft nach dem vorläufigen Ende seiner politischen Karriere wissen. Doch scheinbar wurde der Umtriebige von Vorständen und Aufsichtsräten der Weltkonzerne gewogen und als zu leicht für einen wichtigen Posten befunden. Am Hungertuch muss der ewige Verlierer der bundesdeutschen Politik dennoch nicht nagen.


Seit Juni vorigen Jahres schreibt Gabriel, der zuvor nicht gerade durch journalistische Brillanz aufgefallen war, für das Handelsblatt, den Tagesspiegel und die Zeit, drei Publikationen der Holtzbrinck-Verlagsgruppe. Seine Beiträge sind sprachlich einfach gestrickt, beinhalten aber dreiste Verdrehungen und (bewusst?) falsche Tatsachenbehauptungen. So phantasiert Gabriel unter der Titelzeile Fünf-Punkte-Plan für einen sozialen Kapitalismus (im Klartext: Fünf Plattitüden für einen Widerspruch in sich) im Tagesspiegel freihändig vor sich hin: „Und auch auf der linken Seite des politischen Spektrums gibt es langlebige Mythen, die denen der Nationalisten auf paradoxe Weise ähneln: Die Produktionsmittel vergesellschaften zu wollen, ist ein nationalstaatlich gedachtes Instrument der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts.“


Davon abgesehen, dass Gabriel die linke Seite des Spektrums allenfalls vom Hörensagen kennt, unterstellt er Marx und anderen sozialistischen Vordenkern, sie hätten die Kapitalisten in „patriotischer“ Absicht enteignen wollen, und unterschlägt dabei großzügig deren Absicht, mit der Herrschaft einer Klasse auch den Nationalstaat absterben zu lassen. (Übrigens sangen die linken Arbeiter, auch die in der SPD, damals nicht Die Nationale, auch nicht Deutschland, Deutschland, über alles, sondern Die Internationale.) Für solche Ausbünde an Schmonzes und Geschichtsklitterung kassiert das Mitglied des rechten Seeheimer Kreises zwischen 15.000 und 30.000 Euro im Monat – kein schlechtes Taschengeld für einen dilettierenden Gesellschaftskolumnisten.


Höchster Ehren aber wurde der flinke Sigmar in diesem Jahr teilhaftig, als ihn die Trilaterale Kommission, so etwas wie die Mutter aller internationalen Think Tanks, in denen die ökonomisch und militärisch Mächtigen gern mit servilen Journalisten zusammensitzen, aufnahm und ihn ein weiterer wichtiger Kungelclub, die Atlantik-Brücke, gar zum Vorsitzenden berief. In letzterer Funktion ist er der Erste unter einigen illustren Gleichen, also Vorstandsmitgliedern wie Friedrich Merz, dem Deutsche-Bank-Abwracker Jürgen Fitschen oder dem BILD-Blechtrommler Kai Dieckmann. Zu den Mitgliedern zählen auch Angela Merkel, der unter Betrugsverdacht stehende Ex-VW-Chef Martin Winterkorn oder der CEO des mächtigsten US-Industriekonzerns General Electric, Fernando Becalli-Falco.

   

Ende der 1990er Jahre waren Mitglieder der Atlantik-Brücke wie Casimir Prinz zu Sayn-Wittgenstein, Karlheinz Schreiber und Dieter Holzer in die Schwarzgeldaffäre der hessischen CDU verwickelt. So viel kriminelle Energie in noblem Rahmen muss Gabriel imponiert haben, ebenso wie die einstige Disziplinierung seiner sozialdemokratischen Vorväter. Die Historikerin Anne Zetsche wirft der Atlantik-Brücke nämlich vor, sie habe durch „massive Beeinflussung“  dazu beigetragen, die SPD in den 1950er Jahren von ihrem antimilitärischen und neutralistischem Kurs abzubringen.


Und ein ständiger Gast der geheimbündlerischen Lobby-Organisation, der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, dem in mehreren Staaten Verfahren wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit drohen, dürfte in Sachen Raffinesse und Skrupellosigkeit dem manchmal noch etwas weichlich wirkenden Sigmar als Vorbild dienen.


Tricky Sigi forever


Der alte Strippenzieher Kissinger, der maßgeblich half, den Vietnamkrieg erst richtig auszuweiten und zu brutalisieren, verpflichtete die Europäer im vergangenen Jahr zu bedingungsloser US-Gefolgschaft: Spannungen in der NATO würden die EU „in ein Anhängsel Eurasiens“ verwandeln. Deutschland muss seiner Meinung nach Vasall Washingtons bleiben, denn es habe nur die Wahl, einen „rauflustigen, aber grundsätzlich liberalen und demokratischen Partner in den Vereinigten Staaten zu unterstützen“ oder einen „grundsätzlich illiberalen und autoritären Herausforderer in China“.

Der Mann, der einst vom zu gewinnenden strategischen Atomkrieg als Option träumte, verharmlost also einen potentiellen Warlord wie den cholerischen Präsidenten Donald Trump, in dem er ihn als demokratischen, irgendwie sympathischen Raufbold darstellt.


Der neue Vorsitzende der Atlantik-Brücke mochte nicht hinter seinem Mentor zurückstehen. Man habe zwar „Schwierigkeiten mit dem …, was der aktuelle Präsident der Vereinigten Staaten macht“, erklärte Sigmar Gabriel nach seiner Wahl, „aber eines stimmt auch: Ohne die Vereinigten Staaten … ist Europa schwächer“.


Damit interpretiert Gabriel seine Rolle als Frühstücksdirektor einer mächtigen Vordenkfabrik goldrichtig: Auch die deutschen Großkoalitionäre wie Maas, Merkel und AKK werden zunächst ein wenig wider den Stachel der Bevormundung löcken, dann aber in der Iran-, der China- und der Welthandelspolitik brav dem Großen Bruder Donald folgen. Die Atlantik-Brücke ist dazu da, den Europäern solchen Gehorsam schmackhaft zu machen; zu diesem Zweck entsendet sie bisweilen mehrere Mitglieder gleichzeitig in TV-Talkshows wie die von Anne Will, und dafür präsentiert sie möglichen Zweiflern den großen alten Mann des sozialdemokratischen Opportunismus als gereiften Zeitzeugen. Tricky Sigi is back.

08/2019

Dazu auch:

Die Rolle rückwärts im Archiv dieser Rubrik (2016)

Bad Man Gabriel im Archiv von Politik und Abgrund (2014) 

 

 



 


Mutter der Beratung


Was war das für ein Aufschrei, als die kontinentalen Schwergewichte Macron, Merkel und Tusk den Wählerwillen und das Europa-Parlament souverän übergingen und sich in einem sozusagen hierarchisch-demokratischen Entscheidungsprozess auf Ursula von der Leyen als künftige Präsidentin der EU-Kommission einigten! Nach reiflicher Überlegung aber könnte man zu dem Schluss kommen, dass die häufig als „Versagerin“ apostrophierte Kriegsministerin der BRD eine gute Wahl wäre, gilt sie doch als Mäzenin jener Beratungsfirmen, die in Deutschland ganze Bundesressorts und Institutionen schmeißen und möglicherweise bald auch Brüssel klarmachen, wo der Hammer des Wirtschaftsdiktats hängt.


Freunde im Kriegsministerium


Auf die Frage, wie es ihr gelungen sei, sieben Kinder großzuziehen und gleichzeitig ihre politische Karriere zu forcieren, antwortete Ursula von der Leyen einst, dies sei durch gute Organisation gelungen. Welch ein Trost für kinderreiche Familien: Sie müssen nur ein Rudel von Au-Pairs, Erzieherinnen und Hauswirtschafterinnen beschäftigen, und schon können sich beide Elternteile dem Aufstieg in Regierungsämter widmen. Als Verteidigungsministerin, sozusagen als Mutter der Truppe, verließ sich Frau von der Leyen allerdings nicht nur auf ihr Organisationstalent; vielmehr öffnete sie diversen Beraterfirmen Tür und Tor, die alsbald damit begannen, die Bundeswehr nach ihren Vorstellungen zu formen und auszustatten.


Es war der böse Bundesrechnungshof, der die emsige Idylle nachhaltig störte. Er monierte im Februar dieses Jahres, dass Hunderte von Millionen Euro an hochbezahlte Mitarbeiter von McKinsey, KPMG und Accenture für Tätigkeiten, die eigene Angestellte mindestens ebenso gut hätten erledigen können, ausgegeben worden seien, noch dazu ohne Kosten-Nutzen-Analyse und „freihändig“, also ohne Ausschreibung. Da die Unternehmensberater sich vor allem des Beschaffungswesens annehmen sollten, kann sich auch ein mit mäßiger Phantasie begabter Bürger leicht vorstellen, wie gründlich im Beziehungsdschungel von Consulting- und Rüstungsfirmen eine Hand die andere wusch.


„Im Fokus steht unter anderem die Frage, wie es zu den Regelverstößen kommen konnte“, sagte laut taz der Linken-Abgeordnete Matthias Höhn. Als harmloseste Antwort ließ er „Schludrigkeit“ gelten, als brisanteste argwöhnte er „Vorsatz“. Wie dem auch sei, Ursula von der Leyen selbst machte den Weg für solche Machenschaften frei: Vermutlich um den Beratungsfirmen langes Antichambrieren zu ersparen, hatte sie die Ex-McKinsey-Frau Katrin Suder zur Staatssekretärin berufen. Die Insiderin vergab bis April 2018 etliche Aufträge an Firmen ihrer ehemaligen Branche und scheint vor allem einem gewissen Timo Notzel von Accenture fachlich und persönlich besonders nahegestanden zu haben.

 

Rüstungsprojekte, an denen die externen Berater gewerkelt hatten, verteuerten sich teils um das Doppelte. So wird das TLVS-Raketenabwehrsystem statt vier mindestens acht Milliarden Euro kosten. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags wurde eingesetzt, während die Ministerin auch wegen des grandiosen Managements bei der Instandsetzung des Segelschulschiffs Gorch Fock in eine arg steife Brise geriet. Die Reparatur der archaischen Bark, die wohl entweder als maritimes Selbsterfahrungszentrum oder als Sturmbraut gegen die russische Flotte flottgemacht werden sollte, war zunächst auf zehn Millionen Euro veranschlagt, inzwischen kletterten die Kosten auf 135 Millionen, Tendenz weiter steigend. Dann ging auch noch die Werft pleite und wollte den hölzernen Kadaver nicht sofort herausrücken. Angesichts so vieler kostspieliger Pannen forderten die Grünen erst vor wenigen Tagen den Rücktritt von der Leyens. Und auch andere Politiker sowie viele Journalisten erwarteten quasi stündlich ihre „freiwillige“ Demission oder zwangsweise Entlassung.

 

Und nun tritt sie wirklich zurück, um Europas Geschicke zu lenken. Es freuen sich die Politiker im Osten Europas, die eine militärische Front gegen Russland schmieden wollen sowie deutsche und französische Strategen wie Macron und Merkel, die von einer EU-Streitmacht unter ihrem Oberkommando träumen. Vielleicht aber freuen sich auch bald die Beamten in Brüssel, weil das System von der Leyen ihnen Pflichten und Verantwortung von den Schultern nimmt und in die Hände externer Berater legt. 

 

McKinsey & Co als Oberaufseher


Zu den Heilmitteln, mit denen Consulting-Profis notleidende Firmen zu kurieren pflegen, gehören die „Verschlankung“ der Belegschaft und eine konsequentere Auspressung der Humanleistung. Als Ursula von der Leyen 2009 Arbeitsministerin wurde, war McKinsey schon da: In der Agentur für Arbeit (AA) implementierten die Unternehmensberater neue Hierarchie- und Controlling-Ebenen, entwickelten kryptische Konzepte, führten eine neue Sprache ein, schotteten die Sachbearbeiter so weit wie möglich von den arbeitsuchenden Klienten (jetzt „Kunden“) ab und veränderten das ehemalige Arbeitsamt bis zur Unkenntlichkeit.


Da man in einer Behörde nicht einfach Mitarbeiter entlassen kann, um Kosten einzusparen, warteten die so beratenen Vorstände auf das altersbedingte Ausscheiden erfahrener Berufsberater oder Arbeitsvermittler, um unbedarfte, in kurzen Crashkursen angelernte Callcenter-Kräfte einzustellen, natürlich befristet und mit weit geringerem Lohn. Dass die neuen Indianer an der Front über keine psychologischen Grundkenntnisse im Umgang mit den „Kunden“ verfügten, dass sie die Firmen „draußen“ nie von innen gesehen und von beruflicher Rehabilitation o. ä. keine Ahnung hatten, kümmerte die Häuptlinge nicht. Dank McKinsey schmorte die Bundesagentur selbstreferentiell im Saft einer sinnentleerten Systematik – um die Arbeitslosen ging es nur am Rande.


Das muss von der Leyen in ihren vier Jahren als oberste Arbeitsministerin imponiert haben. Kaum war sie ins Verteidigungsressort gewechselt, zog sie externe Berater in Scharen hinzu, um mit deren Hilfe das erstbeste Beschaffungsobjekt in den Sand zu setzen. Sie hätte besser eine in den AA-Dienststellen kursierende Definition beherzigt: Unternehmensberater kommen, ohne gebraucht zu werden, geben Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat, und entwerfent Strategien zu Sachen, von denen sie nichts verstehen.


Jetzt mal schnell die EU


Die neuen Kalten Krieger in Osteuropa und Deutschland würden von der Leyens Wahl schon deshalb begrüßen, weil die dem niedersächsischen Geldadel entstammende Ursula – ganz im Sinne des großen Militaristen Trump – ständig mehr Geld für neue Waffensysteme forderte, während ihr jüngst bestelltes teures Spielzeug im Arsenal vor sich hin korrodierte und nie oder nur kurzzeitig funktioniert hat. Aber auch stressgeplagten Spitzenbeamten in Brüssel könnte die Kommissionspräsidentin in spe bald Balsam auf die wunden Seelen träufeln. Mussten sie sich doch ständig mit den Tausenden von Lobbyisten einigen, ohne dass der Bürger etwas von der konzertierten Aktion mitbekam. Das könnten künftig die Berater von McKinsey & Co. übernehmen, die der Engel mit der Stahlhelmfrisur wohl schon bald in die EU-Administration holen wird.


Die Vorteile lägen auf der Hand: Da die großen Consulting-Agenturen ihre Mitarbeiter in dieselben Automobilkonzerne, Pharmafirmen oder Unternehmen der Agrarindustrie entsandten, von denen die Lobbyisten in die Brüsseler Behörden ausschwärmten, kennt man sich. Also könnte man unter Ausschaltung der EU-Bürokratie informelle Treffen bei Kaffee und Cognac vereinbaren,auf denen die Ausschaltung des Umweltschutzes, die Umgehung von Produktkontrollen oder die Lockerung des Steuerrechts perspektivisch angegangen werden. Schließlich wollen beide Parteien ihren Auftraggebern nutzen. Wenn dann mit dem symbiotisch geballten Know-how von Unternehmensberatern und Klinkenputzern deren gegenwärtige Beauftragung, europäische Gesetze gleich selbst zu schreiben und Studien mit den gewünschten Ergebnissen erstellen zu lassen, perfektioniert würde, könnten sich die Beamten der Kommission und die Universaldilettanten im EU-Parlament beruhigt zurücklehnen.


Dank Uschi von der Leyen und ihrer Freunde liefe alles wie geschmiert – so denn die widerspenstige Mehrheit im Europaparlament umfällt und die aufgepfropfte Kandidatin durchwinkt. 

07/2019

Dazu auch:

Die McKinsey-Republik im Archiv von Politik und Abgrund (2016)

Mutti quotiert im Archiv dieser Rubrik (2013)

  

                            

 




Der grüne Rechtsaußen


Mögen Habeck und seine Bundespartei mit Öko-Themen demoskopisch punkten – der erfolgreichste deutsche Grüne ist immer noch Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Die Süddeutsche Zeitung hatte ihn und seinen bayerischen Kollegen Markus Söder (CSU) zu einem Gespräch eingeladen, in dessen Verlauf immer unklarer wurde, wer von beiden weiter rechts steht und wer den Konzernen mit größerer Beflissenheit seine Dienste anbietet.


Der Rollentausch der Süd-Chefs


Hätten die beiden das Gespräch moderierenden SZ-Redakteure die Namen und die Herkunft der Politiker weggelassen, wäre schwer zu erraten gewesen, welcher von beiden der CSU angehört und welcher den Grünen. Verständnisvoll säuselte der originäre Rechtspopulist Markus Söder, der zuletzt den Naturfreunde-Versteher gab, über Umwelt- und Klimaschutz, während der ursprüngliche Öko-Apostel Winfried Kretschmann das Hohelied der Automobilindustrie sang.


Auf die SZ-Frage „Was ist mit Audi, BMW, Mercedes?“ flötet der vom basisdemokratischen Saulus zum kapitalfreundlichen Paulus Gewandelte: „Das ist das Rückgrat unserer wirtschaftlichen Wertschöpfung, das darf nicht wegbrechen. Dabei wird das Automobil in den nächsten Jahren neu erfunden. Die Autofirmen arbeiten deswegen inzwischen zu einem gewissen Grad zusammen – bei allem Wettbewerb. So wollen wir das auch tun.“ Die tatsächlich bei Software-Manipulationen und der Verhinderung niedrigerer Schadstoff-Grenzwerte konspirierenden Konzerne gelten neuerdings als Vorbilder für die Politik? Schöner hätte es auch der cleverste Lobbyist nicht sagen können.


Betrogene Käufer, gefährdete Gesundheit, das Damoklesschwert eines hemmungslosen Individualverkehrs – Schwamm drüber. „Wir brauchen Formate für die Zukunft, statt den Problemen hinterherzulaufen“, beschwichtigt Kretschmann, erklärt anschließend, welche Gesprächskreise er bevorzugt und rundet das Ganze mit einem dicken Selbstlob ab: „Markus Söder und ich reden jeden Monat mit Leuten aus der Automobilbranche. Wir verstehen was von der Sache.“ Was scheren Kretschmann schon die Probleme von gestern, wenn er nur mit den neuen Freunden (und überführten Täuschern) plaudern kann. Er ist schließlich – um mit FDP-Lindner zu sprechen – ein „Profi“, dem die schulschwänzenden Kinder beruhigt ihre Nöte anvertrauen können.

    

Der Eifer der Renegaten


Unter den CDU-Landesverbänden steht der von Baden-Württemberg traditionell weit rechts. Der ehemalige NS-Marinerichter Filbinger sowie die stramm reaktionären Vorsitzenden Teufel und Oettinger haben für reaktionäre Kontinuität gesorgt, und auch der jetzige Chef und Stuttgarter Innenminister Thomas Strobl hält mit seiner menschenverachtenden Asylpolitik weiter Kurs. Er darf das auch im gegenwärtigen Bündnis, zumal seine Partei von Kretschmann seit jeher als Koalitionspartner präferiert wurde. Als es dann endlich zwischen den beiden klappte, verlor der grüne Ministerpräsident keine Zeit, sich auch in der Flüchtlingsproblematik dem rechten Lager anzunähern.


Im SZ-Gespräch zeigte sich, dass Kretschmann im Begriff ist, die Union in Sachen Wirtschaftsfreundlichkeit und Relativierung der ökologischen Krise sogar zu überholen. Während sein Gegenüber Söder Versäumnisse eingesteht und räsoniert, wie man eine CO2-Steuer umgehen oder schönen könnte, sorgt sich der Kollege aus dem Ländle lediglich um die Freunde in den Unternehmen und die möglichen Wahlresultate: „Das Klima ist ein Menschheitsthema, keine grüne Spielwiese. Wie stünde es um den Klimaschutz, wenn zugleich eine Wirtschaftskrise kommt? Da will ich mal vorsichtig sein, ob wir Grünen dann auch diese Umfrageergebnisse hätten.“


Wie konnte der führende Repräsentant einer früher alternativen und eher links verorteten Partei eine derart drastische Kehrtwende hinlegen? Die Antwort hierfür ist möglicherweise in seiner frühen politischen Biographie zu suchen. Als Student engagierte sich Winfried Kretschmann in stalinistischen Organisationen. Seine Sympathie für den Maoismus gab er erst preis, als ihm Berufsverbot drohte. Menschen, deren politische Sozialisation in Gruppierungen mit deterministischem, wenig diskutiertem und noch weniger reflektiertem Programm stattfindet, steuern nach der Loslösung von ihrem Verband oft geradewegs ins andere Extrem. Einige der damals noch aktiven K-Gruppen verbogen die marxistische Theorie zu einem starren Heilsrezept, machten aus einem Gedankengebäude in ihrem pseudo-religiösen Eifer eine Gebotstafel.


Verbote alternativen Denkens und formalistische, sinnentleerte Radikalität prägten manche Ehemalige so stark, dass sie die Erlösung nun rigoros in der einst feindlichen Ecke suchten. Ein Horst Mahler etwa wurde vom Linken-Anwalt zum RAF-Terroristen, läuterte sich im Gefängnis zum K-Grüppler, offenbarte anschließend Sympathien für die FDP und sitzt heute als Neonazi wieder im Knast. Otto Schily, auch er einst Verteidiger von Gudrun Ensslin, gründete die Grünen mit, schloss sich dann der SPD an und endete als Law-and-Order-Sheriff auf deren rechtestem Flügel. 


Winfried Kretschmann wiederum hat den Weg vom Maoisten, der das Großkapital notfalls mit Gewalt bekämpfen wollte, über eine grüne Partei, die sich auf wenige Inhalte beschränkte, aber ihre Erscheinungsformen intensiv diskutierte, bis zum Freund von Mercedes ohne große (eigene) Reflexionen zurückgelegt. Renegaten lassen immer alles gründlich hinter sich, wenn sie ein neues Glaubensbekenntnis ablegen.

   

Quo vadis, grünes Bewusstsein?


Nun ist es ja nicht neu und keineswegs selten, dass grüne Stars ihre einst sakrosankten Positionen räumen. Joschka Fischer war als Außenminister mitverantwortlich für die Beteiligung der BRD an einem Angriffskrieg in Serbien. Und Cem Özdemir posierte unlängst eine Woche lang für die immer aggressiver um neues Menschenmaterial werbende Bundeswehr und kehrte damit die letzten Reste des früher so oft beschworenen Pazifismus unter den Teppich des Vergessens. Auch bei den Grünen gewinnen Überzeugungen – sind ihre Besitzer erst zu Amt und Pfründen gelangt – in atemberaubendem Tempo an Volatilität.


Signalisieren auf der einen Seite die Bremer Abgeordneten der Öko-Partei, dass sie die linke Vergangenheit noch nicht ganz vergessen haben, und koalieren mit der Rest-SPD und der Linken, machen es sich weiter südlich ihre hessischen Kollegen in einer Koalition mit dem erzkonservativen Volker Bouffier und seiner bekannt ultrakonservativen CDU bequem. Die Speerspitze eines Wandels von der alternativen Öko-Bewegung zur Mainstream-Gutsherrenpartei bilden aber Winfried Kretschmann und sein Tübinger Polit-Hooligan Boris Palmer.


Natürlich vertreten die Grünen mehrheitlich nachhaltige Konzepte, wenn es um den Klimaschutz, die Einschränkung der Massentierhaltung oder eine ökologische Landwirtschaft geht. Und sie haben mit Sven Giegold in Brüssel einen unermüdlichen Kämpfer gegen Agrarindustrie und Pharmakonzerne sowie für mehr Transparenz im von mafiösem Lobbyismus überschwemmten EU-Parlament sitzen. Doch das Problem der Partei ist, dass sie sich einst zwar der spontanen Vertretung durchaus legitimer Interessen verschrieben, aber nie eine gesellschaftspolitische Programmatik, die den Widerspruch von Kapital und Arbeit in der Globalisierungsära thematisiert, entwickelt hat.


Dieser Beliebigkeit und Richtungslosigkeit ist das Paradoxon geschuldet, dass neben engagierten und verantwortungsbewussten Aktivisten bei den Grünen jede Menge Karrieristen wie Özdemir oder ausgewiesene Rechte wie Kretschmann zu finden sind. Und letztere setzen sich auf lange Sicht erfahrungsgemäß durch, indem sie soziale Ideen grundsätzlich einem wie auch immer gearteten Machterhalt oder -erwerb opfern und kritische Inhalte bis zur Unkenntlichkeit abschwächen, um sie systemkompatibel zu machen.
 

06/2019

Dazu auch:

Grün goes Pegida im Archiv dieser Rubrik (2016)

  






Die Fabel vom Wolf Markus*


Im schönen Bayernland lebte einst ein Wolf, der wegen seiner Grobheit und Rücksichtslosigkeit gefürchtet war. Markus durchstreifte ruhelos die politische Wildnis, immer auf der Suche nach Macht und Posten. Den anderen Tieren galt er als brutaler und verschlagener Rambo (um einen Begriff aus dem Menschenreich zu bemühen). Von einem Tag auf den anderen aber wandelte sich Markus zum verständnisvollen Landesvater, der seinen Untertanen bis hinunter zu den Bienen zuhörte, seinen Ton mäßigte und sanft wie ein Lämmlein über Dinge sprach, die er insgeheim lieber mit dem Müll entsorgt hätte. Was war geschehen?

 


Leader of the Pack


Zu der Zeit, als die Metamorphose erfolgte, saß Markus bereits als Söder I. auf dem bayerischen Thron. Er hatte den alten Leitwolf Horst aus dem Rudel gebissen und ihn aus dem Revier nach Preußen verbannt. Markus aber mochte nicht nur König von Bayern sein, er wollte es auch bleiben. Also knurrte er Furcht einflößend, dass zugereiste Wölfe sich den bayerischen Sitten zu unterwerfen hätten. Da er es aber für noch besser hielt, flüchtige Artgenossen aus umkämpften Wäldern erst gar nicht Schutz und Bleibe zu gewähren, stellte er eine Rüdenpatrouille für die eigenen Grenzen auf.


Markus fletschte die Zähne der EU und Berlin gegenüber, betonte, dass sein Bayern das beste aller möglichen Bayern sei, und markierte seinen Forst an allen Ecken und Enden mit drohenden Kreuzen. Da er sich nicht wie die gewöhnlichen Wölfe damit begnügen wollte, den Mond nur anzuheulen, rief er das Raumfahrtprogramm Bavaria One ins Leben, wohl um fremden Lebewesen im All Kulturgüter wie das Fingerhakeln und den Leberkäse nahezubringen


Jetzt bin ich der größte Leitwolf aller Zeiten und unermesslich populär, dachte der Markus, doch darin irrte er gewaltig. Die Tiere sahen, dass er das Geld für Bavaria One glatt vergessen hatte und seine Rüden an der Grenze kaum Flüchtlinge fingen, aber ordentlich Steuermittel verschlangen. Vor allem aber trauten und glaubten sie Markus nicht, weil er immer noch so aggressiv um sich biss wie in jungen Jahren. Die Kunde von seiner Unbeliebtheit wurde ihm von Herolden hinterbracht, und sogleich sann er nach, wie er sein Ansehen ein wenig steigern könne, ohne von List, Macht und Pfründen lassen zu müssen.


Der Versuch mit der Kreide


Alte weise Wölfe rieten Markus dazu, es mit Kreide zu versuchen. Der schluckte weißes Kalkgestein in rauen Mengen, und tatsächlich veränderte sich seine Stimme. Sie verlor ihre rotzige Schärfe und wurde mild, ja beinahe lieblich, klang ganz wie die eines sich um die Seinen sorgenden Patriarchen. Und mit dem Timbre wandelte sich die Melodie.


Plötzlich säuselte Markus, man/wolf dürfe keine bösen Worte über Asylbewerber verlieren, das bislang von ihm verspottete christdemokratische Nachbarrudel sei eigentlich ganz in Ordnung, und auch die supranationale Wolfsgesellschaft in Brüssel tue ihre Pflicht, zumal sein Spezl, das Betatier Manni, dort in Kürze die Regie übernehmen werde.

 


Doch es half nichts, die Tiere vertrauten ihm nicht, weil sie überall auf Wahlplakaten sein leicht grimassierendes Antlitz mit der zu einem hinterlistigen Grinsen verzogenen Schnauze sahen. Nur noch 38 Prozent von ihnen mochten ihm ihre Stimme geben, und er musste sich mit den sektiererischen Freien Wölfen, die sich aus Gründen, an die sich niemand mehr erinnern konnte, vom Mutterrudel getrennt hatten, arrangieren, um überhaupt noch Leitrüde bleiben zu können.


Der Schafspelz-Trick 


Da entschloss sich Markus dazu, eine vollständige Kehrtwende einzuleiten, wenigstens äußerlich und nach Bedarf auch inhaltlich. Er versteckte sein gräulich-schwarzes Fell unter einem blühend weißen Schafspelz und verkündete des Öfteren das Gegenteil von dem, was er zuvor propagiert hatte.


Als Söder I. noch als marodierender Alpharüde nach oben drängte, hatte er das Riedberger Horn, im Alpenplan als Allgäuer Schutzzone C der striktesten Art ausgewiesen, durch eine Skischaukel zerstören und für den Trampeltourismus reif planieren lassen wollen. „Der Alpenraum ist kein Denkmal, ist keine Verbotszone für Bürger.“ So beschied er Naturschützer und anderes Öko-Gesindel kurz und bündig. Einen weiteren Nationalpark werde es in Bayern nicht geben, dekretierte er unter dem Beifall der privaten Forstwirtschaft. Die Natur war nach seiner Raffzahn-Devise in erster Linie dazu da, Holz und Kapital aus ihr zu schlagen.


Als erklärte Feinde der Makro-Landwirtschaft mit den für sie typischen sauberen Monokulturen und dem todsicheren Einsatz von Insektiziden die bayerische Fauna zu einem Tierbegehren gegen das Bienensterben aufriefen, bellte Markus noch verächtlich. Wenig später aber musste er registrieren, dass die Initiatoren damit den Geist der Zeit getroffen hatten. Und da begann seine endgültige Verwandlung vom rabiaten Wolf zum jovialen Leithammel.


Alles, was die grünen Schwätzer forderten, werde in ein möglichst unverbindliches Landesgesetz gegossen, blökte Markus, und das Riedberger Horn sei als Schutzgebiet für Birkhühner auf einmal wieder unantastbar. In seinem weißen Schafspelz setzte er sich an die Spitze der Bewegung, weil ihm seine feine Witterung signalisiert hatte, woher der Wind weht. Er beschloss bei sich, die Herde so lange zumindest vorgeblich in die nachhaltige Richtung zu führen, bis der Zeitgeist umspränge und rechter Populismus, Fremdenfeindlichkeit sowie Öko-Erschlaffung wieder erste Wahl seien und den ganzen Wolf in ihm erforderten.


Den Tieren aber erging es ähnlich wie dem Personal von Orwells Animal Farm: Sie blickten von den Wölfen zu den Schafen, und von den Schafen zurück zu den Wölfen, und sie konnten keinen Unterschied mehr erkennen. Also gingen sie zu den Urnen und gaben Markus und seinem Rudel mehr Stimmen für das Europaparlament als in den Zeiten des alten Isegrim Horst. Es ist das Schicksal der Schafe und Rindviecher, stets Ihresgleichen zu folgen, auch wenn es zum Schlachten geht.

     

*Wölfe sind Beutegreifer, deren Remigration nach Deutschland ich ausdrücklich begrüße. Ihnen Eigenschaften wie „gut“ oder „böse“ zuzuschreiben, sie also zu „vermenschlichen“, ist nur im Bereich der Fabel statthaft. Wenn ich den Politiker Söder also mit den Attributen des Meisters Isegrim  im Tiermärchen ausstatte, so nur deshalb, weil sein Verhalten an das der Fabelfigur erinnert. Ansonsten hätte ich auch andere Vertreter der Fauna, etwa eine Hyäne, einen Iltis oder einen Pfau, als Pendant auswählen können. 

06/2019 

Dazu auch:

Lumpaci & Vagabundus (2016) und Das Söder (2012) im Archiv dieser Rubrik

 

                        

 


Herr Maas deliriert

 

Er sucht nach eigenem Bekunden „Verbündete für Menschenrechte“ und scheut sich dabei in seinem Eifer nicht, in Brasilien einen faschistoiden Präsidenten und in Kolumbien einen angehenden Brandstifter zu hofieren. Er schwärmt von Humanität und unterstützte doch im Sudan einen weltweit geächteten Gewaltherrscher, bis der von seinen eigenen Leuten gestürzt wurde. Er möchte den Frieden in Mali sichern und verschweigt, dass dort deutsche Soldaten die Massaker an einer ethnischen Minderheit durch ihre Alliierten tatenlos registrieren. Unter all den bigotten Figuren in Berlin, die sich als Hüter des Weltgewissens gerieren, ist der SPD-Außenminister Heiko Maas wohl der versierteste Heuchler.


Nicht heikel in der Partnerwahl


Der stets adrett gekleidete Außenminister der Bundesrepublik Deutschland begab sich unlängst auf eine Lateinamerika-Tournee. Dass er Brasilien und Mexiko besuchte, war zunächst einmal der Bedeutung beider Länder als Handelspartner geschuldet. Und für bilaterale Deals zur Gewinnsteigerung deutscher Konzerne lässt der gelernte Jurist Heiko Maas schon mal alle Fünfe gerade sein, auch wenn er damit dem Rechtsbruch das Wort redet. So verteidigte er im Vorjahr die nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz § 6 Abs. 3 verbotenen (und inzwischen tatsächlich teilweise unterbrochenen) Rüstungsexporte an das kriegführende Saudi-Arabien mit fulminantem Nonsens: "Dass das unseren eigenen Richtlinien nicht widerspricht, ergibt sich ja schon daraus, dass das genehmigt wurde und damit auch innerhalb der Bundesregierung geprüft worden ist." Oder anders ausgedrückt: Was einmal nach unseren eigenen Gesetzen Unrecht war, kann jetzt nicht falsch sein. Mit solcher Logik kann man auch in Südamerika rechte Freunde finden.


Doch es geht dem Mann mit der flexiblen Moral nicht nur darum, dort den sich zierenden Mercosur-Staaten Freihandelsverträge mit der EU aufzudrängen und den wirtschaftlichen Einfluss Chinas einzudämmen, er erklärt allen Ernstes, er treffe „Verbündete für Menschenrechte und Multilateralismus“, wobei er ganz unilateral das Geschäft der Trump-Regierung betreibt, die offen einen Regime Change in Venezuela anstrebt, wie er im Irak oder in Libyen schon so effizient ins Chaos geführt hat.


Dubiosere „Verbündete für Menschenrechte“ als den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und seinen kolumbianischen Amtsbruder Duque hätte sich der flotte Maas in Südamerika gar nicht suchen können. Der eine, ein begeisterter Anhänger der blutigen Militärdiktatur von 1964 bis 1985, diskriminiert Frauen, Schwarze, Schwule oder Indigene gleichermaßen, ermuntert die Polizei zur Liquidierung von Kleinkriminellen und wird durch die Legalisierung des Kahlschlags in der Amazonas-Region für das Weltklima mindestens so gefährlich wie der Ignorant Trump; der andere will das Friedensabkommen mit der Guerilla in seinem Land aufkündigen und schaut wohlwollend zu, wie FARC-Rebellen, die ihre Waffen abgegeben haben, Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten zu Freiwild für die rechten Paramilitärs werden.


Wahrlich, mit solchen Alliierten an der Seite lassen sich Putsch und/oder Militärintervention in Venezuela trefflich anzetteln. 


Zündeln, bis es kracht


Auch nachdem der selbsternannte Gegenpräsident von Venezuela, Juan Guaidó, vergeblich das Militär zur Revolte angestiftet hatte, versicherte ihn Maas der vollen „Unterstützung“ durch die Bundesrepublik. Die „gute Gesellschaft“, in der er sich damit befand, war da noch deutlicher sichtbar geworden: Die USA behielten sich einen Militäreinsatz gegen Venezuela vor, hatte Donald Trump bereits im August 2017 gedroht, Kolumbiens Präsident Duque wollte die „Soldaten und Bevölkerung“ des Nachbarlandes auf die Straße schicken und Brasiliens Bolsonaro erklärte, seine Regierung werde die Umsturzbestrebungen in Caracas „zuverlässig unterstützen“. 

 

US-Senator Marco Rubio, Rechtsaußen der Republikanischen Partei, wechselte zwischen Florida nach Kolumbien hin und her, um die Intrigen gegen das Maduro-Regime zu koordinieren. So ließ er publikumswirksam ein paar Säcke mit 600 Kilogramm Nahrungsmitteln und Medikamenten an der Grenze aufstapeln und lenkte so willige Medien davon ab, dass die Versorgungskrise in Venezuela zu einem großen Teil den Sanktionen der USA und der EU, die Ankäufe nicht zuließen und Hunderttausende Tonnen von lebensnotwendigen Gütern in diversen Häfen zurückhielten, geschuldet ist.


Im Grunde gibt Maas nur lautstark der traditionell konspirativen Politik der BRD in Südamerika den offiziellen Segen: Die Konrad-Adenauer-Stiftung in Caracas unterhielt enge Kontakte zu den Putschisten, die 2002 einen von der CIA ausgetüftelten Plan umsetzten und den populären Präsidenten Hugo Chávez entführten. Der deutsche Botschafter Daniel Kriener, der kürzlich des Landes verwiesen wurde, verkehrte freundschaftlich mit dem Chef der rechten Partei Voluntad Popular, Leopoldo López, dessen politischer Ziehsohn Juan Guaidó ist. López war ebenso in den Putschversuch von 2002 verwickelt wie Otto Gebauer, der „Botschafter“  des von der Merkel-Regierung völkerrechtswidrig als „Präsident“ anerkannten Guaidó in Berlin.


Mag Maduros Regierung auch autoritär, ungeschickt und in ihren ökonomischen Maßnahmen kurzsichtig agiert haben – die größte Gefahr für den Frieden in ganz Lateinamerika bilden die immer militanter werdenden Versuche von außen, die alte weiße Elite gewaltsam zurück an die Macht zu bringen. Begleitet werden diese Bestrebungen vom Geschnatter des vorlauten Maas, das zwar niemand ernst nimmt, das aber die imperialen Misstöne überdeckt.


Prinzipienlos durch Afrika


Heiko Maas hat sein Faible für zwielichtige Gestalten und skrupellose Interessenwahrung nicht erst in Lateinamerika entdeckt. Am 11. April stürzten im Sudan die Militärs nach Massenprotesten den langjährigen Machthaber Omar al Bashir, der wegen diverser Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf internationalen Fahndungslisten stand. Pech für den deutschen Außenminister! Der hatte nämlich gerade einen Draht zum Regime des Mannes gefunden, dessen arabische Reiterhorden 2003 die Massaker an den Bauern in Dafur begangen hatten. Für Maas zählte allein, dass die Rapid Support Forces, die aus den Genozid-Milizen von Dafur hervorgegangen waren, den seit 2015 anschwellenden Strom der nach Europa strebenden Flüchtlinge schon in der sudanesischen Wüste rigoros stoppten.


Soll niemand sagen, dass Heiko Maas undankbar wäre. Noch im November vorigen Jahres äußerte er den Wunsch, die bilateralen Beziehungen zwischen Berlin und der Bashir-Diktatur zu stärken, und kündigte an, er werde das Regime auch in „verschiedenen internationalen Foren“ unterstützen. Wenn es um deutsch-europäische Interessen geht, können selbst aus exotischen Massenmördern politische Verbündete werden.


Verdächtig ruhig wird der sonst so redselige Außenminister hingegen, wenn es um eine peinliche „Nebenerscheinung“ des ansonsten von ihm überschwänglich gefeierten Einsatzes der Bundeswehr im westafrikanischen Mali geht. Im Auftrag der UN-Truppe MINUSMA, die laut der renommierten Stiftung Wissenschaft und Politik sehr unbeliebt im Land sei, „weil ihr die eigene Sicherheit wichtiger ist als der Schutz der Zivilbevölkerung“, trainieren deutsche Soldaten die einheimischen Streitkräfte. Diese wiederum scheinen immer häufiger in unheiliger Allianz mit den eigentlich von ihnen bekämpfenden Jihadisten Angehörige der Sprachgruppe der Mopti zu entführen und umzubringen.


In der vergangenen Woche ließ Maas seinem Plappermäulchen dann wieder freie Fahrt. Die Iraner, die mit aller Welt einen Vertrag geschlossen hatten, in dem de facto der Verzicht auf ein mögliches Atomwaffenprogramm gegen das Ende der Wirtschaftssanktionen durch die USA und die EU eingetauscht worden war, zeigten sich renitent. Sie wollten nicht einsehen, dass sie die Bedingungen des Paktes – auch nach Einschätzung aller Experten – getreulich eingehalten hatten, während die US-Administration kalt lächelnd ausgestiegen war und ein neues Embargo in Kraft gesetzt hatte. Als Teheran auch noch registrieren musste, dass die EU-Staaten zwar Lippenbekenntnisse zur Vereinbarung abgaben, ihre Vertragstreue aber blitzschnell auf dem „freien“ Markt kapitalistischer Wirtschaftsmoral opferten, als ihre mit dem Iran Handel treibenden Konzerne ihrerseits von Trump mit Sanktionen bedroht wurden, platzte den Mullahs der Kragen.


Sie forderten die EU ultimativ auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen, da sie ansonsten Schritt für Schritt vom Vertrag zurücktreten würden und ihr Atomprogramm wieder hochfahren würden. Da kamen sie aber bei Heiko Maas an den Falschen. Noch bevor sich der französische Präsident Macron und anderes vertragsbrüchige EU-Spitzenpersonal empört ob der persischen Impertinenz zeigen konnten, krähte der sozialdemokratische Wetterhahn bereits, Berlin erwarte, „dass Iran das Abkommen vollumfänglich umsetzt – und zwar ohne Abstriche“. 


Das ist postkoloniale Hybris: Wenn der Westen einen Vertrag „vollumfänglich“ bricht, heißt dies noch lange nicht, dass der betrogene Partner davon zurücktreten darf. Bei Maas kann man sich eigentlich nur noch fragen, ob Ignoranz, kriminelle Energie oder AD(H)S ihn zu solchen Äußerungen treiben. Wie dem auch sei, widerlich sind diese Rechtsbeugungen und Faktenverdrehungen auf jeden Fall. 

05/2019 

Dazu auch:

Heikos irre Logik im Archiv dieser Rubrik (2018)

 

 





Verletzter Verletzer


Ein Mann trägt ein selbstverfasstes Schmähgedicht, dem man angesichts des brachialen Gossenvokabulars nur mit viel gutem Willen das Etikett Satire anheften mag, im Fernsehen vor. Die Kanzlerin lehnt sich aus dem Fenster und stuft das sich gegen den türkischen Präsidenten richtende Machwerk – unberufen, aber inhaltlich richtig – als „bewusst verletzend“ ein. Der lyrische Provokateur verklagt daraufhin die Bundesrepublik auf künftige Unterlassung dieser Formulierung, als wolle er austesten, wie unantastbar schlechter Geschmack mittlerweile geworden ist. Das Berliner Verwaltungsgericht schmettert die Klage ab, und Jan Böhmermann muss sich fragen, wie lächerlich sich ein Spötter selbst machen darf.


Die vorlaute Kanzlerin


Si tacuisses… Wenn du nur geschwiegen und in dem von dir gewohnten komatösen Tran verharrt hättest, Angela, man würde dich weiterhin als politisches Pendant der drei indischen Affen verehren. So aber hat dich bzw. den Staat, den du angeblich regierst, ein durchgeschossener Schmalspurzyniker vors Gericht gezerrt, weil du zur falschen Zeit und ohne Not das Richtige gesagt hast.


Böhmermanns 2016 im ZDF-Format  Neo Magazin Royale gesendete Machwerk enthält ordinäre Verbalinjurien gegen den türkischen Wahldiktator Erdoğan wie Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner./selbst ein Schweinefurz riecht schöner oder Am liebsten mag er Ziegen ficken... Inmitten dieser Sudeleien findet sich dann in dünnen Worten eine Art moralischer Rechtfertigung (…und Minderheiten unterdrücken).  Aha, um gegen Minoritätenverfolgung zu protestieren, hat sich Böhmermann also des „Kunstgriffs“ der Beleidigung und Ehrenverletzung bedient und dabei (Döner stinkt) ein ganzes Volk mit in satirische Geiselhaft genommen.


Dass Merkel dies als „bewusst verletzend“ bewertete, war sachlich korrekt, doch gibt es zu denken, dass die Kanzlerin, die bislang weder als Medienkritikerin noch als Verteidigerin der Menschenwürde groß in Erscheinung getreten war,  so zeitnah und ungefragt reagierte. Hing es vielleicht damit zusammen, dass Berlin die dumme Sau Erdoğan (O-Ton Böhmermann) noch brauchte, um Flüchtlinge von Europas und vor allem Deutschlands Grenzen fernzuhalten?


Jan Böhmermann indes beklagte sich weinerlich, Merkel habe ihn „filetiert, einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert und einen deutschen Ai Weiwei aus mir gemacht“. Nun ist der chinesische Dissident Ai Weiwei ein weltweit anerkannter Künstler, hat folglich einen Status inne, den auch die mächtigste Opportunistin der Politik einem verpeilten Schmierenkomödianten nicht verschaffen kann. Zudem lebt Böhmermann ziemlich sicher in Merkels Republik, obwohl er nicht nur einen Despoten und seine Anhänger, sondern auch regimekritische Türken gegen sich aufgebracht hat. Dennoch verklagte er die BRD auf künftige Unterlassung der Formulierung „bewusst verletzend“, da diese einer Vorverurteilung gleichkomme (wieso vor?).


Was Satire darf


Die Richter des Berliner Verwaltungsgerichts lehnten die Klage ab, weil keine Wiederholungsgefahr bestehe, da sich die Kanzlerin inzwischen eindeutig von ihrer Äußerung distanziert habe. Von der Wahrheit, wenn sie nicht in der nützlichen Interpretation daherkam, haben sich bundesdeutsche Politiker immer schon gerne distanziert.


Bleibt die Frage: Was bewog Jan Böhmermann zur Anrufung eines Gerichts? Waren ihm nicht unerwartete Erfolge in den Schoß gefallen: Kritische Geister befanden zu Recht, dass Meinungsfreiheit in satirischer Form auch auf unterstem Niveau nicht den Rachegelüsten eines tobenden Autokraten geopfert werden dürfe. Der feudal-antiquierte Strafrechtsparagraph der Majestätsbeleidigung wurde wegen seines Falls gekippt, und er selbst erhielt den Grimme-Preis, eine TV-Auszeichnung, mit der vor ihm allerdings schon überwiegend peinliche Darstellerinnen wie die üppige Allzweckwaffe Veronica Ferres und Kunstwerke wie das Dschungelcamp geehrt wurden. Aber Böhmermann will sich damit nicht zufriedengeben, er möchte die Erhebung seines fäkal-schwangeren Pamphlets zum unangreifbaren Manifest per Jurisdiktion – ein Indiz für das gestörte Urteilsvermögen des Autors…


Auf die Frage, was Satire darf, antwortete Kurt Tucholsky kurz und bündig: „Alles“.  Im Umkehrschluss darf Satire aber auch schonungslos kritisiert werden. Und was Böhmermann als kabarettistischen Text präsentierte, war – mangels ironischer Distanzierung – eine primitive Suada, die nur bezüglich ihrer Daseinsberechtigung, nicht aber wegen ihrer Qualität Verteidigung verdiente. Dass der Verfasser zeitweise unter Polizeischutz gestellt werden musste und Drohbotschaften erhielt, ist traurig, dass er aber die Gerichtsbarkeit bemüht, um sich als Opfer einer von der Staatschefin befeuerten Hetze zu gerieren, wirkt eher absurd.


Kabarett und Satire können zuspitzen und übertreiben, Sachverhalte bewusst ins Gegenteil verkehren, doch geschieht dies mit dem Impetus, den ganz normalen Flachsinn der Politik zu entlarven, die Haltlosigkeit von Vorurteilen zu demonstrieren oder über Missstände aufzuklären. Zwar behauptete auch Böhmermann, er habe nur aufzeigen wollen, wann Spott die Grenzen der Satirefreiheit überschreite, doch fehlt im Text selbst jeder Hinweis auf dialektische Ironie. Das ist, als habe jemand eine MG-Salve auf einen Gegner abgefeuert, nur um die Sinnlosigkeit des Schusswaffengebrauchs zu dokumentieren.

      

Rechter Beifall für den Borderliner


Stil und Wortwahl im Schmähgedicht sind nicht auf Böhmermanns geistigem Mist gewachsen, man kann schon lange ähnliches zu vorgerückter Stunde in fröhlichen Bierrunden eloquenter AfD-Anhänger vernehmen. Gerade von ihnen wurde das Beleidigungsstakkato für bare Münze genommen, weil kein Hinweis auf die vermeintlich pädagogische Intention in den Versen wahrnehmbar ist. Die Rechtsaußen der Gesellschaft jauchzen auf – der Autor hat genau jene dumpfe Gesinnung bedient, deren Terminologie er angeblich bloßstellen wollte.


Man kann den Halb-Tyrannen Erdoğan angreifen, in seinem eigenen Stil beschimpfen oder sich über ihn lustig machen, man sollte ihn aber nicht vertiert darstellen und ihm die Beleidigungsfähigkeit absprechen. Man bekommt – egal, mit welcher Absicht dies geschieht – dann Beifall von der falschen Seite, und der üble Polemiker in Ankara darf sich mit Recht empört zeigen und die Solidarität seiner Landsleute einfordern.


Man sollte Jan Böhmermann kein rechtsextremes Weltbild unterstellen, was aber bedenklich stimmt, ist seine Reaktion auf die von ihm provozierten Reaktionen: Er pöbelt fahrlässig und zumindest missverständlich, relativiert ein wenig und gibt dann vor Gericht den von Kanzlerin und Republik Verfolgten. Wir lehnten alle rechtlichen Schritte gegen die im Gedicht geäußerten Beschimpfungen ab, weil wir stets der Meinung waren, dass auch misslungene Satire kein Fall für Gerichte sein darf. Nun geht der Autor aber selbst vor Gericht, weil er findet, dass ihn keiner missverstehen und seinen Text bewerten darf. Böhmermann wirkt wie ein ins Rampenlicht geratener Borderliner. Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung wird ein schwankendes Selbstbild wegen gestörter Selbstwahrnehmung attestiert. 

04/2019 

Dazu auch:

Comeback der Narren im Archiv der Rubrik Medien (2014)

                     

 





Retro-Bursche Tilman


Der neue Chef der Jungen Union (JU), Tilman Kuban, hat sich in der Wortwahl vergriffen und Merkels sedative Gängelung der CDU mit einer Vokabel aus der Nazi-Terminologie belegt. Deutsche Publizisten und sogar Parteifreunde regen sich darüber auf, unterschlagen dabei aber, dass Kubans Entgleisung nur einen fragwürdigen Höhepunkt der Restaurationswelle im rechten Lager darstellt, in deren Verlauf Standpunkte und Personen von anno dazumal recycelt und neuer Geltung zugeführt werden sollen.


Die jungen Doofen


Es ist die Crux der einstigen „Volksparteien“, dass die Organisationen ihres Nachwuchses sich bei den Wahlen der Vorsitzenden offenbar von der Devise Es kommt nichts Besseres nach leiten lassen. Früher hoffte man auf das Rebellentum der jungen Jahre -  etwa als Klaus Uwe Benneter das wahre Wort vom „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ gelassen aussprach und dafür von den Genossen ausgeschlossen wurde. Inzwischen ist der einstige Aufmupf reumütig als Parteirechter zur alten Dame SPD zurückgekehrt, und so schliffen sich auch andere Widerhäkchen im politischen Alltagsgeschäft rasch ab. Bei Kevin Kühnert, dem jetzigen Juso-Chef, der mutig die Symptome angreift und gründlich an der Oberfläche kratzt, darf man die Beendigung seiner Sturm- und-Drang-Zeit per Postenzuweisung fast täglich erwarten.


Gut, Gerhard Schröder und Andrea Nahles haben es nach ihrer politischen Initiation als jugendliche Apparatschiks zu etwas gebracht, aber heute wäre es uns lieber, dies wäre nicht geschehen. Gleiches gilt für Markus Söder, den Hallodri Max Streibl und Otto Wiesheu, der als besoffener Todesfahrer immerhin zum Wirtschafts- und Verkehrsminister in München aufstieg, alle einstige Anführer der bayerischen JU.


Ziemlich unauffällig agierte zuletzt das Führungspersonal des CDU-Nachwuchses – bis der intellektuell stets etwas sparsam wirkende Paul Ziemiak vor der Wahl zum Parteivorsitz mit fliegenden Fahnen von Friedrich Merz zu Annegret Kramp-Karrenbauer überlief, um anschließend von ihr zum Generalsekretär geschlagen zu werden. Der neue JU-Chef Tilman Kuban hingegen erregte gleich von Anfang an Aufsehen und Zweifel, ob er nicht erst spreche, dann denke (wenn überhaupt) und ob ihm der während der zwölf Jahre vor 1945 gepflegte Jargon in seiner tödlichen Bedeutung geläufig sei. Zumindest hat er sich eines Nazi-Begriffs bedient, um die Parteifreundin Angela abzuwatschen.


Saufende und schlagende Eliten


Vermutlich wollte Kuban den Zauber brechen, mit dessen Hilfe Merkel ihre CDU und mit ihr die ganze Republik jahrelang in Tiefschlaf versetzen konnte. Als er ihr aber „die Gleichschaltung“ der Partei vorwarf, verglich er sie nolens volens mit den Nationalsozialisten, die unter diesem Motto die Kultur, den kritischen Intellekt, die Medien und alle Organisationen niederwalzten, bis nur noch brauner Odel übrig blieb. Tilman Kuban ist kein Historiker, sondern Jurist, insofern versteht er vielleicht vom geschichtlichen Hintergrund wenig, aber wenigstens der rechtliche Aspekt der damaligen Massennötigung sollte ihm doch nicht verborgen geblieben sein. Vielleicht weist jedoch ein bis heute offenes Kapitel seiner Vita auf einen gewissen Mangel an Sensibilität bezüglich humanistischer Werte hin.


Dass Kuban für die Unternehmerverbände Niedersachsen als Leiter Recht und Nachhaltigkeit tätig ist, gehört zu den gewöhnlichen Etappen im Leben eines JU-Vorsitzenden, endet die typische Biographie nach einem Intermezzo in der Politik doch meist in Aufsichtsräten oder Lobby-Agenturen. Interessant hingegen – gerade hinsichtlich der politischen Präferenzen – ist seine Aussage, stolz auf die Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung zu sein.


Überhaupt scheint die ganze JU fest in der Hand studentischer Verbindungen, deren martialische Vorhut die schlagenden Burschenschaften bilden, zu sein. Kubans Vorgänger, der Merz-Judas Ziemak schaffte zwar sein Jurastudium nicht, wohl aber die Aufnahme in gleich zwei katholische Verbindungen. Was im frühen 19. Jahrhundert als akademische Bewegung mit dem Ziel der nationalen Einigung begann, entwickelte sich bald zu einem Hort reaktionärer Deutschtümelei, antisemitischer Hetze und militaristischer Saufkultur. Heinrich Heine war wegen der Propagierung einiger bürgerlicher Freiheiten zunächst Mitglied einer Göttinger Männerbundes geworden, notierte aber schon 1820 kurz vor seinem Austritt über das Wartburgfest der Burschenschaften:


 „Auf der Wartburg hingegen herrschte jener unbeschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte, als Bücher zu verbrennen!“


Nach der Hitler-Diktatur konnten sich die studierenden Sprösslinge der Oberschicht und des gehobenen Mittelstandes das angeknackste Nationalbewusstsein bei den archaischen Zeremonien, elitären Trinkgelagen und blutigen Mensuren in der typischen Maskerade der Verbindungen mit Kappe und Schärpe wieder aufpolieren. Doch die Mitgliedschaft in den Akademiker-Clans barg auch einen wichtigen ökonomischen und – wie das Beispiel JU belegt – politischen Vorteil in sich: Nirgendwo sonst wurden lukrative Positionen und angesehene Posten, vom Notar bis zum Chefarzt, so effizient unter der Hand verschachert wie in den Burschenschaften mit ihren mächtigen Alten Herren. Bei Bewerbungen aller Art wurde stets der Bundesbruder bevorzugt.


Die für Verbindungen so typische bierselige Ideologie zwischen Reaktion und Restauration, die Sehnsucht nach dem angeblich so hehren Mittelalter und dem reinrassigen Germanentum müssen auch Tilman Kuban umgetrieben haben, als er kurz nach seiner Wahl zum JU-Vorsitzenden den rhetorischen Rückwärtsgang einlegte und mit Vollgas in die Vergangenheit preschte.

 

Mumien und Schauergeschichten

 

Kuban warf nicht nur Merkel verbal in den Nazi-Topf, er zog auch über die Grenzöffnung für Flüchtlinge 2015 („gegen die schweigende Mehrheit der CDU“) her. Er hätte auch gern wieder die allgemeine Wehrpflicht, vermutlich um genügend Soldaten zum Marschieren durch die weite Welt vorzuhalten, und nennt den Ausstieg aus der Atomenergie (der nach Fukushima eigentlich Merkels Ausstieg aus ihrem eigenen Ausstieg aus dem Ausstieg von SPD und Grünen war) eine „zweifelhafte Entscheidung“. Scheinbar hält er eine Technologie, die der Mensch nie zur Gänze beherrschen wird und deren Hinterlassenschaften die Erde zu kontaminieren drohen, für eine praktikable Alternative.


Mit solchen Einlassungen befindet sich Tilman Kuban eigentlich voll im Trend einer Partei, die zunehmend rückwärtsgewandt alle Hemmschwellen der rechtsliberalen Merkel-Ära abbauen will. Da taucht wie eine abgehärmte Mumie der Bierdeckel-Magier Friedrich Merz wieder aus der politischen Versenkung auf. Da schlägt Annegret Kramp-Karrenbauer als neue Domina bezüglich der Flüchtlingspolitik Töne an, für die eigentlich die AfD Urheberrecht beanspruchen könnte. Da macht die christliche Partei mit ihrer Mission „Waffen für die Welt“ einem Hilfswerk der Evangelischen Kirche antagonistische Konkurrenz.


Tilman Kuban hat gesagt, er sehe sich selbst mit dem Vers „sturmfest und erdverwachsen“ aus dem Niedersachsenlied gut beschrieben. Klingt irgendwie nach Klabautermann oder nach Gnomen und Erdgeistern aus einem Schauermärchen von E.T.A. Hoffmann.

03/2019

Dazu auch:

Bote aus dem Jenseits in dieser Rubrik                      

 

 

   

                

 Barleys Gesetz

 

Über sehr viele Persönlichkeiten, die sich (noch) nicht durch Aufgabe von Grundsätzen oder Bruch von Wahlversprechen unglaubwürdig gemacht hätten, verfügt die SPD nicht mehr. So verwundert es kaum, dass eine unbelastete Politikerin seit Jahren von Position zu Position geschoben wird, mal Generalsekretärin, mal Ministerin und dann wieder Spitzenkandidatin sein darf. Doch ist Katarina Barley, sozialdemokratische Nummer Eins bei den Wahlen zum EU-Parlament, tatsächlich so honorig und kompetent, wie es uns ihre gebeutelte Partei glauben machen will? Die Art und Weise, wie sie ein neues Gesetz, das in der avisierten Form die Presse- und Informationsfreiheit einschränken würde, durch den Bundestag puschen möchte, lässt jedenfalls erhebliche Zweifel an ihrer Kompetenz und/oder Integrität aufkommen.

 

Ahndung der unbequemen Wahrheit

 

Das Net-Portal CORRECTIV, das Medien- und Wirtschaftspolitik kritisch beäugt, schlug Alarm: Ohne großes Aufsehen sollte dieser Tage ein Gesetz im Bundestag durchgewunken werden, das für investigative Journalisten und Whistleblower fatale Folgen zeitigen könnte. Besonders bemerkenswert bei diesem Vorgang waren (und sind) die schlampige wie intransparente Arbeitsweise der Spitzenbeamten im Justizministerium sowie die flapsige Ignoranz der zuständigen Ministerin Katarina Barley.

 

Bereits 2013 legte die EU in Brüssel eine Richtlinie gegen Industriespionage vor, die es Unternehmen ermöglichen sollte, leichter Anzeige zu erstatten, um den Verrat von Geschäftsgeheimnissen an die Konkurrenz zu ahnden. Zwar kritisierte die Anti-Lobby-Organisation Corporate Europe, dass diese Richtlinie ein Geschenk für Unternehmen sei und der Entwurf auf einer Studie der wirtschaftsfreundlichen Anwaltskanzlei Baker McKenzie beruhe, doch sah der Text immerhin eine Ausnahmeregelung für Enthüllungsjournalisten vor, die ja schließlich auch aus Firmeninterna zitieren, aber keine Spionage zugunsten Dritter betreiben. Die EU-Mitgliedsstaaten bekamen als Hausaufgabe mit auf den Weg, die Brüsseler Direktive bis Juni 2018 in ihre eigene Gesetzgebung zu übertragen.

 

Wie das legislative Leben in Berlin so spielt: Die mit der Aufgabe betrauten Beamten pennen ein wenig, dann ist das Ministerium eine Zeitlang führungslos, darauf folgen die Irrungen und Wirrungen der Koalitionsbildung nach der Wahl 2017, und schließlich offenbart die neue Ministerin Katarina Barley frappierendes Desinteresse an der Gesetzesvorlage. Jedenfalls verfehlt Deutschland die von der EU gesetzte Deadline großzügig, was dazu führt, dass nun, neun Monate später, im Bundestag über einen Text abgestimmt werden soll, den Journalistenverbände, Verleger, Rechtsexperten und Abgeordnete aller im Parlament vertretenen Parteien (mit Ausnahme der AfD) in seiner jetzigen Form ablehnen. Denn durch ihn entstünde möglicherweise die gefährliche Situation für Rechercheure, die Brüssel eigentlich hatte vermeiden wollen.    

 

Failed in Translation

 

Jörg Rosenow, Referatsleiter für Wirtschaftsrecht im Bundesjustizministerium, hatte mit seiner Mannschaft anderthalb Jahre lang in aller Stille an dem Gesetzesentwurf gearbeitet und aus der von der EU dekretierten Ausnahme für investigative Journalisten eine Art Radio-Eriwan-Abwägung gemacht: Im Prinzip dürfen die Enthüller über interne Vorgänge berichten, allerdings können die Unternehmen sie danach anzeigen. Solange dann die Staatsanwaltschaft prüft, dabei möglicherweise Vernehmungen und Durchsuchungen vornimmt, stehen die Journalisten unter Verdacht, eine Straftat begangen zu haben. Redaktionsgeheimnis und Informantenschutz passé!

 

Nach der bisherigen Regelung mussten Unternehmen ein „berechtigtes Interesse“ an der Geheimhaltung von Dokumenten belegen, was etwa bei den Manipulationen der Autobauer höchstens Amüsement erregt hätte. Diese Voraussetzung soll wegfallen, sie können nun unbedenklich klagen, wenn ihre Leichen im Keller von kritischen Medien obduziert werden. Zudem fand der Netzaktivist Arne Semrott noch heraus, dass den deutschen Übersetzern bei einem Passus zum Schutz von Whistleblowern in der EU-Vorlage ein Fehler unterlaufen war: In der Brüsseler Richtlinie heißt es, der Whistleblower müsse „on the purpose“, also „zum Zweck“ des Schutzes öffentlicher Interessen handeln, um auf der sicheren Seite zu sein. In der deutschen Vorlage, die – offenbar ungeprüft – vom Ministerium übernommen wurde, muss der Informant „in der Absicht handeln“, dem öffentlichen Interesse zu dienen. Aus der Frage nach dem objektiven Nutzen für die Gesellschaft wird so eine Prüfung der individuellen Motivation und der Gesinnung.

 

Kommt der Entwurf im Bundestag mit solchen Formulierungen durch, werden sich etliche Journalisten und Whistleblower fragen, ob sie sich künftig einer zumindest zeitweiligen Kriminalisierung aussetzen wollen. Kleinere Zeitungen, Verlage oder Blogs werden angesichts drohender Kosten bei zivilrechtlichen Klagen auch dann das Risiko von Veröffentlichungen scheuen, wenn sie auf Missstände stoßen und diese auch dokumentieren können.

 

Die Umtriebige macht sich rar

     

„Angriffe auf die Pressefreiheit sind Angriffe auf uns alle! Denn ohne eine freie und unabhängige Presse kann kein demokratischer Rechtsstaat funktionieren.“ So vollmundig und kämpferisch tönte die Juristin Katarina Barley in einer Rede zum Tag der Pressefreiheit 2018. Wenn es aber um den Schutz des gepriesenen Gutes geht, macht sich die Ministerin lieber unsichtbar oder verschanzt sich hinter zweifelhaften Binsenweisheiten.

 

So war das Einzige, was die umtriebige Ressortchefin, von der ein Parteifreund sagte, sie wolle viel erreichen, schnell vorankommen und in Debatten Konflikte vermeiden, zu dem Gesetzesentwurf bisher äußerte, die von den meisten Rechts- und Medienexperten als falsch klassifizierte Tatsachenbehauptung, er „beinhaltet einen stärkeren Schutz und höhere Rechtssicherheit für Journalisten und Hinweisgeber“. Und selbst dieses Statement stammt nicht von ihr selbst, es war vielmehr die Quintessenz eines zweieinhalb Seiten langen von ihren Beamten erstellten Sprechzettels.

 

Bleibt die Frage, ob der Entwurf vor der Abstimmung im Bundestag noch abgeändert wird oder ob es eine gleichgültige Ministerin (ohne das gewohnte Briefing durch ihre Mitarbeiter und in Gedanken bereits in Brüssel, dem nächsten Traumziel ihrer inhaltsarmen, aber karriereträchtigen Polit-Reise) schafft, ihn durch eine Versammlung mehrheitlich ahnungsloser und übermüdeter Parlamentarier zu schleusen.       

Vom Nutzen der Whistleblower

 

An einigen Beispielen lässt sich rasch aufzeigen, wie wichtig die Arbeit unkonventionell recherchierender Journalisten und mutiger Whistleblower für die Aufklärung und die Gesundheit der Bevölkerung, manchmal sogar für Krieg und Frieden ist – und was hierzulande ohne deren Legitimierung durch die Parlamentarier drohen könnte.

 

Ohne die Veröffentlichung von Konzern-Interna wäre der Diesel-Skandal nicht ruchbar geworden. Hätte Edward Snowden nicht die Praktiken seines geheimen Arbeitgebers enthüllt, könnten wir über den Grad unserer Ausspähung durch Agenten im Dienste der USA und Großbritanniens nur Vermutungen anstellen. Dass der hiesige BND dabei mitgeholfen hat und auch seinerseits die Bürger anderer („befreundeter“) Staaten überwacht, war lediglich die zu erwartende Folgenachricht.

 

Wären nicht die Pentagon Papers durch den Whistleblower Daniel Ellsberg an die US-Öffentlichkeit gelangt und hätten nicht Reporter der Washington Post und der New York Times mit Hilfe von Informanten den Präsidenten Richard Nixon der Lüge überführt, der Vietnam-Krieg wäre wohl noch länger geführt worden und hätte einen höheren Blutzoll gefordert.

 

Wie riskant wichtige Recherchen im Graubereich wirtschaftlicher Transaktionen sein können, wenn der Gesetzgeber den Schutz der Informationsfreiheit schleifen lässt, erfahren die Aufklärer von CORRECTIV gerade in eigener Sache. Sie hatten 2014 die CumEx-Machenschaften der Bank Sarasin enthüllt, also jene Tricks, mit denen findige Banker und Börsenmakler (auch anderer Geldinstitute) eine Gesetzeslücke ausnützten, indem sie sich bei grenzüberschreitenden Deals die Vorsteuer mehrfach zurückerstatten ließen und so die deutschen Steuerzahler um etliche Milliarden prellten.

 

Da die Sache bis ins Detail stimmte, ging die Schweizer Privatbank, deren Verantwortliche eigentlich auf die Anklagebank gehörten, nicht presserechtlich gegen CORRECTIV vor, sondern zeigte den Chefredakteur des Online-Portals, Oliver Schröm, wegen „Wirtschaftsspionage“ bei der Zürcher Staatsanwaltschaft an. Diese bat 2018 die Kollegen in Hamburg um Übernahme des Verfahrens, die jetzt wegen des Vorwurfs der „Anstiftung zum Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen“ ermitteln.

 

Solche Fälle, in denen der Übeltäter zum Kläger und der Bote der bösen Nachricht zum Beschuldigten mutiert, werden sich wohl häufen, wenn der vorliegende Gesetzesentwurf nicht noch entscheidend modifiziert wird – wenn mithin Katarina Barley nicht doch noch aus ihrer Unbedarftheit, aus ihrem Phlegma, aus ihrem unbedingten Gehorsam gegenüber der Wirtschaft oder aus was auch immer erwacht. 

03/2019 

Dazu auch:

Ehrung des Pfennigs im Archiv der Rubrik Medien

 

 

                                                  

 

Mehret euch, Ungarn!

 

Viktor Orbán ist ein autoritärer Landesvater mit völkischem Sendungsbewusstsein. Als solcher kümmert sich das Idol der hiesigen AfD nicht nur um die Reinhaltung des ungarischen Blutes, indem er Migration ablehnt und Flüchtlingen den Zugang zum magyarischen Paradies verweigert, er sorgt sich, ähnlich dem Herrgott im ersten Buch Mose, auch um die Vermehrung seiner Untertanen. Mit einem raffinierten Plan, der u.a. die Automobilbauer freuen wird, düpiert er alle Skeptiker, denen ohnehin schon zu viele Artgenossen auf der Erde leben.

 

Viele Ungarn statt Großungarn

 

Es ist noch nicht lange her, da erregte Orbán einige Besorgnis in den Nachbarstaaten wie Rumänien oder der Slowakei, weil er laut über ein künftiges Großungarn nachdachte, zu dem zwangsläufig auch die magyarischen Minderheiten in den an sein Land anrainenden Regionen gehören müssten. Da sich aber in der EU Grenzen nicht so einfach verschieben lassen, entwickelte er einen neuen Maßstab für die nationale Größe der Puszta-Republik: Nicht um die Ausdehnung geht es ihm nun, sondern um die Menge waschechter Ungarn.

 

Schon während der Zwangsbrüderschaft im eher prüden Warschauer Pakt galt Budapest als eine Art frivole Oase im Osten, als Exklave des gelebten Lustprinzips inmitten des staatssozialistischen Biedersinns sozusagen. „Der Ungar an sich schnackselt halt gern“, würden prominente bayerische Originale solch promiske Zustände beschreiben. Allerdings planen sexuell Aktive nicht zwangsläufig die Gründung einer Großfamilie, zudem tun sie sich in der Regel mit Pille, Kondom und anderen Verhütungsmitteln leicht. Die traurige Folge dieses Fachwissens war und ist ein erheblicher Rückgang der Geburtenrate, und statt größer zu werden, schrumpft Ungarn bis heute bevölkerungstechnisch.

 

Dem will Viktor Orbán jetzt gegensteuern, natürlich nicht durch Zuwanderung und Einbürgerung, sondern mittels einer abgestuften Belohnungsstrategie für das alteingesessene Volk. Denn es geht ihm nicht um ethnisch unqualifizierten Zuwachs, sondern (vorwiegend) um hellhäutige Sprösslinge mit Wurzeln in der magyarischen Muttererde. „Wir wollen nicht nur Zahlen, wir wollen ungarische Babys",  sagte Orbán laut taz, denn: „Wer sich - aus welchen Gründen auch immer - für Migration und Migranten entscheidet, schafft ein Land mit gemischter Bevölkerung."  Und die will der Heimatvisionär auf keinen Fall. Also lockt er gebärfaule Ungarinnen mit lukrativen Anreizen, die zugleich die einst berüchtigte Mobilität des Steppenvolkes auf zeitgemäße Weise erhöhen sollen.

 

Magyarische Autohorden

 

Eine Frau, die zum ersten Mal heiratet, kann ab jetzt einen staatlichen Kredit in Höhe von umgerechnet 31.417 Euro zur freien Verfügung in Anspruch nehmen. Sie muss aber reinrassige Ungarin und unter 40 Jahren alt sein. Bei Geburt ihres ersten Kindes wird die Rückzahlung drei Jahre lang ausgesetzt. Nach dem zweiten Kind wird ein Drittel des Kredits erlassen. Setzt die Mutter einen dritten Sprössling in die Welt, muss sie nichts mehr zurückzahlen. Eine ordentliche Bürgerin kann sich künftig in Ungarn also schuldenfrei gebären.

 

Frauen, die mindestens vier Kinder zur Welt gebracht haben und selbst aufziehen, werden bis zu ihrem Ableben von der Einkommenssteuer befreit (vermutlich keine große Wohltat des Staates angesichts mangelnder Lebenszeit zu lukrativer Beschäftigung). Weitere Kreditprogramme und Teilbürgschaften des Staates stehen fruchtbaren Familien für den Wohnungserwerb zur Verfügung.

 

Noch ein besonderes Zuckerl für umtriebige Großfamilien und (vor allem) die deutsche Automobilindustrie hält Orbáns Katalog der Mehrungsprämien bereit: Ehepaare mit drei Kindern plus X erhalten beim Kauf eines mindestens siebensitzigen Kraftfahrzeugs vom Staat einen Zuschuss von fast 8.000 Euro. Die Ungarn, einst als weitschweifendes Reitervolk gefürchtet, das erst 955 mittels der Schlacht auf dem Lechfeld in seiner Expansion gestoppt werden konnte, werden also demnächst in Kleinbussen und SUVs Europa unsicher machen, möglicherweise auf der Flucht vor dem Kindergewusel im Smog der eigenen Städte.

 

Die guten alten Zeiten

 

Unter Viktor Orbán zeigt sich der ungarische Staat sehr traditionsbewusst, vor allem wenn der Zaunpfahl in eine bestimmte Richtung der eigenen Vergangenheit winkt. So beschrieb Klaus Harpprecht bereits 2015 in der ZEIT, dass die Kleinen in den Kindergärten patriotische Lieder und Sprüche lernen, in denen die Ungarn als „auserwähltes Volk“ aufscheinen, und dass viele Eltern trotz einer halben Million auf Hitlers Geheiß in ihrem Land umgebrachter Juden noch heute eine alte Waffenbrüderschaft feiern: „Die Erwachsenen dürfen zu Heldengedenktagen (mit Fackeln) antreten, bei denen nicht nur den gefallenen ungarischen Soldaten, sondern mit gleicher Inbrunst den Toten der deutschen Wehrmacht und mit besonderem Pathos der Waffen-SS gehuldigt wird.“

 

Ins Bild passt, dass mittlerweile überall im Land wieder Statuen des „Reichsverwesers“ von Hitlers Gnaden, Admiral Horthy, aufgestellt werden. Und auch Orbáns Plan, eine migrantenfreie  Aufstockung der ungarischen Bevölkerung zu erreichen, erinnert vage an nationalsozialistische Programme. Auch im kurzlebigen Tausendjährigen Reich existierten finanzielle Anreize, um „rassisch wertvolle“ Frauen zur Reproduktion zu motivieren. Heiratswillige Paare, die nationalsozialistischen „Qualitätsanforderungen“ entsprachen, konnten ein Darlehen von tausend Reichsmark beanspruchen. Pro Baby verminderte sich die Darlehensschuld um ein Viertel und war so nach der vierten Geburt „abgekindert“.


Natürlich ist jeder Vergleich Viktor Orbáns mit einem faschistischen Machthaber absurd, ist seine Fidesz-Partei doch geachtetes und manchmal sogar umworbenes Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei  im EU-Parlament, sitzt also in Reih und Glied mit den beiden deutschen Christ-Unionen, anerkannten Sammelbewegungen lupenreiner Teilzeit-Demokraten. Die erwähnte Ähnlichkeit mit Nazi-Methoden zur Erhöhung der völkischen Kopfzahlen muss also ausschließlich zufälliger Natur sein…


Auf Letzteres weisen auch Äußerungen Orbáns hin, dass er im Kampf gegen den ungarischen Bevölkerungsschwund – ganz im Widerspruch zum Purismus der Nazi-Eugeniker - sogar auf die Roma baut. Bislang hatte der Ministerpräsident diese Minderheit von lokalen Behörden drangsalieren lassen und sie nach Herzenslust beschimpft – obwohl doch der Zigeunerprimas als Protagonist verlogener  Czardas-Folklore eine Hauptrolle in der internationalen Touristenwerbung spielt. Jetzt ernennt der wandelbare Geburtenplaner diese Minorität ausdrücklich zum kleineren Übel im Vergleich zu dahergelaufenen Migranten.


Ob sich an der fürchterlichen sozialen Situation und dem Mangel an Bildungsmöglichkeiten für die Roma-Minderheit – ein vom Europarat in Auftrag gegebener Expertenbericht spricht von „systemischer Diskriminierung“ – etwas ändern wird, darf bezweifelt werden. Zur Aufhübschung der Statistik aber kommen Orbán selbst Babys mit für ihn und seine Konsorten zweifelhafter Abstammung recht.

02/2019 

Dazu auch:

Europa wird braun im Archiv von Politik und Abgrund (2016)               

 



Die Zartbesaiteten


Der bayerische Landtag hält eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus ab. Die Hauptrednerin kritisiert eine der anwesenden Fraktionen. Deren Abgeordnete ziehen mehrheitlich schmollend aus dem hohen Haus aus. In der medialen Öffentlichkeit wird über solche Empfindsamkeit gespottet, Vertreter der anderen Parteien, wiewohl nicht allesamt über ähnliche Anwürfe erhaben, distanzieren sich, und die Gescholtenen, begnadete Hetzer, fühlen sich diskriminiert. Die Reaktionen bleiben zumeist an der gutbürgerlichen Empörungsoberfläche. Dabei wäre es angebracht gewesen, den Ernst und die Richtigkeit der Äußerungen von Charlotte Knobloch über die AfD zu betonen und die Auseinandersetzung mit dieser Partei verbindlich danach auszurichten.


Die drei Säulen einer Partei


Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kulturgemeinde München und Oberbayern, war schon aus biographischen Gründen die berufene Rednerin. Sie selbst überlebte den Holocaust nur, weil eine katholische Hausangestellte sie in einem fränkischen Dorf als eigenes uneheliches Kind ausgab, ihre Großmutter, bei der sie in München gelebt hatte, wurde im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Knobloch mochte es im Landesparlament nicht bei würdigen, aber unverbindlichen Worten belassen, und so sagte sie, bezogen auf Abgeordnete, die nach ihrer Meinung aus dem Rassenwahn der Nazis keine oder unzulängliche Konsequenzen gezogen hatten: „Diese sogenannte Alternative für Deutschland gründet ihre Politik auf Hass und Ausgrenzung und steht nicht nur für mich nicht auf dem Boden unserer demokratischen Verfassung.“

 

Die meisten AfD-Abgeordneten verlassen daraufhin unter Protest den Planarsaal. Die Mitglieder der anderen Parteien klatschen der Vortragenden Beifall, obwohl sich auch einige Integrationsgegner unter ihnen zumindest mittelbar angesprochen fühlen müssten. Die AfD-Fraktionsvorsitzende Katrin Ebner-Steiner nennt das später einen „Eklat“ und meint damit nicht das Verhalten ihrer Kollegen, sondern die angebliche Absicht Knoblochs, eine Gedenkveranstaltung dafür zu missbrauchen, „die komplette AfD und ihre demokratisch legitimierte Fraktion durch übelste pauschale Unterstellungen zu diffamieren“. Ihr springt der bayerische Bundestagsabgeordnete Petr Bystron bei, der ganz andere Verantwortliche für den in Deutschland wieder zunehmenden Antisemitismus benennt, nämlich islamische Zuwanderer (die dummerweise selbst zum Großteil arabische Semiten sind), und kühn unterstellt: „Das weiß auch Frau Knobloch. Doch dieses Eisen will sie lieber nicht anfassen. Es ist ihr offenbar zu heiß.“


Mit Recht war aber tatsächlich von „Hass und Ausgrenzung“ in Verbindung mit der AfD die Rede, denn das sind genau die Pfunde, mit denen diese Partei auf dem Markt der nationalistischen Hybris wuchert, denen sie erst ihre Beliebtheit bei den gern nach unten Tretenden verdankt. Und Knobloch hat auch recht, wenn sie in ihrer Ansprache die Diskriminierung nicht auf den Anti-Judaismus beschränkt. Was den Ahnen einst das Semitische, ist nämlich den Enkeln im Geiste heute das Ausländische, Undeutsche und   Mohammedanische an sich. Es ist eine traurige Tatsache, dass unter den islamischen Migranten auch Judenhasser sind, für das fremdenfeindliche Klima in der Republik aber sind nicht sie in erster Linie verantwortlich, das ist hausgemacht.


An drei Determinanten lässt sich der Geist einer Partei hierzulande maßgeblich ausmachen: an ihren Mitglieder bzw. Wählern, an ihrem Programm und an ihrer Führung. Knoblochs Behauptung müsste demnach durch einen genauen Blick auf diese Säulen der AfD zu verifizieren (oder eben zu falsifizieren) sein.


Spitzenpersonal auf Abwegen


Gespräche mit AfD-Anhängern gelangen selten über Stammtisch-Niveau hinaus, wie aufmerksame Menschen, die wie ich in „gemischter“ Nachbarschaft wohnen, in „ganz normalen“ Gaststätten speisen oder den Sommer in lauschigen Biergärten genießen, überall in der Bundesrepublik bestätigen können. Da muss man nicht lange warten, bis die Sammelbezeichnung „Kanaken“ (für Ausländer, nordischer Typus ausgenommen) bemüht wird, und zu vorgerückter Stunde wird auch gerne die Weise von der „jüdischen Weltverschwörung“, die bereits in den 1920er Jahren ein Evergreen war und von den Nazis mitgesummt wurde, angestimmt.

 

Solches findet man freilich in AfD-Wahlprogrammen nicht. Hier wird nach dem Genuss von reichlich Kreide eher das neoliberale Lied vom starken Markt, der die schwächlichen Renten- oder Arbeitslosenversicherungen regeln (sprich: privatisieren) sollte, gesungen – allerdings unter Ausklammerung des internationalen Freihandels und mit stark deutschtümelnder Modulation. Richtig interessant aber wird es, wenn man sich anschaut, wer da in der ersten Reihe tönt. Dem Führungspersonal der AfD scheint nämlich die Kreide beizeiten ausgegangen zu sein, was zu Misstönen repektive zur Wiedergabe faschistischer Melodiefetzen führt.


Der bundesweit bekannteste rhetorische Rostfleck, der die dünne Lackschicht demokratischer Wohlerzogenheit durchbrach, ist dem thüringischen Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke gechuldet: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Damit wandelte er in herausragender Neonazi-Rabulistik das Berliner Holocaust-Mahnmal, das die Schande millionenfachen Mordes zumindest ansatzweise versinnbildlichen soll, zum eigentlichen Corpus Delicti um, nach dem Motto Nicht der Genozid ist grauenhaft, sondern seine Darstellung.


Nicht ganz so viel Aufsehen erregte ein Kommentar des niedersächsischen AfD-Vorstandsmitglieds Wilhelm von Gottberg, der den Holocaust de facto ins Reich der Legende verbannte, sich dabei aber – wohl um Ermittlungen der Justiz zu vermeiden – hinter einem Zitat des italienischen Neofaschisten Mario Consoli verschanzte: „Die Propaganda-Dampfwalze wird mit den Jahren nicht etwa schwächer, sondern stärker, und in immer mehr Staaten wird die jüdische ,Wahrheit‘ über den Holocaust unter gesetzlichen Schutz gestellt. Der Holocaust muss ein Mythos bleiben, ein Dogma, das jeder freien Geschichtsforschung entzogen bleibt.“ Die Rassengesetze, der Judenmord, die Konzentrationslager als Ausgeburten semitischer Propaganda – die Wahnvorstellung von der zionistischen Weltverschwörung - auch in den Medien - feiert Wiederauferstehung.


Die erstaunlichste Vorstellung vom Ausmaß historischer Verantwortung und Schuld präsentierte indes Alexander Gauland, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Reichstag und der Bundespartei, als er den Nationalsozialismus so verniedlichte: "Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte."


Fälschlicherweise warf man dem Mann, dem selbst das in solchen Dingen wenig sensible Bundesamt für Verfassungsschutz „völkisch-nationalistische Gesellschaftsbilder“ und Verstöße gegen den Grundgesetzartikel 3 bescheinigte, „Verharmlosung der Hitler-Diktatur“ vor. Nein, Gauland denkt einfach in ganz anderen Dimensionen als die durch Empathie und Pazifismus verweichlichte Bürgerschaft: Judenvernichtung, Euthanasie oder Verwüstung dreiviertel  Europas waren für ihn lediglich Versuche homöopathischer Markierung. Ein richtig „erfolgreicher“ Eingriff, der eine gewisse globale Hygiene garantieren würde, dürfte nach dieser Logik nicht an irdischer Begrenzung und Gravitation scheitern - wenn alles in die Luft fliegt.


Die Mär von den „besorgten Bürgern“


Man sollte nicht vergessen, dass der Vater der braunen Relativitätstheorie vierzig Jahre lang als CDU-Mitglied wirkte und in dieser Zeit immerhin vier Jahre lang die hessische Staatskanzlei unter Ministerpräsident Walter Wallmann leitete. Der rechtsextremistische Ungeist wird Gauland nicht plötzlich angesprungen haben, ein paar einschlägige Gedanken mögen ihm schon in seiner früheren politischen Heimat gekommen sein. Und so müsste man die Charakterisierung der AfD durch Charlotte Knobloch in Teilen auch auf die Christenunion übertragen. Hassbotschaften wird man dort vielleicht nicht vernehmen, aber was an Ausgrenzung und Diskriminierung von Migranten und Flüchtlingen in Parlamentsdebatten, Gesetzesinitiativen und Bierzeltreden mitschwingt, zeugt nicht gerade von biblisch gebotener Nächstenliebe.


Womit wir bei den Populistenverstehern in der SPD, bei den schwäbischen Grünen oder in anderen Parteien des parlamentarischen Spektrums wären: Wenn ein Sigmar Gabriel mahnt, „besorgte Bürger“ ernst zu nehmen, weil er die xenophoben Fans des Genossen Sarrazin als Wähler zurückgewinnen möchte, wenn Sahra Wagenknecht, geistige Mutter des Rohrkrepierers „Aufstehen“, mit sattsam bekannten Phrasen um AfD-Anhänger buhlt und wenn Winfried Kretschmann den Flüchtlingsschreck gibt, dann wird deutlich, dass der im Maximilianeum angeprangerte Chauvinismus längst in weiten Bereichen unserer Gesellschaft angekommen ist. Insofern hatte der Applaus der Abgeordneten für Knoblochs Rede einen heuchlerischen Beiklang.


Die AfD-Politiker aber, die das Land mit Fake-News, Verleumdungen, Geschichtsklitterungen und menschenverachtender Häme überzogen haben, gefallen sich nun in ihrer neuen Rolle als zartbesaitete Beleidigte, denen jedes x-beliebige Holocaust-Opfer Böses will.

02/2019

Dazu auch:

Die dümmsten Kälber im Archiv dieser Rubrik (2018)

Sahras rechter Flirt im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2018)

 

                     




Türsteher Strobl


Bislang galt Thomas Strobl als typischer Karrierepolitiker der soliden Provinz-Mittelklasse. Er war zunächst Generalsekretär der baden-württembergischen CDU und sitzt nun seiner Partei in Stuttgart seit 2012 vor; nur als Spitzenkandidaten für die letzte Landtagswahl mochten ihn die Unionschristen nicht haben – zu unauffällig im populistischen Getöse wahrscheinlich. Das wollte Strobl, mittlerweile Minister für Inneres, Digitalisierung und Migration (!) im Kabinett des grünen Rechtsaußen Kretschmann,  ändern und äußerte dem SPIEGEL gegenüber eine Forderung, die, setzte man sie konsequent um, die Profitraten im emsigen Ländle und in der ganzen Republik gefährden würde.


Böse müssen draußen bleiben


Da hatte Strobl also eine Idee, wie man sein Stüble rein halten könnte, und posaunte sie sogleich aus: „Wenn Ausländer schwerste Gewaltverbrechen begehen oder terroristische Organisationen unterstützen, sollte gesetzlich ein von vornherein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot verankert werden." Damit schlug er quasi vor, üblen Typen den Zutritt zur Disco Deutschland zu verwehren, damit man sie nicht später mit viel Aufwand der Lokalität verweisen müsse. Strobl wollte also lieber Türsteher sein als Rausschmeißer, hatte dabei aber eins nicht bedacht.


Im hiesigen Etablissement steppt der Bär vor allem nach der Melodie der Wirtschaft, und Gäste von auswärts, die Umsatz bringen, sind an der Cheftheke ebenso willkommen wie auf der politischen Tanzfläche, egal ob sie sich das eine oder andere Verbrechen gegen andere Menschen oder die Menschlichkeit in toto zuschulden haben kommen lassen.


Möchte Minister Strobl diesen auf gelassenem Laissez-faire beruhenden ökonomischen Kreislauf tatsächlich unterbrechen oder ist ihm nur ein unbedachter Vorschlag  entfahren, wie man garstige Flüchtlinge von den deutschen Fleischtöpfen fernhalten könnte? Ein Blick auf die Produktionsstruktur des eigenen Bundeslandes hätte ihm doch eigentlich zeigen müssen, dass schlechte Gesellschaft und dubiose Beziehungen, ein ein wenig selektive Toleranz vorausgesetzt, durchaus gewinnbringend sind. 


Führungszeugnis für die Kundschaft?


Rund um das Nordwestufer des schönen Bodensees allein tummeln sich Dutzende von Unternehmen (von Diehl Defence bis zur EADS-Tochter Cassidian), die daraus Vorteil ziehen, dass sich im Ausland Menschen töten und verstümmeln. Am idyllischen Neckar wiederum stellt Heckler & Koch international beliebte Sturmgewehre her, die laut Bundeswehr-Testat bisweilen sogar um die Ecke schießen können, die gleichermaßen für tödliche Präzision gerühmte Traditionsfirma Mauser findet man gleich in der Nachbarschaft. Insgesamt verdienen 120 Betriebe in Baden-Württemberg ihr täglich Brot mit der Rüstung (und deren Export in ferne Länder). Das einschlägige Geschäft läuft also gut im Ländle, und Petitessen à la Strobl könnten da nur stören.


Wie soll denn die deutsche Wertarbeit zuverlässig in die Hände von Kriegsherren, Söldnern oder Killertruppen in der Dritten Welt gelangen können, wenn die Unternehmen die Einkäufer aus den Krisengebieten nicht durchs Werk führen können, weil diese als Komplizen „terroristischer Organisationen“ und Handlanger „schwerster Verbrechen“ (Strobl) gar nicht erst nach Deutschland einreisen dürfen? Müssen die Kriegsminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Qatars oder Ägyptens in Zukunft etwa Katzen im Sack bzw. Drohnen und Panzer nach Prospekt erwerben, nur weil sie in irgendwelchen bewaffneten Konflikten mitmischen und ihnen deshalb verwehrt wird, die Objekte ihrer Begierde aus der Nähe zu betrachten und vor Ort sachkundige Fragen nach der letalen Effizienz zu stellen?


Und es geht ja nicht nur um Rüstungskonzerne. Am Stuttgarter Edel-Autobauer Daimler hält der Staatsfonds von Kuwait knapp sieben Prozent. Zwar gehört das Emirat der Horror-Allianz an, die derzeit den Jemen zurück in die Steinzeit bombt und die für Zehntausende von Opfern verantwortlich ist, doch kann dies nach deutschem Gewohnheitsrecht kein Grund dafür sein, den Ölscheichs den Zugang zu ihrem Teilbesitz oder den Aktionärsversammlungen zu verweigern. Und da Türsteher Strobl ja ganz Deutschland frei von Gangstern halten möchte, wäre auch das Wolfsburger Werksgelände von VW für die ebenfalls im Jemen agierenden Qatari, denen ein Siebtel des Konzerns gehört, plötzlich off limits.


Fast könnte man glauben, Thomas Strobl, der sich wie so viele Juristen per Eintritt in eine schlagende Verbindung (in seinem Fall die „Alte Leipziger Landsmannschaft Afrania“) die Karriereleiter schneller empor gehievt hat, sei bei einer Mensur, die gewöhnlich nur harmlose Stammesnarben hinterlässt, vom Säbel schwerer am Kopf getroffen worden, doch ist der Grund für seinen blauäugigen Fauxpas viel banaler: Der Moralist christdemokratischer Prägung hat es einfach an der notwendigen sprachlichen Differenzierung fehlen lassen.


Schurke ist nicht gleich Schurke


Hätte Strobl das „Einreise- und Aufenthaltsverbot“ auf verbrecherische „Ausländer, die nicht zu deutschen Unternehmensgewinnen beitragen“ beschränkt, wären Missverständnisse von vornherein ausgeschlossen gewesen. Nach einer solchen Klarstellung bräuchte sich der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der mal in seinem Konsulat morden lässt, dann wieder in mehreren Ländern zugleich Gewalt und Terror sät,  gar nicht erst angesprochen zu fühlen. Das Auswärtige Amt und das Wirtschaftsministerium haben auch ohne naive Invektiven durch ahnungslose Landesminister schon genug damit zu tun, die – eigentlich untersagten - permanenten Waffenexporte an Riad immer wieder mit in staubigen Schubladen aufgefundenen Ausfuhrgenehmigungen durch frühere Bundesregierungen zu rechtfertigen.


Es ist wie überall in unserer Gesellschaft: Gegen den gemeinen Verbrecher, in unserem Fall: den Handwerker der Gewalt, werden Vorkehrungen getroffen, die Initiatoren und Strategen des gehobenen Verbrechens, dessen Repertoire selbst Völkermord beinhalten kann, hingegen werden eingeladen und hofiert.


Thomas Strobl hat einfach nicht kapiert, dass Schurken nicht alle gleich sind, dass es Gangster gibt, die nützen. Aber was will man von dem wenig weltläufigen und bestenfalls bemühten  Schwaben auch an Voraussicht erwarten? Er war ja auch glühender Befürworter des Bahnprojekts Stuttgart 21, das sich mittlerweile anschickt, den Flughafen Berlin-Brandenburg wie eine lässliche Planungssünde geringen Ausmaßes aussehen zu lassen.

01/2019

Dazu auch:

Mörder und ihre Helfer im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2017)

Justiz, die gefällt im Archiv der Rubrik Medien (2017)  

                    

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2018


Bote aus dem Jenseits


Er ist wieder da: Bleich, hager, hohläugig starrend macht sich Friedrich Merz daran, den Vorsitz der Viertelvolkspartei CDU zu erobern. Als Wachsfigur aus dem Gruselkabinett des Neoliberalismus sehen ihn die einen, als rachsüchtigen Untoten, der einst durch Merkels Ranküne aus den irdischen Niederungen der Bundespolitik in die jenseitigen Gefilde des internationalen Finanzkapitalismus gescheucht wurde, fürchten ihn andere. Alle aber erkennen nach wenigen Wochen, dass er sich nicht verändert hat – der innere Sozialdarwinist in Vampirsgestalt bringt wie früher Vorschläge und Ansichten, deren Logik sich wohl nur ihm selbst erschließt, zu Gehör.


BlackRock in der Finanzbrandung


Als Friedrich Merz 2009 den Bundestag verließ, nachdem seine Putschpläne gegen die Kanzlerin gescheitert waren und er nach seiner Degradierung zum Vize-Fraktionschef der Union einen schleichenden Bedeutungsverlust wahrnehmen musste, wurde er von der Finanz- und Versicherungswirtschaft mit offenen Armen empfangen. Wieder einmal zeigte sich, dass nicht Intellekt (Einsicht durch Denkleistung) und Verantwortung zum Reichwerden befähigen, sondern operative Intelligenz (vulgo Bauernschläue) und vor allem Beziehungen.


Merz kannte jeden, und spätestens seit seiner Forderung, eine Steuererklärung müsse auf einem Bierdeckel Platz finden, kannte ihn hierzulande jeder. Auch wenn der Zauberfilz spurlos in seinem Koffer verschwand, den er in Berlin packte, um die Niederungen der Bundespolitik gegen das Elysium des Großkapitals einzutauschen, eignete sich Merz vorzüglich als Lobby-Aushängeschild und pflegeleichtes Führungsmitglied zahlreicher Konzerne und Banken.


So engagierten ihn nicht nur die AXA-Versicherung, die etwas unrühmlich agierende Commerzbank oder Borussia Dortmund für ihre Aufsichtsgremien, es berief ihn auch die Trinkaus & Burkhardt AG in ihren Verwaltungsrat, eine Tochter der britischen Großbank HSBC, der von Geldwäsche für Drogenhändler bis zur illegalen Kartellbildung so ziemlich alle Kavaliersdelikte des Finanzsektors nachgewiesen werden konnten. Auch der deutsche Ableger scheint im zweifelhaften Business aktiv geworden zu sein. Jedenfalls leitete die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft 2016 ein Ermittlungsverfahren gegen HSBC die Trinkaus & Burkhardt AG wegen Steuerstraftaten im Zusammenhang mit sogenannten Cum-Ex-Geschäften ein. Dabei machten Banken Milliardengewinne, indem sie sich nach trickreichen Aktiendeals die nur einmal abgeführte Kapitalsteuer auf Dividenden mehrfach zurückerstatten ließen. Die Bundesregierung bezeichnet solche Durchstechereien mittlerweile als illegal, auch für Friedrich Merz sind die Vorgänge „vollkommen unmoralisch“, obwohl es sich offenbar um gängige Praxis seiner AG, die er doch eigentlich als Verwaltungsrat hätte mitbekommen müssen, handelte.


Überhaupt scheinen Cum-Ex-Missetaten sein Polit-Comeback zu überschatten: Seit 2016 fungiert Merz als Aufsichtsratsvorsitzender der deutschen Filiale von BlackRock, dem mit einem verwalteten Vermögen von über 6,3 Billionen Dollar weltweit größten Finanztreuhänder, der u. a. an allen 30 DAX-Unternehmen beteiligt ist. Und auch dieses Unternehmen, das sich während der US-Bankenkrise an Abwicklungen und Hilfsmaßnahmen enorm bereicherte, war wegen Cum-Ex-Transaktionen in Deutschland von 2007 bis 2011 ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten. Dass Friedrich Merz bei diesem „vollkommen unmoralischen“ Fondsinvestor anheuerte, belegt je nach Sichtweise, dass es ihm egal war, wo er sein Geld verdient, oder dass er die Moral der Mega-Heuschrecke heben wollte.


Der alte Wilde


Es kann natürlich auch sein, dass die finanzielle Weltmacht BlackRock jemanden gesucht hat, der beste Beziehungen zum Verband staatlich alimentierter Wirtschaftslobbyisten, der sich hierzulande Bundesregierung nennt, unterhält, ja sich sogar an dessen Spitze setzen könnte. Und aus seinem Faible für das große Geld hat Merz nie ein Hehl gemacht. Sechs Monate, nachdem er in den Verwaltungsrat von HSBC Trinkaus &  Burkhardt berufen worden war, beauftragte ihn der Bankenrettungsfonds Soffin, die Verhandlungen über einen Verkauf der WestLB an private Investoren zu leiten. Ein knappes Jahr später stieg er wieder aus, nachdem seine Bank Trinkaus & Burkhardt in Kaufverhandlungen eingestiegen war. Einen Interessenkonflikt mochte Merz nicht erkennen, hat sich nach seiner Devise doch ohnehin jedes Handeln den allumfassenden Interessen der Finanzwirtschaft unterzuordnen.


Pro Kalendertag betrug das Honorar des umtriebigen Juristen Merz damals 5000 Euro brutto. Ein „nicht gerade billiges Angebot“ nannte der frühere NRW-Finanzminister Walter-Borjans die Summe, während der Empfänger von „Standardstundensätzen“ sprach. Heute würde Merz dies vermutlich eine normales Mittelstandszubrot nennen. Über die seltsame Begrifflichkeit, die der Kanzler-Aspirant bisweilen beim Beschreiben seiner Realität an den Tag legt, wird noch zu reden sein.


Früh schon versuchte Friedrich Merz, die Aura eines unorthodoxen Solisten um sich herum zu weben. Nun gelten die Leute im Hochsauerland, wo er in Brilon aufwuchs, ohnehin als etwas verschroben, doch reichte ihm dieses landsmannschaftliche Wesensmerkmal bei weitem nicht. Offenbar neidete er der den 68-ern ihren Anarcho-Habitus und reklamierte für sich jugendliche Rebellen-Attitüde und radikalen Aktionismus. Ein paar pedantische Reporter sahen sich in seiner Heimatgegend um, stießen aber nur auf Erinnerungen an ein paar dumme Schülerstreiche statt auf Belege Merz`schen Revoluzzertums.


Im Europaparlament und im Bundestag wurde Merz schnell zur rhetorischen Speerspitze des aller sozialen Absicherungen entbundenen Marktkapitalismus. Sein aufopferungsvolles Engagement für eine undurchlässige Kastengesellschaft in globalem Maßstab trug ihm Mitgliedschaften in verschiedenen Thinktanks, jenen internationalen Geheimgesellschaften, in denen Wirtschaftsgrößen, Militärs und ihnen dienstbare Politiker und Jornalisten die Welt verhandeln, ein, etwa in der Trilateralen Kommission oder in der Atlantik-Brücke, der er sogar vorsitzen darf.


Dass er als Mitbegründer der von den Arbeitgeberverbänden ausgehaltenen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, deren oberstes Ziel die geistige Wiederbelebung alter un- und asozialer Verhältnisse ist, von rechts bis rechtsaußen geschätzt wird, verdankt sich Positionen, mit denen er seinen Kampf gegen eine gerechtere Gesellschaft in unnachahmlichem Zynismus flankierte. Schon 2000 schlug Merz vor, die (in seiner Wahrnehmung) üppigen Altersrenten voll zu versteuern und das Eintrittsalter auf 70 Jahre zu erhöhen. Vier Jahre später wollte der schreckliche Vereinfacher (Bierdeckel!) den Kündigungsschutz zunächst für ältere, dann für alle Arbeitnehmer vollständig abschaffen. Auch propagierte er bereits die ominöse deutsche Leitkultur, als die CSU-Epigonen davon allenfalls zu träumen wagten.


Und natürlich redet Merz – zur Freude und zum Nutzen seiner Förderer – einer enthemmten Privatisierung das Wort, ganz so, als hätte man nicht bereits bei diesbezüglichen Versuchen der Bahn AG oder den fatalen, bisweilen auch letalen Erfahrungen anderer Länder mit strikter Profitorientierung im Gesundheitssystem und öffentlichem Verkehr beobachten können, wie katastrophal es sich für die Bevölkerung (insbesondere auch die Mitarbeiter) auswirkt, wenn Infrastruktur als Ware auf dem Markt privater Investoren feilgeboten wird.


Sprechen statt denken


Man sollte annehmen, dass ein derart fanatischer Apologet des sozialen Kahlschlags und der Herrschaft von Wenigen über den großen Gesellschaftsrest in einer halbwegs informierten Gemeinschaft chancenlos wäre, in der Öffentlichkeit und an der Wahlurne deftig abgestraft würde. Doch Merz profitiert von einem Phänomen, das man den Trump-Effekt, hierzulande vielleicht das AfD- oder FJS-Syndrom nennen könnte.


Die Menschen definieren die eigene Interessenlage nicht, erkennen nicht mehr, wer oder was ihnen schadet. Stattdessen benoten sie nur noch das Show-Talent, den Unterhaltungswert und die Fähigkeit, das eigene latente Wutpotential ins Mikrofon zu artikulieren, bei Politikern. Strauß mochte lügen, Waffen und Gelder ins Ausland verschieben und das Demokratieverständnis eines Autokraten offenbaren – für Millionen, nicht nur in Bayern, war er ein ganzer Kerl, der Klartext redete. Die AfD verficht – neben bräunlicher Volkstumsideologie – ähnlich wirtschaftsradikale Thesen wie Friedrich Merz, aber die Arbeiter, die sie wählen, stört das nicht, denn sie erkennen das eigene Stammtischgerede bei Gauland und Konsorten wieder. Und Donald Trump hat das System des medialen Overkill noch perfektioniert, indem er mit Hilfe der „sozialen Netzwerke“ (aberwitziger Cocktails aus Speed und Sedativa fürs Hirn) das kollektive Bewusstsein sturmreif für seine Fake News schoss.


Insofern könnte ein CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat Friedrich Merz wider alle Logik gefährlich werden. Bleibt die Hoffnung, dass er sich mit seiner vorlauten und wenig nachhaltigen Eloquenz selbst ein Bein stellt. Wenn er etwa das Asylrecht aus dem Grundgesetz entfernen, nach Protesten und einer halben Rolle rückwärts aber nur noch ein wenig kürzen will, wenn sich der mutmaßliche Multi-Millionär (so er denn nicht spiel- oder verschwendungssüchtig ist) vor den Massen prekär Beschäftigter und von Armut bedrohter Rentner dem Mittelstand, zurechnet, dann müssten auch die Allerdümmsten merken, dass hier einer spricht, der das soziale Diesseits längst mit dem abgehobenen Jenseits der Reichen, Mächtigen und Rücksichtslosen vertauscht hat, plötzlich jedoch als populistischer Wiedergänger zurückkehren möchte.

11/2018

Dazu auch:

Die dümmsten Kälber im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

                       

     




Der fünffache Maaßen


Kübel von Spott und Häme wurden über Georg Maaßen, den gegangenen Bundeschef des Verfassungsschutzes (VS), ausgegossen. (Und sein Bruder im Geiste, der sich zuletzt menschlich tief enttäuscht gerierende Innenminister Seehofer, bekam auch einige Spritzer ab.) Doch wird man so der multiplen Persönlichkeit des obersten Ex-Spions gerecht? Würdigt man auf derart oberflächliche Weise die zahllosen Facetten einer schillernden Figur der bundesdeutschen Zeitgeschichte adäquat? Wir meinen nein, und so wollen wir versuchen, den verblüffenden Eigenheiten (und Handicaps) des Scheidenden wenigstens einigermaßen gerecht zu werden.


1. Der Sinnesbehinderte


Nach dem denkwürdigen Auftritt des Verfassungsschutzangestellten Andreas Temme in Kassel, der beim Mord eines Internet-Café-Besitzers anwesend war, aber nichts gesehen, nichts gehört und nichts gewusst haben will, ging das Gerücht, die Landes- und Bundesämter hätten sinnesbehinderte Agenten rekrutiert. Auch dem gerade in den einstweiligen Ruhestand versetzten VS-Chef Maaßen attestierten viele nach den Vorkommnissen von Chemnitz, er leide unter schweren Sehstörungen. Nur lagen bei ihm die Dinge völlig anders als bim Subalternen Temme: Maaßen sah, aber er konnte das Gesehene nicht richtig verarbeiten. Die Sehnerven dürften bei ihm also in Ordnung zu sein, der kognitive Transfer allerdings scheint gestört.

 

In einem Amateur-Video sah Maaßen, wie Menschen ausländischen Aussehens von Wutbürgern gejagt und durch die Straßen der Stadt gehetzt wurden, was er nicht sah, war eine Hetzjagd. Und da in den Augen des dezidierten Rechten nicht sein kann, was nicht sein darf, erklärte er die Aufnahme und überhaupt alle ähnlichen Infos zu Fakes, obwohl es Verletzte gab und auch Journalisten angegriffen wurdenWegen dieses Wahrnehmungsfehlers wurde er nach langem Zögern seines Dienstherrn Seehofer vom Amt entbunden und wäre beinahe nach oben, zum Staatssekretär, befördert worden, wenn sich nicht der Volkszorn ausnahmsweise gegen den Rechten gerichtet hätte.

 

2. Der auffällige Geheime


Seit 1991 hatte Maaßen im Bundesinnenministerium gearbeitet und brachte es dort 2001 unter dem Rechtsaußen der halbrechten SPD, Otto Schily, sogar zum Referatsleiter für Ausländerrecht. Als der in Deutschland geborene und aufgewachsene türkische Staatsbürger Murat Kurnaz von der US-Army verschleppt wurde, sollte Maaßen prüfen, ob der fälschlich des Terrorismus Beschuldigte nach Deutschland zurückzuholen sei. Der findige Jurist begründete seine Auffassung, der zufolge Kurnaz die Einreise zu verweigern war, mit unwiderlegbarer Logik: Der Deutschtürke sei mehr als sechs Monate außer Landes gewesen und habe sich nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet. Stimmt. Kurnaz saß ohne Anklage im Isolations- und Folterknast von Guantanamo und durfte auch dank Maaßens Expertise noch fast vier Jahre länger dort bleiben.


Ansonsten aber verhielt sich der Karrierebeamte Maaßen im Innenministerium eher unauffällig. Das sollte sich schlagartig ändern, als er 2012 den Spitzenposten in einer Behörde übernahm, die gewöhnlich im Hintergrund wirkt. Er allerdings ging als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) in die Offensive, bog sich und der staunenden Öffentlichkeit so manche „Wahrheit“ zurecht, wollte gar unbequeme Journalisten juristisch verfolgen und glänzte mit exotischen Fake-Statements.


3. Der Besserwisser


Zwar fiel die endlose Pannenserie, ja man möchte fast sagen: die unheilvolle Kooperation des VS mit den Terroristen des NSU, nicht in Maaßens Dienstzeit, doch war er eigentlich mit dem Auftrag eingestellt worden, Licht in die düstere Langzeit-Affäre zu bringen. Stattdessen leugnete der Chef des schwer belasteten Dienstes vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags jegliches Fehlverhalten seiner Schlapphüte und warf den Abgeordneten keck Inkompetenz und Impertinenz vor.


Als die Fehler des VS im Fall des Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri untersucht wurden, verschwieg Maaßen den Einsatz eines V-Manns im Umfeld des Islamisten. Während bundesweit gerätselt wurde, ob durch Weitergabe von Informationen an die Berliner Polizei das Blutbad, dem elf Menschen zum Opfer fielen, hätte verhindert werden können, enthielt der Redezettel des obersten Verfassungsschützers die lapidare Behauptung: "Ein Fehlverhalten des BfV oder der Quelle ist nicht zu erkennen."


An anderer Stelle reagierte Maaßen schnell und brachial. Als der Blog Netzpolitik.org Dokumente des BfV zum Ausbau der Internet-Überwachung veröffentlichte, stellte er Strafantrag gegen Unbekannt wegen Landesverrats. Generalbundesanwalt Range setzte die Ermittlungen gegen zwei Netzpolitik-Journalisten erst aus, als beinahe alle Medien und selbst viele Politiker darauf hinwiesen, dass die Pressefreiheit bedroht werde.


Als sich beinahe die gesamte Republik durch die Snowden-Enthüllungen geschockt zeigte und sich nicht ohne Grund durch Geheimdienste der USA und Großbritanniens überwacht wähnte, dürfte Maaßen nur amüsiert geschmunzelt haben, ließ er doch seinen VS einigen „befreundeten“ Geheimdiensten eifrig zuarbeiten. Wie die SZ am 13. September 2013 enthüllte, lieferte das Bundesamt regelmäßig vertrauliche Daten an die größte Spionage-Krake NSA und kooperierte mit acht weiteren US-Diensten.


Über Edward Snowden aber, der die Global-Bespitzelung durch die NSA überhaupt erst aufgedeckt hatte, glaubte Maaßen etwas zu wissen, was nicht einmal das hasserfüllte US-Establishment zu behaupten wagte. Der Whistleblower stehe auf der Gehaltsliste von Putins Diensten, mutmaßte der VS-Chef, freilich ohne den geringsten Beweis vorzulegen. Die Absicht des bösen Aufklärers jedenfalls war für den bisweilen leicht delirierenden Maaßen sonnenklar: „Er hat einen Keil getrieben zwischen die USA und Verbündete, vor allem USA und Deutschland. Nur in Deutschland haben wir so eine große Diskussion. Das ist antiamerikanisch.“

     

4. Der Humorist


Dass Georg Maaßen auch über eine närrische Ader verfügt, zeigte sich erst, als er in seiner über das Intra-Net des Dienstes publizierten Abschiedsrede die biedere SPD kryptosozialistischer Tendenzen verdächtigte. In seinem launigen Lebewohl vor internationalen Geheimdienstchefs verteidigte er seine (zuvor für kurze Zeit abgeschwächte) Behauptung, eine „Hetzjagd“ habe in Chemnitz nicht stattgefunden, und ging dann zur Attacke über: „Aus meiner Sicht war dies für linksradikale Kräfte in der SPD, die von vorneherein dagegen waren, eine Koalition mit der CDU/CSU einzugehen, der willkommene Anlass, um einen Bruch dieser Regierungskoalition zu provozieren.“


Alle, die sich ernsthaft mit der Sozialdemokratie, insbesondere der SPD der letzten Jahrzehnte, beschäftigt hatten, rieben sich verwundert die Augen und wollten ihren Ohren nicht trauen: In dieser bürgerlichen Partei der rechten Mitte sollen Linke, gar Linksradikale, Unterschlupf gefunden haben, um von dort aus die Regierung zu stürzen? Die neueste Verschwörungstheorie eines kranken Hirns? Doch wohl eher ein gelungener Scherz!


5. Der Hoffnungsträger


Der mit immer noch stattlichen Bezügen aufs Abstellgleis verschobene Geheimdienstchef erklärte sogleich, er habe öffentliche Jobs nicht nötig, Politik und Wirtschaft lechzten förmlich nach ihm. Man kann den Wirtschaftslenkern hierzulande viel Unsinn vorwerfen, aber dass sie sich um eine vorlaute und realitätsferne Niete reißen werden, ist doch sehr unwahrscheinlich. Allenfalls mittelständische Produzenten von Abhörtechnik oder Scheuklappen könnten in Maaßen eine originelle Werbefigur wittern.


Anders sieht es mit der Politik aus: Die AfD, mit deren Spitzen Maaßen schon als BfV-Präsident gern verbindliche Gespräche geführt hatte, machte sich Hoffnung, den B-Promi in ihren Reihen begrüßen zu dürfen, doch der wollte – obwohl ihn Merkel doch maßgeblich mit abserviert hatte – in echt deutscher Nibelungentreue nicht von seiner CDU, an die er dreißig Jahre lang Mitgliedsbeiträge entrichtet hatte, lassen.


Coda: Wer unterwandert was und wen?


Vor der Ägide Maaßen wurde bereits ruchbar, dass VS-Mitarbeiter die NPD bis in die Führungsebene unterwandert und fleißig an den Parteiprogrammen mitgeschrieben hatten. Auch die räumliche und informelle Nähe der Verfassungsschützer zum NSU ließ ein beinahe symbiotisches Verhältnis zu Nazis und Mördern vermuten. Man war geneigt, den V-Leuten eine solch intensive Einarbeitung in die inkriminierte Materie zu attestieren, dass regelmäßig die Grenzen zwischen Observation und Identifikation überschritten wurden. Es könnte aber auch ganz anders sein…


Eine – zugegebenermaßen etwas gewagte – Hypothese impliziert, dass Rechtspopulisten und Neonazis die deutschen Geheimdienste längst unterwandert haben (und nicht umgekehrt). Noch vor wenigen Jahrzehnten dürfte es bei dieser friedlichen Übernahme zu fröhlichen Treffen mit den dort haufenweise beschäftigten Altnazis gekommen sein, un sind aus bilogischen Gründen die Neos weitgehend unter sich. Sollte an der verblüffenden Unterstellung auch nur ein Körnchen Wahrheit kleben, ließe dies auch die Erklärung zu, warum Georg Maaßen der AfD einen Korb gab: In der CDU wäre er in Weiterführung seiner Mission als rechtsdriftendes U-Boot doch viel besser aufgehoben.

11/2018

Dazu auch:

Der taubblinde Agent im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit    Doofe Spione im Archiv der Rubrik Medien  





Deutsches Traumpaar

 

Die Experten sind sich einig: Um die verheerendsten Folgen des Klimawandels zumindest zu mildern, darf die globale Temperatur in den nächsten Jahrzehnten um höchstens zwei Grad Celsius steigen. Und sie sind auch sicher, dass die beschlossenen Maßnahmen zur CO2-Reduzierung (selbst die Vorgabe des EU-Parlaments von minus 40 Prozent bis 2030) dazu nicht ausreichen. Hierzulande bilden nun eine SPD-Ministerin und ein VW-Manager die ultimative Starbesetzung für ein Verschleppungsdrama. Die eine deckt den politischen Bereich ab, der andere spielt den Wirtschaftshelden. Trotz ursprünglich entgegengesetzter Positionen raufen sie sich allmählich im Resultat zu einem Traumpaar für die Automobilindustrie zusammen.

 

Vom Vorreiter zum Bremser

 

Als es die Bundeskanzlerin noch für opportun hielt, Deutschland als Klassenprimus in Sachen Umweltschutz zu präsentieren, wurden andere Staaten, die sich mit Maßnahmen zum Schutz der Atmosphäre etwas schwerer taten, regelmäßig von Berlin gerüffelt. Dann signalisierten mächtige Branchen wie die Automobilindustrie und die Energiewirtschaft, dass ambitionierten Worten keinesfalls ebensolche Taten folgen dürften, und schon traten deutsche Regierungen auf die Bremse, wenn es in der EU um strengere Kontrollen, niedrigere Schadstoffwerte oder im eigenen Land um das Ende der Braunkohle-Verstromung ging.

 

Die Wirtschaft hatte das Sagen, und die nationale Politik versuchte gewissenhaft, die Weisungen aus den Chefetagen umzusetzen – auch gegen den Willen der eigenen Bevölkerung und der EU-Mehrheit. Währenddessen manipulierten, übervorteilten und verschmutzten die Autokonzerne nach Herzenslust. Da ihre Lobbyisten an einschlägigen Gesetzen mitgearbeitet hatten, konnten die Unternehmen – ganz im Gegensatz zu ihren Niederlassungen in den USA – kaum belangt werden, was sich jetzt wieder beim Eiertanz um Nachrüstung und/oder Austausch der Diesel-Dreckschleudern zeigt.

 

Fast alle überführten Betrüger und Gesundheitsgefährder kamen mit milden Ermahnungen davon, und drohte ihnen doch einmal Schadensersatz, stellte sich ihr Verkehrsminister schützend vor sie. Statt aber kleinlaut die Woge der öffentlichen Empörung im von einer sich rührend kümmernden Regierung zu Wasser gelassenen Rettungsboot auszusitzen, enterten die Manager sogleich die Medienkojen, zeterten über ihnen angetanen Harm, beschwerten sich über den Gewinnkiller Umweltschutz und forderten eine Umkehr in die wohlig erwärmte und heimelig verrußte Zone des sicheren Maximalprofits. Am weitesten aber riss der Boss des am schwersten belasteten Konzerns das Maul auf und entließ ein an Rührseligkeit und Rabulistik kaum zu überbietendes Lamento in die staunende Umgebung.  

 

Die Wutorgie des VW-Chefs

 

Da entscheidet sich einmal die Mehrheit der EU-Abgeordneten für eine relativ mutige Senkung des Kohlendioxid-Ausstoßes von Neuwagen um 40 Prozent, und schon beginnt die Bundesregierung (die lasche 30 Prozent präferiert) im Auftrag der Automobilindustrie zu feilschen, schickt das zuständige Kabinettsmitglied Schulze vor, um im Umweltministerrat den einen faulen Kompromiss (35 Prozent) auszuhandeln. Doch selbst diese aufopferungsvolle Schützenhilfe Berlins scheint den Konzernen nicht zu reichen.

 

Herbert Diess, Vorstandsvorsitzender der VW-AG, malte gegenüber der SZ düstere Zukunftsbilder an die Wand: Die armen Hersteller würden von den EU-Klimavorgaben überfordert, was in zehn Jahren den Verlust von 100.000 Jobs in den Werken zur Folge habe. Der Österreicher, übrigens Automationsexperte, bangt wegen des Umweltschutzes also um die Stellen subalterner Mitarbeiter – eine makaber anmutende Sorge angesichts der Tatsache, dass wegen Missmanagements, Strafen und Auflagen durch Staaten wie die USA, Verschlafens umweltfreundlicher Innovationen, Robotisierung sowie Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer in jüngster Vergangenheit weit mehr hiesige Arbeitsplätze gefährdet oder bereits weggefallen sind.

 

Vor wenigen Tagen legte der schäumende VW-Chef noch einmal nach und klagte, das neue Abgas-Testverfahren WLTP bringe die Industrie „an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit“. Hatte die Branche doch bislang ihr Know-how und ihre geballte Kreativität benötigt, um  Messergebnisse  so zu frisieren, dass beinahe jeder PS-Bolide als Öko-Vehikel durchging. Gesundheit der Menschen und Verhinderung einer Klimakatastrophe zählen für Diess nicht, ein Existenzrecht billigt er nur der eigenen Industrie zu: „Der jetzige Feldzug gegen die individuelle Mobilität und damit gegen das Auto nimmt jedoch existenzbedrohende Ausmaße an.“ Und nicht nur die Benziner, sondern auch die Diesel-Dreckspatzen möchte er quasi unter Artenschutz stellen, denn die leiden unter der „beinahe hysterischen Stickoxiddiskussion um wenige Problemzonen in unseren Städten, die sich in den nächsten Jahren fast von selber auflösen werden“.

 

Wenn ein paar hunderttausend Menschen die Atemwege bis hin zu chronischen Leiden und früherem Ableben verrußt werden, ist das für die Wortführer des industriellen Motors der Republik eine Lappalie, schließlich werden willigen Autobesitzern gegen Aufpreis ja sogar ein wenig sauberere Modelle angeboten. Böswillig könnte man natürlich auch mutmaßen, dass die Konzerne, hätten sie das Fachwissen und die Summen, die sie zur Zementierung des Status quo in technische Manipulationen, irreführende Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyismus, Parteispenden und Bestechung gesteckt haben, in die Entwicklung umweltfreundlicherer Technologien investiert, jetzt nicht jammern müssten.    

 

Die Meisterin des Eigentlichen

 

In bewährter Tradition der SPD, die sehr frei nach Goethe stets das Gute ankündigt und doch das Böse schafft, reifte Bundesumweltministerin Svenja Schulze in kürzester Zeit zur veritablen Komplizin der Konzerne heran. Man kann nicht sagen, dass sich die oberste Hüterin unserer ökologischen Reinheitsgebote und der Vorsitzende des weltweit am übelsten beleumundeten Kfz-Herstellers unbedingt gesucht hätten, gefunden haben sie sich aber relativ schnell.

 

Eigentlich wollte Svenja Schulze ja eine Reduzierung der CO2-Emission von 40 bis 50 Prozent erreichen, hatte aber dann Ende September unter dem Druck anderer Ressorts (vor allem Verkehr und Wirtschaft) nachgegeben.

 

Eigentlich war die wackere Genossin ja für die Vorgabe des EU-Parlaments (40 Prozent weniger CO2-Ausstoß) gewesen, im Umweltministerrat aber hatte sie auf Befehl der Bundesregierung (und damit der Konzerne) auf 30 Prozent gepocht und schließlich den schwächlichen Konsens von 35 Prozent mit initiiert.

 

Eigentlich hätte die Ministerin angesichts der Tatsache, dass sie gezwungen war, gegen ihre eigene Überzeugung und gegen die Expertise der meisten Wissenschaftler zu handeln, zurücktreten müssen, doch solch konsequentes Verhalten gilt in dieser Bundesregierung als verpönt. Zudem dürfte auch Frau Schulze ahnen, dass die deutsche Sozialdemokratie in vorbildlicher Weise auf die Überwindung eigener Skrupel und Überzeugungen konditioniert ist.

 

Mag VW-Chef Herber Diess wegen der 35 Prozent auch noch so toben – es hätte schlimmer für ihn und die Kollegen von Daimler und BMW kommen können. Und im Stillen weiß er sehr wohl, was er an der Großen Koalition und seiner Svenja Schulze hat.

10/2018

Dazu auch:

VW noch ehrlicher! im Archiv der Rubrik Medien

 

  

 

               

Segler in Not


Wenigen hierzulande wird bisher der Name Abhilash Tomy geläufig gewesen sein. Dies dürfte sich nun für kurze Zeit ändern. Der Marineoffizier war 2013 der erste Inder gewesen, dem eine Solo-Weltumseglung gelang, jetzt wurde er aus akuter Seenot gerettet. Er hatte sich an einer Non-Stop-Regatta rund um den Globus beteiligt und war bei einem Mastbruch schwer am Rücken verletzt worden. Seine Bergung beweist: Die internationale Seenotrettung funktioniert doch.


Freiwillig in Lebensgefahr


Tomy war im Juni mit siebzehn anderen Skippern zur Wettfahrt über die Weltmeere gestartet. Um die Regatta nicht zu ungefährlich werden zu lassen, mussten die Boote mindestens 30 Jahre alt sein und durften nur mit antiken Navigationshilfen wie Seekarte und Sextant ausgestattet werden. Mitten auf dem Indischen Ozean geriet der Abenteurer in einen heftigen Sturm und wurde physisch weitgehend außer Gefecht gesetzt, als der Mast knickte.


Immerhin war die Mitnahme eines Funkgeräts gestattet worden, und so konnte Tomy Notsignale aussenden. Seine führungslose Nussschale wurde aus der Luft gesichtet, Rettungsschiffe liefen aus, und schließlich nahm das französische Patrouillenboot Osiris den Schiffbrüchigen an Bord. Artikel und Fotos informierten in vielen Ländern über die wundersame Erlösung aus höchster Seenot. Der Inder war mit einem Male weltberühmt.


Im riesigen Südmeer konnten nach intensiver Suche also ein winziges Segelschiff geortet und ein einziger Mensch in einer aufwändigen Aktion gerettet werden. Im vergleichsweise kleinen Mittelmeer wird nicht nach Ertrinkenden gesucht, zumindest nicht sehr intensiv, was staatliche Stellen betrifft. Dabei haben sich die Schiffbrüchigen dort nicht mutwillig, aus spleenigen Gründen etwa, enervierender Langeweile oder schierem Übermut, in Lebensgefahr begeben, sie sind vielmehr vor Unterdrückung, Krieg und/oder Not geflohen.

  

Offene Häfen für Hasardeure


Nun ist es immer eine erfreuliche Nachricht, wenn ein Mensch aus tödlicher Gefahr gerettet wird, unabhängig davon, auf welche Weise oder aus welchem Grund er in die prekäre Lage geraten ist; doch sei die Frage gestattet, wie selektiv der Wert des Lebens in unserer (europäischen) Öffentlichkeit taxiert wird. Hätte etwa die italienische Regierung verkündet, sie denke nicht daran, nach einem havarierten Sportsegler zu suchen, geschweige denn, ihn nach geglückter Bergung an Land zu lassen, wäre die Woge der Empörung auf dem ganzen Kontinent über die Alpen geschwappt. Das massenhafte Ertrinken im Mittelmeer zu ignorieren oder gerettete Flüchtlinge zurück in die Fänge ihrer libyschen Peiniger zu treiben, gehört hingegen längst zum business as usual der römischen Behörden, und in der EU regt sich keiner (zumindest niemand in offizieller Funktion) mehr auf, überlassen doch mittlerweile auch die anderen Staaten die Schiffbrüchigen ihrem Schicksal.


Abhilash Tomy scheint ein wohlhabender Mann zu sein, sonst hätte er sich den kostspieligen Extremsport, der in einer geplant dreivierteljährigen Regatta gipfelte, wohl kaum leisten können. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass ihn kein Land, das ihn aufnehmen und medizinisch versorgen kann, abweisen wird. Vermutlich benötigt er dazu weder Visum noch Pass, und auch einem längeren Aufenthalt oder gar einer Ansiedelung würde sich kaum jemand widersetzen. Von notwendiger Integration (in Deutschland ein gern gebrauchtes Synonym von Assimilierung) wäre wohl auch nicht die Rede, nur der seinen rassistischen Prinzipien treu gebliebene Afd-Gauland würde wahrscheinlich auch neben dem dunkelhäutigen Asiaten nicht gerne wohnen wollen. Was man dem indischen Nobel-Skipper nonchalant erließe, würde dem senegalesischen oder ghanaischen Kleinbauern, den die  EU-Handelspolitik in den Ruin getrieben hat, sehr wohl abverlangt werden – falls er denn das rettende europäische Ufer überhaupt erreichen sollte.

   

Ruhm und Vergessen


Für ein paar Tage steht Abhilash Tomy noch als Held unserer Zeit im Blickpunkt der lesenden und fernsehenden Weltöffentlichkeit, dann werden sein Bild und sein Name wieder vergessen sein. Von den Zehntausenden, die auf maroden Kähnen das Mittelmeer zu überqueren suchen, existieren höchstens vereinzelt Fotos, die mal verängstigte Gesichter, mal ein ertrunkenes Kleinkind zeigen. Diese Schiffbrüchigen bleiben anonym, sie liefern keine skurrile Story und haben keine Namen.


Zu Helden (und auch das nur in ihrer Heimat) würden sie nur, wenn es ihnen gelänge, in Europa Fuß zu fassen und Geld an ihre zurückgebliebenen Familien zu senden. Für uns im christlichen Abendland aber zählt individueller Mut bei Fremden nur, wenn durch ihn unsere in relativem Luxus schmorende und monokulturell reingehaltene Welt nicht bedrängt wird.


Vielleicht gehört es auch zu den symptomatischen Erscheinungen unserer auf Thrill und Sensation, nicht auf Reflexion und historisches Bewusstsein gerichteten Rezeption vermischter Meldungen, dass nur noch sinnfreie Unternehmungen allgemeines Interesse, Mitgefühl und Bewunderung erregen. Informationen über von Krieg und Elend gezeichnete Schicksale gelten hingegen als wenig attraktiv und werden in ihrer Häufung als penetrant empfunden.

09/2018

Dazu auch:

Retten verboten! im Archiv der Rubrik Medien (2018)

                  

     


Aus Versehen weise


Er hat es doch wieder in diese Rubrik geschafft: Horst Seehofer, von der CSU nach Berlin ins Innenministerium abgeschoben, wird ein letztes Mal zum Helden unserer Zeit, bevor er wegen Altersstarrsinns, gepaart mit Senioren-AD(H)S, endgültig von der politischen Bühne entfernt wird. Er verweigert sich nämlich rigoros dem Anliegen, die AfD vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen. Damit hat er in der Sache recht, auch wenn seine Begründung bar jeglichen Sinnes scheint. Nicht dass er plötzlich einsichtig geworden wäre und deshalb das Panoptikum hiesiger Geheimdienstarbeit scheuen würde – nein, er möchte vermutlich nur verwandten Seelen die peinliche Bespitzelung ersparen.


Herde extremistischer Solisten?


Nein, der Partei, die Hand in Hand mit Pegida und anderen prominenten Hass-Eliten aus dem rechtsextremen Milieu gegen schwarzes, gelbes und vor allem islamisches Gesocks marschiert, will Seehofer keine fürsorgliche Beobachtung durch die Schlapphüte, die sich bei anderer Gelegenheit in eben jene Szene bis zur Selbstaufgabe eingefühlt haben, angedeihen lassen. Schließlich teilen er und seine Parteigenossen so manche treudeutsche Aversion gegen Migranten, vor denen das Abendland zu schützen sei, mit den „besorgten Bürgern“ in der belagerten Bundesrepublik.


Der Entschluss an sich entbehrt nicht einer gewissen Weisheit, die Motive sind hingegen – wie eigentlich immer bei Seehofer - mehr als fragwürdig. „Derzeit liegen die Voraussetzungen für eine Beobachtung der Partei als Ganzes für mich nicht vor“, erklärte der Bundesinnenminister und CSU-Chef Journalisten der Funke-Mediengruppe.  Und da man sich nun fragen könnte, wann für ihn überhaupt Gründe für eine Observierung vorlägen, präzisiert der alte Filou: „Natürlich muss man immer genau hinschauen, und das tut der Verfassungsschutz, ob es sich bei Aussagen von Parteimitgliedern oder Zusammenarbeit mit bestimmten Gruppen um Einzelmeinungen oder parteipolitische Linie handelt.“


Wenn der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland nicht neben einem deutschen Nationalspieler (vermutlich dessen dunklen Teints wegen) wohnen will, wenn der Thüringer Fraktionsvorsitzende Björn Höcke ein Mahnmal, das an die Judenverfolgung erinnert, als „Schande“ empfindet und nicht den Holocaust selbst, wenn Vorstandsmitglied Beatrix von Storch, Propagandistin einer nach Blut und Boden riechenden Familienpolitik, auf Flüchtlinge, sogar auf Kinder, schießen lassen will und ihre Kollegin Alice Weidel am liebsten das Asylrecht abschaffen und den Islam verbieten würde, dann handelt es sich bei alledem nach Ansicht des bayerischen Horst um „Einzelmeinungen“, die von einer Herde verbalradikaler Solisten zufällig zu einem süffigen Potpourri namens AfD zusammengerührt wurden.


Und wie das bei solch losen Runden ziemlich Gleichgesinnter nun einmal so ist: Da schauen auch mal verwandte Geister von den Identitären, von Pegida oder emeritierte NPD-Funktionsträger vorbei. Seehofer kennt Ähnliches von bayerischen Stammtischen. Soll der Verfassungsschutz ruhig genau hinsehen, es dann aber auch dabei belassen. Der Minister kennt seine Geheimen und weiß, wie viel Unfug sie anrichten können.


Wölfe als Hirten, Böcke als Gärtner


Die Frage, warum die NPD als offen neonazistische Partei nie verboten werden konnte, ist ebenso schlicht wie überraschend zu beantworten: Weil sie der Überwachung durch Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder unterlag! Gewissenhaft wurden V-Leute in die Partei eingeschleust, die weder die Stammkneipe noch die Gesinnung wechseln mussten, um den Braunen glaubwürdig zu erscheinen. Zugleich erfreuten sich derart geeignete Kräfte auch des Wohlwollens ihrer Vorgesetzten, die offenbar die lange, weitgehend ungebrochene rechte Tradition des Dienstes aufrechterhalten wollten.


Es kamen bald berechtigte Zweifel an der Beobachtungs- und Auffassungsgabe der „Verfassungsschützer“ sowie an deren Fähigkeit zu sinnlicher Wahrnehmung auf. Nicht nur, dass Mitarbeiter der Landesbehörden nach Herzenslust wichtige NSU-Akten schredderten – der Angestellte der Grundgesetzhüter, Andreas Temme (Spitzname Kleiner Adolf), brachte das Kunststück fertig, in einem Kasseler Internet-Café zu sitzen, als neben ihm der der Juniorchef des Etablissements von den Uwes Mundlos und Böhnhardt erschossen wurde, und nichts zu hören oder zu sehen. Bei dieser Art von totaler Sinnesfinsternis scheint es sich um eine Berufskrankheit zu handeln, will doch auch Hans-Georg Maaßen, Bundeschef des Verfassungsschutzes, in Chemnitz keinerlei ausländerfeindliche Gewalt bemerkt haben. Allerdings könnte das Wahrnehmungsdefizit auch auf eine durch Sympathie bedingte Einäugigkeit zurückzuführen sein, schließlich hatte AfD-Dissidentin Franziska Schreiber enthüllt, dass Maaßen 2015 der Partei Tipps gegeben habe, wie sie sich einer Beobachtung durch sein Amt entziehen könne.

 

Insofern bräuchte Horst Seehofer eigentlich nicht zu befürchten, dass der Verfassungsschutz bei der AfD anfangen würde und sich dann auch nationalistisch und ausländerfeindlich schwadronierende Zirkel der CSU vornehmen würde. Wie die Polizeibehörden pflegten auch die geheimen Landes- und Bundesdienste seit den frühen Jahren der Republik eine bemerkenswerte Affinität (die bisweilen in Personalunion mündete) zur rechten Szene, von den verkappten oder hastig entnazifizierten Nazis einst bis zu Chauvinisten und Neofaschisten heute. Das Argusauge richtet sich strikt nach links, ein Alexander Dobrindt käme ihm gar nicht ins Visier.

      

Ghostwriter für die AfD


Rein technisch gesehen, würde eine Bespitzelung der AfD durch die Schlapphüte und ihre V-Leute also kaum Verwertbares ans Tageslicht fördern, nach dem Motto: Wie kann das rechtsgewirkte Credo besorgter Bürger falsch sein, wenn ich doch selbst so denke? Auch ist nicht restlos geklärt, ob bei den eingesetzten Agenten genügend Intellekt oder Konzentrationsfähigkeit (s. o.) vorhanden wäre, um verfassungsfeindliche Inhalte aufzuspüren.


Sollten aber doch hellere Köpfe von unseren Staatsschützern in die Reihen der AfD eingeschleust werden können, stünde zu befürchten, dass sie nach den prächtigen Erfahrungen mit der NPD hohe Positionen innerhalb der Partei einnehmen und deren dröges Programm auf Vordermann bringen würden. Aus den Kontrolleuren der Rechtspopulisten würden so binnen kurzem deren Ideologen und Ghostwriter. Daher ist Seehofers Entscheidung, auf eine Beobachtung der AFD zu verzichten, in der Sache weise zu nennen – auch wenn die von ihm vorgebrachte Begründung purer Nonsens ist.


Mit rationaler Argumentation tat sich unser Innenminister allerdings seit jeher schwer. Außerdem empfindet er ja selbst ein ganzes Stück weit wie die, deren Überwachung gefordert wird. So äußerte Seehofer enorm viel Verständnis für den rechten Mob in Chemnitz und machte die Ursache für die ganz normale Fremdenfeindlichkeit bei den Fremden selbst aus. Ganz im Stile von Saddam Hussein (der 1990 vor dem zweiten Irak-Krieg von der „Mutter aller Schlachten“ fabuliert hatte) erklärte der bajuwarische Meister der schiefen Metapher: „Mutter aller Probleme ist die Migration“. Saddam Hussein gehört aber nun wirklich nicht zu Deutschland. Und Horst Seehofer? Den können wir leider nicht ausweisen…

09/2018

Dazu auch:

Der taubblinde Agent im Archiv dieser Rubrik

Im Zweifel rechts in der Rubrik Medien

 

 

 

            

 Sahras rechter Flirt


Wieder steht sie im Scheinwerferlicht, bestimmt die politische Diskussion und kreiert einen scheinbar neuen Weg, wieder fokussieren sich die Hoffnungen vieler Unzufriedener auf ihre Person und ihr Charisma: Sahra Wagenknecht propagiert eine Art Volksfront gegen die Etablierten, die sich „Sammlungsbewegung Aufstehen“ nennt. Klingt zunächst gut, nur sollte man genau hinschauen, wer da so alles aufgesammelt werden soll.


Grüne? Sozis?„Besorgte Bürger“?


Sahra Wagenknecht wirkte nirgendwo angepasst: Im DDR-Bürokratismus verweigerte sie sich blinder Linientreue, um nach der Wiedervereinigung auf soziale Errungenschaften des untergegangenen Staates hinzuweisen. Dann entdeckte sie Ludwig Erhards „soziale Marktwirtschaft“ und konnte plötzlich die diffusen Ängste „besorgter“ Kleinbürger vor der „Flüchtlingswelle“ verstehen. Da sie eloquent ist, gut aussieht und Selbstbewusstsein ausstrahlt, akzeptieren ihre eigenwillige Argumentation etliche TV-Zuschauer - aber immer weniger Genossen aus der eigenen Partei.


Die Linke hat sich nach Jahren der Flügelkämpfe zwischen den der SED entstammenden Ewiggestrigen und den westdeutschen Revolutionsträumern zu einer „normalen Partei“ entwickelt, ein wenig grau zwar, etwas arg sozialdemokratisch vielleicht, aber zumindest mit aufklärerischem Anspruch in Ausschüssen, bei Anfragen und in der kommunalen Arbeit. Konsens schien in ihren Reihen auch eine großzügige, humanitäre Lösung der Flüchtlingsprobleme zu sein; allerdings nicht für Sahra Wagenknecht, die längst anderen Stimmen lauschte…


Bei aller rhetorischen Brillanz erweckt sie, wie auch ihr Gemahl Oskar Lafontaine, stets den Eindruck, sie sei politisch eher auf dem Egotrip unterwegs als zum Nutzen ihrer Partei. Da nun die Linke dem Paar bei der Routenplanung nicht bedingungslos gehorcht, nutzt Wagenknecht ihre Popularität, um eine eigene Truppe um sich zu scharen. Klang es zunächst so, als wolle sie unzufriedene Sozialisten und Sozialdemokraten ansprechen, kristallisiert sich mittlerweile immer stärker heraus, dass sie auch am rechten Rand wildern möchte.


Vereinzelt erhielt sie Zustimmung aus der dritten Reihe der SPD und aus Juso-Kreisen, doch täuscht dies nicht über den bedauerlichen Umstand hinweg, dass der letzte linke Sozialdemokrat vermutlich schon vor etlichen Jahren von Agenten des Seeheimer Kreises erschlagen worden ist. Und die Grünen sind nicht mehr die Partei Tramperts, Ebermanns oder Ströbeles, die Kretschmanns, Habecks und Palmers haben aus einer ökologischen Bewegung mit alternativem Anspruch längst eine FDP für Gartenbesitzer gemacht: postengeil, bedenkenlos über die Leichen der politischen Gründer gehend, Wahlerfolge suchend um jeden Preis.


Bleiben also die Wähler der AfD, die vor allem im Republik-Osten der Linken den Rücken gekehrt haben, womöglich weil sie durch die Doppelstrategie der DDR-Führung (Internationalismus predigen, durch Ghettoisierung von afrikanischen oder vietnamesischen Arbeitskräften aber Aversionen schüren) zu handfesten Xenophoben geworden waren. Der Berliner Kabarettist Martin Buchholz schrieb einmal sinngemäß, erst durch den Verlust solcher Sympathisanten werde für ihn die Partei wählbar.

     

Wie viel Lafontaine steckt im Aufstehen?


Auch Oskar Lafontaine ist ein unkonventioneller Politiker und glänzender Redner, aber einer, der immer wieder gern auf der Klaviatur des Populismus klimpert. Wie seine Gattin betont er häufig, dass die verirrten Schäfchen, die er in die Hürde des von ihm definierten demokratischen Sozialismus heimholen möchte, gar keine so bösen Tiere seien, ja sogar mit so mancher Sorge um die von Migranten überrannte Heimat recht hätten.


So erklärte der Bonvivant aus Saarbrücken der FAZ, die vorhandenen sozialen Probleme würden durch die Zuwanderung „über Lohn- und Mietkonkurrenz verstärkt“. Die AfD würde geschwächt, wenn der Zuzug beschränkt werde. Im Klartext (frei nach Staeck): Arbeiter, die Neger nehmen euch eure Zimmer in den Sammelunterkünften weg und würden auch billiger arbeiten als ihr, wenn sie denn dürften! Wie weit liegt das Saarland eigentlich von der Realität entfernt?


Und Gattin Wagenknecht sekundiert in der Frankfurter Allgemeinen Sonnntagszeitung„Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass Unzufriedene in die Arme der AfD getrieben werden … das sind keine Rassisten, sondern Menschen, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen". Wer jemals mit Anhängern und Wählern der AfD (deren eingeschriebene Mitglieder und Funktionsträger noch von ganz anderem Kaliber sind) diskutiert hat, weiß, welch tiefbrauner Odel aus den Mündern schwappt. Unser wackeres Ehepaar aber kennt keine Unvereinbarkeit von Überzeugungen mehr, sondern, wie einst Kaiser Wilhelm II., nur noch Deutsche, wenn es um Zulauf zur eigenen Machtbasis geht.


Und über AfD-Wähler in der Neuen Zürcher Zeitung weiß sie: „Wer diese Menschen als Nazis diffamiert, hat nichts begriffen. Der Begriff sollte echten Rassisten und Antidemokraten vorbehalten bleiben.“ Wenn nur Menschen, die ein Hakenkreuz am Revers tragen oder ein Asylantenheim angezündet haben, als „echte“ Nazis bzw. Rassisten durchgingen, gäbe es kaum noch Faschisten hierzulande. Denn die bloße arische Gesinnung und die beliebte Parole „Kanaken raus!“ qualifizierten dann allenfalls noch zum „besorgten Bürger“.


Noch mehr Erweckungspaten


In der Zeit beschrieb Adam Soboczynski, dass die Idee zur Sammlungsbewegung Aufstehen, die am 4. September offiziell das Licht der schläfrigen Welt erblicken wird, nicht allein auf saarländischem Mist gewachsen ist. Vielmehr wurde Sahra Wagenknecht von dem Dramaturgen Bernd Stegemann inspiriert, der wiederum mit dem Soziologen Wolfgang Streek, Ex-Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für gesellschaftliche Studien, einen Bruder im Geiste gefunden hat.


Im Stile des orthodoxen Dogmatikers, dessen reine Lehre durch kein neu auftretendes Phänomen tangiert werden darf, argumentiert Stegemann, eine "wohlmeinende bürgerliche Klasse" blicke "mit Rührung auf das Elend der Welt" und verliere dabei die sozialen Nöte, den Konkurrenzdruck, der sich durch Zuwanderung im eigenen Land ergebe, aus dem Auge. An die Stelle des Klassenkampfes seien die "biopolitische Perfektionierung des Alltags und die Sprachregelungen der Political Correctness getreten".


Tatsächlich würden die Arbeitgeberverbände liebend gern billige Arbeitskräfte aus dem Ausland en masse einsetzen und damit tarifgebundenen einheimischen Kollegen drohen. Nur darf die zitierte Konkurrenz (eben Asylbewerber) gar nicht arbeiten, auch dort nicht, wo sie wirklich dringendst gebraucht  wird, weil zu wenige Deutsche über die für das Handwerk und den Bau nötige Geschicklichkeit und Belastbarkeit oder über die in Pflegeberufen obligatorische Empathie und Geduld verfügen.


Stegemann greift die Ängste (Vorurteile) der AfDler auf und fügt sie in das starre pseudo-marxistische Bild einer Gesellschaft ein, wie sie derart idealtypisch gar nicht existiert. Dass „Linksliberale“ und Grüne sich wirklich oft auf verbale Kosmetik beschränken, statt den Grundwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital zu thematisieren, rechtfertigt nicht den von ihm geäußerten Vorwurf einer „Propaganda der Weltoffenheit“. Nur durch genaue Beobachtung der internationalen Entwicklungen lässt sich der globale, mit Wirtschafts- und Kriegswaffen geführte Klassenkampf, dessen Opfer zu uns strömen, analysieren. Die Entwurzelten, Verfolgten und Bedrohten sind kein Teil einer feinen deutschen Theorie, sie formieren den Einbruch der Realität in Denkspiele à la Stegemann.


Kurz nach dem Dramaturgen meldete sich der Professor Wolfgang Streeck in der FAZ zu Wort und prangerte die „Willkommenskultur“, die Überforderung der europäischen Nachbarn (Österreich?) und allerlei moralischen Kitsch an. Die Schuld gab er einem linken und linksliberalen Milieu, "das sich zur Aufrechterhaltung der nationalen Disziplin routinemäßig der Drohung bedient, Abweichler (...) in die rechte, bräunliche bis braune Ecke zu verweisen". Man muss sich das auf der (rötlichen) Zunge zergehen lassen: Sensible Hetzer der AfD werden von übelwollenden Linken, die sich deutschem Law & Order verpflichtet fühlen, hemmungslos diskriminiert. Dass bei Streeck zu Hause im Hirn sich bisweilen seltsame Turbulenzen abspielen, war schon zuvor bekannt. Derzeit gibt er den Wirtschafts- und Kapitalismuskritiker, Ende der 1990er Jahre bereitete er als einer des Initiatoren des Bündnisses für Arbeit, eines dubiosen Zusammenschlusses rechter Gewerkschaftler, einflussreicher Unternehmer und gehorsamer Politiker, die Agenda 2010 (und damit das Ende der SPD als Volkspartei) gedanklich mit vor.


Solche Mentoren haben wohl auch Sahra Wagenknecht bewogen, in den Interviews zur Sammlungsbewegung dem Themenkomplex „Flüchtlingsproblematik, Verunsicherung der Massen, Heimholung der verlorenen Töchter und Söhne auf der Rechten“ breiten Raum einzuräumen, während etwaige programmatische Ansätze und konkrete politische Ziele von Aufstehen reichlich kurz kamen. Mit dem Verzicht auf die  Analyse von Fluchtursachen und der Verweigerung jeglicher Solidarität mit den „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) desavouiert sie die Linke, deren Fraktionsvorsitzende im Bundestag sie ja noch immer ist. In ihrer Hybris riskiert sie sogar eine Spaltung, falls die Mehrheit ihrer Partei dem Populismus ihrer neuen Lieblingsbewegung nicht folgen mag.


Als Vorbilder nennt Sahra Wagenknecht immer wieder Corbyn in Großbritannien und Podemos in Spanien, nur haben sich dort die „neuen Linken“ stets von Chauvinismus und Rassismus distanziert. Dass von ihr systematisch Inhalte durch Pathos und Euphemismen, den hiesigen Nationalismus betreffend, ersetzt werden, könnte darauf hinweisen, dass eher Taktik und Propaganda von Macrons diffuser Sammlungsbewegung En Marche in Frankreich kopiert werden sollen. Irgendwann wird auch Wagenknecht merken, dass sie mit dem rechten Fuß aufgestanden ist.

08/2018

Dazu auch:

Sahra W. im Irrtum im Archiv dieser Rubrik

                          

 


Wenigstens einer


Man mag allen Konservativen pauschal vorwerfen, sie befürworteten eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die Konkurrenzdenken, soziale Diskriminierung und latenten Fremdenhass begünstigt. Dennoch sollte man es begrüßen, wenn ein Christsozialer sich gegen den populistischen Strom der eigenen Partei stellt und Klartext für mehr Menschlichkeit spricht. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Josef Göppel, immer schon als Rebell in der Union verschrien, hat das getan und verdient Respekt dafür.


Gegen die nationalistische Leitkultur


Die bayerische Staatsregierung feiert sich selbst für die Schaffung des Landesamts für Asyl und Rückführungen, eine Behörde, die letztendlich nichts zu entscheiden hat, weil immer noch das BAMF zuständig ist, die aber für rasche „Sammel-Abschiebungen“ sorgen soll, wozu 120 neue Stellen geschaffen wurden. Auch vorher schon wurden im Freistaat Jugendliche aus den Berufsschulklassen und gut integrierte Arbeitnehmer aus ihren Firmen geholt und ins „sichere“ Kabul verfrachtet. Dazu kamen die verbalen Entgleisungen der Herren Seehofer, Söder und Dobrindt, die vor allem eins offenbarten: die sprachliche und wohl auch inhaltliche Annäherung an die Brachial-Chauvinisten von der AfD.

 

Irgendwann reichte es Josef Göppel. Der stets unbequeme Ex-MdB sandte den Nürnberger Nachrichten eine Erklärung zu, in der er die Spitze der eigenen Partei scharf angriff. Für eine C-Partei müssten die „Achtung der Würde der Flüchtlinge“, ein respektvoller Umgang und „bürgerlicher Anstand in der Wortwahl“ uneingeschränkt gelten. Die „jetzige Unionsführung“ habe diese Linie „um der Macht willen“ verlassen.


In Fahrt gekommen, kritisierte Göppel die CSU auch u. a. wegen ihrer Weigerung, ein Gesetz gegen den Flächenfraß, die Betonierung der Landschaft und die endlose Ausweitung öder Gewerbegebiete mitzutragen. Dass der Bayerische Verfassungsgerichtshof ein diesbezügliches Volksbegehren nicht zuließ wundere ihn nicht, sei dieses Gericht doch „politisch besetzt“. Göppel weiß das aus erster Hand, hatte doch seine eigene Partei die Strippen gezogen.


Die Ankündigung Göppels, als erster prominenter CSUler der Union der Mitte beizutreten, mag man skeptisch beurteilen, wird man doch das Gefühl nicht los, es gehe deren Protagonisten wie Armin Laschet eher um die Rettung Angela Merkels und um Stilfragen als um eine inhaltliche Wende. Wenn etwa der Münchner Gründer  Stephan Bloch erklärt „Populistische Parolen und die ewige Suche nach Schuldigen sind mir peinlich“, dann klingt das geschmäcklerisch und nicht nach ehrlicher Betroffenheit wie bei Göppel.


Es scheint so, als habe der gelernte Förster aus Herrieden eine ökologische und tolerante Leitkultur für Bayern gewollt und stattdessen eine engstirnige und nationalistische vorgesetzt bekommen.


Ein ewiger Rebell


Nun könnte man einwenden, Göppel sei 67 Jahre alt und habe seit vergangenem Jahr kein Mandat mehr; folglich sei es nun leicht und ungefährlich für ihn, die eigene Partei zu kritisieren. Wer sich indes den Werdegang des Mittelfranken näher ansieht, wird feststellen, dass er immer aneckte, als ewiger Rebell in den Reihen der CSU galt.


Auch die Fraktionsdisziplin sah er nicht als bindend an, wenn sein „Gewissen“, dem er ja als Abgeordneter allein verpflichtet sein sollte (so wenigstens ein frommer Wunsch der Gründerväter) nicht mitspielte. Als einziger CSU-Abgeordneter stimmte er 2010 gegen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, und bei anderen Entscheidungen, etwa dem Produktionsverbot für gentechnisch veränderte Lebensmittel, votierte er mit den Grünen.


Und er bekam auch die Quittung für dieses widerborstige Verhalten von seiner Partei präsentiert:  Die Spitze der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag entzog ihm 2014 die Position des Obmanns im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die er elf Jahre lang ausgeübt hatte. Der Grund für die Degradierung war lapidar: mehrfaches abweichendes Abstimmungsverhalten.


Ein anständiger Gegner


Man sollte Josef Göppel nicht zum Robin Hood, zum Rächer der Enterbten und Abgehängten, stilisieren. Sein politisches Grundverständnis bleibt konservativ, und damit weigert er sich anzuerkennen, dass viele der Probleme, die er sieht und angehen will, ihre Wurzeln in dem von ihm präferierten System haben. Eigentlich kann man nicht ein Globalismuskritiker sein (was er für sich beansprucht), ohne gleichzeitig den Kapitalismus infrage zu stellen.


Aber Göppel hat sich in einer Funktion Ehrlichkeit und Menschlichkeit bewahrt, in der es für die meisten anderen nur noch um Einfluss, Posten und Tantiemen geht. Ein paar Mandatsträger von seinem Format würden auch der lau-erbärmlichen SPD oder den zunehmend opportunistischen Grünen guttun und den brachliegenden politischen Diskurs in diesem Land befruchten.

07/2018

 




Der Allround-Experte


Bundestagsabgeordnete genießen gemeinhin nicht den besten Ruf in der Bevölkerung. Es wird ihnen vorgeworfen, an ihren Sitzen (plus Diäten) zu kleben, sich lukrative Nebenjobs in der Wirtschaft zu erkungeln und ansonsten im Parlament vor sich hin zu dämmern. Immerhin gesteht man ihnen ein gewisses Sachwissen auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet und eine zumindest rudimentäre Kenntnis der Ziele ihrer Arbeitsreisen ins Ausland zu. Für den Nürnberger Martin Burkert, einen einflussreichen Hintergrundakteur der SPD-Fraktion, trifft zumindest letztere Annahme nur sehr bedingt zu.


Verkehrsexperte mit vielen Posten


Eigentlich gehört er zu den Unauffälligen im Bundestag. Zwar leitete Martin Burkert bis September 2017 den Verkehrsausschuss im Parlament, doch von der nebulösen Forderung eines Verkehrs-Masterplans abgesehen hörte man nicht allzu viel von ihm zu Dieselskandalen oder anderen Umweltsünden der Automobilindustrie. Dass er als langjähriger Vorsitzender der bayerischen SPD-Landesgruppe nicht gerade im Interesse der Öffentlichkeit steht, ist allerdings der desolaten Verfassung und der Wählervoten-Schwindsucht der Sozialdemokraten im Freistaat geschuldet.


Aber hinter den Kulissen muss der stämmige Nürnberger, der als Bahnbeamter anfing und sich dann zum Gewerkschaftssekretär hochdiente, ein ganz Eifriger sein: Laut der Net-Plattform Abgeordnetenwatch gehörte er von 2013 bis Oktober 2017 nicht weniger als 17 Aufsichtsräten, Vorständen und Beiräten in Versicherungen, Bahnfirmen, Institutionen der Gewerkschaft, der TeamBank (Ableger von easyCredit) oder der Herzhilfe e.V. an. Neben den üppigen Diäten hat der offensichtlich von seinem Abgeordnetenmandat nicht ganz ausgelastete Mann sehr ordentliche Tantiemen und Aufwandsentschädigungen kassiert.


Nach Rechnung von Abgeordnetenwatch hatte Burkert allein durch drei der Nebenbeschäftigungen in diesem Zeitraum Einnahmen in der Höhe von 240.000 bis 530.000 Euro. Genauer geht es nicht, da die Bundestagsverwaltung nur dreistufige Kategorien mit erheblichen Spielräumen, nicht aber die genauen Summen öffentlich macht.


Nach der krachenden SPD-Niederlage im September verlor Burkert den Vorsitz im Verkehrsausschuss. Nun wurden auch die Mandate des umtriebigen Franken weniger – wer setzt schon gern ausschließlich auf Loser -, doch waren es ab Oktober des vorigen Jahres immerhin noch zehn. Und allein durch zwei dieser Pöstchen (bei der Eisenbahner-Gewerkschaft EVG und dem Kölner Versicherer DEVK) verdient Burkert auch jetzt noch zwischen 8000 und 18.500 Euro im Monat nebenbei.


Man darf den emsigen Sozialdemokraten also als einen Großverdiener in der Politik bezeichnen. Insofern verwundert es, dass der Verkehrsexperte, als er 2015 nach leichter Karambolage auf der Autobahn und anschließender Unfallflucht seinen Führerschein für zwei Monate verlor, eine Geldstrafe von lediglich 2400 Euro (20 Tagessätze à 120 €) aufgebrummt bekam. Die Höhe der Strafe bemisst sich nämlich nach dem (pekuniären) Verdienst des Delinquenten, und da wäre für Burkert vielleicht doch um einiges mehr drin gewesen…


Doch der vielseitige Martin beweist auch auf verkehrsfernen Gebieten Expertentum. Im Gespräch mit dem Hauptstadtkorrespondenten der Nürnberger Nachrichten (NN), Harald Baumer, einer besonders flach wurzelnden Konifere im deutschen Blätterwald, outete er sich als Mexiko-Kenner der besonderen Art.


Polit-Tourist mit wenig Ahnung


Nachdem Burkert dem Verkehrsausschuss nicht mehr vorstand, suchte er nach Herausforderungen, die Einfluss und schöne Reisen verhießen, und ließ sich zum Vorsitzenden der Deutsch-mexikanischen Parlamentariergruppe  im Deutschen Bundestag wählen.


Zu dieser Tätigkeit wurde er von Baumer interviewt, und schon die Dachzeile des Artikels deutete an, dass sich hier zwei Gesprächspartner auf etwa gleichem Wissensstand begegneten: „Martin Burkert will …die Kontakte zu dem südamerikanischen Land ausbauen.“

Gelegentlich orten Historiker und Geografen Mexiko als Teil Nordamerikas, weil es der 1823 gegründeten Republik der Vereinigten Republiken Zentralamerikas nicht angehörte und 88 Prozent seiner Landmasse auf dem nordamerikanischen Kontinent liegen. Für die meisten Europäer zählt es dennoch zu Mittelamerika, Südamerika aber wurde es bislang jedoch nur von den NN zugeschlagen.


Auf ähnlichem Niveau geht es weiter. Als Baumer wissen will, warum sich Burkert ein solch exotisches Terrain ausgesucht hat, erklärt dieser: „Mexiko kannte ich bereits aus einem früheren privaten Urlaub.“ Und wie! „Mexiko ist mit über 60 Millionen Einwohnern ein großes, ein touristisch interessantes und vor allem ein wirtschaftlich wichtiges Land…“ Im Prinzip hat Experten-Burkert recht. Es leben mehr als 60 Millionen Menschen in Mexiko, es sind sogar mehr als doppelt so viel, nämlich 125 Millionen. Das hat sich aber scheinbar noch nicht bis in die parlamentarischen  All-inclusive-Kaderschmieden vom Schlage Cancúns herumgesprochen.

 

Die kleine Ungenauigkeit fällt Baumer nicht auf, unverdrossen recherchiert er knallhart das nächste Thema zu Tode: „Seit der Wahl des US-Präsidenten Donald Trump hat Mexiko noch mehr Aufsehen erhalten, Stichwort Mauerbau…“ Nun könnte Burkert über die menschlichen Tragödien, die eine hermetische Abriegelung des Landes bedingt, sprechen, aber er ist halt ein deutscher Verkehrsexperte: „Richtig, das ist ein ganz heißes Eisen. Übrigens auch für uns, denn etliche deutsche Automobilkonzerne produzieren dort für den amerikanischen Markt. Jede weitere Abschottung und erst recht der Bau einer Mauer könnten zu Problemen führen.“ Zwar würde sich Trump in seiner Gringo-Hybris freuen, dass der US-Markt als amerikanischer Markt, sozusagen als kontinentale Alleinvertretung neoliberaler Wirtschaftsmacht, bezeichnet wird, doch sollte der US-Präsident auch die Botschaft hören: Geht es der deutschen Automobilbranche gut, freut sich der Mensch!


Harald Baumer offenbart anschließend eine etwas gewöhnungsbedürftige Vorstellung von Thrill und Unterhaltung, als er das Blutbad umschreibt, in das der Drogenkrieg zwischen brutalen Kartellen, korrupter Polizei und rücksichtslosen Militärs das Land tunkt: „Gerade die innere Sicherheit dürfte spannend sein. Mexiko gilt inzwischen, noch vor Kolumbien, als das gefährlichste Land der Welt.“


Burkert hätte die gedeihlichen Wirtschaftsbeziehungen eines deutschen Unternehmens zu den Kriegsparteien erwähnen können (mit Sturmgewehren von Heckler & Koch schießen nämlich mittlerweile alle), doch er zieht es vor, in seiner Eigenschaft als Tourismus-Experte  Entwarnung  zu signalisieren: „Man kann allerdings sagen, dass es gerade hier in den Urlaubsregionen Cancún und Acapulco keine Probleme gibt.“ Da scheint Burkert entgangen zu sein, dass sich gerade in dem pazifischen Badeort die Kartelle von Guerrero und Sinaloa sowie die aus dem mexikanischen Militär als Killerelite hervorgegangenen CETAS bevorzugt Verteilungskämpfe liefern. Blutige Ostern im Paradies/In Acapulco bleiben die Hotelbetten leer titelte das Handelsblatt, das doch eigentlich zur Pflichtlektüre eines wirtschaftsaffinen Sozialdemokraten zählen sollte. Aber vielleicht hatte Burkert auch eine spannende Spielart von Abenteuerurlaub im Sinn…

 

Ein bisserl was geht immer

 

Martin Burkert ist kein untypischer Abgeordneter des deutschen Bundestags, eher ein Prototyp – zumindest aus der Sicht jüngerer Einsteiger. Zwar gibt es Kollegen, die seine Nebenverdienste noch toppen, aber er kann doch als Erfolgsmodell stiller Vermögensbildung durchgehen. Oft wurde Kritik am US-Kongress laut, die zur Wahl stehenden Bewerber seien allesamt Millionäre. In Deutschland hingegen muss ein Kandidat nicht unbedingt reich sein, im Parlament aber kann er es dann später problemlos werden.

 

Es ist eine Mischung aus Chuzpe und Unbedarftheit, die Angeordneten wie Martin Burkert zu Posten und Einfluss verhilft. Skrupulöses Sachwissen oder eine intellektuell fundierte Überzeugung stören nur beim Aufstieg in die Vorkammern der politischen und wirtschaftlichen Macht, Unauffälligkeit und Anpassungsfähigkeit (von bösen Zungen als Opportunismus desavouiert) indes öffnen Türen und begünstigen die Übertragung hochdotierter Repräsentationspflichten.

 

Das Mexiko-Interview belegt, wie bequem die Medien- und Ausschusspräsenz sein kann, wenn man als MdB erst einmal einen gewissen Level erreicht hat: Man braucht gar nicht informiert sein, ein bisserl was lässt sich über alles sagen.

06/2018

Dazu auch:

Kokain im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Dieselbe Rubrik: Lateinamerika-Dossier, 2.Tod in Michoacán





Das Kreuz mit Söder


Er hat eine auf den ersten Blick etwas lächerlich anmutende Provokation gestartet, indem er ein religiöses Symbol säkularisierte und für den Wahlkampf instrumentalisierte. Markus Söder will künftig Kreuze in bayerischen Amtsstuben sehen, und viele fragen sich, ob er noch bei laizistisch gebotenem Verstand ist. Doch der Ministerpräsident weiß, was er will, auch wenn seine überraschenden Entschlüsse nicht intellektueller Vorarbeit, sondern bedenkenlosem Machtinstinkt entspringen.


Ein dubioses Logo


Mit der ihm eigenen Doppelzüngigkeit hat Markus Söder den Vorwurf, er wolle aus Bayern einen Gottesstaat light, machen, indem er ein Folterwerkzeug im Modellformat in die Eingangsbereiche ziviler Behörden nageln lässt, beantwortet: Um Religion gehe es ihm gar nicht, vielmehr sei das Kreuz „ein kulturelles Symbol“. In Umkehrung des Satzes, mit dem sich Jesus einst gegen Revoluzzer-Verdächte von römischer Seite verteidigte, dass man nämlich dem Kaiser geben solle, was ihm gehöre, und Gott, was diesem zustünde, gibt Söder nun der weltlichen Macht, was eigentlich des Himmels ist.


Gegen so viel profanen Missbrauch des christlichen Universal-Logos wetterte prompt der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhold Marx, in der SZ: „Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden. Dann würde das Kreuz im Namen des Staates enteignet.“  Und der streitbare Kirchenfürst sprach Söder jede Kompetenz ab, Symbole, deren Copyright das Christentum oder zumindest der hohe Klerus innehat, zu interpretieren. Es stehe dem Staat schlicht nicht zu, die Bedeutung des Kreuzes zu erklären.


Nun lässt sich das Kreuz mit all den sich darum rankenden Legenden von der Opferung des göttlichen Menschensohns bis zu dessen Auferstehung sowieso rational nicht erklären, Markus Söder aber ist dies schlichtweg egal: Er kann eine derartige Kontroverse um Leitkultur, Abendland und Holzschnitt-Symbolik gerade gut gebrauchen, um auf der populistisch angesäuselten Rechten Stimmen zu sammeln und die AfD mit deren eigenen Waffen zu schlagen. Der Rest der Republik schüttelt ob der mutwilligen Attacke auf den säkularen Staat den Kopf, aber in Bayern geben ihm 57 Prozent der Befragten recht.


Mag Kardinal Marx in Fragen des tieferen Sinnes eines archaischen Hinrichtungsinstruments auch ebenso im Trüben fischen wie der Demagoge Söder – er hat recht mit der Schlussfolgerung, durch den Kreuzbeschluss entstünden „Spaltung, Unruhe, Gegeneinander“. Aber auch das war so gewollt.

  

Der flexible Kreuzritter


Es liegt im Wesen des Populismus, keinen Diskurs über differenzierte Lösungen anzubieten, sondern Ängste und Vorurteile zu schüren, das Heil in restaurativer Rhetorik zu suchen, kleinbürgerlichen Egoismus mit plakativen Verkürzungen von Begriffen wie Tradition und Heimat zu bedienen und Feindbilder, Aversionen gegen das Neue, Fremde, schwer Verständige, zu verstärken. Im ARD-Presseklub barmte Hans-Ulrich Jörges, Stern-Kolumnist und Dampfplauderer auf allen TV-Kanälen, Söder mache auf Fotos, die ihn als feist grinsenden Kreuzbefestiger zeigten, einen geradezu teuflischen Eindruck auf ihn.


Nun nimmt dem reich eingeheirateten Polit-Aufsteiger im Freistaat kein Mensch religiösen Eifer (oder gar christliche Nächstenliebe) ab. Auch ist nicht zu vermuten, dass er einen Pakt mit dem Satan geschlossen hat, er bestärkt nur eine chauvinistische Anti-Haltung vieler Bayern, die ansonsten das Kruzifix eher als Bestandteil von Flüchen gebrauchen, nach dem Motto: Jetzt zeigen wir`s den Kameltreibern, den mohammedanischen!


Söder darf sich durchaus als moderner Kreuzritter fühlen, legten doch die historischen Vorgänger ebenso wenig Skrupel, Gottesfurcht oder Mitgefühl an den Tag wie er. Als Papst Urban II. 1095 zum ersten Kreuzzug aufrief und den Teilnehmern die Vergebung ihrer Sünden in Aussicht stellte, folgten ihm bretonische Barone, normannische Abenteurer, deutsche Strauchritter sowie Verbrecher aus ganz Europa. Als das bewaffnete „Pilgerheer“ 1099 Jerusalem einnahm, plünderte es die Stadt und ließ muslimische, jüdische und christliche Einwohner gleichermaßen über die Klinge springen.


(Zum Vergleich: Als Sultan Saladin, übrigens ein Kurde, die heilige Stadt 88 Jahre später für die Moslems zurückeroberte, hielt er den Übergabevertrag ein und verschonte die Bewohner.)


Dass es der römischen Kirche und den streitbaren Wallfahrern nicht um Buße und Seelenheil, sondern um kirchliche Macht und reiche Beute ging, belegt auch der vierte Kreuzzug, der erst gar nicht im Heiligen Land ankam, weil die frommen Ritter lieber das reiche (christliche) Konstantinopel angriffen und plünderten. Das Kreuz ist also mitnichten nur ein Symbol für Frieden und Opferbereitschaft, sondern auch ein historisch vorbelastetes Zeichen für Intoleranz sowie Hab- und Machtgier. Doch was ficht dies einen Söder an, für den Religion, Philosophie oder Geschichte ohnehin nur scheibchenweise interessant sind, dann nämlich, wenn sie – verfälscht und verkürzt – als Mittel zum Zweck, etwa zum Stimmenfang, aufbereitet werden können.


Insofern hat die bayerische Kreuzverordnung keinen religiösen Hintergrund, sie soll nur der leicht bräunlich wirkenden Leitkultur-Melasse etwas traditionelle Substanz zuleiten und dem keineswegs christlich denkenden, aber über nebulöse „Werte“ delirierenden Durchschnittsbayern zu einem hölzernen Stück „Identität“ verhelfen.


Söder hat also die mystische Überhöhung durch den stets leicht hysterisch wirkenden Publizisten Jörges nicht verdient, er ist ein schlichter Machtmensch ohne größere intellektuelle Ressourcen, aber mit dem Gespür für durchschaubare und dennoch wirksame Taktiken. Und die benötigt er auch, um von seiner bislang mauen Bilanz abzulenken.


Die Staatskanzlei ist nicht genug


Der sich selbst als Macher stilisierende Franke steht nämlich plötzlich in heftigem Gegenwind. So will er angesichts der Wohnungsnot in Bayern ein teures Bauprogramm auflagen – nachdem er 2013 als Finanzminister 32.000 Wohnungen der staatseigenen GBW verkaufte, um die fahrlässig bis kriminell angehäuften Verluste der Landesbank auszugleichen. Dabei bevorzugte er eine „bayerische Lösung“ – mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass die Käuferfirma zwar in Augsburg vertreten war, meist aber von der Steueroase Luxemburg aus operierte. Inzwischen prüft ein Untersuchungsausschuss des Landtags Söders undurchsichtiges Gebaren.


Ein sachlich richtiger, wenn auch unausgereifter Vorschlag des neuen Ministerpräsidenten wurde von der eigenen CSU-Fraktion kassiert: Auch künftig wird es an bayerischen Schulen keine Teams geben, in denen überforderte Lehrkräfte mit Sozial- und Sonderpädagogen oder Psychologen zusammenarbeiten, um mit den durch Inklusion und Beschulung von Flüchtlingskindern gestiegenen Anforderungen gerecht werden zu können.


Nicht für alle derzeit unter Beschuss geratenden Entscheidungen ist Söder allein verantwortlich, doch war er mit seinen Feind-Spezerln Seehofer und Hermann stets maßgeblich beteiligt. Die Skischaukel am Riedberger Horn, die er einst wortreich propagierte, ist vom Tisch, dafür schob er den um Tourismus um jeden Preis, auch den der Natur, ringenden Bürgermeistern etliche Millionen für andere Projekte über denselben. In Sachen Psychiatriegesetz, dessen Novellierung seelisch kranke Menschen teilweise mit Straftätern gleichgesetzt hätte, ließ Söder seine Sozialministerin eifrig zurückrudern. Und gegen das prädemokratische Polizeiaufgabengesetz, das fast 40.000 Demonstranten in München auf die Straße lockte, läuft eine erfolgversprechende Normenkontrollklage.


Was aber sind solche Fakten, mit deren Bedeutung und Weiterungen man sich gedanklich auseinandersetzen müsste, gegen einen Kreuzerlass, der Klerikal-Konservativen und selbsternannten Abendlandverteidigern das Herzerl wärmt? Und außerdem geht es Bayern ja schließlich gut, die Regierung kann ihr Füllhorn über allerlei Wählergruppen ausschütten. Denn die Industrie siedelt sich gern im Freistaat an und zahlt auch freiwillig einen stattlichen Steuerobolus. Wie viel sie eigentlich berappen müsste, werden wir freilich nie erfahren, da in Bayern Steuerprüfungen so selten sind wie ehrliche Verbrauchsdaten in der Automobilindustrie. Schließlich hat Markus Söder als Ex-Finanzminister das dafür zuständige Personal der Finanzbehörden vorsorglich ausgedünnt. Kein Wunder, dass sich Unternehmen im Freistaat fühlen wie im Paradies oder zumindest wie in Panama.


Söder wird die Landtagswahl im Oktober dieses Jahres gewinnen. Und wenn die CSU die absolute Mehrheit verfehlen sollte, stehen die Freien Wähler und die Grünen als Hilfstruppen zwecks Koalitionsbildung zur billigen Verfügung. Bleibt nur die Frage, ob der politische Ehrgeiz des Nürnberger Rambo damit befriedigt ist. Warum sich mit der Münchner Staatskanzlei begnügen, wenn sich mit ein paar wohlfeilen Populismen à la Orbán auch das Berliner Bundeskanzleramt erobern ließe. Dann würden selbst Atheisten gebetsmühlenartig und mit glaubwürdiger Inbrunst ein demütiges „Gnade uns Gott!“ vor sich hin murmeln.

05/2018

Dazu auch:

Überwachungsfreistaat und Österliche Leidkultur im Archiv der Rubrik Medien

 

                           

    




Die heilige Theresa


Wenn Europäer sich über Trump mokieren, kaprizieren sie sich meist auf seine Twitter-Grobheiten, sein wetterwendisches und jähzorniges Gemüt sowie seine für ein ungebärdiges Kind des Kapitalismus typische Marotte, alle zu feuern, die Widerspruch wagen. Verdrängt wird oft, dass die Launen des Präsidenten die Gefahr eines Weltkriegs heraufbeschwören können – vor allem wenn sie durch europäischen Zuspruch noch verstärkt werden. Einigen US-Medien und dem Senator Lindsey Graham zufolge konnten Army-Generäle Trump gerade noch davon abhalten, beim jüngsten Militärschlag russische Ziele in Syrien anzugreifen bzw. auf eine Vorwarnung an den Kreml zu verzichten, was wohl Gegenschläge provoziert hätte. Doch der Egomane im Weißen Haus war nicht allein, Europäer unterstützten ihn verbal oder militärisch. Allen voran Theresa May, die Rostige Lady in der Tradition Margaret Thatchers.


Ein Himmelreich für einen Namen


T(h)eresa scheint ein besonders gottgefälliger Name zu sein. Zwei weltberühmte Trägerinnen wurden von der Katholischen Kirche heiliggesprochen, eine dritte übt sich derzeit in festem Glauben. Bereits im 16. Jahrhundert konnte sich die spanische Mystikerin Teresa von Ávila des Blickkontakts mit den himmlischen Heerscharen rühmen: „Ich sah einen Engel neben mir, an meiner linken Seite, und zwar in leiblicher Gestalt.“


Eine 1997 verstorbene albanische Nonne, als Mutter Teresa bekannt, erhielt den Friedensnobelpreis und wurde vom Vatikan im Eiltempo unter die Heiligen eingereiht, obwohl ihr frommes Wirken in den Armen-Hospizen von Kalkutta nicht ganz unumstritten war. So wurde ihr vorgeworfen, nicht nur sich selbst, sondern auch so manchen Patienten aufgeopfert zu haben, indem sie auf simpelste Hygiene-Vorschriften verzichtete. Auch bemängelten pingelige Kritiker, die Wohltäterin habe gern Geld von amerikanischen Finanzbetrügern angenommen und sei zwar an der Pflege der Kranken, nicht aber an der Vermeidung von Krankheiten interessiert gewesen. Folgerichtig bekämpfte sie die von der damals in Westbengalen regierenden Kommunistischen Partei initiierten Sozialreformen aufs Heftigste.


Damit dürfte sie auf einer Linie mit der Dritten im Bunde, Theresa May, liegen. Auch diese Dame schöpfte wohl viel Kraft aus einer Gottesfurcht, die nicht von egalitären Hirngespinsten beeinträchtigt wurde, war ihr Vater doch Pfarrer in Oxfordshire gewesen. Allerdings auf der falschen Baustelle, nämlich in der Church of England, so dass eine spätere Heiligsprechung eher unwahrscheinlich ist. Immerhin erklärt die britische Premierministerin, die einst vehement gegen den Brexit war, dann aber erkannte, dass sich – erstmal zu einiger Macht gekommen – tiefe Überzeugungen leicht zu Gunsten nebulöser Glaubenssätze ablegen lassen, die Welt mittlerweile mittels kryptischer Analogien, die es mit den krudesten Dogmen der christlichen Lehre aufnehmen können: „Brexit means Brexit.“


Wo Theresa May etwas nicht sicher weiß, hilft ihr der Glaube, etwa dass Putin den Doppelagenten Skripal umbringen wollte oder Assad kurz vor dem Einmarsch seiner Truppen in Duma noch einmal Giftgas dort eingesetzt hat. Und in ihrer durch Unbeliebtheit beim Wahlvolk sowie planloses Brexit-Schlingern verstärkten Seelennot vertraut sie sich dem Herrn an, beschuldigt, droht und lässt bombardieren, bedient sich des gesamten alttestamentarischen Rache-Instrumentariums.

  

Die Absicht heiligt den Verdacht


Nicht dass skrupellosen Machtmenschen wie Putin oder Assad nicht das eine oder andere Verbrechen zuzutrauen wäre, wo aber Beweise fehlen und Ermittlungen noch ausstehen, dürfen sie (oder besser ihre Untertanen) nicht bestraft werden. Theresa May fechten solche Überlegungen nicht an, sie hat in ihrem distinguierten Oxford-Englisch und mit suggestiver Beredsamkeit den Kreml für den Anschlag auf Sergej Skripal und seine Tochter verantwortlich gemacht, auch wenn Gary Aitkenhead, Direktor des Militärforschungszentrum Porton Down, erklärte, die russische Herkunft des eingesetzten Nervengiftes Nowitschok sei nicht nachgewiesen.


Vielleicht zog die Premierministerin die Erfahrungen mit eigenen und befreundeten Geheimdiensten zu Rate: Der britische M16 etwa zettelte 1961 im Kongo den Staatsstreich an, der zur Ermordung des gewählten Präsidenten Patrice Lumumba und zum bis heute andauernden Bürgerkriegschaos führte. Der Autor Graham Greene, einst selbst Agent Ihrer Majestät, beschreibt in seinen realitätsnahen Romanen, dass Liquidierungen feindlicher Spione und vermeintlicher Verräter zum Handwerk des Secret Intelligence Service zählten. Leichen pflasterten den operativen Weg des israelischen Mossad durch die Welt, und die CIA versuchte etliche Male, auch in Kooperation mit der Mafia, Kubas Staatschef Fidel Castro zu töten. Internationale Sanktionen, wie sie Theresa May auf Verdacht gegenüber Russland verhängte, blieben in den vielen nachgewiesenen Fällen aus.


Am 7. April hat es nach NATO-Version einen Luftangriff auf die Stadt Duma gegeben, bei dem syrische Truppen, die kurz vor der Rückeroberung der Region Ost-Ghuta standen, chemische Waffen eingesetzt haben sollen. Ein Korrespondent des britischen Independent zitierte dagegen einen vor Ort tätigen Arzt, dem zufolge die Druckwelle der Explosionen bei den in Schutzräumen zusammengepferchten Menschen akute Atemnot ausgelöst hatte, die sich zur Panik wandelte, weil ein Weißhelm das Wort „Gas!“ geschrieen habe (was, in einem Video festgehalten, im Westen als „Beweis“ interpretiert wurde).


Weder diese noch die andere Version konnte von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) überprüft werden, denn bevor die Experten vor Ort waren, ließ Donald Trump seinen irrwitzigen Twitter-Drohungen Taten folgen, wobei er sich, wie einst sein Vorgänger George W. Bush im Irak, auf eine „Koalition der Willigen“ stützen konnte. Auch die Tatsache, dass Islamisten in Syrien bereits Giftgas aus türkischen Armeebeständen eingesetzt hatten, mithin nicht nur Assads Armee im Falle eines tatsächlichen C-Waffen-Angriffs in Frage käme, wurde von den vorschnellen Rächern ignoriert.


Remember Tony Blair!  

  

Unsere Theresa, für die der Schein offensichtlich alle Mittel heiligt, rechtfertigte die nicht von der UNO genehmigten, offensichtlich völkerrechtswidrigen Luftschläge gegen syrische Ziele in der Nacht zum 14. April anschließend so: „Wir haben das nicht getan, weil Präsident Trump uns gefragt hat. Wir haben es getan, weil wir glaubten, es sei richtig, es zu tun. Und wir sind nicht allein.“ Mit letzterem hatte sie recht. Auch Präsident Emmanuel Macron, der Sonnyboy des imperialen Neoliberalismus, sprang dem Quartalsirren im Weißen Haus mit französischen Bombern bei.


Die britische Regierungschefin scheint - wie viele Tiefgläubige - bisweilen von Wahnvorstellungen heimgesucht zu werden, etwa wenn sie wider alle Fakten erklärt, Russland habe den deutschen Bundestagswahlkampf manipuliert. Sie sollte lieber einen landsmännischen, noch auf der Erde wandelnden Geist beschwören, nämlich den von Tony Blair, dem früheren Labour-Premier, der US-Präsident Bush zur Hand ging, als dieser den Irak in Schutt und Asche legte. Als Begründung diente das Märchen von den Massenvernichtungswaffen im Besitz Saddam Husseins. Tony Blair gilt heute weltweit als Lügner, und Jeremy Corbyn, der jetzige Labour-Vorsitzende, würde seinen Parteigenossen am liebsten auf der Anklagebank sehen.


Was die Berechtigung der konzertierten Luftangriffe auf Syrien betrifft, widersprachen nun sogar die Wissenschaftliche Dienste des Bundestages Trump, Macron, May und der deutschen Kanzlerin, die es sich gerade neben dem windigen Außenminister Maas in der Loge für Claqueure bequem gemacht hatte. Die Experten stuften den Militärschlag glatt als völkerrechtswidrig ein.

 

Völkerrecht nach Gusto


Mit dem Völkerrecht ist das aber so eine Sache. Von den NATO-Strategen wird es gern bemüht, wenn politische Gegner etwas unternehmen, während es bei fragwürdigen eigenen Aktionen schlichtweg nicht greift. Den Irak zu zerstören und dort alte ethnische wie religiöse Konflikte loszutreten, Libyen als Staat zu zerschlagen, es Milizen zu überantworten und zu einem Gefängnis (wenn nicht gar Massengrab) für Hunderttausende von Flüchtlingen zu machen oder Serbien ohne UNO-Mandat zu bombardieren, gilt in Washington, London und Berlin als legitimes Vorgehen im Sinne von Freiheit und Demokratie, das allerdings bedauerlicherweise sehr viele Kollateralopfer fordert…


Der Westen hat die Sezession des Kosovo mit Waffengewalt erzwungen, weil die albanische Bevölkerungsmehrheit dies so wollte, dabei den souveränen Staat Serbien zerschlagen und der Drogen- sowie Organhandelsorganisation UÇK die Macht in Pristina übertragen - kein Wort zu Legitimität und Völkerrecht. Auf der Krim, in Abchasien und Südossetien will die jeweilige Bevölkerungsmehrheit ebenfalls eine Sezession, nämlich die von der Ukraine bzw. von Georgien. Weil diese Bestrebungen aber von Russland unterstützt werden, verstoßen sie in den Augen der NATO per se gegen internationales Recht.


Man könnte meinen, ein ordentliches Stück von der (Schein)Heiligkeit der Pastorentochter Theresa May steckt in den meisten besorgten Markt- und Moralpolitikern der EU und der USA.

04/2018

Dazu auch:

Die stillen Deutschen im Archiv der Rubrik Medien

 

                

 




Heikos irre Logik

 

Sie haben es wieder getan! Die Koalitionsregierung von SPD und Union, nicht ganz zu Unrecht als verlängerter Arm der Rüstungs- und Automobil-Industrie wahrgenommen, genehmigte die Lieferung von weiteren Patrouillenbooten an Saudi-Arabien – kurz nachdem sie vollmundig den Export militärischer Güter in dieses mittelbar an mehreren blutigen Konflikten und als Hauptakteur an einem verheerenden Krieg beteiligte Land untersagt hatte. Zur Rechtfertigung solch perfiden Vorgehens hatte sie zwei altbekannte Ausreden an der Hand – und den neuen Außenminister Heiko Maas, einen Juristen, der über die glatte Rabulistik eines mit allen Abwässern gewaschenen Winkeladvokaten zu verfügen scheint.

 

Waren wir nicht, dürfen die nicht…

 

Wirtschaftsminister Peter Altmaier durfte die deutsche Schiffsbau- und Rüstungsindustrie mit einer erhofften, aber kaum mehr erwarteten Botschaft in gehobene Stimmung versetzen: Die Bundesregierung habe soeben die Lieferung von acht Patrouillenbooten an Saudi-Arabien genehmigt. Dabei hatte es so ausgesehen, als sei die Nachricht von den Kriegsverbrechen im Jemen endlich auch bis in den Autistenzirkel der neuen GroKo vorgedrungen. In dem bettelarmen Land bombt eine Kriegsallianz unter Führung der Saudis Krankenhäuser und Schulen zu Schutt und Asche, schneidet die Bevölkerung mittels einer Seeblockade von der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten, die schon angesichts einer drohenden Diphterie-Epidemie, die wiederum auf einen Cholera-Seuchenzug folgt, dringendst benötigt würden, ab und vertraut dabei auf die tödliche Zuverlässigkeit deutscher Waffen und Transporttechnik, von Sturmgewehren über Raketen, Kampfflugzeugen bis hin zu Drohnen.

 

Um ihren (in schlecht informierten Kreisen noch rudimentär vorhandenen) guten Ruf besorgt, hatte die Bundesregierung weiteren Rüstungsexporten an den befreundeten Gottesstaat das Plazet verweigert. Böse Zungen behaupten allerdings, die Berliner Enthaltsamkeit sei eine wohlfeile Geste gewesen, hatte Riad doch schon zuvor erklärt, keine Waffen mehr aus der BRD beziehen zu wollen; schließlich hat Trump ihnen den US-Selbstbedienungsladen des Todes weit geöffnet, und außerdem stellen die Saudis mittlerweile allerlei von deutschem Erfindergeist ersonnenes Kriegsgerät in Lizenz selbst her.

 

Dass jetzt doch acht kleine Kriegsschiffe an die Bellizisten in Riad geliefert werden dürfen, wird – neben dem obligatorischen Hinweis auf 300 an der Produktion hängenden Arbeitplätzen auf der Lürssen-Werft in Wolgast – mit zwei Begründungen, die so fadenscheinig wie altbekannt sind, gerechtfertigt. Für neuen Pep beim Entschuldigen des Unentschuldbaren sorgt nun quasi als Zugabe Heiko Maas, der aalglatte Polit-Parvenü aus  Saarlouis, der seine Karriere nicht bemerkenswerten inhaltlichen Positionen oder gewonnen Wahlen, sondern einer unfassbaren Volatilität bei grundsätzlichen Themen verdankt.

 

Die alte Leier klingt auch diesmal wieder so: Erstens seien von der früheren Regierung (die der jetzigen seltsam ähnlich sieht) Vorgenehmigungen mit Bestandsschutz erteilt worden, die auch jetzt noch Gültigkeit besäßen; zum anderen habe man sich von den Saudis versichern lassen, dass die Patrouillenboote (wie auch alles andere gelieferte Kriegsgerät) nicht im Krieg gegen die jemenitische Bevölkerung eingesetzt würden.

 

Die erste Einwendung wird durch den Absatz 3 des Paragraphen 6 im Kriegswaffenkontrollgesetz obsolet, dem zufolge die Exportgenehmigung zu versagen sei, wenn die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden…“. Und was das Verpetzen der Vorgängerregierung betrifft, stellt der Paragraph 7, Abs. 2, klar, dass deren Schweinerei umgehend zu beheben ist: „.Die Genehmigung ist zu widerrufen, wenn einer der in § 6 Abs. 3 genannten Versagungsgründe nachträglich offenbar geworden oder eingetreten ist, es sei denn, dass der Grund innerhalb einer zu bestimmenden Frist beseitigt wird.“ Die Kriegsverbrechen der Saudis sind als „Grund“ weiterhin virulent, und beseitigt wurden allenfalls etwaige Skrupel bei deutschen Politikern. Folglich macht sich für mich die GroKo gerade des gleichen Rechtsbruchs wie ihre Vorgängerkabinette schuldig, die Regierungen in Berlin scheinen das allerdings lockerer zu sehen.

 

Die zweite Ausflucht, man verscherble zwar Waffen, untersage aber den Käufern, diese ihrer Bestimmung gemäß einzusetzen, ist per se lächerlich.  Zeigen die Fotos aus dem syrischen Afrin etwa Leopard-Panzer der türkischen Armee auf Sightseeing-Tour? Beabsichtigen die Israelis, die U-Boote aus deutscher Produktion wasserscheuen Sporttauchern zur Verfügung zu stellen? Dienen die Sidewinder-Raketen von DIEHL den Saudis gar zur Aufwertung des Silvester-Feuerwerks im Jemen, fahren ihre Patrouillenboote nicht zur Blockade fremder Häfen aus, sondern als Vergnügungsgondeln auf dem Persischen Golf oder im Roten Meer?

 

Was Unrecht war, muss Recht bleiben

 

Die Beschwichtigungsplatte der Bundesregierung eiert mittlerweile dermaßen deutlich, dass sich der eloquente Heiko Maas genötigt sah, eine weitere, besonders wirre Rechtfertigung nachzuschieben.

Bei seinem Antrittsbesuch als Außenminister in Rom verteidigte er die aktuellen Waffenexporte nach Saudi-Arabien und in die Türkei auf einer Pressekonferenz: "Dass das unseren eigenen Richtlinien nicht widerspricht, ergibt sich ja schon daraus, dass das genehmigt wurde und damit auch innerhalb der Bundesregierung geprüft worden ist."


In übersichtliches Deutsch übersetzt: Weil etwas früher aus irgendwelchen Gründen genehmigt worden ist, kann es auch heute nach unseren Maßstäben nicht falsch sein. Heiko Maas war bislang nie durch populistische Tiraden oder irrationale Rhetorik (allerdings auch nicht durch eine konsequente politische Haltung) aufgefallen, nun aber „argumentiert“ er auf ganz neuem Niveau, sozusagen auf einer gehobenen Fake-Ebene.


Folgt man seiner „Logik“ bis zum bitteren Ende, könnte die Bundesrepublik, die sich als Rechtsnachfolgerin sämtlicher Deutschen Reiche versteht, wieder Kriegskredite einfordern, Streiks gewaltsam beenden oder die Nürnberger Rassengesetze anwenden. Ist ja schließlich alles schon mal vom einen oder anderen Vorgängerregime geprüft und genehmigt worden…


Vielleicht erleben wir nach dem verbalen Export-Stopp für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien wieder einmal einen faktischen Ausfuhr-Boom, ganz in der Tradition der sogenannten Gabriel`schen Volte. Der Prototyp des modernen Sozialdemokraten hatte als Wirtschaftsminister anfangs eine radikale Drosselung des Waffenhandels angekündigt, diesen aber während seiner Amtszeit nach Kräften gefördert und zu ungeahnter Blüte geführt.

  

Zeremonienmeister einer Farce


Nun ist der vermeintlich sachliche und integere Maas zumindest in der Außenwirkung mit dem umtriebigen Gabriel nicht zu vergleichen. Letzterem war der Opportunismus so deutlich von der Miene abzulesen, dass ein paar tarnende Haare im Gesicht dem Mann nicht geschadet hätten. Der zurückhaltende Saarländer hingegen schien sein Desinteresse an einer Macht um jeden Preis hinlänglich nachgewiesen zu haben, indem es ihm gelang, den SPD-Stimmenanteil als Spitzenkandidat bei zwei Landtagswahlen fast zu halbieren.


In ihrer Verzweiflung erinnerten sich jene Sozialdemokraten, die sich ungeachtet aller antagonistischen Widersprüche als letzte Linke der Partei empfinden, daran, dass Heiko Maas einst devoter Jünger Oskar Lafontaines gewesen war. Dies und das bis vor kurzem diskrete Auftreten des Gabriel-Verhinderers im Außenministerium bewogen sie, in dem Mann von der Saar einen neuen Hoffnungsträger zu sehen. Das haben sie nun davon.


Denn in der SPD ist es mit den Hoffnungsträgern wie mit den politischen Aussagen: Aus dem Kredo einer gerechteren Gesellschaft wird ein Bekenntnis zu profitableren Automobil-Gesellschaften, aus dem Pazifismus der frühen Tage werden Bewilligungen von Kriegskrediten und Rüstungsexporten, aus den neuen Stars der Sozialdemokratie werden Conférenciers der alltäglichen Polit-Shows. Und schon bei der ersten Gelegenheit erweist sich der neue Außenminister als kongenialer Zeremonienmeister einer vom politisch-militärischen Komplex mit viel Liebe in Szene gesetzten Farce.

04/2018

Dazu auch:

Üble Deals mit Kalkül im Archiv der Rubrik Medien

Mörder und ihre Helfer im Archiv dieser Rubrik        

                               

    





Geist von St. Pauli


Profi-Fußball ist ein brutales Geschäft, dominiert von Managern und Investoren, bar jenes spielerischen Zaubers, der noch vor Jahrzehnten den Stadionbesuch am Wochenende zum zwar sinnfreien, aber amüsanten Pflichttermin werden ließ! Mancher nüchtern denkende Mensch mit einer gewissen Kicker-Affinität würde dieser kategorischen Kritik zustimmen, gäbe es nicht im hohen Norden einen Verein, der sich der Abstempelung zur fremdgesteuerten Kommerz-Maschine zu entziehen scheint. Doch offenbar hat die Realität nun auch den FC Sankt Pauli eingeholt…


Oase in der kapitalistischen Wüste


Tatsächlich ist der Hamburger Kiez-Klub im deutschen Berufsfußball eine Ausnahme. Welcher Verein, der die Multimillionen-Aufgabe stemmen muss, sich in der ersten oder zweiten Bundesliga zu halten, hatte jemals einen Torwart wie Volker Ippig unter Vertrag, der zeitweise in der Hafenstraße gewohnt und eine Auszeit genommen hatte, um in den 1980er Jahren Aufbauarbeit für die Sandinisten im damals noch umkämpften Nicaragua zu leisten? Die nie um einen originellen Spruch verlegenen Pauli-Fans dankten es dem linken Individualisten im sonst so angepasst grauen Profikicker-Alltag mit dem Slogan „Volker hört die Signale“ auf ihren T-Shirts.


Als Pegida auf den Straßen zu toben begann, Glatzen die Unterkünfte von Asylbewerbern abfackelten und die ganze Bundesrepublik in Überfremdungshysterie zu versinken drohte, da hießen Zehntausende von Paulianern im Stadion am Millerntor die Flüchtlinge aus Kriegs- und Elendsländern ausdrücklich willkommen. Und der jetzige Sportdirektor Ewald Lienen rief Ende der 1970er Jahre als Stürmer von Borussia Mönchengladbach seine Bundesliga-Kollegen zu einer Unterschriftenaktion gegen Berufsverbote auf und betreute im Urlaub behinderte Kinder.


Mag Bayern München der reichste und erfolgreichste Verein in Deutschland sein, der beliebteste wird vermutlich der FC St. Pauli bleiben. Wenn nicht, ja wenn nicht das in den Profi-Ligen obligatorische Vermarktungsdiktat auch dem alternativsten Klub seine Mechanismen aufoktroyieren würde…


Die „Gesetzmäßigkeiten“ des Marktes


Auch der FC St. Pauli muss Spieler kaufen und verkaufen, erfolglose Mitarbeiter entlassen, auf TV-Übertragungsgelder hoffen und sich Sponsoren suchen, die ihren Warenabsatz durch eine Liaison mit der populären Sportadresse steigern wollen. Und einen dieser Mäzene hat die sich weltweit für Arbeiterrechte engagierende Net-Plattform LabourStart nun als Feind und Saboteur gewerkschaftlicher Organisierung entlarvt, natürlich nicht im Spotlight deutschen Medieninteresses, sondern weit hinten in der Türkei.


Der in Lüneburg beheimatete Herrenausstatter Roy Robson hat Saccos, Gürtel oder Hemden mit dem begehrten St. Pauli-Namenszug auf den Markt geworfen und für das Zweitliga-Team sogar eine eigene Kollektion entworfen, wobei der zuständige Werbetexter die wegen der örtlichen Puff-Nähe kreierte Bezeichnung „Kiezhelden“ zum unverfänglichen Terminus „Kids-Helden“ infantilisierte. In überschwänglichen Worten preist Roy Robson die Kardinaltugenden des unorthodoxen Vereins: Die Werte „Authentizität, Zusammenhalt und die Verbindung zwischen Tradition und Moderne  seien bei St. Pauli so virulent wie sonst bei kaum einem anderen Klub.


Allerdings hat Roy Robson selbst ziemliche Schwierigkeiten, wenn es um Zusammenhalt geht, jedenfalls den der eigenen Beschäftigten. Wie LabourStart  berichtete, hat der niedersächsische Modebetrieb in seiner Fabrik in Izmir elf Gewerkschaftsmitglieder fristlos entlassen. Immer wieder hatte die Textilgewerkschaft Teksif versucht, die rund 600 Mitarbeiter zu organisieren. Das Unternehmen reagierte mit Repressalien, der Manager verweigerte jedes Treffen mit Arbeitnehmervertretern und erklärte frei heraus, dass die Firma sich prinzipiell mit keiner Gewerkschaft zusammensetzen werde.


In der heutigen Türkei kann dies als risikoloses Bekenntnis zur Gutsherrenwillkür in Übereinstimmung mit staatlichen Stellen gewertet werden, da dem sich über alle Art von Menschen- und Arbeiterrechten hinwegsetzenden Autokraten Erdoğan neben einer archaisch-islamischen Ader auch ein Faible für brutal neoliberale Strategien zugeschrieben wird. In einer solchen Atmosphäre der Angst und Rechtlosigkeit lässt sich trefflich ausbeuten und feuern.


Die Website LabourStart  hat in Kooperation mit dem International Trade Union Movement bereits etliche Kampagnen initiiert und Aufrufe verbreitet. Dank ihrer weltweiten Unterschriftenaktionen gelang es, inhaftierte Gewerkschafter freizubekommen und Unternehmen in Nordafrika, Australien oder den US-Südstaaten zu Verhandlungen mit ihren Arbeitnehmervertretungen zu bewegen. Auch im Falle der elf türkischen Entlassenen hat LabourStart  wieder eine Aktion gestartet – und hofft, vielleicht zum ersten Mal, besonders auf die Unterstützung durch Fußballanhänger. Der gute Ruf des etwas anderen Hamburger Vereins und seiner Supporter ist nämlich bis in die internationalen Gewerkschaftszentralen gedrungen, und so nennt die Website das Verhalten der Sponsoren-Firma „ironisch“, „weil St. Pauli-Fans sich selbst ihrer Unterstützung progressiver Politik rühmen“. Und weiter: „St. Pauli ist in ganz Europa für seine Wahrnehmung sozialer Verantwortung bekannt.“      

Wo bleibt der Aufschrei der Fans?


Zähneknirschend haben die Anhänger des FC St. Pauli hingenommen, dass sich ihr Klub etlichen Spielregeln des Marktes unterwerfen musste, um weiter in dem Unternehmensverband namens Bundesliga mittun zu dürfen. Das hat für sie aber bislang nicht bedeutet, dass sie alle, auch extrem asoziale, Bedingungen und Kompromisse akzeptierten. So stellt sich die Frage, wo diesmal der Aufschrei der Fans bleibt – angesichts der Tatsache, dass ihr Verein indirekt in eine besonders unappetitliche Machenschaft schrankenloser Globalisierung nach kapitalistischem Gusto verwickelt ist.


Die Antwort könnte lauten: Die meisten St. Pauli-Fans haben von den Anti-Gewerkschafts-Attacken ihres Vereinssponsors nichts mitbekommen. Wenn sich aber die Medien hierzulande vornehm zurückhalten, weil sie die existenzielle Bedrohung engagierter Arbeitnehmervertreter im fernen Izmir durch eine deutsche Firma für wenig relevant halten, sieht man sich eben genötigt, auf eine Website mit Sitz in London zurückgreifen.


Dem Selbstverständnis der Sympathisanten des einzigen Klubs mit linker Aura in der Bundesliga würde es eigentlich entsprechen, das Begriffspaar LabourStart/St. Pauli zu googeln und die dort veröffentlichte Solidaritätsadresse zu unterzeichnen, schon damit mehr als die bisherigen 6000 internationalen Unterstützer dokumentiert sind. Die Hamburger alternativen Fans und unverbesserlichen Fußball-Nostalgiker könnten auch twitter oder facebook (Ich weiß, ein Pakt mit Teufeln!) nutzen, um ihrer Vereinsführung Beine zu machen, respektive ihr was von linkem Anspruch zu flüstern…

03/2018 

PS: Aus einem Fanclub des FC St. Pauli erreichte mich eine Korrektur, die ich gern weitergebe: Demnach ist die Firma Roy Robson seit zwei Jahren nicht mehr Sponsor des Vereins. Mit dem Tenor der Kolumne war der Absender ansonsten einverstanden. Um LabourStart in Schutz zu nehmen: Bei einem Blick ins Internet erschließt sich auch einem aufmerksamen Beobachter kaum, dass St. Pauli und Roy Robson mittlerweile getrennte Wege gehen, zumal auch eine Fotografin auf ihrer Website 2018 Bilder von Spielern in Outfits des Unternehmens, die sie 2016 geschossen hat, ohne Verweis auf den aktuellen Stand veröffentlicht. Sollte es gelungen sein, Anhänger von St. Pauli zur Unterstützung der LabourStart-Kampagne für die türkischen Gewerkschafter zu motivieren, hat der Beitrag jedenfalls seinen eigentlichen Zweck nicht verfehlt... 






 Karriere eines Klons

 

Sigmar Gabriel und Martin Schulz haben sich wirklich alle Mühe gegeben, wieder einmal in dieser Rubrik, die zumeist den glorreich Danebenliegenden vorbehalten ist, aufzuscheinen. Doch fällt es schwer, über die SPD noch etwas irgendwie Originelles abzusondern. Und so wenden wir uns der Siegerin der Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen, in denen das Primat von Posten gegenüber Inhalten festgeschrieben wurde, zu, der CSU, kongenial repräsentiert von Andreas Scheuer, dem Mann, der gern mitredet, auch wenn er wenig (Geistreiches) zu sagen hat, und darin seinem Vorgänger wie ein Wiedergänger ähnelt.


Kleiner werdende Fußstapfen


Schon zum dritten Mal hat es hiermit ein aktueller oder ehemaliger Generalsekretär der CSU als Held auf diese Seite geschafft. Das ist kein Wunder, reicht doch die Ahnenreihe der Chefideologen einer bigott-bajuwarischen Leitkultur bis zurück zu Franz Josef Strauß; jawohl, auch der Pate freistaatlicher Hybris und Vorteilsannahme hat 1946 ganz klein als zweiter Mann seiner Partei (nach dem Vorsitzenden) angefangen. Und die Generäle bilden wahrlich eine illustre Gesellschaft von auffällig gewordenen Spitzenpolitikern: Amigo-Streibl war dabei, auch Gerold Tandler, für dessen Finanzgebaren sich die Staatsanwaltschaft interessierte, ebenso Verkehrsexperte Wiesheu, der polnische Kleinwagen im Suff von der Autobahn räumte, oder Plagiatsexperte Karl-Theodor zu Guttenberg. Und die einzige Frau in der Runde mochte nicht hinter solch kapitalen Böcken zurückstehen, und so verdiente Christine Haderthauer an einem Unternehmen mit, das einen in die Psychiatrie weggesperrten Doppelmörder teure Automodelle bauen ließ.


Da buken die drei letzten Generalsekretäre eher kleine Brötchen, zumindest was gerichtsnotorische oder anderweitig anrüchige Machenschaften in und außerhalb der Funktion anging. Markus Söder machte schnell klar, dass er sich nicht mit intellektuellen Feinheiten oder differenzierten Erwägungen abgeben wolle, lautete sein wichtigster, ja einziger Programmpunkt doch SÖDER FIRST. Und mit der Wucht eines Rausschmeißers, gepaart mit der Geradlinigkeit einer Dampfwalze stürmte er schließlich den Thron des Ministerpräsidenten, ohne als CSU-Generalsekretär tiefere Spuren oder unappetitliche Flecken hinterlassen zu haben. Von seinem Nachfolger Alexander Dobrindt war eigentlich nur sein Versuch, das ZDF dazu zu bewegen, weniger über die SPD zu berichten (Hatte er Mitleid?), im Gedächtnis geblieben, bis er als Verkehrsminister und Cheflobbyist der Autoindustrie in Personalunion ins Bundeskabinett berufen wurde. Ihm wiederum folgte – ähnlich bebrillt, aber weniger buntscheckig gewandet – Andreas Scheuer, blasser noch als sein Vorgänger, sozusagen dessen Whiter-Shade-of-Pale-Version.

      

Der Dobrindt-Klon


Tatsächlich präsentiert sich Dobrindt, vom Typus her eigentlich die unvermeidliche graue Maus, seit seiner Ernennung zum CSU-Landesgruppenchef im Bundestag als ganz Radikaler: Eine „konservative Revolution“ forderte er unlängst, und vor seinem geistigen Auge mag mancher schon den Alex, der doch früher nur verbal zündelte, die „Lufthoheit über den Stammtischen“ (einst Stoiber, jetzt Söder) der rechten Gutsherren mit Molotow-Cocktails verteidigen sehen. Zuvor war es eher die geistige Bescheidenheit, die an Dobrindt auffiel – und die der Scheuers Andi bis jetzt noch vor sich her trägt. Der hat sogar freiwillig (?) und demütig auf einen (halb)akademischen Titel verzichtet.


Dem gestandenen Passauer Scheuer war die übliche Ochsentour über die  Rektalleiter der Partei nicht erspart geblieben: Junge Union, Bezirksverband, dann immerhin Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium (!), bis schließlich die Berufung zum Generalsekretär, schon ziemlich weit oben in den Eingeweiden der CSU, erfolgte. Aus dieser Zeit sind eigentlich nur einige Attacken auf die öffentlich-rechtlichen Sender (ganz der Dobrindt!) und ein paar Sprüche von beinahe ununterbietbarem Niveau (auch hier ein Kerl wie der Alexander D.) erinnerlich geblieben. Etwa als er eindringlich vor der Integration von Flüchtlingen warnte (denn die sollten "gleich dort bleiben, wo sie hergekommen sind“) und dabei 2016 in Regensburg auf die gefährliche Anpassungsfähigkeit junger Migranten hinwies: "Entschuldigen S' die Sprache, das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist - weil den wirst Du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern der ist Wirtschaftsflüchtling."


Generalsekretär der CSU wird man nur, wenn man den (breiten) rechtspopulistischen Rand dieser ohnehin schon rechten Partei bedient. Andreas Scheuer scheint dort geboren zu sein und sich kein` schöner Rand vorstellen zu können; jedenfalls kümmern ihn ideologische Spitzfindigkeiten nicht weiter: „Ich halte von diesen Begriffen nichts, wie Rechtsruck oder jetzt müssma uns verändern an dieser Stelle. Sondern es geht darum die maximal breiteste  Abdeckung zu haben im Spektrum Mitte-Mitte-Rechts.” Auf seiner Bühne geht der Tanz eben grundsätzlich rechtsherum – das ist der Rhythmus, in dem die Mitte immer mit muss…


Einmal in seinem Leben erkor der gelehrige Scheuer sich ein anderes Vorbild als den General Dobrindt, aber wenigstens eins aus derselben Gilde: Wie der gegelte Freiherr K.T. schrieb er sich mal Doktor und dann wieder nicht mehr. Allerdings fiel bei Scheuer alles eine Nummer kleiner und provinzieller aus als bei zu Guttenberg. Aus Gründen, die nur ihm und seinen Mentoren bekannt sind, erwarb der titelsüchtige Niederbayer 2004 an der Prager Karls-Universität den „kleinen Doktorgrad“ der Philosophie mit einer Arbeit, an deren transzendentem Thema sich selbst Plato die Zähne ausgebissen hätte: „Die politische Kommunikation der CSU im System Bayerns“. Fortan setzte Scheuer den PhDr. vor seinen Namen, rechtmäßig aber nur in Bayern und Berlin, in allen anderen Bundesländern ist diese Promotion Light nämlich verboten. So schaltete sich denn auch die Staatsanwaltschaft ein, als 2005 ein gewisser Dr. Andreas Scheuer im Bundestagswahlkampf aktiv wurde.


Als zehn Jahre nach der wissenschaftlichen Notgeburt Plagiatsvorwürfe laut wurden, weil längere Teile der bahnbrechenden Arbeit offenbar von der Bundeszentrale für politische Bildung stammten, verzichtete der Prager Hilfsdoktor generös auf den Namensvorsatz und ist seitdem für alle wieder schlicht der Andi Scheuer aus Passau.


Noch eine Personalklamotte?


Nun scheint die nächste Beförderung des braven Parteisoldaten anzustehen. Mochte er auch vielen Weggefährten einst angesichts seiner intellektuellen Aura höchstens für den Rang des Propaganda-Feldwebels geeignet erschienen sein, so hat er inzwischen doch in der CSU als niederbayerischer Bezirkschef und Generalsekretär gedient. Staatssekretär war er auch schon, und das ausgerechnet im Vorzimmer von VW, Daimler & Co, dem Verkehrsministerium in Berlin also. Kein Wunder, dass die Headhunter der GroKo mit dem Gedanken schwanger gehen, nach Dobrindt den nächstbesten CSU-Generalsekretär zum nächsten Verkehrsminister zu machen, damit die Automobilkonzerne die vertrauliche Zuarbeit auch in Zukunft nicht missen müssen.


Allerdings existieren bei Befürwortern eindeutiger Personalien Bedenken gegen eine Berufung Scheuers: Möglicherweise geraten die CEOs und Aufsichtsräte der deutschen SUV-Fabrikation in Verwirrung, wenn der Niederbayer zum Rapport bei ihnen antanzt, um zu erläutern, wie es ihm diesmal gelungen sei, dem EU-Parlament schärfere Schadstoffnormen auszureden, einen weiteren Abgastestbetrug zu verharmlosen oder Fahrverbote für Dreckschleudern zu verhindern, und bedanken sich mit einem jovialen „Gut gemacht, Herr Dobrindt!“ bei ihrem neuen treuen Diener (lateinisch: minister).   

02/2018

Dazu auch:

Alexander der Doofe? und Wadenbeißerchen im Archiv dieser Rubrik

 

                      

 



Klein Herbert


Da hat die SPD endlich mal wieder einen Charakterkopf im Spitzenteam – dachte man. Nach dem schmierigen Gabriel, den neoliberalen Rechtsaußen Clement und Steinbrück sowie dem Opportunisten Steinmeier drängte sich nun der stellvertretende Parteivorsitzende Ralf Stegner mehr und mehr in den medialen Vordergrund: über BILD, Welt, ZDF-Morgenmagazin und vor allem Twitter. Mit harter Stimme, grimmiger Rhetorik und verächtlich verzogenem Mund kündigte er klare Kante anFast glaubte man, eine Reinkarnation des chronisch mürrischen Wehner vor sich zu haben. Doch Onkel Herbert benötigte zu Gesinnungswechseln stets geraume Zeit, während sein Ziehenkel aus dem vom Meer umschlossenen Land im hohen Norden inhaltliche Kehrtwenden binnen weniger Tage vollzieht.


Mit Brosamen in die GroKo gelockt


Wie waren die Genossen Sondierer froh, als sie dem aufmüpfigen Parteivolk am Ende langer Verhandlungen einige Brosamen, die ihnen die gegnerischen Unionisten auf dem Silbertablett zugeschanzt hatten, präsentieren konnten: Die Rente, die sie unter Schröder selbst durch das höhere Eintrittsalter de facto gekürzt hatten, darf auf demselben kümmerlichen Niveau wie derzeit bleiben. Und nach einer Bedürfnisprüfung bekommen Menschen, die 35 Jahre lang gearbeitet oder gepflegt oder erzogen haben, als Grundrente sagenhafte zehn Prozent mehr als die Hartz-IV-Empfänger! Endlich kann Deutschland das qualvolle Ausbluten der Dritten Welt effektiv beschleunigen, weil ein Migrationsgesetz es erlaubt, hochqualifizierte Kräfte von dort abzuwerben. Außerdem müssen die Arbeitgeber ein paar Prozentzehntel bei der Krankenversicherung drauflegen, damit sie wieder genauso viel berappen wie ihre Beschäftigten. Nur zur Erinnerung: Wer hatte das Paritätsprinzip 2005 geändert? Der Kohl? Die Merkel? Nein, der SPD-Schröder war`s!


Wie erstaunt waren aber die sozialdemokratischen Unterhändler, als sie feststellen mussten, dass nicht nur die eigene Basis, sondern fast das ganze deutsche Volk die schwarzen Feilscher als die klaren Punktsieger sah. Die CSU hatte die Obergrenze bei Flüchtlingen durchgesetzt, nur dass sie jetzt Spanne heißt. Beim Familiennachzug wurden die Menschenrechte in Globuli-Portionen parzelliert, so dass nur noch tausend Menschen pro Monat ihren depressiven und traumatisierten Angehörigen nachfolgen dürfen. Da aber selbst diese Winzigkeit die hiesige Leitkultur zu überfremden scheint, hat künftig eine gleich große Anzahl in Italien und Griechenland Internierter keinen Zutritt mehr zum Gelobten (Deutsch)Land. Ganz im Sinne der Union und der Wirtschaft dürfen Unternehmen (und der öffentliche Dienst) auch in Zukunft Arbeitsverhältnisse nach Herzenslust befristen, und die Zwei-Klassen-Medizin wird weiterhin die Lebenserwartung nach dem Kontostand regulieren. Nur in einem können sich beide Verhandlungspartner als Gewinner fühlen: Von den Klimazielen für 2020 nahmen sie harmonisch und leichten Herzens Abschied, was der CDU/CSU den Dank der Autoindustrie und der SPD das Wohlwollen der im Braunkohle-Tagebau tätigen Energieversorger eintragen dürfte.


Immer mittendrin und mit der Schnauze vorn dran war unser Fels in seichter Brandung, Ralf Stegner aus Schleswig-Holstein, der ja eigentlich total gegen Verhandlungen mit der Union gewesen war. Wie das aber so ist in der SPD: Ein Standpunkt mag nach dieser Wahl, also bei Ebbe, von gewissem Wert sein, wenn aber die (Posten)Flut hereinkommt und das Boot wieder mit Hilfsmatrosen bemannt werden muss, sollte er schleunigst als Ballast über Bord geworfen werden.

           

Worte des Großen Vize-Vorsitzenden


Mit herabhängenden Mundwinkeln und im Wehner`schen Basta-Stil verkündete Stegner von Anfang an und dann immer wieder seine kategorische Meinung, allerdings nicht immer dieselbe, ja nicht mal die gleiche oder wenigstens eine ähnliche. Nach der krachenden Wahlniederlage seiner Partei gab sich der Nordmann im November noch entschlossen und kompromisslos:


„Die Ausgangslage für die SPD hat sich nicht verändert. Wir haben kein Mandat für eine erneute große Koalition.“


Ja, er setzte noch eins drauf und attestierte der SPD eine bislang nie gekannte Standfestigkeit:


„Wenn wir uns am Wahltag entschieden haben, wir machen keine GroKo, dann gilt das auch noch zwei Monate später.“

          

Im selben Monat aber räumte er ein, dass einer der berühmten Deals, für die Deutschlands Sozialdemokraten auch schon mal ihre Prinzipien in Urlaub schicken, wieder einmal nicht ganz undenkbar sei, dass solche Käuflichkeit aber ihren Preis habe:


„…billig ist die SPD nicht zu haben.“


Es nahte der Dezember, und in vorweihnachtlicher Stimmung den Schwarzen zum Wohlgefallen relativierte Stegner das ursprüngliche Verdikt:


Es gibt für uns keinen Automatismus in irgendeine Richtung.“ 


Ein neues Jahr bringt neue Erkenntnisse und neue Meinungen. Im Januar mutierte der SPD-Vize vom Oppositions-Saulus zum Koalitions-Paulus, auch wenn er sich dafür erklärtermaßen mit mutmaßlichen Gaunern einlassen musste:


„Ein Teil der neuen Rechten, Jungen, Jüngeren, der Scheuers, Dobrindts, Spahns sind jetzt nicht so vertrauenerweckend.“


Aber Regierung muss sein, zumindest wenn eine kleine Bedingung erfüllt ist:


"Ich bin für Koalitionsverhandlungen. Eine Koalition aber bilden sollte die SPD nur, wenn auch die sachgrundlose Befristung fällt."


Wie wir nach den Sondierungsverhandlungen wissen, ist gar nichts gefallen, schon gar das Recht der Arbeitgeber, ihre Beschäftigten durch Zeitverträge in existenzieller Unsicherheit zu halten. Entgegen den Weisungen ihrer Spitze stimmten respektable 44 Prozent der Delegierten auf dem SPD-Sonderparteitag gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Um das Gesicht – oder zumindest einen Teil des Antlitzes, vielleicht auch nur ein blaues Auge – zu wahren, gab sich die Parteiführung danach als betrogene Unschuld, übers Ohr gehauen von den unchristlichen Partnern in spe, die sogar heimlich Unabgesprochenes in den Text eingeschmuggelt hätten. Und wieder meldete sich Großmaul Stegner am lautesten zu Wort.


Und ewig grüßt die SPD


Während die Öffentlichkeit noch rätselte, ob die SPD-Führung bei den Sondierungsgesprächen eingeschlafen sei, ob sie das Abschlusspapier vor der Unterzeichnung überhaupt nicht gelesen habe oder ob sie sich schlicht ob der mickrigen Ergebnisse vor ihrer Basis schäme, preschte Rammbock Stegner vor und forderte Nachbesserungen, wo er zuvor alles Schlechte mit abgesegnet hatte: „Die Union wird sich bewegen müssen, sonst wird es am Ende keine Große Koalition geben.“ Ralf Isegrimm (so der Name des knurrigen Wolfes in der Fabel) will einfach nicht akzeptieren, dass er von Schwarzkäppchen Angela wieder mal an die Leine gelegt wurde.


CDU/CSU werden die Forderungen der gegnerischen Spätzünder aussitzen können und allenfalls ein paar kosmetischen Korrekturen zugestehen. Ungemach aber droht dem SPD-Establishment inzwischen von den Jusos, jenen Dornröschen der sozialdemokratischen Märchenwelt, die – plötzlich aus dem gesellschaftspolitischen Koma erwacht – gegen die GroKo mobilisieren und sogar Neu-Genossen anwerben, die bei der Mitgliederbefragung zum Eintritt in Merkels Dienste mit „Nein“ stimmen sollen. Statt sich über den vermutlich letzten Zulauf der künftigen Parteigeschichte zu freuen, wollen die coram publico widerwillig, im tiefsten Inneren aber wild entschlossen nach Amt, Würden und Pfründen strebenden Spitzenkräfte die Novizen, die doch nun wirklich Engagement beweisen würden, per Stichtagsregelung von der Abstimmung ausschließen.


Keine Angst: Die gute alte Partei wird sich wie immer für die Servilität und die Perpetuierung der Machtverhältnisse in einem wirtschaftlich-politischen System, in dem sie sich wohlig eingenistet hat und dessen offensichtlichste Kratzer sie auch ab und zu ganz keck, wenn auch folgenlos, kritisieren darf, entscheiden. Sollte sich noch jemand fragen, warum die SPD in der Zeit globalen Wandels und angesichts der Notwendigkeit perspektivischer Richtungsentscheidungen passiv in ihrem Bau verharrt, statt sich die Welt genauer anzusehen, sie zu analysieren und dann zu ändern, kann man ihm erschöpfend mit der Abwandlung der Gedichtzeile Rose is a rose is a rose is a rose der US-Amerikanerin Gertrude Stein, Freundin von Picasso, Hemingway und Fitzgerald, antworten. Manche Dinge lassen sich nicht mit analytischem Verstand oder semantischer Spitzfindigkeit definieren, sie erklären sich in verblüffender Simplizität aus sich selber: „Die SPD ist die SPD ist die SPD ist die SPD.“ Und Ralf Stegner ist ein besonders vorlautes Kind von ihr.

01/2018

Dazu auch:

Der letzte Strohhalm im Archiv dieser Rubrik

 

 

 

 

 

            

Oskar der Trommler

 

Wenn Oskar Lafontaine, Grandseigneur der Linken, mit der Grass-Figur Matzerath aus der „Blechtrommel“ in Beziehung gesetzt wird, liegt das zunächst an der Vornamensgleichheit, dann aber auch am gemeinsamen Faible für schräge Auftritte. Der literarische Oskar wächst ab dem dritten Lebensjahr nicht mehr weiter, hat ein gellendes, zerstörerisches Organ und tut seine Nachrichten wie Meinungen auf der Kindertrommel kund. Nun ist der politische Oskar zwar ebenfalls etwas kurz geraten, aber keineswegs ein Zwerg, und von seiner kultivierten Rednerstimme wird auch nicht kolportiert, dass sie Gläser zum Platzen bringen könnte; doch trommelt – in übertragenem Sinne –der Saarländer bisweilen ähnlich ungestüm wie der Romanprotagonist, und zwar um seiner Partei einen Weg zu weisen. Der wiederum dünkt manche Beobachter allerdings etwas holzig.

 

Verdienste der Vergangenheit

 

"Wir brauchen eine linke Sammlungsbewegung, eine Art linke Volkspartei, in der sich Linke, Teile der Grünen und der SPD zusammentun“, sagte Oskar Lafontaine, nach seinem Abschied aus Berlin jetzt noch Fraktionsvorsitzender der Linken im saarländischen Landtag, dem Spiegel. Klingt ja zunächst mal nicht schlecht, selbst wenn neben den speziellen Befindlichkeiten verbliebener kritischer Mitglieder dieser Bürgerparteien auch seltsame Positionen des einstigen Kanzlerkandidaten ein solches Bündnis recht unwahrscheinlich machen - doch dazu später. Bevor es überhaupt zu einer Sondierung  kommen könnte, belegen indes neue eigenwillige Einlassungen des Volkstribuns von der Saar, dass sein Hauptaugenmerk auf der Heimholung nach rechts abgewanderter Wähler mit den Mitteln der ihnen verständlichen Polemik liegt und er sich dazu seine Argumente aus allen möglichen (von linkem Gedankengut unbehelligten) Lagern, borgt.

 

Wie immer man zur bisweilen zu Selbstüberschätzung und einsamen Entschlüssen neigenden Person des einstigen SPD-Kanzlerkandidaten und Bundesfinanzministers stehen mag, einige seiner politischen Entscheidungen und Positionen verdienen Respekt, etwa 1999 der Rückzug aus der Regierung von Gerhard Schröder, als dieser begann, die Partei zu einem Kampfverband des Neoliberalismus umzuformen, die Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses und der damit verbundenen Stationierung von Pershing II-Raketen auf deutschem Boden  Anfang der 1980er Jahre sowie die aktuelle konsequente Ablehnung deutscher Militäreinsätze, vorzugsweise durchgeführt in den Krisenregionen der Welt, in denen sich Berlin Einfluss und Marktchancen erhofft. Auch dass die Linke im westdeutschen Mehrheitsbewusstsein nicht mehr als unverbesserliche SED-Nachfolgerin und damit Schmuddelkind wahrgenommen wird, verdankt sie nicht unwesentlich seinem 2005 erfolgten Beitritt zur WSGH, die wenig später mit der PDS zur heutigen Partei fusionierte.

 

Manchmal geht jedoch mit Lafontaine ein aus Hybris und Sehnsucht nach der Volksmehrheit (sei sie auch noch so populistisch gewonnen) gekreuzter Gaul durch, und dann schwadroniert der Omnipotente – übrigens im Gleichklang mit Gemahlin Sahra Wagenknecht – in krumm-dialektischem Stil über Flüchtlinge, offene Grenzen und damit verbundene Härten für die hiesige Unterschicht. Natürlich ohne die plumpen Grobheiten der Rechten: Hier rührt schließlich ein rhetorisch geschulter Mahner die Trommel.

 

Seltsame Grundrechenarten

 

In einem Interview, das zwei Journalisten der t-online-news unlängst mit Lafontaine führten, ließ sich dieser bereitwillig weite Strecken auf die Flüchtlingsproblematik festnageln, nicht ohne diese humanitäre Katastrophe nach rabulistischer Manier aus allen, nur nicht den relevanten, Blickwinkeln zu durchleuchten.

 

Zunächst wirft er der Bundeskanzlerin, die wegen ihrer Passivität in puncto Integration tatsächlich angreifbar wäre, vor, sie habe nach ihrem unverbindlich angelegten Wir schaffen das! die „einmalige Grenzöffnung monatelang aufrecht erhalten“. Und fährt auf seltsam vertraute Weise fort:„Wir wussten auf einmal nicht mehr, wer zu uns kommt.“ Das klingt nicht so brachial, ist aber von der Sache gar nicht so weit weg von dem Pegida/AfD-Statement, Angela Merkel habe die Schleusen geöffnet, auf dass dieses Gesocks uns, unsere teure Heimat und überhaupt das ganze Abendland überfluten könne. Es wird impliziert, dass es sinnvoller gewesen wäre, die Menschen aus dem Nahen Osten und aus Afrika in der Türkei oder auf dem Balkan internieren zu lassen, auf dass Deutschland weitgehend flüchtlingsfrei bleibe und Politiker nicht auf allzu solidarische Ideen verfallen.

 

Denn, so trommelt Oskar für eine rigorose Haltung in dieser Frage, die ihm missliebigen Vorsitzenden der Linken, Kipping und Riexinger, hätten „unhaltbare Forderungen“ ins Wahlprogramm der Partei aufgenommen. Vor allem stört ihn die Formulierung „Die Linke steht für offene Grenzen für alle Menschen“. Und der ehemalige Kassenwart der Republik barmt, dass dann „alle zu uns Kommenden“ eine Mindestsicherung in der Höhe erhalten müssten, die seine Parteifreunde schon seit geraumer Zeit fordern (1050 Euro für Erwachsene, 573 Euro für Kinder). Klar, das wären über die Jahre ein paar Milliarden, und das, so meint er, halte die Wählerschaft „für nicht vertretbar mit den Grundrechenarten“. Doch Lafontaines Krämervorstellung von Kalkulation berücksichtigt weder, dass ein Vielfaches dieses Geldes vorhanden wäre, wenn man nur ein paar hundert befähigte Steuerfahnder (deren Zahl im reichen Bayern seltsamerweise abnimmt und die in Hessen bei Fahndungserfolg als Querulanten zum Psychiater geschickt werden) einstellen würde, wenn die Vermögenssteuer, gegen die er ja nichts hat, wieder eingeführt würde, wenn die Banken und Investoren für ihre kriminellen Cum-Cum- sowie Cum-Ex-Geschäfte löhnen müssten, wenn die Erbschaftssteuer gerecht festgesetzt würde, kurz wenn der Staat seine Außenstände von den Parteienmäzenen und -mentoren eintreiben würde.

 

Lafontaine verfällt lieber in das krude Argumentationsschema der Bildzeitung, deren Schlagzeilen suggerieren, wir alle würden von einer Handvoll Hartz-IV-Erschleicher um unseren Wohlstand gebracht, während auf derselben Seite die Luxushochzeit eines milliardenschweren Steuervermeiders in innigsten Bildern abgefeiert wird. Mithilfe der Grundrechenarten, auf die sich der Volksversteher beruft, ließe sich sehr wohl feststellen, wie gering die Kosten einer nachhaltigen Integration von Immigranten im Verhältnis zu den Verlusten durch Finanztricks, Lobbyisteneinfluss, Fehlkalkulationen und mangelnde Recherche tatsächlich ausfielen. Statt sich im Gleichklang mit der oberflächlich gebildeten Volksmeinung auf die schwächste Gruppe als Wohlstandsrisiko einzuschießen, hätte Oskar die wirklich relevanten Größen mithilfe der Mengenlehre, die er aber in der Schule noch nicht gehabt hatte, in der Öffentlichkeit darstellen und verständlich machen können.

 

Zwischen den recht reaktionär wirkenden Schlussfolgerungen streut Lafontaine in dem Interview immer wieder Sätze ein, die man ohne Zögern unterschreiben könnte, etwa wenn er dem Wirtschaftssystem des Westens vorwirft, Unsummen für Kriegsführung auszugeben, von denen ein Bruchteil ausreichen würde, „um Millionen Menschen vor dem Tode zu bewahren“. Auch hat er recht, wenn er Politik und Wirtschaft hierzulande vorwirft, mit einem Einwanderungsgesetz al gusto „qualifizierte Menschen aus unterentwickelten Ländern abwerben“ zu wollen und so die Not dort noch zu vergrößern. Doch dann kommt wieder eine merkwürdige Volte, die liebgewonnene Ängste der Pegida-Klientel schürt und sinngemäß einer CSU-Stammtischrede entnommen sein könnte: „Auch die Aufnahme vieler Geringqualifizierter erhöht in Deutschland den Lohndruck im Niedriglohnsektor.“ Wenn dem so ist, müssen der Gesetzgeber und die Gewerkschaften auf Trab gebracht werden – für die Fakten Asyl, Flucht und Überleben ist die Feststellung obsolet. Eher kommt der Verdacht auf, Lafontaine wolle niemanden ins Land lassen, und einfache Kleinbauern und Tagelöhner, die durch Gewalt oder unsere Exportpolitik zur lebensgefährlichen Reise gezwungen wurden, schon gar nicht.

 

Es sind diese Momente, in denen sich Oskar in die aus der Rock-Musik sattsam bekannten Schlagzeug-Soli verliert, mittels derer zwar der Drummer seine akrobatischen Fähigkeiten demonstrieren kann, die aber für den aufmerksamen Zuhörer enervierend sind. So behauptet er apodiktisch, „offene Grenzen sind eine Grundforderung des Neoliberalismus“, ganz so, als habe der moderne Freihandel(szwang) den Transit, in diesem Falle das Bedürfnis der Menschen, durch einen Ortswechsel ihr Leben zu retten oder zumindest sicherer zu fristen, ganz allein erfunden. Die gewagte These, die FPÖ-Strache im Hintergrund beklatscht, begründet Lafontain dann völlig ökonomistisch, nicht gerade falsch, aber weit am Thema vorbei: „Bei offenem Warenverkehr haben Entwicklungsländer keine Chance, eine eigene Wirtschaft aufzubauen. Bei nicht reguliertem Geldverkehr bilden sich Blasen, die Weltwirtschaft kommt in Schwierigkeiten und die Arbeitslosigkeit steigt an. Deshalb müssen die Finanzmärkte dringend reguliert werden.“  Nicht ganz zu Unrecht haken hier die Interviewer nach: „Moment, hier geht es um Menschen, nicht um Waren.“  

 

Die ganz breite Volksfront

 

Wie Gattin Wagenknecht scheint Lafontaine immer noch nach den einstigen Linken-Wählern vor allem im Osten zu schielen, die zur AfD abgewandert sind. Statt sich darüber zu freuen, solchen Ballast losgeworden zu sein und sich in aufklärerische, bewusstseinsbildende Arbeit zu stürzen, bedient er die sozialen Ressentiments der Populisten, wenn auch eloquent und in gemäßigter Diktion. Emanzipatorische Anstöße sind von ihm nicht mehr zu erwarten, hat er doch gerade erst zu einem weiteren Trommelwirbel angesetzt, der wohl im allgemeinen Berliner Stühlerücken untergehen wird.

 

Im vergangenen Oktober äußerte Oskar erstmals den durchaus verständlichen  Wunsch: „Ich wollte immer eine starke linke Volkspartei.“  Da dies mit dem eigenen Verein auf absehbare Zeit kaum zu bewerkstelligen ist, schlug er einen Zusammenschluss mit Teilen der SPD und der Grünen vor, wohl wissend, dass die Entscheidungsgremien beider Parteien fest in neoliberaler Hand sind. Ihm schwebt vermutlich eine Union aus klassischen antikapitalistischen Sozialdemokraten, linken Ökologen und den sich gerade auf dem langen Marsch durch die Institutionen und Karriereschleusen befindlichen Sozialisten der eigenen Partei vor. Was ihm dabei entgangen sein muss: Wenn noch Sozis à la Corbyn in der SPD sein sollten, so sind sie verstummt und stellen eine verschwindende, passiv gewordene Minderheit dar, und was die FDP für Naturfreunde betrifft, haben die letzten Aufrechten, die die Begrünung von Chefetagen nicht als entscheidenden gesellschaftlichen Fortschritt durchgehen lassen wollten, die Partei längst fast vollständig verlassen.

 

Mangels Masse muss sich Oskar, der das Trommeln nicht lassen kann, deshalb wohl wieder dem fremdenfeindlichen Auditorium zuwenden.

01/2018

Dazu auch:

Sahra W. im Irrtum im Archiv dieser Rubrik

Ware Mensch im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund




2017 

                           



Horst Söder, Ingolberg


Wenigstens während parteiinterner Machtkämpfe erhofft man sich in der politischen Tiefebene dieser Republik noch ein wenig Auseinandersetzung um konträre Standpunkte, dazu essentielle Meinungsverschiedenheiten bezüglich der einzuschlagenden Richtung oder gar ideologischen Dissenz. Dass es mittlerweile ganz ohne solche inhaltlichen Ladenhüter geht, zeigt in Bayern das in der Presse zum Kampf des Jahrhunderts hochgejuxte Duell zwischen Markus Söder und Horst Seehofer.


Zwei von gleichem Schrott und Korn


Der Ministerpräsident aus Ingolstadt wird 2018 zurücktreten, darf aber sein Gnadenbrot noch eine kleine Weile als CSU-Parteivorsitzender fristen. Der Finanzminister aus Nürnberg wird an die Spitze der bayerischen Regierung treten und muss seinen Absolutheitsanspruch auf die Doppelfunktion für kurze Zeit zügeln. So haben es die Landtagsfraktion und der Vorstand der CSU einstimmig beschlossen; so geschehe es auch nach dem Willen des Parteivolks. Der jahrelange von hinterlistigen Finten, abwertenden Sottisen, dem Aufbau von Scheinkandidaten und von Taktik auf brettflachem Niveau geprägte Streit hat ein friedliches Ende gefunden. Und der arme, mit bajuwarischer Spitzfindigkeit nicht vertraute Tor fragt sich vergeblich: Warum der ganze Zinnober? Wofür stehen diese beiden Herren eigentlich, welche inhaltlichen Unterschiede sind überhaupt erkennbar?


Im durch eine wie für Touristen geschaffene Landschaft, durch sympathische Besteuerungslaxheit, die in der Relation geringste, aber angeblich leistungsstärkste Abiturientenanzahl und viel Tradition, die auch mal alle Fünfe gerade sein lässt, gesegneten Freistaat war das von Seehofer und Söder gleichermaßen unter dem Motto Bavaria First! fortgeschriebene System Strauß eigentlich stets unumstritten, zumindest in den Reihen der für Lebensgefühl und Ausgrenzung maßgeblichen christsozialen Union.


Und so sorgten der Oberbayer und der Franke einvernehmlich dafür, dass von die Großkopferten weiter Reichtümer scheffeln konnten, in Bayern ansässigen Firmen im Schnitt höchstens alle 125 Jahre eine Steuerprüfung droht, die Manipulationscracks unter den Autobauern, BMW und Audi, keine strengeren Abgasnormen seitens der Bundesregierung und der EU zu fürchten hatten, dass Naturschutzgebiete von Waldbesitzern oder – wie im Falle Riedberger Horn – entgegen internationalen Vereinbarungen für die letzten Ski-Urlauber vor dem Klimawandel plattgemacht werden dürfen und dass die industrielle Landwirtschaft die Subventionen und Total-Pestizide bekommt, die sie braucht, um den lästigen kleinen Höfen endgültig den Garaus zu machen. Manchmal verhedderten sich die Richtlinien-Gurus allerdings und mussten ein kurzes Stück zurückrudern, etwa als sie mit der Einführung des G-8 die Bildungswege noch ein wenig undurchlässiger für sozial Benachteiligte gestalten wollten. Im Großen und Ganzen aber erledigten sie ihre Hauptaufgabe, nämlich den Konzernen zuzuschanzen, womit die Unterprivilegierten ohnehin nicht umzugehen gelernt haben, sehr konsequent – selbst wenn dafür der Ausbau erneuerbarer Energien behindert und teilweise auch ganz gestoppt werden musste.


Das Freistaatsvolk ist des zufrieden, weil es sich von jeher in einer besseren Position wähnt als die buckligen Landsleute jenseits des Mains und weil es den deftigen bis groben Charme der beiden Alpha-Männchen goutiert. Grundlegende Differenzen zwischen diesen wären ihm wohl reichlich wurscht gewesen, aber es gab sie ohnehin nicht.

    

Äußerlich kontrovers, inhaltlich austauschbar


Gewiss, Horst Seehofer hatte während seiner Berliner Karriere einmal kurz als Bundesgesundheitsminister gegen die Pharmaindustrie aufgemuckt, zog sich dann aber rasch in die Schmollecke zurück. Als er ein Gastspiel als VDK-Präsident gab, glaubten einige, aus einem CSUler könne doch wahrhaftig ein veritabler Sozialpolitiker werden. Doch der listige Horst hatte sich nur einen Ruheraum gesucht, um dort Kräfte für die Kür zum Ministerpräsidenten in der geliebten Heimat zu sammeln. Seitdem hat niemand mehr die Wörter Seehofer und sozial im gleichen Satz verwendet (wenn nicht zufällig der trügerische Name der Staatspartei mit eingeflochten wurde).


In den Verdacht gesellschaftlicher Empathie, ausgleichender Rücksichtnahme oder gar egalitärer Tendenzen geriet Markus Söder nie. Sein qualitativ wenig anspruchsvolles Wirken als Journalist beim weithin unbekannten Franken Fernsehen und die bescheidene, wohlwollend durchgewunkene Doktorarbeit als Jurist legten bald nahe, dass er besser in der Politik aufgehoben wäre. Dort mag man Männer, die mit allen Mitteln die Führung der Horde übernehmen wollen und sich sowie eigene vorgebliche Erfolge in kurzen Sätzen mit der vulgär-brutalen Verve eines Metzgermeisters, der gerade den letzten Auerochsen auf Erden zerlegt hat, loben.


Söder, der in die Multimillionärsfamilie Baumüller einheiratete, bewies auch mutige Distanz zur Unterschicht und ihren Bedürfnissen, als er 2013 die Landesbank anwies, die 32.000 Wohnungen der gemeinnützigen staatlichen Wohnungsgesellschaft GBW an das Immobilienunternehmen Patrizia zu verkaufen. Was der umtriebige Franke als bayerische Lösung anpries, war in Wirklichkeit die Verschleuderung öffentlichen Eigentums an ein undurchschaubares Firmengeflecht, das vor allem über seine Niederlassungen in Luxemburg und den Niederlanden Steuern zu umgehen weiß und – in konsequenter Raffzahn-Manier – der sozial schwachen Klientel erst einmal die Mieten gehörig erhöhte. Von Seehofer, der sonst keine Gelegenheit ausließ, dem Rivalen, dessen heißen Atem er bereits im Nacken spürte, „Schmutzeleien“ vorzuwerfen, hörte man dazu nichts.


Ein wenig wirkte das Duo wie eine reziproke Version von Stevensons Psycho-Novelle „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“: In Bayern handelte es sich tatsächlich um zwei verschiedene Subjekte und nicht um eine gespaltene Persönlichkeit, nur dass beide gleichermaßen unsozial, hämisch und (umwelt)zerstörerisch handelten, zu keiner Zeit von der gütigen Milde eines Dr. Jekyll gebremst.


Die größere Machtgier


Natürlich weisen Seehofer und Söder gravierende äußerliche Unterschiede auf: Zwar sind beide beinahe gleich groß, aber der eine ist schon 68 Jahre alt und seine Haarfarbe erinnert an die Silberrücken genannten betagten Anführer einer Gorilla-Sippe, während der Nürnberger Parvenü mit 50 Jahren noch eine schwarze Mähne sein Eigen nennt. In Physiognomie und Auftreten ähnelt der Ältere einem betagten Charmeur zweiter Güteordnung, während sein Nachfolger irgendwo zwischen einem besonders brutalen Disco-Türsteher und einem Schutzgeldeintreiber changiert. In breitem Oberbayerisch schlängelt und windet sich Seehofer an klaren Aussagen, die ohnehin nur von kurzer Halbwertzeit wären, vorbei. Söder hingegen bevorzugt das brachiale Basta mit fränkischem Akzent und eingeschränktem Wortschatz.


Da enden dann die Unterscheidbarkeiten, ihr Opportunismus, die logische Insuffizienz und ihre ziemlich schmierig wirkende Anbiederung an Volkes rechte Stimme sind in etwa gleich, auch wenn Söder noch ein wenig weiter im extrem nationalistischen Reservoir wildern möchte . Allerdings fiel zuletzt auf, dass der Ingolstädter etwas müde wirkte, während der Nürnberger den Parteipöbel mobilisierte und ungehemmte Beißlust demonstrierte. Und das muss in Bayern reichen: In einem Freistaat, dessen Bevölkerung die pausenlosen Durchstechereien, Alkoholfahrten und Unwahrheiten der CSU-Mandatsträger als folkloristische Eigenheiten toleriert, in dem Politiker danach beurteilt werden, mit wie vielen (wenigen) Schlägen sie das Fass auf einem Bierfest anstechen können, in dem leitkulturelles Brauchtum und erzkonservative Scheinheiligkeit kritisches Denken ausreichend ersetzen, ist kritische Reflexion bei der Bestellung des nächsten Landesvaters fehl am Platz.

12/2017

Dazu auch:

Lumpaci & Vagabundus, Horsts Welt und Das Söder im Archiv dieser Rubrik     

 

 

 

                       

 

Die Panzerkommissarin


Wenn die historischen Verdienste der EU und ihrer Vorläuferpakte gewürdigt werden, dann ist meist von der Friedensgemeinschaft die Rede. In der Tat ist West- und Mitteleuropa seit 1945 von frei Kriegen, und die Brüsseler Union erhielt 2012 dafür den Friedensnobelpreis, mit dem allerdings auch schon mutmaßliche Kriegsverbrecher wie Henry Kissinger und martialische  Präsidenten wie Obama (Faible für Drohnen) und Santos (in Kolumbien einst mit Paramilitärs und Todesschwadronen verbündet) ausgezeichnet wurden. Die EU möchte sich nun aber des pazifistischen Gewandes, das sie außerhalb des eigenen Gebietes ohnehin nie trug, entkleiden und militärisch mitmischen. Was man dazu neben ordentlichen Vernichtungsmitteln braucht? Vor allem gute Straßen, wie die Verkehrskommissarin in Brüssel ausführt…


Innen ruhig, nach außen imperial


Tatsächlich sind die Mitgliedsstaaten der EU nie gegeneinander zu Felde gezogen, was angesichts aggressiver Nationalisten wie Orbán, Kaczinsky oder Boris Johnson durchaus positiv zu bewerten ist. Andererseits aber suchten sie einzeln, in Allianzen oder unter dem Dach der NATO beträchtliche Teile des Kontinents und des Rests der Welt mit direkter militärischer Gewalt und konfliktstiftender Diplomatie heim oder versorgten Kombattanten gewissenhaft mit Material, auf dass diesen der Stoff zum Töten nicht ausginge.


Ob nun französische Soldaten und Fremdenlegionäre in der Zentralafrikanischen Republik marodierten und in Mali vor allem wegen der dortigen Uran-Vorkommen intervenierten oder die deutsche Luftwaffe zusammen mit den US-Verbündeten die serbische Zivilbevölkerung bombardierte, ob Berliner Außenpolitik den Zusammenbruch Jugoslawiens und das Auseinanderfallen der Ukraine beschleunigen half, ob die Rüstungsexporte aus der Gemeinschaft nun den Saudis den Völkermord im Jemen oder in längst verdrängten Zeiten dem später in Ungnade gefallenen Saddam Hussein den Krieg gegen Kurden und Iraner ermöglichten – die EU war immer mittendrin, nicht nur als Beobachter dabei.


Doch inzwischen beabsichtigen einige Staaten, ermutigt auch durch Trumps chauvinistischen Isolationismus, die EU ohne Gängelung durch den Großen Bruder in Washington (im Kriegsfall aber immer noch in inniger Waffenbrüderschaft mit ihm) zur eigenständigen Militärmacht neben der NATO auszubauen. PESCO (Permanent Structured Cooperation) nennt sich das neue, von Frankreich und Deutschland dominierte Bündnis, dem 20 Länder angehören werden und das der EU „strategische Autonomie“ sichern soll. Nicht einmal in den Zeiten des Kalten Krieges vermehrten sich die operativen Projekte und Allianzen des Westens so rasch wie derzeit!


Während sich Europa gegen Flüchtlinge einigelt, sollen der pausenlosen Verschiebung von Truppen und Kriegsmaterial quer durch den Kontinent fröhlich Tür und Tor geöffnet werden – zum Gelingen der vor allem an den Ostgrenzen immer häufiger werdenden Manöver und wohl auch in geistiger Vorwegnahme von weit Schlimmerem. Die offiziöse Friedenspolitik hat ausgedient, die EU kann auch ganz anders. Nicht nur der US-Oberbefehlshaber in Europa, Ben Hodges, fordert den Abbau von Grenzkontrollen für die Marschkolonnen, die Verteidigungsminister der Union propagieren gar einen „Schengenraum für Militärs“, auf dass sich auch Soldaten aus Kanada und den Vereinigten Staaten frei von Behinderungen durch Zollbeamte über die europäischen Landschaften in Richtung russische Grenze ergießen können.


Natürlich soll PESCO auch dem Schutz der Handels- und Ausbeutungsinteressen in Afrika und sonstwo dienen, die gewichtigste Drohgebärde jedoch gilt Putins Russland. Wenn man aber blitzschnell in gewaltiger Übermacht im Baltikum, im Osten Polens und an den Grenzen der Ukraine aufkreuzen will, benötigt man geeignete Transportwege. Da reichen keine idyllischen Landstraßen mehr, und deshalb meldet sich nun Violeta Pulc, slowenische Verkehrskommissarin in Brüssel, zum Rapport.


Beim Verkehr denkt die Dame ans Militär


Frau Pulc, die u. a. in San Francisco Management studiert und auf dem windigen Feld der Unternehmensberatung reüssiert hatte, war eine Ersatz-Kandidatin für den Posten, wurde sogar von der Mehrheit des eigenen Kabinetts wegen ihrer Unerfahrenheit und einiger seltsamer Vorlieben abgelehnt, hatte aber offenbar die richtigen Vibes oder besser: Beziehungen. Sie neigt dem Okkultismus zu, ließ sich zur Schamanin ausbilden und wandelte bisweilen über glühende Kohlen. Jetzt, als Kommissarin, beweist sie, dass sie immer noch gern mit dem Feuer spielt.


Die üblichen Sujets ihres Ressorts, die verkehrstechnische Erschließung abgelegener ländlicher Gebiete oder die Verbesserung individueller Mobilität und nationaler Infrastruktur umfassend, sind ihren esoterischen Neigungen offenbar zu profan, sie hält sich anscheinend lieber in den vom Kriegsgott Mars beherrschten Sphären auf. Dass sich der Versorgungsbedarf des europäischen Bürgers und die Organisation der Zivilgesellschaft endlich wieder dem militärischen Primat unterzuordnen haben, fordert sie mit dankenswerter Klarheit:


„Die Europäische Union verfügt über ein modernes Verkehrsnetz, das auf die Bedürfnisse der europäischen Bürgerinnen und Bürger zugeschnitten ist. Diese Bedürfnisse können auch militärischer Art sein. Die rasche Beförderung von militärischem Personal und Gerät wird jedoch noch durch eine Reihe physischer Hindernisse wie auch durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften erschwert. Dies kann Ineffizienzen im Bereich der öffentlichen Ausgaben zur Folge haben, Verzögerungen und Störungen verursachen und uns zudem risikoanfälliger machen. Es ist höchste Zeit, dass wir die zivilen und militärischen Synergien auf wirksame und nachhaltige Weise auch durch unser Verkehrsnetz maximieren.“


Das klingt nach Vorkriegswirtschaft, Verkehrswege haben nach dem Dafürhalten der zuständigen Kommissarin in erster Linie der freien Fahrt für Panzer zu dienen. Auf der anderen Seite der neuen Feindesgrenze wird sich die russische Generalität angesichts der sich „unbürokratisch“ auf ausgebauten Aufmarschbahnen nähernden zahlenmäßig weit überlegenen NATO- und PESCO-Truppen beinahe zwangsläufig gefährliche Gegenmaßnahmen überlegen müssen.


Der Gefahr begegnen, die man selbst erschuf


Wladimir Putin ist ein Autokrat, der russische und eigene Machtinteressen rücksichtslos durchsetzt, wenn dies ihm machbar erscheint; er ist aber kein Hasardeur und kein cholerischer Abenteuer. Wenn er mit unzuverlässigen und unberechenbaren Warlords wie den ostukrainischen Separatistenführern paktierte, dann vor allem, weil ihm die Einkreisungsstrategie der NATO mit ihren Fallen, Finten und Regime Changes, in Kiew etwa mittels der US-Milliarden für käufliche Politiker und der verlogenen Umsturz-Diplomatie eines deutschen Außenministers, kaum eine andere Wahl ließ. Dass aber das West-Bündnis, das alle nach dem Zusammenbruch der UDSSR gegebenen Zusicherungen bezüglich einer  bündnisfreien Zone im Osten Europas gebrochen hat, nun seine Interventionskapazitäten signifikant ausbauen will, erhöht das Risiko eines bewaffneten Konflikts, der sich nicht durch die bloße Existenz von Pufferstaaten abschwächen würde, sondern direkt auf den Territorien der beiden Machtblöcke ausbräche, immens.


Die für die militärische Eskalation auf einem potentiell friedlichen Kontinent mit- bis hauptverantwortliche EU-Außenpolitik bemüht verbal stets den Terminus Deeskalation, während sie gleichzeitig eigene Eingreiftruppen neben den bereits in Stellung gebrachten NATO-Streitkräften installieren will. Da macht es durchaus Sinn, wenn eine gelernte Esoterikern wie Marieta Pulc der Zivilbevölkerung die Unterordnung der infrastrukturellen Bedürfnisse, die sich in läppischen Forderungen nach Lärmschutz, Umgehungsstraßen oder Brückensanierung niederschlagen, unter den panzergerechten Ausbau der Verkehrsrouten als alternativloses Mantra beibringt. Schließlich kann niemand in Brüssel auf eine ähnliche mystische Legitimation verweisen und derart glaubhaft (wenn schon nicht rational und logisch) zum Kampf gegen das Böse aufrufen.

11/2017

Dazu auch:

Fürchtet Europa! im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund   

                     

 




Trumps Jünger


Die Medien in Europa tun den Vereinigten Staaten und ihrem Präsidenten Donald Trump Unrecht, wenn sie den Milliardär als kranken Einzelgänger mit wirren Gedanken und seine Wahl als typisch nordamerikanischen Blackout abtun. Trump̕ sche Pläne, Meinungen wie Methoden haben längst Fans sowie Nachahmer in der EU gefunden, und einige der politischen Emporkömmlinge auf dem Alten Kontinent geben zumindest bei ausgesuchten Themen den Supertrump. Welch ein Trost für den gestressten US-Präsidenten, dass er auf der Welt nicht ganz allein ist mit seiner Hybris...


Mauer? Stacheldraht? Egal!


Was haben wir uns aufgeregt über Trumps Plan, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko hochzuziehen, um Flüchtlinge und Immigranten aus dem Süden fernzuhalten. Tatsächlich sind solche Bauwerke hierzulande schlecht angesehen, seitdem Westberlin mittels Betonquadern und Wachtürmen vom Umland abgeschnitten wurde. Weniger bedrückt es hingegen die öffentliche Meinung, dass an einigen Außengrenzen der EU (Bulgarien, Ungarn, Spanien-Exklaven Melilla und Ceuta) Asylbewerber durch Stacheldraht und/oder schwerbewaffnete Grenztruppen brachial gestoppt werden, während man anderswo Verzweifelte zum gefährlichen, oft tödlichen Weg übers Mittelmeer nötigt und weitere den neuen Verbündeten in Nordafrika, den Mördern, Vergewaltigern und Sklavenhändlern, die sich zur libyschen Küstenwache zusammengerottet haben, überantwortet.


Trumps Mauerprojekt mag den US-Präsidenten als rücksichtslosen Bauunternehmer mit einbetoniertem Herz und Hirn ausweisen – brutaler als die Abschottungsversuche der EU ist es auch nicht. Und wenn in unseren Medien zurecht kritisiert wird, dass der xenophobe Herr des Weißen Hauses Illegale, die seit Jahren unbescholten in den USA gelebt und gearbeitet haben, abschieben lässt, dürfen wir darüber nicht vergessen, dass bei uns derzeit schneller und rigoroser rückgeführt wird, und zwar in jedem Zweifelsfall und in fast jedes Land, auch wenn es gerade in Bürgerkrieg und Elend versinkt.


Nicht nur hinsichtlich der Behandlung von Migranten scheint Trump als öffentlich abgewerteter, im Stillen aber imitierter Wortführer eines weißen Nationalismus voranzugehen, auch sein Stil, sein Faible für Fakes und erratischen Interpretationen, die Skurrilitäten, die er freiwillig per Twitter ausposaunt, seine Art, die eigene Partei zur One-Man-Show zu degradieren, haben in der EU Epigonen auf den Plan gerufen, auch wenn wir stolz anmerken müssen, dass zumindest ein Großmeister des Absonderlichen schon vor ihm die europäische Bühne bespielte.


Der alte und die neuen Meister


Trump war noch ausschließlich als gieriger Baulöwe und notorischer Bankrotteur bekannt, als in Rom bereits Il Cavaliere regierte, ein etwas schmierig wirkender Alleinunterhalter mit viel Geld im Hintergrund. Silvio Berlusconi machte Nägel mit Köpfen, wo Trump lediglich verbal entgleiste. Während der Yankee nur über die Verführ- und Berührbarkeit von Frauen sabberte, feierte der Italiener ausgedehnte Sexpartys mit Minderjährigen. Das Anklageregister des Cavaliere liest sich mit Einträgen wie Bestechung, Steuerhinterziehung oder Zeugenkauf wesentlich imposanter als die Sündenliste Trumps mit ihren Allerweltsvergehen wie etwa Beschäftigung von Schwarzarbeitern ohne Aufenthaltsgenehmigung. Und Berlusconi musste sich auch nicht pausenlos mit den Funk- und Printmedien anlegen, weil die ihm in Italien ohnehin zum Großteil gehörten.


Ein Gradmesser für das derzeitige politische Niveau in Europa ist sicherlich der Umstand, dass sich der Lustgreis aus Mailand berechtigte Hoffnungen auf ein Comeback in Rom machen darf. Einstweilen hat er schon einmal seinen Busenfreund Antonio Tajani als Präsident des EU-Parlaments installiert. Da tut sich der weniger geschmeidige Donald Trump mit dem Knüpfen eines kunstvollen internationalen Beziehungsgeflechts wesentlich schwerer.


Auch Viktor Orbán stand in Ungarn schon geraume Zeit vor Trump an der Spitze des Staates. Da es sich bei ihm aber eher um den Typ „humorloser Autokrat“ handelt, konnte er dem US-Berserker lange nicht das rhetorische Feuerwasser reichen. Unlängst aber gelang ihm der Befreiungsschlag, als er ganz Osteuropa zur „migrantenfreien Zone“ ausrief und sich damit der Wortwahl der Nazis („judenfrei“) signifikant annäherte.


Und in Österreich hat der junge Rechtspopulist und Flüchtlingsfresser Sebastian Kurz seine Partei, die ÖVP, weit eleganter und effektiver auf die eigene Person eingeschworen, als dies dem schon etwas unter Altersstarrsinn leidenden US-Präsidenten mit seinen Republikanern gelang. Nebenan in Tschechien gewann der Agrochemie- und Medienunternehmer Andrej Babiš, ein strammer Rechtsnationalist, der des Subventionsbetrugs sowie der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit im real existierenden Bürokratismus der verflossenen CSSR verdächtigt wird, die Parlamentswahlen. Babiš hetzte in seiner Kampagne übrigens – ganz wie Trump – gegen das Establishment, dem er selbst angehört. Die graue Eminenz in Warschau, Jarosław Kaczyński, wiederum hat Polen auf einen derart rigiden Klerikal-Nationalismus getrimmt, dass sich die evangelikalen Fundamentalisten und Kreationisten in den USA vor Neid am liebsten hinter weißen Kapuzen verbergen würden.


Das Kapital regiert direkt


Das einstige Alleinstellungsmerkmal der parlamentarischen Demokratie in den USA, der obligatorische individuelle Wohlstand eines Bewerbers um Regierungs- oder Kongresssitz, ist mehr oder minder krass mittlerweile auch von den europäischen Republiken adaptiert worden. Zwar vertreten auch heute – bis auf drei Ausnahmen – nur Millionäre das Volk im Washingtoner Senat und Repräsentantenhaus, zwar hat Trump in seiner Regierung vor allem Milliardäre um sich geschart – doch holt die EU in dieser Hinsicht kräftig auf.


Die Tendenz, dass Investoren, Spekulanten und Konzernchefs nicht mehr im Hintergrund die Fäden ziehen und regieren lassen, sondern selbst in die politische Arena steigen, ist auch in Europa zu beobachten. Und sie nimmt – selbst im Vergleich mit den Vereinigten Staaten - vehement zu: Der Tscheche Babiš und der Italiener Berlusconi sind um einiges reicher als Trump, und der Franzose Macron, neuer Shooting Star des euphemistisch verbrämten Neoliberalismus, war einst als Banker selbst Teil des Problems, das lösen zu wollen er heute vorgibt.

 

In Deutschland gehen die Uhren ein wenig anders. Zwar findet sich im Bundestag kein Repräsentant des beträchtlichen Bevölkerungsanteils, der von Hartz IV leben muss, und fast alle  Volksvertreter gelten als gutsituiert bis ausgesprochen wohlhabend; doch richtig reich werden die Abgeordneten erst, wenn sie aus der Politik ausscheiden und als Belohnung für mindestens vier Jahre treue Lobby-Arbeit im Parlament mit einem lukrativen Posten in der freien Wirtschaft belohnt werden.


Niemand wird leugnen können, dass Donald Trump an der Spitze der größten Militärmacht aller Zeiten ein gefährlicherer Mensch ist als die diversen Vorläufer, Imitatoren oder Jünger in Europa. Aber angesichts eines Panoptikums aus mafiösen Parteiführern, religiösen Rassisten, notorischen Lügnern und sonstigen Quartalsirren in ihren eigenen Reihen kann es sich die EU nicht leisten, auf die ach so dekadenten und korrupten USA herabzuschauen. Trump ist überall, unsere Medien aber orten ihn beinahe ausschließlich in Washington.

10/2017

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EU im freien Fall? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Lobbykratie BRD ebda.

 

   

           


Lindner vor dem Tore


Es ist erstaunlich und enervierend: Da hoffte man als verantwortungsbewusster Beobachter nach den Wahlen 2013, dass der Eigennutzverein FDP seine letzte Ruhestätte im Massengrab der Mandats- und Einflusslosen gefunden hätte – und nun steht die Blockflötenpartei der Konzerne wieder kurz vor dem Einzug in den Bundestag. Und als Hoffnungsträger wird ein blässlicher, noch einigermaßen junger Mann, der kryptische, bisweilen auch sinnfreie Parolen und erzreaktionäre Ansichten verbreitet, gepriesen: Christian Lindner, das Sprachrohr der schweigenden Mehrheit in den Chefetagen.


Qual ohne große Alternativen


Der Bürger, der zu den Urnen eilt, kann zwischen mehreren Möglichkeiten auf dem Stimmzettel wählen, wird dabei aber inhaltliche Qualen erleiden. So muss er sich zwischen Neoliberalismus ohne Hemmung (FDP), Neoliberalismus in christlichem Gewande (Union), Neoliberalismus mit Sozial-Rhetorik (SPD), Neoliberalismus mit sozialdarwinistischem Akzent und rassistischer Betonung (AfD) sowie klassischer Sozialdemokratie (Die Linke) entscheiden.


Vertreter dieses gesamten bunten Spektrums wird der Wähler im nächsten Berliner Parlament wiederfinden, doch wenn er nicht als Besserverdienender oder Wirtschaftslenker über die Wiederauferstehung der FDP frohlockt, mag er dann ob des multiplen Elends im Allgemeinen und der liberalen Wiederauferstehung im Besonderen verzweifeln, die nach seinem Votum drohen. Beschäftigen wir uns in gebotener Kürze mit dem Wahlprogramm der Wiedergänger, das im Gegensatz zur Praxis anderer Parteien kaum kontrovers diskutiert wurde, liest doch in der Regel der normale Freidemokrat solche Papiere nicht, da er weiß, was inhaltlich angesagt ist: Die FDP ist dazu da, der Wirtschaft zu dienen – und am besten erledigt man dies als deren Statthalter innerhalb einer Regierung.


Und so finden sich die von den CEOs gewünschten Grausamkeiten nett formuliert und scheinbar unverfänglich in der Deklaration liberaler Servilität: Eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I wird rigoros abgelehnt, eine Verkürzung für Ältere laut Linder erwogen. Schließlich ist jeder seines Unglücks eigener Schmied, auch als Opfer unfähiger Firmenpolitik oder der beliebten „Umstrukturierungen“ in börsennotierten Unternehmen. Zudem sollen Zeitarbeit und Befristung von Beschäftigungsverhältnissen nicht weiter reguliert werden. Die Wirtschaft bedankt sich, denn eine prekäre Jobsituation ist die beste Gewähr für niedrige Lohnkosten. Dass die selbsternannte Antiverbotspartei gegen eine gesetzliche Frauenquote ist und die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 48 Stunden begrenzen will, findet wohl auch die Zustimmung ihrer Auftraggeber in Nadelstreifen. Elegant umgeht die FDP damit ein Statement zur tariflich vereinbarten Wochenstundenzahl, das die Arbeitnehmer hätte interessieren können.


Um ein Lippenbekenntnis zur Freiheit sind die Liberalen nie verlegen, doch schränken sie diese schon mal ein, wenn die (aus ihrer Sicht) Falschen von ihr träumen. Asylbewerber etwa sollen bis zum Anerkennungsverfahren ausnahmslos in „zentralen Unterbringungseinrichtungen“ einquartiert, vulgo in Lagern konzentriert (böser Zungenschlag), werden und nur noch Sachleistungen erhalten. Und nach der Ablehnung geht`s flugs zurück nach Afrika, einen Kontinent, der sich für die FDP – ebenso wie für die Hardliner der Union – eigentlich nur aus sicheren Herkunftsländern zusammensetzt. Zu diesem Thema hat Christian Lindner, der Shooting Star des Lobbyisten-Klüngels, noch ein paar Bonmots parat.


Der Mann, der aus der Leere kam


Gut, im Vergleich zu dem Valium-Duo Merkel und Schulz mag der FDP-Bundesvorsitzende jung und dynamisch wirken, prüft man aber seine Äußerungen und einige biographische Merkwürdigkeiten, könnte man meinen, der Mann weiß nicht, was er – vom eigenen Vorteil abgesehen – will. Einst verweigerte er den Militärdienst und arbeitet als Zivi in einer Bildungseinrichtung. Nur wenig später schlug er als Student eine Laufbahn als Reserveoffizier der Luftwaffe ein, die den gewandelten Pazifisten in den Rang eines Oberleutnants katapultierte. Aus dieser militaristischen Regression leitet sich vermutlich Lindners Forderung ab, die Küstenwache Frontex möge verstärkt werden, natürlich nicht um Flüchtlinge zu retten, sondern um ihnen die Mittelmeer-Route abzuschneiden.


Denn für die Afrikaner, denen die EU ganz im Sinne der wirtschaftsliberalen FDP der Freihandel aufgezwungen hatte, wodurch wiederum ihre Existenzgrundlage in der Heimat gewissenhaft zerstört wurde, entwirft Linder in einem Interview mit T-Online ein besonders apartes Szenario: „Es müssen nicht unbedingt nur Lager in Libyen entstehen, sondern auch in den davor liegenden Staaten in Nordafrika, teilweise auch in den Herkunftsländern selbst muss es solche Möglichkeiten geben.“ Als gute Postkolonialisten wollen wir den Geflohenen nicht ausschließlich die libyschen Folter-Camps zumuten, nein, wir umzäunen am besten gleich ihre Heimatländer, nachdem wir diese ausgebeutet und ruiniert haben.


Die relativ kurzen Business-Karrieren Lindners lassen nicht unbedingt eine Eignung für den von ihm gepriesenen  freien Markt erkennen. Er versuchte sich kurzzeitig als freiberuflicher Unternehmensberater und Stromhändler. Als er sich 2000 in einem weiteres Hype-Geschäft engagierte und in eine Internetfirma einstieg, brachte er es sogar zum Geschäftsführer, um das Unternehmen im Jahr darauf wieder zu verlassen. Dieses ging denn auch bald danach pleite. 


Die zeitlich beschränkten Erfahrungen auf dem Energiemarkt scheinen den Sinn des Spitzenpolitikers mit den volatilen Standpunkten gründlich verwirrt zu haben. Nach der Katastrophe von Fukushima sprach sich Lindner noch dagegen aus, sieben deutsche Atommeiler nach einem dreimonatigen Moratorium wieder ans Netz gehen zu lassen. Wenig später lehnte er den Ausstieg aus der Kernenergie ab, sprach der Braunkohle-Verstromung das Wort und polemisierte stattdessen gegen die Windkraft. Inzwischen ist er übrigens auch zum glühenden Verteidiger des Verbrennungsmotors avanciert – die ehrenwerte deutsche Automobilindustrie wird es ihm danken.


Trotz der düsteren Erfahrungen in den USA, in Großbritannien (wo mittlerweile wieder Etliches re-verstaatlicht wird) und mit Öffentlich-Privaten Partnerschaften hierzulande, in denen Insolvenzanwärter künstlich gepäppelt wurden, fordert Lindner, dass sich der bundesdeutsche Staat aus Unternehmen wie Telekom oder der Post zurückzieht und seine Anteile verkauft. Denn: „Das sind großartige Unternehmen, die können sich auch ohne Staatsanteil gut entwickeln.“ Zumindest zur Freude der Investoren. Der Rest der Bevölkerung benötigt seiner Meinung nach offenbar keine öffentliche Infrastruktur oder gar Daseinsvorsorge (soweit er diese nicht selbst teuer berappen kann).


Doch für seine Auftraggeber und Sponsoren in der Wirtschaft geht Christian Lindner noch einen Schritt weiter. Gemeinsam mit seinem Kumpan, dem CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet, will der FDP-Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag fast alle sozialen und ökologischen Standards aus dem Vergabegesetz streichen, wie der grüne EU-Parlamentarier Sven Giegold via Petitionsplattform Change warnt. Von Kinderhand gefertigte Waren, die Umwelt zerstörende Produktion, tarif- und vertragslose Arbeit könnten nun endlich bei Ausschreibungen berücksichtigt werden! Respekt: Das ist Neoliberalismus ohne wenn und aber, in seine reinste menschenverachtende Form gegossen.

 

Promotion first, Inhalte second


Christian Lindner mag nicht den Unterhaltungswert des Experten für spätrömische Dekadenz, Guido Westerwelle, oder des Quartalsirren Jürgen Möllemann besitzen, ganz langweilig wird es angesichts seiner variablen Haltungen aber auch bei ihm nicht. Besonders interessant sind die von beinahe schon philosophischer Nouvelle Vague kündenden Floskeln über das Wesen seiner Partei und des Staates an sich.


„Jetzt wissen die Menschen, dass die FDP für Humanität, aber auch für klare Regeln steht“, deliriert das moralische Leichtgewicht vor sich hin. Über die Humanität brauchen wir nach den oben angeführten Rücksichtslosigkeiten nicht mehr sprechen, bleiben die „klaren Regeln“. Die sehen eine Transparenzpflicht für Abgeordnete im Bundestag und in Landesparlamenten vor, was ihre Nebenverdienste angeht. Natürlich möchten Bürger wissen, wer außer ihnen ihre Volksvertreter noch so alles entlohnt. Lindners erster Stellvertreter Wolfgang Kubicki sieht das allerdings anders. Er erklärt, immer die Höchststufe angeben zu wollen, um das Ergebnis bewusst zu fälschen. Den Wählern ruft der Mann von der Partei mit den klaren Regeln zu: „Das geht euch einen Scheißdreck an, was wir hier wechselseitig (Anm.: !) verdienen.“


In der Plakatwerbung bemüht sich Messias Lindner um windschnittige Botschaften, die allerdings der Interpretation bedürfen. Auf einem Poster ist zu sehen, wie er das tut, was wir bei allen Menschen, vor allem aber U-Bahnfahrern, Müttern mit Kinderwagen, Fahrradpiloten und Gesprächspartnern, hassen: Er tippt und starrt in sein Smartphone. Dazu liest man einen in bestem Denglisch verfassten Slogan von der Tiefenschärfe eines Kinderreims: „Digital first, Bedenken second“. Was will uns der Liebling der besitzenden Schichten damit sagen? Etwa, dass wir uns erst einmal vernetzen, manipulieren und überwachen lassen sollen, bevor wir uns beschweren? Wenn dem so ist, ließe sich die Parole auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen: „Shareholding Value zuerst, Arbeitslose erst viel später“ oder „Freihandel in Afrika first, Flüchtlinge (falls nicht gestoppt oder ertrunken) second“.


Auch für unser oberstes Gemeinwesen hat Lindner ein Zuckerl übrig: „Wir wollen den Staat als Partner und Schiedsrichter.“ Früher bevorzugten die Liberalen den Nachtwächterstaat, in dem die privilegierten Bürger treiben konnten, was sie wollten. Nun beabsichtigt die bleiche Eminenz der FDP, dem Hüter unseres Schlafes eine Trillerpfeife zwischen die Lippen stecken. Doch fürchte ich, dass ein Lindner, der den Staat in höherem Auftrag mitregieren soll (selbst wenn nur als Linienrichter), die Entscheidungen auf dem Spielfeld parteilich und parteiisch treffen wird.


In diesen Zeiten erfährt Schuberts Kunstlied „Am Brunnen vor dem Tore / Da steht ein Lindenbaum“ eine prosaische Umdeutung: Vor dem Tor zum Kabinett steht ein Lindner am Trog, an dem sich die Lobbyisten mästen.

09/2017

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Die Untoten in diesem Archiv       





Sturm im Wodkaglas


Wohlfeile Empörung in allen Parteien: Ex-Bundeskanzler Schröder übernimmt ein Aufsichtsmandat in Putins Leib- und-Magen-Konzern Rosneft. Ein ehemaliger deutscher Staatsmann soll jetzt also die Geschäfte eines von Sanktionen des Westens bedrohten russischen Energiekonzerns kontrollieren und befördern. „Darf der das?“ fragen scheinheilig alle möglichen Politiker, die ähnliche Karrieren vor sich haben.


Gerd-ohne-Skrupel


Machtgeil, charakterlos, skrupellos? Diese Attribute wurden Gerhard Schröder schon lange, ehe er im Dienste von Putins anderer Lieblingsfirma Gazprom die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 durchzupeitschen suchte, zugeschrieben, und nicht ohne Grund. Immerhin gestand der Mann, der via Abschaffung der Vermögenssteuer und Hartz 4 eine gigantische Umverteilung von unten nach oben bewerkstelligte, im Plauderton, dass er als Bundeskanzler schon mal das Völkerrecht gebrochen habe, als er Bundeswehr-Bomber nach Serbien fliegen ließ.


Da ist sein neues Engagement für Rosneft eher als business as usual zu werten, werden doch dieses Unternehmen und Russland überhaupt zwar mit Sanktionen belegt, insgeheim aber von der deutschen Wirtschaft umworben. Dass es sich bei der Schröder-Schelte um einen dem Wahlkampf geschuldeten Sturm im Wodkaglas handelt, zeigt ein Vergleich mit dem Ruhestandsgebaren anderer Politgrößen. Natürlich hat die Geldgier des Genossen der Bosse ein übles Geschmäckle, sie ist aber eigentlich nur signifikant für ein System, in dem Anrüchigkeit und Vorteilsannahme zum Handwerk gehören.


Schon die Diäten des einfachen Bundestagsabgeordneten sind mit 9541 Euro samt Kostenpauschalen von 4318 Euro im Monat nicht gerade knauserig bemessen. Dazu kommen bei vielen Mandatsträgern Aufwandsentschädigungen für Tätigkeiten in Aufsichtsräten und großzügige Reisespesen. Etliche MdB, etwa der Christsoziale Peter Gauweiler, zeigen sich höchst selten persönlich im Parlament, da sie damit beschäftigt sind, in ihren Anwaltskanzleien Millionen zu scheffeln. Das Los eines Volksvertreters (auch in den Bundesländern) scheint also kein elendes zu sein, doch baut der kluge Mann – ganz wie Altkanzler Schröder – für die Zeiten der Mandatslosigkeit vor.

   

Geld stinkt nicht


Auf der Suche nach einer neuen Einkommensquelle führte der römische Kaiser Vespasian eine Steuer auf die die Benutzung öffentlicher Latrinen ein. Mit den Worten Pecunia non olet (Geld stinkt nicht) soll er die Bedürfnisabgabe gerechtfertigt haben. Ähnlich mögen viele Abgeordnete und Parteigrößen in Deutschland denken und machen sich die Beziehungen, die sie in Funktion knüpften, im durch Abwahl oder Burnout-Syndrom herbeigeführten Ruhestand zunutze. Und je höher sie einst in die Hierarchie unserer politischen Entscheidungsträger aufstiegen, desto üppiger dotiert sind die Jobs, die ihnen anschließend von der Wirtschaft offeriert werden. Lediglich frühere Mitglieder der Bundesregierung müssen u. U. 18 Monate verstreichen lassen, ehe sie in Konzernetagen, mit denen sie bislang verhandelt hatten, wechseln können – eine potentielle Schamfrist, die allzu laute Kritiker des polit-ökonomischen Komplexes verstummen lassen soll.


Die Liste prominenter Politiker, die Insiderwissen um diskrete Vorgänge, Auftragsvergabe und relevante Personen, in die Unternehmen, bei denen sie anheuerten, mitbrachten, ist lang: Der einstige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU), nach eigenen Worten der „brutalstmögliche Aufklärer“ von Spendenaffären, ruinierte nach dem eigenen Ruf den Baukonzern Bilfinger, der ihn an die Vorstandsspitze geholt hatte. Sein ehemaliger rheinland-pfälzischer Kollege Kurt Beck (SPD) ließ sich vergleichsweise still seine guten Kontakte von Boehringer Ingelheim vergolden, jenem Pharmaunternehmen, das die US-Truppen mit Agent Orange belieferte, dem Entlaubungsmittel, das in Vietnam Zehntausende von Menschenleben kostete und noch heute für Anomalien bei Säuglingen sorgt. Sein Parteigenosse, der frühere Arbeits- und Sozialminister Walter Riester, nach dem eine Zusatzrente für Blauäugige benannt ist, schlüpfte bei einem Finanzdienstleister unter. Matthias Wissmann (CDU) war Bundesverkehrsminister, ehe er zum Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie avancierte und in den Aufsichtsrat der Lufthansa bestellt wurde: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!


Bisweilen beschleicht einen aber auch das Gefühl, dass die Parteioberen Versager systematisch in die Unternehmen entsorgen, sie quasi mit einem goldenen Handschlag ruhigstellen wollen. Wie sonst ließe sich erklären, dass ausgerechnet der plan- und kurslose Chef des Bundeskanzleramts, Ronald Pofalla, in die Vorstandschaft der in eine ungewisse Zukunft fahrenden Bahn berufen wurde, dass die Lachnummer Dirk Niebel, vormals FDP-Entwicklungsminister, nun von der Waffenschmiede Rheinmetall – wahrscheinlich als Frühstücksdirektor – alimentiert wird.


Lässt man diese endlos fortzusetzende Reihe Revue passieren, hat Gerhard Schröder eigentlich gar nichts Außergewöhnliches oder gar Schlimmes getan – wäre er nur nicht zu den bösen Russen gegangen. Aber vielleicht entlastet ihn diese Wahl mehr, als sie ihn inkriminiert…


Die Gefälligkeitsrepublik


Man könnte meinen, der klassische Lobbyismus, der die Bearbeitung von Politikern durch die Einflussagenten der Konzerne vorsieht, sei mittlerweile nur noch die Vorstufe zu einer Art Hyper-Steuerung durch die Wirtschaft. Parlamentarier und Regierungsmitglieder werden einfach übernommen und auf den Lohnzettel gesetzt. Für manchen Mandatsträger scheint die politische Karriere nur als Vorstadium oder Praktikum für den wirklich hoch dotierten Job danach zu fungieren. Man lässt sich vom Bürger wählen, um der ökonomischen Elite zu dienen.


Dass Gerhard Schröder zum zweiten Mal im halbstaatlichen Oligarchenreich seines Freundes Wladimir Putin angeheuert hat, müsste eigentlich in der deutschen Gefälligkeitsrepublik für Erleichterung gesorgt haben. Allzu viele Geheimnisse aus der Berliner Szene wird der in den letzten Jahren inaktive Polit-Rambo nicht mehr mitgebracht haben, und wenn, würde sich ein russisches Konsortium für viele davon wohl weniger interessieren als ein deutscher Konzern mit seinen direkten Verwertungsmöglichkeiten. Das Zentrum jener eleganten Korruption, deren hervorstechendes Merkmal das unverbrämte Anmieten hochrangiger Politiker ist, befindet sich nämlich hierzulande. Soll Gerhard Schröder seine Käuflichkeit ruhig in Russland vorführen, in Deutschland könnte er größeren Schaden anrichten…

08/2017

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Alexander der Doofe in diesem Archiv

Schröder für Arme in diesem Archiv     

                  

 


Alexander der Doofe?


Womöglich haben wir uns alle getäuscht, als wir Alexander Dobrindt, einst als CSU-Generalsekretär Seehofers Wadenbeißer, dann Maut-Minister in Berlin, für inkompetent und überfordert, kurz: für doof hielten.  Langsam beginnt sich herauszukristallisieren, dass sich hinter der Maske des Ahnungslosen ein erfolgreicher Komplize der Automobilindustrie, sozusagen deren U-Boot in der Bundesregierung, verbirgt.


Ablenkungsmanöver Maut


Dobrindt sei die „schlechteste Personalwahl, seit Caligula sein Pferd zum Senator ernannt hat“, zog SPD-Generalsekretär Hubertus Heil einen schrägen Vergleich zur Entscheidung eines durchgeknallten römischen Kaisers. Vorsicht, Genosse Heil! Die Spezialdemokratische Partei Deutschlands hatte mit dem Regensburger Oberbürgermeister Joachim Wolbergs, dem Edelrassisten Thilo Sarrazin oder dem neoliberalen Rechtsaußen Wolfgang Clement selbst schon genügend Trojanische Pferde im Stall stehen. Zudem fragt sich ob die Bestellung des Bayern zum Bundesverkehrsminister für alle Beteiligten so schlecht war: Für die Gesundheit der Normalbürger sehr wohl, für die deutschen SUV-Ideologen hingegen sicherlich nicht.


Zwar gemahnt Alexander Dobrindt in Mimik und Gewandung tatsächlich ein wenig an einen Kasperl, doch sollte nicht vergessen, werden, dass sich dieser Hanswurst auf der Puppenbühne letztendlich stets mit List und Chuzpe gegen seine finsteren Gegner wie Teufel, Hexe oder Räuber durchsetzt. Dobrindts ausgemachte Feinde sind alle, die den Lieblingskonzernen der Republik, also VW, Daimler und BMW, bei deren unkontrollierter Produktion von Dreckschleudern, ihrer kriminellen Fälschung von Abgaswerten und ihren illegalen Absprachen zum Schaden der Käufer Knüppel zwischen die Räder werfen wollen.


Um uns abzulenken, hat er die Maut-Komödie aufgeführt, eine Farce, in der ein Land, das sich eigentlich mit Freihandelsperversitäten, Migration und aufkommendem Nationalismus hätte beschäftigen müssen, die Einführung einer Zwangsgebühr für fremde Autofahrer, die vermutlich irgendwann vom Europäischen Gerichtshof kassiert wird, für böses Blut in den Nachbarstaaten sorgt und am Ende kaum etwas einbringen würde, ebenso wortreich wie sinnfremd diskutiert.


Währenddessen schützte Dobrindt im Verborgenen die Automobilindustrie vor den Nachstellungen von Umweltschützern, wiegelte ab, ließ fragwürdige Expertisen erstellen und sorgte dafür, dass die Luft in deutschen Städten weiterhin reichhaltig an Schwebstäuben, Stickoxiden und CO 2 bleibt. Und er saß noch aus und schwieg und vereitelte Nachforschungen, als die US-Umweltbehörde EPA schon längst den VW-Skandal um manipulierte Abgastests aufgedeckt hatte.


Von Wartezeiten und offenen Türen


Hierzulande fühlte sich vor allem die Deutsche Umwelthilfe (DUH) in der Pflicht, durch eigene Stickoxid-Messungen, deren Ergebnisse sie deutschen wie amerikanischen Behörden zur Verfügung stellte, nachzuweisen, dass die Automobilkonzerne „erschreckend hohe Emissionen“ ihrer Diesel-Fahrzeuge (und damit zwangsläufig Gesundheitsschäden in der Bevölkerung) nicht nur in Kauf nahmen, sondern auch tatkräftig verschleierten. Als die DUH in zwei Fällen Informationen seitens des Kraftfahrzeugbundesamtes (KBA) zur Einstellung des Rollenprüfstands für Abgastests benötigten, sah sich die Dobrindt unterstellte Behörde außerstande, diese zeitnah zu liefern. Die einschlägigen Schweizer Ämter hingegen beantworteten die Anfragen binnen einiger Minuten, und auch die US-Behörde EPA zeigte sich sehr kooperativ.


Die DUH ist nun mal nicht gern gesehen im Verkehrsministerium. Etliche Monate ließ Dobrindt jeden Gesprächswunsch der Organisation, die sogar anbot, neue Whistleblower-Infos zu übermitteln, ablehnen, sofern die Bitten um Audienz nicht vollständig ignoriert wurden. Manager der Automobilkonzerne und deren Lobbyisten geben sich dagegen im Ministerium die Klinke in die Hand. Was er (vorgeblich) nicht weiß, macht Alexander Dobrindt nicht heiß, und so hält er die schützende Hand über die Betriebe und lässt gegebenenfalls Fakten uminterpretieren.


Die DUH kommt zu dem Schluss, „dass Bundesverkehrsminister Dobrindt alle eigenen und auch sonstigen Erkenntnisse zu illegalen Abschalteinrichtungen systematisch ignoriert, weitere Testergebnisse unter Verschluss hält und die für die Bewertung unverzichtbaren CO 2-Werte nicht veröffentlicht…“ Und sie kann das belegen: So kommt Dobrindt, die in den USA enttarnten VW-Luftverpester und ein Fiat-Modell ausgenommen, zu dem generellen Schluss, „dass alle anderen untersuchten Fahrzeuge rechtlich nicht beanstandet werden können, obwohl er gleichzeitig festhält, dass alle diese Fahrzeuge über Abschalteinrichtungen verfügen.  Allerdings akzeptiert er in allen Fällen die Argumentation der Autokonzerne, diese Abschaltung selbst bei Temperaturen unterhalb von +10 Grad (Mercedes) oder gar +17 Grad (Opel) seien legal.“


Dobrindt schließt sich – ganz Diener seiner Herren – der Argumentation der Automobilindustrie an, nur die Prüfbedingungen der bei der Zulassung üblichen Labormessungen (zwischen +20 und +30 Grad Celsius) seien relevant, und ignoriert damit eine rechtlich bindende EU-Verordnung aus dem Jahr 2008, der zufolge der Hersteller gewährleisten muss, dass die verwendeten Systeme unter allen auf dem Gebiet der EU regelmäßig anzutreffenden Umweltbedingungen, „insbesondere bei niedrigen Umgebungstemperaturen“, die Emissionsminderungsfunktion erfüllen müssen.


Die DUH beschuldigt den Mann aus Bayern offen eines Vergehens, dessen Folgen die Autofahrer (wie auch die Passanten) zu tragen haben: „Verkehrsminister Dobrindt beugt das Recht, wenn er Diesel-Pkw, die zu mehr als 80 Prozent der Jahresstunden ohne funktionierende Abgasreinigung unterwegs sind, als legal einstuft und damit Millionen betroffene Autohalter im Abgasdunst alleine lässt.“


Das Aussitzen solcher Konzernbetrügereien war in den letzten Bundesregierungen eine Pflichtübung, Dobrindt aber geht weiter, indem er aktiv verhindert und entschlossen nötige Investigationen unterlässt, weil er seinen Amtseid, nach dem er seine „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen“ solle, dahingehend umdeutet, dass er nicht „Schaden von ihm…“, sondern von der deutschen Automobilindustrie zu „wenden“ hat.


Andere machen die Arbeit


Neben der DUH seien weitere Organisationen und auch Medien erwähnt, die auf eigene Faust Untersuchungen anstellten sowie die besorgniserregenden Ergebnisse interpretierten und veröffentlichten und somit die Arbeit machten, die man vom Verkehrsminister hätte erwarten dürfen. Vor allem der Spiegel und der Rechercheverbund von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR demonstrierten, wie man ernsthaft überprüft und dann die schockierenden Ergebnisse der publik macht.


Dabei riskierten das Hamburger Magazin und die Münchner Tageszeitung einiges, gehören doch die drei Flaggschiffe deutscher Automobilproduktion zu ihren wichtigsten Inserenten. Den Blättern, die größtenteils anzeigenfinanziert sind, drohen Millionenverluste, sollten sich die Konzerne als rachsüchtig erweisen. Der Spiegel weiß ein Lied von solchen Embargos zu singen, riefen Teile der Wirtschaft doch immer mal wieder und sogar Bundeskanzler Adenauer 1962 zum Anzeigenboykott des vermeintlich linken Magazins auf.


Auch die US-Umweltbehörde EPA zeigte sich sehr viel rühriger als der deutsche Verkehrsminister, der den Rückruf von 24.000 besonders dreist manipulierten Audi-Fahrzeugen als Placebo für die besorgte Öffentlichkeit anordnete, ansonsten die verheerenden Strukturen aber nicht antastete. Da mussten erst die Oberbürgermeister von München und Stuttgart, Dieter Reiter und Fritz Kuhn, laut über Fahrverbote für die besonders dreckigen Dieselmodelle in ihren luftverschmutzten Städten nachdenken, da bedurfte es erst einer Entscheidung des Stuttgarter Verwaltungsgerichts, der zufolge solche Aussperrungen zum Schutz der Bürger geboten seien, ehe sich die Bundesregierung unter Dobrindts Federführung dazu entschloss, Handeln zu simulieren.


Sie berief einen „Diesel-Gipfel“ ein, auf dem die Repräsentanten der im trauten Täuschungskartell vereinten Verursacher BMW, Daimler und VW samt ihren Zulieferern mit Politikern und branchenfrommen Gewerkschaftern an einem Tisch saßen, während die Opfer sowie die Umwelt- und Verbraucherschützer draußen bleiben mussten. Und der Berg dieser konzertierten Aktion kreißte und gebar – wie es nicht anders zu erwarten war – ein Mäuschen.


Die Auto-Regierung


Auf und nach dem Gipfel ging der Schmusekurs der Bundesregierung mit den Konzernen, die ihre kriminelle Energie beeindruckend unter Beweis gestellt hatten, weiter: Ein kleines Update der Motor-Software, aber keine technische Nachrüstung, kein Fahrverbot für die schlimmsten Verschmutzer, kein Plan für das Zurückdrängen des Platz, Gesundheit und Ressourcen vernichtenden Individualverkehrs, keine Strategie, um diesen wenigstens auf die E-Schiene umzuleiten.


Es geht auch anders: Ab 2019 wird Volvo keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr herstellen, Frankreich und Großbritannien wollen die umweltschädliche Technik, ganz gleich ob Diesel oder Benziner, bis 2040 verbieten, in Norwegen müssen schon ab 2025 diese herkömmlich schmutzenden Autos von den Straßen verschwinden. Und Deutschland? Die Regierungen der einstigen Umweltministerin Angela Merkel haben im Interesse des Profits von Daimler & Co bereits mehrmals schärfere Emissionsbegrenzungen durch die EU verhindert. Eine innovationsfeindliche, skrupellose Industriesparte, die nur kurzfristige Börsennotierung und exponentielle Gewinnsteigerung im Auge hat, nicht aber nachhaltige, umweltverträgliche Produktion, genießt hierzulande Artenschutz. Dennoch mehren sich die Anzeichen dafür, dass die deutschen Automobilkonzerne allmählich Selbstmord begehen.


Beinahe unbemerkt ist die VR China zum Vorreiter in Sachen Elektromobilität aufgestiegen. Bereits 2030 sollen E-Fahrzeuge die Hälfte aller zugelassenen Autos ausmachen. Milliarden wurden in Forschung, Produktion und Aufbau belastbarer Infrastrukturen investiert. Ab 2018 gelten für Bau und Import von Neuwagen differenzierte Elektroauto-Quoten. Auf einen Schlag hat China trotz seiner smogverseuchten Großstädte und des für ein Schwellenland typischen Nachholbedarfs an Ressourcenvergeudung für das Weltklima mehr getan als alle Auto-Regierungen des vermeintlichen Umweltschutz-Vorreiters Deutschland zusammen. Und die hiesigen Konzerne, die den notwendigen Wandel verschlafen haben und in Sachen Elektromobilität hinter die Konkurrenten auch in den USA oder Japan zurückgefallen sind, wollen nicht aufholen, sondern sabotieren, wozu sie den matriarchalischen Schutz der Kanzlerin anrufen, wie das manager magazin berichtete: „Kein Wunder, dass deutsche und andere westliche Hersteller die Entwicklung kritisch sehen. Zuletzt versuchten sie im Bunde mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU), China zu einer Auflockerung zumindest der kurzfristigen Elektroauto-Quoten zu bewegen.“


Nicht die Kritiker der deutschen Automobilindustrie gefährden Arbeitsplätze, wie immer wieder kolportiert wird, es sind die Vorstandsvorsitzenden und Manager selbst, die mit allen (oft unlauteren) Mitteln an ihrer vorgestrigen Produktion festhalten. Da wird es möglicherweise selbst für Dobrindt schwer, nach dem absehbaren Ende seiner politischen Karriere einen hochdotierten Job in der Branche zu bekommen. Bis dahin aber darf man nicht von Alexander dem Doofen reden, er bleibt vielmehr der listige Kasperl, der seine Kumpel vor Öko-Teufeln schützt, oder – um bei Heils Equestrik-Vergleich zu bleiben – das beste Pferd der Konzerne im Regierungsstall.

 

08/2017

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Der Pfadfinder


In den 1970er Jahren begannen die Grünen mit dem Anspruch, ganz anders zu sein als die anderen, jetzt sind sie genauso: Opportunistisch wie die FDP, konzernfromm wie die Union und unglaubwürdig wie die SPD startet die Partei in den Bundestagswahlkampf. Und auch wenn (noch) nicht alle seine neoliberalen Forderungen mehrheitsfähig sind, steht Winfried Kretschmann wie kein zweiter für den Rechtsruck der einstigen Öko-Rebellen.


Vom Feind zum Liebling


Bezeichnend für Proselyten ist, dass sie ihren neuen Glauben mit besonderem Fanatismus propagieren. Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, war ein Saulus, der sämtliche Überzeugungen als stalinistischer Dogmatiker (heutiger O-Ton: „fundamentaler politischer Irrtum“) über Bord warf, um sich nun als eifriger Paulus der Gnade neuer rechter Bundesgenossen sowie der Konzernchefs im Ländle zu erfreuen.


Fundamental war der Gesinnungswandel in der Tat, wurde doch aus dem engagierten Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), der sich mit der KPD-ML um die Deutungshoheit maoistischer Weisheiten stritt, ein Günstling und zugleich Förderer der Wirtschaft, insbesondere der Automobilindustrie. Schon während seiner ersten Amtszeit hätte der stark schwäbelnde Regierungschef erklärtermaßen lieber mit der Union als mit der SPD regiert, nach den letzten Landtagswahlen war es dann so weit. Mit den Schwarzen als Partnern kann der geläuterte Neo-Konservative grüne Inhalte noch geschmeidiger ausrangieren als früher.


Bereits 2014 stimmte Baden-Württemberg als einziges Land mit grüner Regierungsbeteiligung im Bundesrat der Verschärfung des Asylgesetzes zu, durch die diverse Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden und Flüchtlingen von dort, etwa Sinti und Roma, die Aufenthaltsgenehmigung verweigert werden konnte. Und bis vor kurzem schob Stuttgart munter abgelehnte Asylbewerber ins kriegsgeschüttelte Afghanistan ab.


Als sich die Grünen auf ihrer Berliner Bundesdelegiertenkonferenz (vielleicht zum letzten Mal) ihrer Wurzeln entsannen und die Forderung nach dem Ende der Verbrennungsmotoren bis 2030 zugunsten der Elektro-Mobilität in ihr Programm aufnahmen, tobte Kretschmann, das sei „ein Schwachsinnstermin“ – ungeachtet der Tatsache, dass Norwegen, ein wesentlich dünner besiedeltes Land als die BRD mit weiteren Entfernungen im Individualverkehr, das Gleiche bereits für 2025 anvisiert. Der cholerische Schwabe machte klar, dass nicht Inhalte zählen, sondern Wählerstimmen, wie immer man sich die auch erschleicht: "Macht es, es ist mir egal. Dann seid aber mit sechs Prozent oder mit acht Prozent zufrieden."


Kretschmann, einst erbitterter Feind des Kapitalismus, heute mittels Spenden umworbener Freund der Wirtschaft, weiß, dass es seinem Hauskonzern Daimler gar nicht passen würde, für die umweltfeindliche Produktionsstrategie schon 2030 abgestraft zu werden. Zwar kann sich der Ministerpräsident, dem inzwischen zwar die Inhalte, nicht aber die autoritären Attitüden eines K-Gruppen-Funktionärs abgehen, noch nicht in allen Punkten durchsetzen, aber er profiliert sich bereits jetzt als der Scout, der die Grünen endgültig ins rechtsbürgerliche Lager führen wird.


Wundersame Flexibilität


Auch die Grünen als Partei haben eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht, wobei die Nadel der politischen Orientierung seit geraumer Zeit nur noch in eine Richtung zeigt: nach rechts. Dabei sah es eine Zeit lang gar nicht so düster aus.


Nach erratischen Anfängen, als sich die Grünen wie ein Panoptikum präsentierten, in dem sich sogar Blut-und-Boden-Ökologen wie Baldur Springmann austoben durften, schien die Erkenntnis zu reifen, dass die Umwelt nur wirksam geschützt werden könne, wenn sich zerstörerische Produktionsverhältnisse ändern ließen. Doch nach einer kurzen linken Blütezeit verließen die als „Fundamentalisten“ beschimpften Systemkritiker Trampert, Ebert und Ditfurth die Partei, deren Klientel sich fortan zunehmend als Clique von Besserverdienenden mit Liebe zum eigenen Garten definierte.


Diese ichbezogene Gentry nahm der Partei lange Zeit die sich häufenden Sündenfälle, die Vergehen wider den eigenen Anspruch, nicht weiter übel: Joschka Fischer führte während der Koalition mit der SPD einvernehmlich mit Kanzler Gerd Schröder die Bundesrepublik in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien. Was war da vom Pazifismus der Gründerin Petra Kelly übriggeblieben? Der oft als „Linker“ diffamierte Jürgen Trittin verhöhnte das einst heilige Prinzip der Transparenz, als er kundtat, er fühle sich auf der Bilderberg-Konferenz pudelwohl. Offenbar genoss er es, als Logenbruder eines der mächtigsten Think Tanks am Tisch der Strippenzieher aus Wirtschaft, Militär und Politik zu sitzen, obwohl er keinerlei Informationen über das Ausmauscheln von Pfründen und Einflusssphären weitergeben durfte.


Und dann die Özdemirs, Göring-Eckardts, Habecks – austauschbare, aalglatte Gestalten, deren Hauptaufgabe darin zu bestehen scheint, sich der Union bei allen Gelegenheiten anzudienen. Da passt Kretschmann als Abwickler der Genfer Flüchtlingskonvention gut ins Bild, zumal er aus Schwaben gleich noch den rechtspopulistischen Rhetoriker Boris Palmer als grünen Oberbürgermeister von Tübingen mitbringt.


Ein Korrektiv löst sich auf


Die Grünen waren nie eine Partei mit einem alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Ansatz; Ideologie und politische Theorie waren nicht ihr Ding, sie konzentrierten sich eher auf bestimmte Themen. Und da wirkten sie einst als moralisches Korrektiv, weil sie friedliebender, umweltbewusster und unbestechlicher waren als die anderen Gruppierungen. Sicherlich gibt es auch heute noch Menschen in der Partei, die sich einer öko-sozialen Nachhaltigkeit verpflichtet fühlen, doch die meisten Wortführer gebärden sich mittlerweile wie ihre Pendants aus SPD und Union. Und vor allem aus der FDP! Denn wie bei den Liberalen scheinen nicht Inhalte, sondern Beteiligungen an Bundes- und Landesregierungen im Fokus des Handelns (und Redens) zu stehen.


Doch was ist die bemühte Kopie gegen das unverblümte Original? Wie kann ein Cem Özdemir einem Christian Lindner, der mit blassem Teint und ebensolchem gedanklichen Gehalt seine Klientel zutextet, das Wasser reichen? Im Grunde streiten sich beide Parteien um die gleiche Wählergruppe: Satt gewordene Ärzte, Pädagogen und Juristen, Selbständige, die Freiheit anstrebten, aber Geld bekamen und nun als egozentrische Krämerseelen ihren Status verteidigen wollen, eine Schickeria, die allenfalls noch Spurenelemente von Toleranz, gesellschaftlicher Verantwortung und Umweltbewusstsein aufweist.


Den Grünen ist es mittlerweile wichtiger, in Amt und Würden zu überleben als das System zu verändern. Nur in der Opposition sind sie eine Friedenspartei und Verfechter ökologischer Nachhaltigkeit. Joschka Fischer als Gelegenheitsbellizist und jetzt Winfried Kretschmann als Flüchtlingsschreck und Versteher der Automobilbauer haben gezeigt, wozu ihre Partei fähig ist, wenn sie erst das Sagen auf der Regierungsbank hat. Da wir aber schon eine Union und eine FDP haben, verspielen die Grünen – ähnlich der SPD, jenes Wahlvereins für Oberflächenkosmetik – derzeit ihre politische Existenzberechtigung.

 

07/2017

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Green goes Pegida im Archiv dieser Rubrik

                           

 

 

 

Clowns ohne Ende


Seitdem Gerhard Schröder den Staatsmonopolistischen Kapitalismus qua Abschaffung der Vermögenssteuer bei gleichzeitigem Sozialabbau modernisiert hat, fehlt der SPD jegliches zugfähige Programm für den politischen Alltag, vor allem aber auch, um endlich wieder die Inthronisierung eines eigenen Kanzlerprätendenten zu erleben. Deshalb setzt sie auf Gesichter – zur Belustigung des Wahlvolkes.


Der Kümmerer aus Brüssel


Die Umfragewerte für den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz befinden sich im freien Fall. Das war zu erwarten, entbehrte doch der beinahe hysterische Hype in der Frühphase seiner Bewerbung jeglicher politischen Substanz. Doch es liegt nicht nur an der schwammigen Präsentation des Herausforderers, dass die Sozialdemokraten ihr nächstes Wahldesaster einfahren werden, es liegt vor allem auch am amorphen Profil und an einer unanständigen Kapitalaffinität ihrer Partei; sie haben keine Themen und Thesen anzubieten, die eine Bewusstseinsänderung der mehrheitlich immer weiter in kleinbürgerlichen Konservatismus abdriftenden Wählerschaft initiieren könnten.


Auch frühere Kanzleranwärter und Möchtegern-Kandidaten der SPD wie Platzeck, Beck, Steinmeier und Steinbrück erlebten zunächst einen vermeintlichen Sympathieschub (einzige Ausnahme Sigmar Gabriel, der in seiner gesamten politischen Laufbahn nur Stimmungstiefs kannte), der sich jedoch schnell bis zur Bodenlosigkeit abschwächte, als sich abzeichnete, dass sie keine inhaltliche Alternative zur Dauer-Amtsinhaberin aufzeigen konnten.


Nach der Anfangseuphorie um Schulz stellte sich denn auch diesmal bald die Frage: Wofür steht der Mann eigentlich? Ein paar kosmetische Korrekturen an Hartz IV, ein wenig mehr Gleichberechtigung der Geschlechter beim Verdienst, Angleichung der Löhne und Renten im Osten – olle Kamellen, die von der SPD schon längst verbal (aber nicht handlungsrelevant) auf die Tagesordnung gebracht wurden. Was aber ist mit einer effektiven Vermögensbesteuerung, mit dem Stopp der schleichenden Privatisierungen von Schulen und Autobahnen, mit dem Ausstieg aus dem Braunkohle-Tagebau, mit der Senkung von Militärausgaben, Mit CETA und TTIP? Dazu sagt Schulz wohlweislich wenig oder nichts. Er schwebt über allem, wollte oder konnte aber nie landen.


Man kann sich durchaus vorstellen, dass der joviale Rheinländer die Angestellten und Aushilfen seiner Buchhandlung in Würselen anständig behandelt hat, zeigte er sich doch auch seinen – ohnehin hochbezahlten – Mitarbeitern während seiner EU-Parlamentspräsidentschaft in Fragen der Spesenabrechnung sehr entgegenkommend. Die Abgeordneten in Brüssel wiederum schützte er 2014 vor hochnotpeinlichen Untersuchungen, die ans Tageslicht gebracht hätten, wie sehr die Volksvertreter von Gefälligkeiten der 30.000 Lobbyisten profitierten und wie fleißig letztere bei Gesetzesformulierungen mitschrieben. Den diesbezüglichen Vorstoß von Transparency International beschied Schulz damals jedenfalls lapidar: „Da gibt es nichts zu untersuchen!“


Wie solide und unantastbar wirkt doch Angela Merkel in ihrem undurchsichtigen Kokon aus Geduld und Beziehungen gegenüber einem Martin Schulz, der offenbar gern alle Fünfe gerade sein lässt, nun sogar Zirkusdirektor werden will, und doch wie seine Vorgänger Pausenclown in feuchten SPD-Machtträumen bleiben muss.


Die gräuliche Eminenz


Die Dame, gegen die all die Zwerg-Kandidaten der SPD vergeblich anrennen, eine graue Eminenz zu nennen, wäre verfehlt. Eine solche Person wirkt diskret und zieht im Hintergrund die Strippen, während Angela Merkel im Vordergrund steht, weder die devoten Posteninhaber der eigenen Partei noch die Minister des Koalitionspartners manipulieren muss und in keiner Weise wirkt, sondern wartet, bis ihr die Früchte des Gehorsams gegenüber den Konzernen in den Schoß fallen. Man könnte die Kanzlerin angesichts ihrer farblosen Gesichtszüge und ihrer hoheitlich zelebrierten Apathie in Zukunftsfragen als gräuliche Eminenz bezeichnen.


Zweimal hat sich Frau Merkel bewegt – und ist gleich in die Bredouille geraten: Nach dem Fukushima-GAU ordnete sie den schnellstmöglichen Ausstieg aus ihrem Ausstieg aus dem grün-sozialdemokratischen Atomenergie-Ausstieg an, ohne Plan und Konzept. Da sie aber wartete, schwieg und aussaß und meist die Bundesländer die Probleme mit den abzuwrackenden Meilern  bewältigen mussten, hat ihr der obrigkeitshörige, wenig informierte und leicht vergessliche Wahlbürger den Schlamassel längst verziehen (falls er ihre Veantwortung überhaupt wahrgenommen hat). Und dann hatte sie Pegida, die AfD und die erlesene Shitstorm-Elite der asozialen Netzwerke gegen sich, als sie „Wir schaffen das!“ flötete, aber nicht berücksichtigte, dass sie als Heilige Angela der Flüchtlinge auch für deren anständige Aufnahme hätte sorgen müssen. Immerhin bog sie diese Malaise durch ein menschenrechtswidriges Abkommen mit dem Despoten Erdoğan zurecht.


Wenn man sich tot stellt und Herrn Schäuble und Frau von der Leyen reden lässt, kann man keinen Fehler machen und wird von allen geschätzt oder zumindest gewählt, dachte die ewige Kanzlerin. Und wenn alles ohnehin schon läuft, kommt das Glück auch noch gern dazu. In diesem Fall bescherte es der lethargischen Kampfmaschine einen US-Präsidenten, der in Sachen Konfliktlösung und politische Bedürfnisbefriedigung auf bewährte Kleinkind-Strategien setzt, als Widerpart. Und schon gilt Merkel auch in Ländern, die sich eigentlich doch mit Entsetzen einer deutschen Führungsrolle entsinnen müssten, als Vordenkerin der internationalen Vernunft, und des „freien Westens“ sowieso.


Und während die Kanzlerin in sich ruht und die Verantwortung unter ihrem Sitzkissen bis zur Unkenntlichkeit plättet, hupfen seit vielen Jahren die SPD-Herausforderer von Position zu Position und wundern sich, dass sie einfach nicht als glaubwürdiger wahrgenommen werden. Da sind sie entschlossen, eher zu sterben als einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zuzustimmen, nur um wenig später als Juniorpartner der Union den Obolus vom Verbraucher noch stärker einzufordern, als es sich ihre schwarzen Partner gewünscht hatten. Da will ein Genosse als Wirtschaftsminister die Waffenexporte stark beschränken, lässt dann aber mehr deutsche Ausfuhren des Todes zu als jeder seiner Vorgänger. Da erklärt die Spezialdemokratische Partei Deutschlands, eine Privatisierung der Autobahnen gebe es mit ihr nicht, winkt diese Alimentierung von Versicherungskonzernen und Investoren aber gleich darauf via Hintertür und bis zur überstürzten Verfassungsänderung durch. Et cetera, et cetera.


Die Sozialdemokraten möchten von den Konzernen geliebt und gehätschelt werden, wollen aber nicht, dass die Bürger dies merken. Aus diesem Dilemma ist eine Doppelstrategie (links antäuschen, rechts vorbeigehen) geworden, die so durchsichtig und plump befolgt wird, dass kaum jemand mehr an den Unterschied zwischen der SPD und den offen wirtschaftsfreundlichen Parteien im Bundestag glaubt. Vor allem die Mitglieder der deutschen Gewerkschaften müssten sich langsam fragen, ob nicht die enge Verzahnung ihrer Organisationen mit der SPD einen latenten Verrat an den eigenen Zielen darstellt.

       
In die Wirtschaft oder Bundespräsident?


Dass die Union ohne viel eigenes Zutun so gut in der Wählergunst dasteht, dass die Sozialdarwinisten-Zombies der FDP Wiederauferstehung feiern dürfen, ist in erster Linie der SPD zu verdanken. In jahrzehntelanger aufopferungsvoller Kleinarbeit hat sie das Volk davon überzeugt, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Und jetzt votieren die Menschen für Merkel, weil sie das Original wollen und nicht die rosa verwaschene Kopie.

  

Was wird aus den Kurzzeit-Hoffnungsträgern der SPD nach der nächsten verlorenen Wahl werden? Keine Sorge, ihr Schicksal dürfte sich weniger düster als das ihrer Partei gestalten. Wurde doch schon Gerhard Schröder nach seiner Abwahl rasch hochdotierter Chef-Lobbyist eines russischen Staatsunternehmens. Den Pfälzer Kurt Beck, auch einmal für fast vergessene zwei Jahre Bundesvorsitzender der Sozialdemokraten, holte der Pharma-Riese Boehringer, Peer Steinbrück, der Rechtsliberale im Genossenpelz, wird von der Wirtschaft fürstlich für seine Sonntagsreden alimentiert, und auch Sigmar Gabriel werden die Bosse mit offenen Armen und in Spendierhosen empfangen. Kein führender Politiker ist so tumb, dass er nicht wenigstens den Konzernen stecken kann, wie die Entscheidungsprozesse ablaufen und wo die Hebelchen anzusetzen sind.


Auch Martin Schulz winkt noch ein veritabler Posten. Sollte er es schaffen, als Kanzleranwärter die verheerenden 23 Prozent des Kandidaten Frank Walter Steinmeier 2009, also das schlechteste SPD-Bundeswahlergebnis aller Zeiten, noch zu unterbieten, wäre sogar eine künftige Wahl zum Bundespräsidenten nicht mehr auszuschließen.

Dazu auch:

Der letzte Strohhalm im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund





 

Deutsche Autofahrer


Nach etlichen Überholungen seines ursprünglichen Wochenwerks schuf unser Herrgott ein besonders gelungenes Menschenkind, das sich hinfort durchschlagskräftig, weder von zögerlicher Rücksichtnahme auf leidige Artgenossen noch von der Grübelei der Naturschwärmer angekränkelt, die Erde untertan machte: den deutschen Autofahrer, die Schaumkrone der Schöpfung sozusagen.

 

Im Prinzip für die Umwelt…

   

Der Deutsche an sich hat nichts gegen die Natur. Die Heide-, Wald- und Gartenseligkeit von Romantik und Biedermeier füllt seine endlosen IKEA-Regale (soweit er überhaupt noch liest), und der Rehlein braune Augen rühren ihn bis ins Herz (schließlich handelt es sich nicht um Mastschweine für sein Kotelett). Er würde die Umwelt schon ganz gern schützen, aber nur, wenn andere das auch tun – es ihm am besten erst mal vormachen. Deshalb ist der Deutsche auch nicht gegen reinere Luft durch weniger Straßenverkehr, im Prinzip wenigstens. Er will allerdings auch nicht Öko-Primus oder Naturstreber sein, zumindest nicht auf griffigem Asphalt. Wenn es um die eigene Bequemlichkeit, den liebgewonnenen Boliden in der eigenen Garage oder gar um die Infragestellung der eigenen liebgewonnenen Verhaltensweisen geht, versteht er keinen Spaß, kennt er keine Freunde mehr und verteidigt die Freiheit auf den Autobahnen bis zum letzten kontaminierten Schnaufer.

 

In der U-Bahn stinkt̕ s

   

Der echte deutsche Autofahrer hasst öffentliche Verkehrsmittel. Da kann er nicht selbst Hand anlegen, muss nach acht Stunden Sit-in vor dem Schreibtisch um seinen Sitzplatz in der U-Bahn bangen, wo es übrigens des Öfteren nach Knoblauch stinkt wie im Basar. Dass auch die deutsche Eisenbahn häufig zu spät kommt, würde er akzeptieren, doch kann ihm dies nicht das Glücksgefühl jener seelischen wie physischen Entschleunigung (vulgo Stau), die eine Art von Kollektiv-Meditation auf Autobahnen und Großstadt-Chauseen kreiert, ersetzen.

 

 

Überlebensstrategie SUV


Der umsichtige Kapitän der Straße wird nicht auf lahme Kleinwagen und geduckte Familienlimousinchen vertrauen, weiß er doch, dass nur PS-Zahl, hoher Radstand, Anti-Terror-Panzerung und kriegsfähige Geländegängigkeit Vorfahrt und Sicherheit garantieren. Folglich wird er sich für ein SUV oder einen Militärjeep entscheiden, Gefährte, wie sie einst auf russischen Steppen vorwärts drängten und sich heutzutage den Kurs durch den Großstadtdschungel bahnen. Und wer, liebe Freunde, würde nicht gern beim Chauffieren der geliebten Kinder in die nahe Schule den Kontrahenten bei der Frontalbegegnung auf dem urbanen Schleichweg von erhöhtem, sozusagen thronartigem Sitz aus, mit höherer Motorkraft, größerer Masse und unbedingtem Siegeswillen in die Schranken weisen? Natürlich lässt sich eine solche fahrende Festung nicht ganz einfach einparken, aber mit einem ähnlichen Problem mussten schon die Trojaner fertigwerden.

 

Ein starkes Land verträgt Emissionen

   

Geht es dem Tier gut, freut sich der Mensch.“ Dieser Slogan, keineswegs einer Artenschutzkampagne, sondern einer Hundefutterwerbung entnommen, müsste ein wenig modernisiert werden; etwa so: „Geht es der Automobilindustrie gut, freut sich der Deutsche.“ Den Herren von Daimler, BMW oder VW mag der Bundesbürger nichts übelnehmen, auch wenn er in Sachen Kraftstoffverbrauch beschissen, über die Umweltverträglichkeit seiner Dreckschleuder getäuscht oder durch Schadstoff-Emissionen schleichend vergiftet wird. Als national gesinnter Konsument goutiert er es, dass die erfolgreichste Lobby-Gang der Auto-Konzerne, die deutsche Bundesregierung, ständig in Brüssel interveniert, um ihre Auftraggeber vor allzu krassen Grenzwerten oder der Verpflichtung, endlich die Alternative Elektro-Mobilität ernsthaft anzugehen, zu bewahren. Kanzlerin und Kabinett handeln im Auftrag von Daimler & Co, aber der deutsche Autofahrer darf sie wählen.

 

Loyal bis zum Lungenkrebs

   

Liegt nicht auch wenig Stolz in der Feststellung, dass Deutschlands Auspuffrohre Unmengen von Kohlenmonoxid und Feinstaub in die Luft blasen? Ein starkes Land mit gesunder Wirtschaft verträgt Emissionen und steht zu seinen Benzinern und Diesel-Monstern! Ein wenig gemahnt solch feste Haltung an die berühmte Nibelungentreue in des Germanen liebstem Heldenlied.


 

Hagen von Tronje tut alles erdenklich Perfide, begeht die schlimmsten Verbrechen und leitet konsequent selbst den Untergang des eigenen Volkes ein, nur um dem Burgunderkönig seine unverbrüchliche Servilität zu beweisen. Und so hält auch der deutsche Autofahrer unbeirrbar zu den Kfz-Bauern seiner Heimat, auch wenn er von ihnen übers Ohr gehauen wird und für seine Loyalität mit frühzeitigem Lungenkrebs bezahlt. Ob Mercedes, Porsche oder Audi – deine Marke sei deine Ehre!

  

Freie Fahrt für breite Bürger


Doch der mündige Bürger überlässt die Verantwortung für die Luftverschmutzung nicht allein den Automobilkonzernen. So wehrt er sich erfolgreich gegen eine Tempo-Begrenzung auf Autobahnen, wie sie von Öko-Weicheiern immer wieder gefordert wird. Der deutsche Autofahrer will sich nicht auf der Kriechspur verstecken, wenn es darum geht, bei 200 km/h größtmögliche Emissionen zu erzielen und – als Nebeneffekt – die Schrottplätze sowie Unfallkrankenhäuser zu füllen.

  

Dass der Ritter der Schnellstraße oft breit daherkommt, hat nicht immer mit seiner protzigen Karosse zu tun oder mit einem Fahrstil, der Entgegenkommenden signalisiert: Aus dem Weg, ich bremse nur für Tiere! Bisweilen übersteigt auch der Alkoholanteil am heißen Blut sämtliche Promillegrenzen und gaukelt Reaktion sowie Handlungsfähigkeit vor, wo sich längst die Nebel aus süßem Weingeist  des Bewusstseins bemächtigt haben. Der typische Urheber multipler Totalschäden glaubt entweder, er sei eigentlich reif für die Formel I, tippt am Steuer Shakespeare-Sonette in sein Smartphone ein oder ist ein CSU-Kommunalpolitiker auf der Heimfahrt von einer gelungenen Wahlkampfveranstaltung im Bierzelt.

  

Insgesamt muss man konstatieren, dass dem Herrn bei der Erschaffung des deutschen Autofahrers ein großer Wurf gelungen ist. Diese Kreatur gibt nie auf. Gelingt es ihr nicht, sich die Umwelt und die motorisierte Mitmenschheit gefügig zu machen (Vom minderen Fußgängervolk ganz zu schweigen!), zerstört er sie einfach, denn er ist hart gegen sich und andere.

05/2017

Dazu auch:

VW noch ehrlicherim Archiv der Rubrik Medien

 


 



Der Börsenbomber


Fußball, Verbrechen und viel Geld: Aus diesen Ingredienzen ließe sich eine packende Story für eine Tatort-Folge mixen. Vor dem Hinspiel von Borussia Dortmund (BVB) gegen den AS Monaco in der Champions League wurde drastische Realität daraus. Ausgerechnet im ziemlich ausgepowerten Westfalen zeigte sich, dass Börsenspekulation und Kriminalität oft nur zwei Seiten einer Medaille sind.


Auf den Untergang wetten


Beim Profi-Fußball geht es nicht erst seit gestern um viel Geld. Spitzenvereine investieren Milliarden in neue Spieler, wandeln sich zu Event-Veranstaltern und Merchandising-Unternehmen, holen dubiose Sponsoren aus Russland oder den arabischen Emiraten an Bord. Und wenn sie frisches Kapital benötigen, wagen sie mitunter auch die Umwandlung zur Aktiengesellschaft. Letzteres hat BVB getan und muss nun erkennen, dass der Börsenhandel ungeahnte Risiken birgt.


Nun gehört es ja zum Allgemeinwissen, dass die Spekulanten und Broker an den internationalen Umschlagplätzen für Devisen und Wertpapiere über Leichen gehen, nur tun sie das derart nonchalant und geschickt, dass man den Dreck an ihren Händen, respektive das Blut an ihren Sohlen, im Normalfall nicht wahrnehmen kann. Eine raffinierte Verbindung zwischen dem verdeckten, anonym ablaufenden Handel mit Aktien bzw. Derivaten und dem brutalen Gangsterstück der antiken Chicago-Ära hat nun jener mutmaßliche Täter hergestellt, der den Bombenanschlag auf den Mannschaftsbus des BVB ausgeführt haben soll. Der Mann hat einerseits kapiert, dass auf den Aktienmärkten ohne Rücksicht auf Verluste agiert wird, andererseits aber einen Stilbruch begangen, denn direkte physische Brutalität ist bei der penibel geplanten Vernichtung von Ressourcen und deren Inhabern eigentlich nicht vorgesehen.


Der Mann besaß keine BVB-Aktien, was ihn aber nicht daran hinderte, sogenannte Put-Optionen darauf zu zeichnen, die ihn berechtigten, zu einem späteren Zeitpunkt Borussia-Wertpapiere zum gerade gültigen Kurs von 5,61 € zu verkaufen. Bis dahin hatte  er die Aktien irgendwie irgendwo zu erwerben, und zwar zu einem möglichst niedrigen Preis. Es musste also nur noch der Kurs fallen, was normalerweise geschieht, wenn die Substanz hinter den Wertpapieren lädiert ist. Im Falle eines Fußballvereins, der von sportlichem Erfolg abhängig ist, generiert das (siegreiche) Team das wirtschaftliche Potential. Es ist also lediglich die halbe Mannschaft auszurotten, um Niederlagen zu ermöglichen, und schon fallen die BVB-Aktien ins Bodenlose, kalkulierte der abartige Börsenexperte. Er hätte dann einen Anteil für ein paar Cent erwerben und ihn für 5,61 € zurückgeben können. Da er zu gierig und zu unvorsichtig war, ging er der Polizei allerdings bald ins Netz. Das passiert den eleganteren und üppiger ausgestatteten  Big Players an den Finanzmärkten dieser Welt nur höchst selten.

  

Mit dem Elend spielen


Die Instrumente, mit denen Hedgefonds global arbeiten, seien es Put-Optionen, Leerverkäufe, Termingeschäfte, Futures also, die ohne den Hintergrund von Produktion oder Rohstoffbesitz als reine Wetten auf künftige Preise und Bewertungen das internationale Gefüge durcheinanderbringen, sind wohl die extremsten Auswüchse eines sich immer weiter verselbständigenden Finanzkapitalismus. Je nach Blickwinkel und politischer Position kann man sie als ausgefeilte Strategien oder Beispiele für kriminelle Hütchenspielerei bezeichnen, wobei sich die meisten Staaten anscheinend der ersten Einschätzung anschließen, sind diese Manipulationen doch beinahe überall legal.


Wenn der Großspekulant George Soros gegen Währungen wie die britische wettet, indem er sich ein paar Milliarden Pfund leiht, diese auf den Markt wirft und so den Wechselkurs nach unten drückt, dann mag das unangenehme, aber gerade noch beherrschbare Folgen haben. Wenn er aber – wie mit dem thailändischen Baht geschehen – die Währung eines Entwicklungslandes auf gleiche Weise zum eigenen Vorteil angreift, dann kann das tödliche Weiterungen zeitigen, da möglicherweise keine Devisen für die Einfuhr dringend benötigter Lebensmittel oder Medikamente mehr zur Verfügung stehen. Soros aber zahlt brav seine Schulden, die nun durch den Wertverfall vergleichsweise viel niedriger geworden sind, zurück, streicht satte Wettgewinne ein, weil der Baht tatsächlich zur Ramschwährung wird, und lässt sich anschließend von den Medien als Mäzen, Philanthrop und Stifter von Bildungsinstituten, die das Hohelied der freien Marktwirtschaft in alle Welt hinausposaunen, feiern.


Termingeschäfte auf den Nahrungsmittel- und Rohstoffmärkten bedrohen heute jede wirtschaftliche Erholung in den Ländern der Dritten Welt. Wenn potente Hedgefonds auf fallende oder steigende Preise spekulieren, kann die ausreichende Ernährung eines großen Teils der Menschheit gefährdet werden, weil die armen Staaten ihre Naturalien für Niedrigpreise exportieren müssen, während sie sich andererseits keine teuren Importe von Lebensmitteln mehr leisten können.


Hilfsorganisationen wie Oxfam stufen diese Machenschaften des Turbo-Kapitalismus als ähnlich ursächlich für die Mangelernährung im Tropengürtel ein wie die Dürreperioden, Überschwemmungen und Ernteverluste durch Bürgerkriege. Nichts zeigt die Servilität der meisten Regierungen weltweit gegenüber den als Investoren apostrophierten Heuschrecken so deutlich, wie die Duldung dieser Würfelei um Geld und Überlebenschancen.


Von Gangstern und Spekulanten


Soros würde wohl nie zur Bombe greifen, um das für ihn gottgegebene Gebot der Profitmaximierung durchzusetzen, auch seinen Kollegen und Epigonen wäre brachiale Gewalt in der Bereicherungsrallye zuwider, verfügen sie doch über feinere Instrumente. Insofern scheint es sich bei dem mutmaßlichen Börsenbomber von Dortmund um ein eher kleines Licht gehandelt zu haben, um einen Dilettanten, der bei einem vergleichsweise lächerlichen Einsatz von 78.000 Euro den Tod von Borussia-Spielern zumindest billigend in Kauf genommen hat.


Da spielen die Zocker und Hedgefonds in den globalen Finanz-Casinos schon mit anderen Summen, dazu noch ungleich diskreter und effizienter. Und wenn Menschen in aller Welt ihre Ersparnisse, ihre Arbeitsplätze oder – aufgrund von künstlich herbeigeführten Versorgungsengpässen – ihre Leben verlieren, dann geschieht dies nach dem abgeschlossenen Geschäft und infolge brillant angewandter Finanz- und Handelsmarkt-Tricks, nicht davor und berserkerhaft, hirnlos wie bei einem blutigen Showdown in Dodge City.


Unstrittig allerdings ist, dass unser System der grenzenlosen Aneignung von Geld und Macht bei gleichzeitiger Vernichtung von Gütern, Werten und Existenzen beiden Figuren offensteht: dem kleinen Gangster mit seinen archaisch grausamen Methoden und dem großen Börsen-Jongleur mit seiner verfeinerten Planung. Der eine verstößt schon im Vorfeld gegen diverse Strafgesetze, der andere nutzt deren Lücken oder setzt seine Ressourcen sogar dafür ein, neue Gesetze durchlässiger zu machen. Was indes die kriminelle Energie beider Typen betrifft, so gleichen sie sich darin durchaus.

04/2017

Dazu auch:

Justiz, die gefällt im Archiv der Rubrik Medien

 

 

 

                     

  

Die Macht der Brüder


Wer glaubt, mit Donald Trump sei der Gipfel bedenkenloser Machtausübung und gefährlicher Hybris im spezial-kapitalistischen US-System endlich erreicht, sollte das Wirken der Gebrüder Charles und David Koch unter die Lupe nehmen und er wird herausfinden, dass es Schlimmeres gibt als ein gegeltes Rumpelstilzchen, das erratisch herumspringt und immer wieder daran gehindert wird, hier tabula rasa (irrationale Einreisebeschränkungen) und dort einen Teil-Rückzieher (Gesundheitsreform) zu machen.


Richtig viel Geld gegen Trump


Charles Koch wird auf ein Vermögen von knapp 40 Milliarden Dollar geschätzt, haargenau wie sein Bruder David. Damit teilt er sich mit diesem laut Forbes den neunten Platz unter den reichsten Menschen der Welt. Donald Trump muss sich gegenüber diesen Magnaten vorkommen wie ein Parvenü, der einen Bettler ausgeraubt hat. Das Konsortium Koch Industries der beiden Brüder gilt als zweitgrößtes Firmenkonglomerat der USA und erzielt seine Gewinne auf dem Chemie- und Erdöl-Sektor. Pech für Trump, dass die Kochs ihn nicht mögen und damit begonnen haben, ihm ein Bein nach dem andern zu stellen…


Bis zu 900 Millionen Dollar sollen die Oligarchen für den letzten Wahlkampf der Republikaner bereitgestellt haben. Damit hievten sie willige Politiker, die ein wenig Geld nicht verschmähen und sich auch gern der Meinung ihrer Gönner anschließen, in den Kongress, nur bei der Kür des Präsidentschaftsanwärters der Grand Old Party hatten sie auf falsche Pferde gesetzt; das kann auch dem Reichsten mal passieren. Trump, der eine andere Kapitalfraktion (allerdings mit teilweise gleichen Intentionen) hinter sich wusste, giftete damals auf Twitter: „Viel Glück für alle die republikanischen Kandidaten, die nach Kalifornien gereist sind, um Geld von den Koch-Brüdern zu erbetteln. Marionetten?“


Nun könnte man meinen, es sei doch gut, wenn jemand den hysterischen Irrwisch stoppt. Weit gefehlt, denn die Koch-Brothers werfen ihm nur dann Knüppel zwischen die Beine, wenn er einen halbwegs vernünftigen Schritt tun will. Das hängt damit zusammen, dass sie viel entschlossenere Rechtsradikale, ideologisch wesentlich gefestigtere Sozialdarwinisten und ungleich potentere Strippenzieher sind als er.


Man kauft Kandidaten oder Entscheidungen


Trump hat angekündigt, mehrere hundert Milliarden Dollar in Infrastruktur-Projekte zu investieren, um die US-Wirtschaft anzukurbeln. Nötig wäre dies schon allein angesichts bröckelnder Straßen, einstürzender Brücken oder einer Atommüll-Entsorgung, die sich wie die strahlende Bestückung offener Schutthalden (allerdings in der Prärie) ausnimmt. Für die Kochs, deren Geschäfte scheinbar auch ohne präsidiales Wohlwollen florieren, ist das Planwirtschaft. Nach Ansicht dieser Neoliberalen reinsten Wassers gefährdet Trump die „freie und offene Gesellschaft“, die sie meinen, und schon droht das ungeduldige Brüderpaar damit, sich dem zu widersetzen. Wie das aussehen kann, hat der Präsident schon bei seinem Versuch, Obamacare weitgehend, aber eben nicht zur Gänze, abzuschaffen, zu spüren bekommen.


Als Trump die eher schüttere Gesundheitsreform seines Vorgängers durch einen eigenen Entwurf unter Beibehaltung minimaler Relikte ersetzen wollte, scheiterte er im Kongress. Die Minderheitsfraktion der Demokraten, die gegen den totalen sozialen Kahlschlag votierte, erhielt Zulauf von gemäßigten Republikanern, das Zünglein an der Waage aber waren die Anhänger der Koch-Brüder. Denen geht auch die bescheidenste staatliche Gesundheitsfürsorge zu weit, da sie jeden Steuerungsversuch einer Regierung, der das freie Spiel der Marktkräfte etwas weniger humaner gestalten könnte, als sozialistischen Irrweg denunzieren. Die Kochs ließen ihre Abgeordneten gegen die Trump-Reform aufmarschieren, weil diese noch Reste von Obamacare beinhaltete, und nahmen dabei sogar billigend in Kauf, dass die verhasste Krankenversicherung nun vorerst ohne Verstümmelung weiter läuft. Der rigorose Libertarismus  der beiden Brüder, der die europäische Spielart des Nachtwächterstaats, die etwa von der FDP propagiert wird, wie ein flauschiges Wohlfahrtssystem aussehen lässt, kennt keine Kompromisse.

 

Das Establishment der Republikaner musste den absoluten Machtanspruch der Koch-Brüder schon einmal bis fast zur Selbstaufgabe hinnehmen. Ohne deren Gelder hätte die Tea-Party-Bewegungjener Zusammenschluss ultra-rechter Chauvinisten, die an sich schon reaktionäre Parteiführung nicht vor sich hertreiben können. Unter George W. Bush waren 23 Regulierungen abgeschafft worden, allein 14 davon hatten auf einer Vorschlagsliste des Mercatus Center, einer Denkfabrik, die wirtschaftsradikale Ideen aus den Universitäten in die kapitalistische Praxis implementieren soll,  gestanden. Alimentiert wird Mercatus von den beiden Brüdern und gehört damit zu einem dichten Organisationsgeflecht, von Kritikern Kochtopus genannt, über das Kandidaten in die Legislative entsandt werden oder aus dem vorformulierte Gesetzesentwürfe und ausgeklügelte Strategien zu deren Durchsetzung stammen.


Das Ende des Staates, aber anders als bei Marx


Via die Americans For Prosperity Foundation flossen die Spenden an die Tea Party, milde Gaben in Multi-Millionen-Höhe erhielt auch die erzkonservative Heritage Foundation. Diesen und ähnlichen Stiftungen und Think Tanks obliegen Desinformation, Beeinflussung von Volksvertretern und Entwicklung rechtslastiger, aber leicht verständlicher Theoriegebäude mit dem Zweck, das rücksichtslose Streben nach Reichtümern als amerikanisches Ideal und die radikalste Fraktion der Superreichen als hehre Brüderschaft im Sinne Calvins in den Hirnen der Massen zu verankern. Gegenüber dieser straffen und effizienten Netzwerkerei wirkt Trumps nationalistischer und verbalradikaler Beraterstab wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, der sämtliche Körner verlegt hat.


Bisweilen allerdings treibt die Aversion der Kochs gegen perspektivische Schutzmaßnahmen und kritische Wissenschaft skurrile Blüten, etwa wenn es um Ökologie und Umweltzerstörung geht (hier stehen sie wieder an der Seite von Donald Trump): Gemäß Charles Koch ist „die freie Gesellschaft in Gefahr, unter anderem wegen Klimawandel-Alarmismus. Allerdings erkennt auch er, dass irgendwie das Wetter verrückt spielt, findet aber tröstliche Worte für uns: „Die globale Erwärmung ist für die Menschheit gut, weil es dadurch in der nördlichen Hemisphäre länger warm ist.“ Sicherlich delektiert er sich auch an der Vorstellung, die Nordsee auf Kosten der Niederlande zu vergrößern und mittelfristig die Fracht seiner Transatlantik-Tanker in Frankfurt am Main löschen zu lassen.


Auch hinsichtlich einer künftigen Steuerentlastung für Wohlhabende und Konzerninhaber stimmen die Kochs und Trump überein – vorerst wenigstens. Denn das Duo Infernale hat bereits angekündigt, den Präsidenten mit (bezahlten) Kampagnen zu attackieren, wenn er nicht seine Wahlversprechen hält, das heißt u. a. Vermögende von fast jeder fiskalischen Belastung befreit. Die libertaristische Speerspitze des Größtkapitals sorgt sich schon lange nicht mehr um eine hinreichende Reproduktion der Arbeitskräfte (solange diese für den eigenen Konzern noch Profit erwirtschaften können), und die Situation der rund 50 Millionen offiziell erfassten Armen hat sie noch nie interessiert. (Letztere Zahl ist noch eine euphemistische Schätzung: Laut ZEIT konnte sich 2014 im Autoland USA die Hälfte der PKW-Besitzer keine Reparatur leisten, die 400 Dollar überstieg.)


Die Koch-Brüder wünschen sich offenbar das Absterben des Staates (von ein paar Gerüstfragmenten der inneren und äußeren Sicherheit abgesehen), der US-Unternehmer soll wieder so frei sein wie zu Zeiten Washingtons und Jeffersons, als free enterprise das Dogma der Demokratie war, das mit dem Gewehr verteidigt wurde (und die Sklavenhaltung mit einschloss). Aus ganz anderen Gründen hatte Marx das Bild einer zukünftigen Gesellschaft entworfen, die den Staat als Prellbock des Kapitals gegen die Lohnabhängigen und als Wahrer des Status quo nicht mehr braucht, da ihn die Menschen aus freier Verantwortlichkeit und mittels gemeinschaftlicher Nutzung der Produktivkräfte ersetzen. Welch optimistische Utopie der Trierer für die Zeit nach dem Ende des Klassenkampfes entwarf – und welch brutale Gesellschaft die Koch-Brüder nach dem Totschlag am Staat und dem Wegfall aller administrativen Hemmschwellen sowie dem finalen Showdown zwischen Arbeit und Kapital (der selbstredend mit dem Sieg des betuchten Revolverhelden endet) anstreben!

04/2017

Dazu auch:

Zwei Präsidenten in diesem Archiv

Trumps America im Archiv der Rubrik Medien    

                     

   






Frau Alibi


Was tut eine Staatspartei, wenn sie sich mit einem Problem beschäftigen muss, das ihr auf den Geist geht? Sie schafft das Thema mittels eines Gesetzes weitgehend aus der Welt und beauftragt eine/n der ihren, sich um die Reste zu kümmern. So geschehen in Bayern, das wie ein Gotteslehen von der CSU verwaltet wird, und die wiederum lässt sogar das Amt des/der Integrationsbeauftragten für den Freistaat zu.


Das schreckliche I-Wort


Wer wissen will, was die CSU wirklich von Integration hält, sollte sich nicht mit dem in Rechtsform gegossene Gesülze von der deutsch-bayrischen „Leitkultur“ (Integrationsgesetz) aufhalten, sondern Andreas Scheuer, dem Quartalsirren, der sich Generalsekretär besagter Partei schimpfen darf, genau zuhören. Der warnte nämlich vor dem jungen Flüchtling aus dem Senegal, der schon geraume Zeit da ist, Fußball spielt und in der Kirche ministriert, also waschechte Merkmale bajuwarischer Primärtugend aufweist, sich damit eigentlich CSU-kompatibel integriert hat, „weil den wirst du nie wieder abschieben“.


Mit anderen Worten: Gott schütze uns vor der assimilierten  Mischpoke und erhalte Bayern seine reinrassige Bierdümpfel-Besatzung!


Wenn sich jemand in einem solcherart regierten Bundesland um die Stelle als Integrationsbeauftragte/r bewirbt, muss er – wenn er es ehrlich meint – eine gehörige Portion Masochismus mitbringen, oder andernfalls extrem ehrgeizig sein (Posten ist Posten!). Letztgenannte Eigenschaft wird der neuen Amtsinhaberin Kerstin Schreyer unisono in allen Medienporträts zugeschrieben.

  

Frau Schreyers seltsamer Humor


Auch die Süddeutsche Zeitung wundert sich ein wenig: „Kerstin Schreyer ist auf dem Feld der Integration bisher nicht groß aufgefallen…“ Immerhin weiß das Blatt zu berichten, dass die Nachfolgerin von Martin Neumeyer, der seit 2009 als Beauftragter der Staatsregierung wenigstens ab und zu gegen den Populismus der eigenen Partei aufbegehrte, voll hinter der Forderung nach einer gegen internationales Recht verstoßenden Obergrenze für Asylsuchende steht und den Wortlaut des unlängst verabschiedeten bayerischen Desintegrationsgesetzes verinnerlicht hat.


Dass sich aber die CSU-Landtagsabgeordnete aus Unterhaching, die Sozialwesen studierte und u. a. in der Jugendhilfe sowie in der Erwachsenenbildung tätig war, auch schon anderweitig mit der Flüchtlingsproblematik auseinandergesetzt und dabei kruden Humor und fatale Geistesverwandtschaft bewiesen hat, störte sogar den ansonsten unionsfrommen Münchner Merkur: Kerstin Schreyer hatte eine Karikatur auf Facebook gepostet, die Horst Seehofer zeigt, der von einer Empore herab einer andrängenden Menschenmenge zuwinkt, die Schilder mit Aufschriften wie „Bitte Asyl!“ und „Nimm uns auf!“ hochhält. Auf die Frage des Ministerpräsidenten, ob diese Leute alle aus Syrien kämen, antwortet ein Berater: „Nein, aus der CDU.“ In der Hand hält der Mann eine Zeitung mit der (orthografisch  falschen) Schlagzeile „Flüchtlinge. Seehofer attakiert Merkel“.


Dass millionenfaches Elend als Aufhänger für einen von ihr verbreiteten Primitiv-Scherz über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung herhalten muss, wirft bereits ein bezeichnendes Licht auf das Gemüt und das Empathie-Defizit der neuen Integrationsbeauftragten, richtig bedenklich wird die Facebook-Publikation aber erst, wenn man weiß, woher die Karikatur stammt: aus der Jungen Freiheit, die als Zentralorgan der Neuen Rechten gilt und in dieser Funktion faschistoide Edelfedern gegen den Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft und die Umtriebe der bösen Achtundsechziger hetzen lässt. Der Merkur umschreibt den Sachverhalt vorsichtiger, aber durchaus zutreffend: „Manche Publizisten sprechen von einem Scharnier zwischen Rechtsextremismus und konservativem Spektrum.“ 


Die Zicke als Gärtnerin


Das ist also die Frau, die sich künftig in Bayern um menschenwürdige Lebensbedingungen für Flüchtlinge und deren Eingliederung in die Gesellschaft kümmern soll. Vielleicht ist die Ernennung einer Dame, die sich frühzeitig als Ignorantin mit Faible für menschenverachtenden Humor geoutet hat, ein noch viel schlechterer Witz als die oben angeführte Karikatur. Vielleicht aber hat gerade die offen zutage getretene Geisteshaltung von Frau Schreyer diese in den Augen ihrer Parteifreunde für den ungeliebten Job qualifiziert. Gut für die Integrationsverächter in der CSU, schlecht für die Menschen, die Unterstützung und Respekt bräuchten…


Natürlich ruderte Kerstin Schreyer, die zur Gärtnerin bestellte Zicke (Keine frauenfeindliche Beschimpfung, sondern korrektes weibliches Pendant zum Bock!), zurück; nachdem ihr kleiner Scherz ruchbar geworden war, gab sie die grundehrliche Haut und offenbarte dabei ein gestörtes Verhältnis zur Semantik, möglicherweise zur Logik an sich: "Ein Fehler, zu dem ich stehe".


Für einen Fehler entschuldigt man sich, liebe Frau Schreyer. Man gibt zu, ihn begangen zu haben, versucht vielleicht sogar, ihn zu verbessern. Aber man steht nicht auch noch in kindlichem Trotz dazu!

03/2017

Dazu auch:

Glorreiche Rabulisten in diesem Archiv      

 

        

  

Verlorene Tochter


Bei aller berechtigten Kritik, die der bayerischen Stammtisch-Partei CSU entgegenschlägt, wird oft vergessen, dass die Union die Buchstaben C für christlich und S für sozial in ihrem Namen bierernst nimmt. Wie fürsorglich sich die Münchner Polit-Oligarchen der in Schande Gefallenen und als Gesetzesbrecher Gebrandmarkten annehmen, soweit sie aus den eigenen Reihen stammen, zeigt gerade der pflegliche Umgang mit Christine Haderthauer, einst Ministerin und Modellauto-Bauerin. Das hat etwas Rührendes und geht sogar über die neutestamentarische Barmherzigkeit hinaus.


Die Bibel – bayerisch ausgelegt


Das Gebot der christlichen Nächstenliebe wird in der CSU groß geschrieben, unter der Prämisse, dass jeder sich selbst der Nächste sei und gleich danach die Parteifreunde kämen. Es gemahnt an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, jenes Bengels also, der sich sein Erbteil vorab auszahlen ließ, um es anschließend sinnlos zu verprassen, wie zartfühlend die CSU mit der in Verruf geratenen Tochter umgeht. Nun hat Christine Haderthauer eigentlich kein Vermögen verschleudert, sondern zusammen mit ihrem Gatten Hubert, der seine Funktion als Psychiater am Bezirksklinikum Ansbach gewinnbringend nutzen wollte, eines anzuhäufen versucht: Das findige Ehepaar ließ den handwerklich geschickten Dreifachmörder Roland S. hochwertige Oldtimer-Modelle basteln, verkaufte diese für viel Geld und trickste nebenher noch einen Geschäftspartner aus. Der Deal lief unter dem Etikett „Therapie“ und wurde von Christine offenbar auch noch in ihrer Zeit als Ministerin des fidelen Freistaats zeichnungsberechtigt begleitet.


Voriges Jahr wurde die Dame, die Patriarch Seehofer wegen des zu befürchtenden Imageverlustes vorsorglich aus dem Kabinett entfernt hatte, zu einer Geldstrafe verurteilt. Ehegespons Hubert befand eine andere Spruchkammer gar der Steuerhinterziehung und des versuchten Betrugs für schuldig. Die nimmermüden Lästerzungen der Opposition im Landtag erzwangen einen Untersuchungsausschuss zur näheren Begutachtung der gedeihlichen Vermischung von Amt und Business im Fall Christine, der zwei Jahre währte und nun endlich Ergebnisse gebar – und zwar gleich zwei, die sich seltsamerweise widersprechen: Die grünen und sozialdemokratischen Mitglieder des Gremiums kommen zu dem Schluss, das Vorgehen des cleveren Ehepaars Haderthauer sei „dienstrechtlich unstatthaft, moralisch verwerflich und ganz offensichtlich von wirtschaftlichem Interesse geleitet“ gewesen. Ausschussvorsitzender Florian Herrmann von der CSU hingegen hält sich gar nicht erst mit rechtskräftigen Verurteilungen auf, sondern interpretiert den Jesus-Spruch, dass der den ersten Stein werfen solle, der ohne Sünde sei, so allgemeinverständlich, dass selbst der Antisemit und (verbale) Bauernschlächter Martin Luther zugestimmt hätte: „Wir machen hier kein allgemeines Fegefeuer für allgemeines Lebensverhalten.“


Und wo kein Fegefeuer, da keine Sünde und auch kein Stein, sondern stattdessen ein Job-Angebot vom Ingolstädter Mitbürger Seehofer für die Ex-Ministerin: Es stehe fest, dass Haderthauer „durchaus weiter Politik machen kann, aus meiner Sicht auch machen soll“. Eine Rückkehr ins Kabinett schließt der Ministerpräsident jedenfalls nicht aus. Es ist nun schon der zweite gefallene Engel, den Bayerns Gottvater binnen kurzem wieder an seine Seite zurückholen möchte. Freiherr Karl-Theodor zu Guttenberg, der gegelte Blender, der seine Doktorarbeit vorrangig dem Kopiergerät zu verdanken hatte, soll der CSU im Wahlkampf beispringen, schließlich hat er jetzt in den USA gelernt, dass Anmaßung, Unwahrheiten und Fälschungen die Erfolgschancen in der Politik keineswegs mindern müssen.


Resozialisierungszentrum CSU


Die Bayern-Union bevorzugt einen modernen Ansatz der Resozialisierung und beruflichen Eingliederung, der weit über die Bibel hinausgeht. Denn dort heißt es, im Himmel herrsche mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte. Davon abgesehen, dass die CSU sich schwer täte, auch nur einen Gerechten in ihren Reihen zu finden, fällt auf, wie gänzlich unbeeindruckt und dreist sich ihre schwarzen Schafe ihrer befleckten Wollpelze entledigen. Von reuigen Sündern kann also keine Rede sein. Aber gerade dieser Mangel an Schuldbewusstsein nötigt dem staunenden Volk Respekt ab und prädestiniert für eine Tätigkeit in eben dem Metier, in dem man sich besudelt hat. Schließlich zählen Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit zu den Schlüsselqualifikationen der rechtsbürgerlichen Politik in Bayern.


Ein Musterbeispiel für solch eine gelungene Wiedereingliederung war Otto Wiesheu. Der nahm das Gesetz des Stärkeren in die eigenen tremolierenden Hände, als er mit 1,99 Promille im Blut 1983 auf der Autobahn München-Nürnberg einen unverantwortlich langsam dahin zuckelnden polnischen Kleinwagen mit seiner Limousine von der Fahrbahn räumte. Dabei tötete er einen Menschen und verletzte einen anderen schwer.


Nun sollte man Beteiligte an einem katastrophalen Geschehen später genau auf dem betreffenden Sachgebiet einsetzen, schließlich kennen sie sich dort mittlerweile aus. Nach Unfällen wären also Verursacher und Betroffene als Experten in eigener Sache erste Wahl für das zuständige Ressort, wobei man meistens auf die Täter zurückgreifen wird, da die Opfer aus naheliegenden Gründen indisponiert sind. So oder so ähnlich muss es sich die CSU auch gedacht haben, jedenfalls holte Edmund Stoiber den PKW-Rambo Wiesheu nach einer Karenzzeit von knapp zehn Jahren als Staatsminister für Wirtschaft, Infrastruktur und Verkehr in sein Kabinett.

  

Die Missionierung Bayerns


Es war diese Mischung aus Vulgär-Exegese des Neuen Testaments und raffinierter Spezerln-Sozialarbeit, die den Erfolg der CSU ausmachte und Bayern zur Spielwiese aufblühen ließ, auf der die Leute mit dem rechten Parteibuch oder den richtigen Beziehungen sich (fast) alles leisten konnten, vom Vollsuff am Steuer oder hinter dem Rednerpult bis zur Durchstecherei und Vorteilsannahme – aber stets mit hinterfotzigem Humor! Der Freistaat wurde sozusagen unionisiert.


Den Beweis hierfür erbringen besonders oft führende Kommunalpolitiker, wobei der Hang zur offenen Hand von der CSU auf andere Parteien und viele Stützen der Gesellschaft übergegangen ist. Kaum sitzt in Regensburg der SPD-Oberbürgermeister Wolbergs wegen Korruptionsverdachts in Untersuchungshaft, wird auch schon gegen seinen Unionsvorgänger Schaidinger wg. same procedure ermittelt. Da nimmt es nicht wunder, dass der vorbestrafte Uhrenschmuggler und Vorstandsvorsitzende des Bundesliga-Monopolisten Bayern München, Karl-Heinz Rummenigge, mahnt: „Ich habe das Gefühl, dass die Verrohung, die wir in vielen Bereichen unserer Gesellschaft beobachten, zunehmend auch den Fußball heimsucht.“ Rummenigge meinte damit aber nicht den wegen Steuerhinterziehung verknasteten Kollegen Uli Hoeneß, der mittlerweile als Präsident des FC Bayern landesüblich resozialisiert wurde, sondern ein paar Fans, die sich danebenbenommen hatten.


Gewiss, auch in anderen Bundesländern gibt es Unterschleif, Betrug und Vorteilsannahme, vom Kölschen Klüngel bis zur Berliner Vetternwirtschaft, doch nirgendwo wirkt das System so gottgegeben (und rehabilitiert so schnell) wie im südlichen Freistaat. Zu verdanken ist dies in erster Linie dem überlebensgroßen Vorbild des Erz-Paten Franz Josef Strauß, dem nichts schaden konnte, der sich nach dem Beschaffungsskandal um den HS-30-Schützenpanzer, nach dem Waffenschmuggel (im Amt) nach Israel oder der Spiegel-Affäre kräftig schüttelte, bis nichts mehr hängen blieb, und seine Karriere unbeirrt fortsetzte. In seiner Ära entstand der Eindruck, eine rechte bayerische Eiche könne durch nichts erschüttert werden, jedenfalls nicht auf Dauer.


So nahm es es in München auch niemand besonders übel, dass die Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, nachdem sie als Staatsministerin den beruflichen Aufstieg ihre Ehemanns beschleunigt und innerparteiliche Kontrahenten erpresst hatte, nach kurzer Auszeit mit einem Mandat im EU-Parlament belohnt wurde. Das Prinzip Trump, dem zufolge man sich um sein Geschwätz und seine Verfehlungen von gestern nicht zu scheren braucht, wurde eigentlich in Bayern entwickelt.


Wenn ein armes Hascherl wie die Haderthauers Christel einmal doch erwischt und gerügt wird, heißt das noch lange nicht, dass sie im Lande des Vergebens und Vergessens künftig auf politische Funktionen verzichten müsste…

02/2017

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Modell Haderthauer in diesem Archiv 





Vorname: Bahnchef


Aus den seligen Zeiten des Großen Zampano Mehdorn stammt der Kalauer, dass der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG auf den Vornamen Bahnchef höre. Wenn es irgendetwas über den Verkehrsmoloch, die Zugverspätungen, den Drang zur Börse, das Stuttgart-21-Chaos oder einen deftigen Skandal zu berichten gab, wurde in den Medien stets Bahnchef Mehdorn dazu befragt und zitiert. Als der Boss hinschmiss, weil er beim Bespitzeln seiner Mitarbeiter ertappt wurde, folgte ihm der vornamensgleiche GrubeDer wiederum leistete sich keine schlimmeren Pannen als sein Vorgänger, machte aber auch nichts besser. Und jetzt geht Bahnchef Grube auch, aus Frust darüber, dass ihm eine Vertragsverlängerung nur noch für zwei Jahre angeboten wurde und nicht für drei, wie er es gewünscht hatte. Bloß eine Personalie in einem seltsamen Firmenkonglomerat, das auf das Unerquicklichste rigorose Konzernpolitik mit staatlicher Absicherung verquickt?


Illustrer Freundeskreis


Eigentlich sollte man meinen, ein riesiges Unternehmen, das für die Mobilität vieler Bundesbürger zuständig ist, eine gewichtige Rolle im Umweltschutz spielt (oder zumindest spielen sollte) und als Frachtgigant die Versorgung des Landes mit Gütern gewährleistet, sei in öffentlicher Hand gut aufgehoben. Der polternde Omnipotentat Mehdorn aber (der sich nachher um den Niedergang von Air Berlin und das Moratorium am Berlin-Brandenburger Großflughafen verdient machte) wollte im Verein mit neoliberalen Politikern von SPD und Union sowie seinen Gefährten in der Wirtschaft das Kernstück der nationalen verkehrstechnischen Infrastruktur an die Börse bringen, weshalb die Bahn heute noch das anachronistische Schwänzlein AG im Namen hinter sich her zieht. Als der Konzernlenker mit dem Gebaren eines Pferdeschlächters über die Abhöraffäre stolperte, mussten die Verantwortlichen im Bund einen – wenn möglich, etwas leiseren - Bruder im Geiste für die DB-Spitze suchen. Und sie fanden Rüdiger Grube.


Der als höflich und diplomatisch geltende Hamburger lernte einst Flugzeugbauer bei Messerschmidt-Bölkow-Blohm (MBB) und war als Jugendsprecher in der IG Metall aktiv. Dann studierte Grube an der FHS Flugzeugbau, promovierte an der Uni Kassel – und wurde von den Wortführern des Big Business auf die Unternehmerseite gezogen. MBB-Vorstandsmitglied Hartmut Mehdorn machte ihn bei der Deutschen Airbus GmbH zu seinem Büroleiter und trat als Trauzeuge bei seiner ersten Hochzeit auf. Dann wurde Jürgen Schrempp, Chefideologe der rücksichtslosen Übermotorisierung, auf Grube aufmerksam und ernannte ihn zum leitenden Konzernstrategen der Daimler-Benz AG (später DaimlerChrysler AG) – eine sinnfällige Vorbereitung für den Bahn-Job, in dem er später den umweltschädigenden Individualverkehr zugunsten nachhaltiger Kollektiv-Mobilität hätte eindämmen sollen! Daneben nahm er einen Strauß von Mandaten in Aufsichtsräten von der Dasa über EADS bis McLaren, also zumeist bei veritablen Dreckschleudern und berüchtigten Statusprotzen, wahr.


Zugleich freundete er sich rein zufällig mit Politikern an, die für seine Aufgabenfelder zuständig waren, etwa mit dem damaligen CSU-Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, und galt als Darling der SPD, die beim Umweltschutz und in der Wirtschaftspolitik wie immer auf beiden Seiten der Barrikade stand: verbal in den Reihen der betroffenen Bevölkerung und faktisch im Lager der Konzerne (was vielleicht erklärt, dass der Trauzeuge auf Grubes zweiter Hochzeit Frank Walter Steinmeier hieß). So war es nicht weiter verwunderlich, dass die Verantwortlichen in der Politik und im DB-Aufsichtsrat alles in der Familie lassen wollten und Rüdiger Grube, dieser Hans Dampf in allen Gassen, die Leitung des Bahnkonzern 2009 von seinem Lehrherrn Mehdorn übernahm.


Daseinsvorsorge für wen?


Das Gehalt des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG belief sich zuletzt auf 2.661.000 Euro im Jahr. Nun mag man zwar einwenden, dass VW-Chef Winterkorn für ein solch mickriges Sümmchen nicht einmal die windigsten Abgastests hätte manipulieren lassen, doch Grube als bescheidene Haut war damit zufrieden; er hätte es jetzt nur gerne noch drei Jahre länger eingestrichen, denn als dann 68-Jähriger ist man auf dem Transfermarkt nicht mehr so begehrt. Und ein bisschen Alterssicherung sollte schon sein.


Grube hat ganz einfach den Begriff Daseinsvorsorge anders interpretiert als der Gesetzgeber. Denn während letzterer von der staatlichen Aufgabe zur Bereitstellung der für ein menschliches Dasein als notwendig erachteten Güter und Leistungen träumt, interpretieren Bahnchefs und ihre Freunde in den Konzernzentralen den Topos mehr individualistisch, nehmen die eigene Person bei der Realisierung also nicht aus. Ein unbedarfter Beobachter könnte jetzt mutmaßen, Grube habe für diese Stange Geld zumindest Ordentliches geleistet. Na ja, das nun auch wieder nicht.


Positiv ist eigentlich aus seiner Dienstzeit nur zu vermerken, dass er Mehdorns Pläne eines Börsengangs 2011 stoppte – nur tat er das nicht freiwillig. Einigen Verantwortlichen in der Politik, die sogar rechnen konnten, waren Bedenken gekommen, ob ein Konstrukt, bei dem der Staat (somit die Bürgerschaft) für Verluste aufkommt und für die Hardware und deren Erneuerung, etwa beim Schienennetz, sowie für allerlei Investitionen verantwortlich zeichnet, während sich Großanleger weltweit ohne Risiko an Gewinnen erfreuen oder Spekulanten zum Spaß auf den Niedergang wetten, nicht vielleicht für öffentlichen Verdruss sorgen könnte – zumal in den damaligen Zeiten der globalen Wirtschaftskrise.


Ansonsten blieb unter Grube vieles so schlecht, wie es war, nur manches wurde noch schlechter. Fernzüge kamen kaum pünktlicher an als zuvor, die Verluste stiegen aufgrund überdimensionierter und/oder weltfremder Projekte, der Nahverkehr, lebenswichtig für Millionen von Pendlern und Landbewohnern, wurde gegenüber den prestigeträchtigen IC-Verbindungen vernachlässigt, der Frachtverkehr floh von den Schienen auf die Straße (was die bundesweiten Abgasemissionen enorm begünstigte), Wartungsarbeiten wurden ausgelagert und Arbeitsplätze abgebaut. Die Ausbildungskurse der Lok-Führer, denen bis heute keine ausreichende Freizeit zwischen den Fahrten zugestanden wird, verkürzte man und beeinträchtigte so zugleich die Sicherheit der Passagiere. Und wegen der Hungergehälter der Angestellten auf dem Führerstand, in den Waggons oder in den Bordrestaurants kommt es ständig zu Auseinandersetzungen mit Gewerkschaften und Streiks. Aber Herr Grube hat bewiesen, dass er zu sparen versteht – wenn es nicht um die eigene Person und ein paar Freunde geht.      

  

Der nächste Kumpel


Als hätte es den Beschluss, die Bundesbahn aus dem Aktien-Roulette herauszuhalten, nie gegeben, gerieren sich Manager und Vorstände weiter so, als müssten sie ein börsennotiertes Unternehmen mittels Einsparung an Fachkräften und Sicherheitstechnik für internationale Zocker attraktiv machen. Wichtig ist ihnen dabei nur der interne Zusammenhalt, sozusagen die Chemie zwischen Gleichgesinnten. Und deshalb hatte Rüdiger Grube schon vor drei Jahren den passenden Kumpel an der Hand, der ihn 2020 hätte beerben sollen.


Ronald Pofalla, einst Generalsekretär der CDU und dann als Merkels Kanzleramtsminister leichte Beute für Spaßmacher, Spötter, Kabarettisten, legte seine politischen Ämter Ende 2013 nieder, um sich nach zeitnaher Ankündigung und ohne ausreichende Schamfrist auf einen lukrativen Job vorzubereiten. Ausgerechnet diesen Tollpatsch hatte sich Grube als Freund und Nachfolger ausgeguckt und holte ihn Anfang 2015 in die Vorstandschaft der Deutschen Bahn. Pofalla solle ihn „von zeitaufwendigen Aufgaben der politischen Beziehungspflege entlasten“, hieß es. Und der durch Abgeordnetendiäten ausgehungerte Unionschrist ließ sich gern zu den üppigen Fleischtöpfen des Bahn-Managements locken. Nach dem Ausscheiden aus der Regierung heuerte er bei Grube an, als Lobbyist für die Glamour-Sparte des neuen Arbeitgebers war er indes schon vorher tätig gewesen: Im Februar 2013 hat Pofalla offenbar drei Staatssekretäre unter Druck gesetzt, trotz wirtschaftlicher Bedenken für die Weiterführung des Großprojekts Stuttgart 21 (dessen Hirnrissigkeit und Hybris hierzulande allenfalls noch durch einen gewissen Berliner Flughafenbau getoppt wird) einzutreten – eine brachiale Art der politischen Beziehungspflege halt.


Wenn du geschwiegen hättest, Ronald… Ausgerechnet Fettnäpfchen-Pofalla, der in der Regierung schon für sein künftiges Herrchen bellte, hatte 2005 Gerhard Schröder im Brustton moralischer Überzeugung kritisiert, weil der Ex-Kanzler gleich nach seiner Wahlniederlage ins Business gehuscht war und einen Posten bei der Nord Stream AG angetreten hatte. Eigentlich wurde der Klüngel-Rheinländer schon als Grubes designierter Nachfolger gehandelt, doch fragt man sich jetzt, ob sich die angeschlagene Bahn AG eine solche Peinlichkeit antun will. Dabei würde Pofalla doch so gern auf den Vornamen Bahnchef hören!

01/2017

Dazu auch:

Den Arm abhacken im Archiv der Rubrik Medien

 




Der späte Kämpfer


In seinen letzten Tagen im Weißen Haus gibt sich Barack Obama kämpferisch wie nie zuvor in den acht Jahren seiner Präsidentschaft. Einige seiner jüngsten Aktionen wären sogar positiv zu bewerten, läge nicht die Analyse ihres Zeitpunkts und der Ausrichtung den Verdacht nahe, dass der scheidende Präsident nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern aus Revanche-Gelüsten handelt: Er möchte ganz einfach seinem Nachfolger Trump ein paar Schwierigkeiten bereiten. Zudem will er sich nicht als lame duck ohne Befehlsgewalt, als abgehalfterter Pensionär auf Abruf, in den Schlagzeilen wiederfinden. Aber Obama, dem längst die Flügel gestutzt wurden, spreizt die Krallen mit den Schwimmhäuten ziemlich sicher vergebens gegen den Strom – er hat zu lang gewartet.


Lautstarker Abgang


Zunächst aber gab der künftige Ex nochmals den entschlossenen Verteidiger der US-Souveränität gegen alle tatsächlichen, eingebildeten oder erfundenen Feinde des Landes, und zwar standesgemäß per Paukenschlag: Die Obama-Regierung weist 35 russische Diplomaten samt deren Familien aus, als Vergeltung dafür, dass (nach ihrer Lesart) die von der Regierung in Moskau angeordneten Hacker-Angriffe (und nicht etwa das schrullige Wahlsystem der Vereinigten Staaten) für den Sieg Donald Trumps über die Demokratin Hillary Clinton gesorgt hätten. Dabei stützt sich der Präsident der letzten Tage auf Kronzeugen, deren Integrität und Urteilsvermögen kein Mensch mit retrograder Amnesie – ganz im Gegensatz zum Rest der Welt – ernsthaft bezweifeln würde: die US-Geheimdienste.


Auch wenn bislang nichts bewiesen ist – Putin-Bashing aufgrund der Renitenz, mit der sich der Kreml den NATO-Interessen entgegenstellt (nicht etwa wegen des tatsächlich autokratischen Stils der russischen Führung), hat gerade Konjunktur im Westen. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass die Moskauer Führung die Wahl des nächsten Kontrahenten in Washington ein wenig beeinflussen wollte, aber müssten dann die US-Geheimdienste nicht eigentlich stolz auf ihre gelehrigen Schüler sein? Schließlich haben CIA, NSA & Co doch in den letzten Dekaden zur Genüge vorgeführt, wie man die Weltöffentlichkeit belügt, die Medien mit Fakes zumüllt und die Regierungen anderer Länder dirigiert, kauft oder stürzt (Irak, Ukraine als Beispiele aus dem vollen Topf). Wie so oft in den letzten acht Jahren ging Obamas Initiative ins Leere, Putin reagierte elegant mit Sanftmut wie ein nachweihnachtlicher Friedensengel.


 

Irgendwie gewinnt man den Eindruck, Obama reagiere auf den Oberrüpel Donald wie ein trotziger Knabe, der sich dafür rächen will, dass seine beste Schulfreundin nicht zur Klassensprecherin gewählt wurde. Sonst wäre es kaum zu erklären, dass er kurz vor Antritt des bekennenden Guantanamo-Fans Trump ein paar Gefangene freilässt, vermutlich Gärtner, Chauffeure oder Bauern, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren und so zum Beifang der Terroristenhatz wurden. Obama hat sein Wahlversprechen, Guantanamo aufzulösen, nicht eingehalten, und er hat zu wenig dagegen getan, Menschen, die vermutlich grundlos beschuldigt und (zumindest anfangs) gefoltert wurden, aus erniedrigender Haft zu befreien. Wie sich nun zeigt, wäre dies bei viel mehr Gefangenen möglich gewesen. Dass er sie erst jetzt erlöst, scheint nicht einem humanitären Impetus zu entspringen, sondern dem Wunsch, Trump zu ärgern.

   

Ein Freund der Arktis?


Im August 2015 konnte sich die der Shell-Konzern so richtig freuen. Gegen den Rat von Wissenschaftlern und Naturschützern erteilte das US-Innenministerium dem global agierenden Petroleum-Kraken erstmals nach einem Moratorium von 20 Jahren wieder die Erlaubnis, vor Alaskas Küsten nach Erdöl zu bohren und damit das Gleichgewicht eines der sensibelsten Öko-Systeme der Erde zu bedrohen. Anderthalb Jahre später – der Prospektoren-Freund Trump, der aus der Natur auch noch das letzte Quäntchen fossiler Energie herauspressen würde, steht vor dem Einzug ins Weiße Haus – sperrt Obama kurz vor Torschluss die arktischen Gewässer der USA für profitable Umweltzerstörung. Und nun lässt er sein Justizministerium auch den Ölpipeline-Bau in North Dakota durch das Gebiet der Sioux, ein die Wasserversorgung in höchstem Grade gefährdendes Projekt, stoppen.


Isoliert betrachtet, sind diese Entscheidungen richtig; in einem größeren zeitlichen Kontext betrachtet lassen sie indes die Vermutung zu, es werde nur revidiert, dass zunächst die Konzerne bedient worden sei. Als das anfängliche präsidiale Wohlverhalten einen von den Rohstoff-Giganten unterstützten Präsidenten Trump nicht verhindern konnte, fuhr Obama eine späte Retourkutsche. Hätte der Meister der Vorschusslorbeeren (u. a. Friedensnobelpreis ohne Gegenleistung) die arktische See vor Alaska schon früher zur Schutzzone erklärt und die religiösen Gefühle der Sioux wie auch deren berechtigte Furcht vor Naturzerstörung in großem Ausmaß von vornherein berücksichtigt, wäre den Begehrlichkeiten der Wirtschaft  durch solide, gesetzlich wasserdicht gemachte Vorgaben möglicherweise auf Dauer ein Riegel vorgeschoben worden. Was jetzt aber mit der heißen Nadel gestrickt wurde, wird ein Donald Trump, gestützt auf die Mehrheit in den beiden Kammern des Kongresses und demnächst auch auf eine eindeutige rechtslastige Majorität im Supreme Court, wohl rasch zu kippen wissen.


Plötzlich den Siedlungsbau bemerkt


Ähnlich verhält es sich mit der Stimmenthaltung der USA im Weltsicherheitsrat, als Israel mit den 14 Stimmen der anderen Mitgliedsstaaten aufgefordert wurde, sämtliche Siedlungsaktivitäten in palästinensischen Gebieten sofort einzustellen. Seit Jahrzehnten hatte die UN-Vollversammlung die Regierung in Jerusalem immer wieder dafür verurteilt, dass sie große Teile der im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzten Regionen quasi annektierte und dort Wohnanlagen, Dörfer und ganze Städte für Familien aus dem israelischen Kernland errichtete, willkürliche Grenzen zog und den einheimischen Bauern den Zugang zu Wasserressourcen und manchmal zu deren eigenen Feldern verweigerte. Im höchsten UN-Gremium, dem Weltsicherheitsrat, aber hatte die Veto-Macht USA – auch unter einem Präsidenten Obama – stets eine verbindliche Resolution gegen dieses Vorgehen durch ihr kategorisches NO verhindert.


Mittlerweile leben an die 700.000 israelische Siedler als Besatzer ohne jegliche völkerrechtliche Legitimität im Westjordanland, im arabischen Ost-Jerusalem und auf den syrischen Golan-Höhen. Die im amerikanischen Camp David ausgehandelte Zwei-Staaten-Lösung ist dank der Parteinahme Washingtons für die Okkupanten zur Farce verkommen. Und nun, nach acht Jahren Untätigkeit und stillschweigender Duldung, bemerkt Barack Obama plötzlich, dass Unrecht geschieht, und stellt sich erstmals nicht gegen dessen Verurteilung – weil in wenigen Tagen Donald Trump, der sich im Wahlkampf nicht einmal vom antisemitischen Ku-Klux-Klan distanzieren mochte, aber als ausgewiesener Freund der rechtsextremen Netanjahu-Regierung in Israel gilt, sein Amt antreten wird. Man darf argwöhnen, dass dem Präsidenten auf dem Absprung bei dieser Entscheidung das Schicksal eines palästinensischen Volkes ohne lebenswerte Zukunft herzlich egal gewesen sein dürfte.


Politische Handlung als Chance zur Revanche statt zur verantwortlichen Gestaltung – das ist der letzte Eindruck, der von zwei Obama-Amtszeiten bleibt. Selbst höchst notwendige Ansätze wie die Gesundheitsreform wurden durch Indifferenz und bürokratische Unfähigkeit weitgehend zunichte gemacht. Obamacare, die eigentlich dringend notwendige öffentliche Krankenversicherung, erreichte den lächerlich geringen Bestand von zwölf Millionen Mitglieder – und viele von diesen werden demnächst die Prämien für die bezahlbar gedachte, aber inzwischen viel zu teuer gewordene Gesundheitsfürsorge nicht mehr bezahlen können. Es wird ein Kinderspiel für Trump werden, dieses Hauptprojekt seines Vorgängers ohne größere Widerstände zu liquidieren.


Barack Obama wird als Präsident für die Galerie, als glänzender Rhetoriker ohne die notwendige Gestaltungskraft, in die Annalen eingehen. Sein „Yes we can!“ verklingt, ebenso wie das deutsche Gegenstück „Wir schaffen das!“,  als sympathischer Aufruf, der weder mit substantiellem Engagement noch mit sozialer Planung unterfüttert war. Dass er zuletzt einige richtige Entscheidungen (aus fragwürdigen Gründen) traf, kam viel zu spät.


Immerhin hat Obama keinen eigenen Krieg angefangen. Wir können nur verzweifelt hoffen, dass sich das von Trump dereinst auch sagen lässt.    

01/2017




2016 




Ein Trump der Tat


Sollte sich alles, was der bekennende Rassist, Sexist und Ultra-Nationalist Donald Trump im Wahlkampf angekündigt hat, eins zu eins umsetzen lassen, dürfen wir mit einer Supermacht rechnen, auf deren Territorium Arme verhungern, gutbewaffnete weiße Milizen auf den Straßen für Recht, Ordnung und Leichen sorgen, Latinos und Muslims außer Landes geschafft werden und Oligarchen mit Militarismus-Faible über Krieg und Frieden entscheiden. Doch während viele noch glauben, dass Trumps Gegeifer nicht so heiß geschluckt werden muss (Pardon!), wie es abgesondert wurde, schafft Rodrigo Roa Duterte auf den Philippinen bereits in einem Maße blutige Tatsachen, wie es sich selbst der künftige US-Präsident kaum vorstellen kann.


Krieg gegen das (kleine) Verbrechen


Dass Donald Trump seinen wirren und gleichzeitig gefährlichen Worten zumindest ansatzweise ebensolche Taten folgen lassen will, hat er mit der Benennung seiner künftigen Kabinettsmitglieder bereits angedeutet (davon demnächst auf dieser Homepage). Dennoch wirkt der designierte US-Präsident im Vergleich zu dem philippinischen Machthaber wie ein zögerlicher Schüler, der durch brutale Rache-Epen wie Dirty Harry und Ein Mann sieht rot“ justiz- und sicherheitspolitisch sozialisiert wurde, während Duterte über solche Vorbilder weit hinausgeht und ohne besonderen Anlass Massaker in den Slums anordnet.


Bereits als Bürgermeister von Davao City auf Mindanao hatte Duterte die Straßen der Stadt säubern lassen, also mehr als tausend unterprivilegierte Jugendliche, die sich Gangs angeschlossen hatten, eltern- und obdachlose Kinder sowie – welch für ihn glückliche Fügung! – Mitglieder der linken Oppositionspartei Akbayan den Todesschwadronen zur Hinrichtung ausgeliefert. Im Wahlkampf um die Staatspräsidentschaft kündigte er zur Freude seiner um die öffentliche Sicherheit besorgten Anhänger an, er werde das ganze Land in einem Blutbad reinigen. Bis zu hunderttausend Kriminelle werde er töten lassen, zugleich bestätigte er Verbindungen zu den Todesschwadronen, jener aus Lateinamerika bekannten Pest, die an SS und Gestapo erinnert und mit der nicht einmal hartgesottene Diktatoren bislang öffentlich in Verbindung gebracht werden wollten.


Gerüchte kolportierten damals, Duterte habe als Bürgermeister von Davao City eigenhändig einen Delinquenten erschossen. Duterte, hier wieder ganz der Trump-Wiedergänger, wenn auch von höherer Durchschlagskraft, gab das Verbrechen unlängst nicht nur zu, er setzte noch eins drauf: "Nicht einen - es waren mindestens drei … Ich tat es persönlich. Einfach um den Polizisten zu zeigen: Wenn ich es tun kann - wieso könnt ihr es nicht? Ich bin mit einem schweren Motorrad herumgefahren auf der Suche nach Ärger, um jemanden töten zu können."


Bezeichnend für den Vernichtungsfeldzug, mit dem manche Politiker die Laster der Armut ausmerzen wollen, ist auch in diesem Fall, dass sich der Krieg des gewählten Gewaltherrschers und Milliardärs (weltweit Nr. 70 auf der Forbes-Liste) gegen die Bagatell-Kriminellen, Süchtigen, Kleindealer und die Straßenkinder in den Elendsvierteln richtet, während die Herren des Drogenhandels, längst als Wirtschaftsgrößen in das System integriert, anonym und „unbescholten“ bleiben.


Ein Jurist gegen das Gesetz


Dutertes und Trumps Gedanken und Absichten gehen in dieselbe Richtung, nur hat der Südostasiat bereits gehandelt, während der US-Milliardär nur von der Tat schwadroniert, etwa als er prahlte, die Leute würden ihn auch wählen, wenn er jemanden umbrächte. Der philippinische Präsident, einst Anwalt und Ankläger, ein Jurist, dem mittlerweile erklärtermaßen Recht und Gesetz egal sind, bricht noch ganz andere Tabus als Trump: Hitler habe drei Millionen Juden umgebracht, erklärte der (nummerisch falsch informierte) Duterte, er selbst würde gern ebenso viele Drogensüchtige töten.


Er hat schon angefangen. Seit seinem Amtsantritt im Mai 2016 wurden 2000 Menschen von der Polizei erschossen, weitere 3000 fielen den Todesschwadronen zum Opfer. Den amtierenden US-Präsidenten Obama und Papst Franziskus, die ihn beide deshalb zur Mäßigung gemahnt hatten, nannte er Hurensöhne. Die Vereinten Nationen wollten einen Beobachter entsenden, Duterte ließ ihn nicht ins Land. Als sich die EU darob entrüstet  äußerte, entgegnete er nur kurz angebunden:“Fuck you!“


Selbst bei seinen Verbal-Entgleisungen übertrumpft Duterte seinen künftigen US-Kollegen spielend. Wo der darüber phantasierte, als Macho-Star alle Frauen haben und ihnen in den Intimbereich tatschen zu können, scherzte das einstige Stadtoberhaupt von Davao City einst nach der Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer australischen Missionarin, er bedauere, als Bürgermeister nicht als erster rangelassen worden zu sein, da das Opfer gut ausgesehen habe. Da muss man selbst den kranken Männlichkeitswahn Trumps relativieren: Zu solchen Auswüchsen verbaler Bestialität hat er sich nicht verstiegen.


Beiden Chauvinisten gereichen asoziale Äußerungen generell nicht zum Schaden, und Duterte erhält sogar breite Zustimmung aus der Mittelschicht für seine Ausrottungspläne. Saubere Viertel, sichere Häuser, Schutz vor den Armen – so sieht der Traum der Philippinos, die etwas zu verlieren haben, aus. Doch das Erwachen in einer Friedhofsruhe wird fürchterlich für sie werden. Denn die Entfesselung der Brutalität durch die Exekutive im Verbund mit dem paramilitärischen Gangstertum bleibt nicht auf die sozialen Außenseiter und ein paar linke Widerständler beschränkt. Via Denunziation, Intrigen und Kampagnen gegen Andersdenkende geraten bald andere Bürger ins Visier: Verwandte und Bekannte der Opfer, Freunde auf der Suche nach der Wahrheit, missliebige Nachbarn, Rechtsanwälte (denen hat Duterte schon mit Eliminierung gedroht), Journalisten und Oppositionspolitiker. Im Pazifik könnte, gestützt auf den Terror der „Sicherheitsorgane“ und mittels der Verfolgung nicht „kompatibler“ Bevölkerungsteile, ein faschistisches Regime entstehen.


Ein wenig Duterte für Pegida-Anhänger


Sieht man von einigen milden Rügen ab, lässt die westliche Wertegemeinschaft, in unbotmäßigen Staaten sonst stets um Menschenrechte besorgt, Duterte gewähren. Immerhin ist der Mann, der – lässt man seinen angekündigten Amoklauf außer Acht - ohne nennenswertes Programm Präsident wurde, kein linker Gegner des internationalen Freihandelsdiktats, sondern ein Caudillo, der nur innerhalb der Grenzen seines Landes als Schlächter auftritt. Und schließlich benötigt man die Philippinen, um in Südostasien eine militär- und wirtschaftsstrategische Front gegen die Volksrepublik China aufzubauen. 


Dass Dutertes Beispiel von den immer stärker werdenden Neofaschisten in den eigenen Ländern zumindest in abgeschwächter Form aufgegriffen werden könnte, fürchten die Auguren in den Think Tanks, die weder einen Brexit noch einen Trump oder zunehmend autoritäre Regimes in Polen und Ungarn prognostiziert haben, in all ihrer abgeklärten Weitsicht offenbar nicht.

  

Frauke Petry und Beatrix von Storch, die beiden Galionsdamen der AfD, haben den Wahlsieg Trumps in den USA lautstark begrüßt. In Europa koalieren sie wiederum mit Kräften, die in ihrer Rechtsradikalität die nächste Administration in Washington bei weitem übertreffen. Auch Anhänger der verbündeten Pegida-Bewegung hierzulande tendieren zumindest klammheimlich bereits in Richtung Duterte. Der starke Mann, der ohne Rücksicht auf Verluste aufräumt, gehört zu den Wunschvorstellungen der Nationalpopulisten.


Wer solche zarten Bande für unrealistisch hält und mir eine allzu düstere Wahrnehmung unterstellt, dem rate ich, in einer Kleinstadtkneipe oder bei lauem Wetter in einem idyllischen Biergarten den Gesprächen am Nachbartisch zuzuhören, wenn ganz normal besorgte Bürger Rauschgiftsüchtige, die „nur unser Geld kosten“, am liebsten „verrecken“ lassen würden (wobei manchmal sogar als Weiterung eine sozialverträgliche Lösung für schwerbehinderte Menschen erwogen wird) und sich nach dem Volkstribun, der für Ordnung sorgt, sehnen. Da wird mal Strauß genannt, aber auch noch ganz andere Persönlichkeiten aus der deutschen Geschichte kommen ins Spiel, vor deren schrecklicher Prominenz sich selbst ein Rodrigo Duterte wie ein Lehrling ausnimmt.

12/2016

Dazu auch:    

J.R. FOR PRESIDENT in der Rubrik Helden unserer Zeit    




 

Zwei Präsidenten


In den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik wurde kürzlich gewählt. Während in den USA alle Bürger abstimmen durften (wenngleich fast die Hälfte nicht wollte), fand das Votum in Deutschland in den Führungsgremien von CDU, CDU und SPD statt, von drei Volksparteien also, denen allmählich das Volk abhandenkommt. Die Nordamerikaner werden nächstes Jahr einen grellen, inkorrekten und cholerischen Präsidenten haben, die Deutschen ein seriös wirkendes Staatsoberhaupt, dessen ruhiger, sonorer Stimme sie glauben können – wie ihre Kinder dem Sandmännchen. Größtmögliche Gegensätze, möchte man glauben, aber so ganz integer wirkt auch der Berliner Bundeschef in spe bei näherem Hinsehen nicht.


Gefährlich oder nicht – den Börsen ist es egal


Kein Zweifel, der Wahlausgang in den USA schockierte viele Menschen in aller Welt, die Vorfestlegung auf den nächsten deutschen Bundespräsidenten hingegen inspirierte allenfalls ein paar Edelfedern der bürgerlichen Presse zu müden Kommentaren und belanglosen Kurz-Biographien – zu krass unterscheiden sich beide Entscheidungen in ihrer globalen Bedeutung voneinander. Und auch die Wahrnehmung beider Kandidaten bemisst sich in diametral entgegengesetzten Ausschlägen der öffentlichen Betroffenheit: Donald Trump erschreckt die Menschen oder putscht sie auf, Frank Walter Steinmeier schläfert sie ein.


Ein ganzes Heer von Polit-Spekulanten, Trump-Astrologen, Horror-Visionären oder Beschwichtigern interpretieren und bewerten nun jeden Rülpser, den der nächste US-Präsident im Wahlkampf getan hat und in der Zeit bis zum Amtsantritt noch entweichen lassen wird. Schon jetzt ist klar, dass er mittlerweile nüchtern genug ist, um einige besonders krude Aussagen und Ankündigungen zu relativieren, dass er aber andere (kaum minder gefährliche), gestützt auf die republikanische Mehrheit im Kongress, realisieren will. Er wird Hillary Clinton nicht ins Gefängnis schicken, vermutlich überlegt er sich den Einsatz von Atomwaffen auch reiflich (und wenn nicht, werden ihn die Geheimdienste wohl zu stoppen wissen), und die bereits vorhandenen kümmerlichen Bruchstücke der staatlichen Gesundheitsreform („Obama-Care“) wird er auch nicht alle entsorgen, wie er kurz nach der Wahl bereits andeutete.


Aber: Trump kann in den nächsten Jahren erzkonservative Bundesrichter auf Lebenszeit für den Supreme Court ernennen, was die Rechte von Frauen, Homosexuellen und ethnischen Minderheiten erheblich einschränken wird (auch weil bisherigen Urteile kassiert werden dürften). Er wird die dürftigen Sozialprogramme der USA noch weiter zusammenstreichen und damit riskieren, dass sich die Armut in den Großstädten noch weiter dem Elend in den unterentwickelten Staaten der Tropen angleicht. Er stellt die Normalisierung der Beziehungen zu Kuba in Frage und will das Atomabkommen mit dem Iran kündigen, was Israel zu einem „präventiven Erstschlag“ und Saudi-Arabien zu weiteren Interventionen gegen Teherans Verbündete ermutigen könnte. Bleibt zu hoffen, dass Freund Putin, der ihm im despotischen Gehabe ähnelt, aber außenpolitisch ungleich erfahrener agiert, Trump diesen extrem beunruhigenden Unsinn ausredet. Vermutlich werden die US-Bürger auch bald keine frischen Früchte mehr neben ihrem Junkfood auf dem Teller haben, da Mighty Donald ja alle illegalen Zuwanderer aus Lateinamerika, mithin die unterbezahlten Obstpflücker und Erntearbeiter auf den Plantagen und Farmen der pazifischen Bundesstaaten, sofort ausweisen möchte.


Scheinbar neigt Trump im Syrien-Krieg und in der Ukraine-Krise einem vernünftigeren Kurs zu als sein Vorgänger, aber so genau weiß das bei einem egomanischen Hysteriker niemand. Gewiss ist auch die angekündigte Abriegelung der USA im Süden nicht. Deutsche Baukonzerne sollten sich jedenfalls noch keine zu großen Hoffnungen bezüglich Aufträgen für die Mauerziehung zwischen Mexiko und den USA machen, zumal sie gegen ein Diktat Build American! nicht einmal wegen Benachteiligung bei der Ausschreibung klagen könnten, weil TTIP samt ominöser Schiedsgerichte auf Eis gelegt wird. Nur VW dürfte traurig sein, dass die Abgas-Betrügereien zu früh aufgedeckt und geahndet wurden, sind Klimawandel und Umweltverschmutzung für den bedenkenlosen Gewinn-Maximierer doch lauter Schimären.


In noch nicht allzu lange zurückliegenden Zeiten war das Wort spannend das Schlüsselwort für alle sinnlichen und intellektuellen Eindrücke, die man nicht näher beschreiben konnte oder wollte. Der Psychiater empfand die Neurosen seines Patienten als ebenso spannend wie der Regisseur die Macken seiner Hauptdarstellerin, der Star einen Auftritt in einer öden Show oder der Kunstbeflissene eine absolut unverständliche Performance. Angesichts des Rätselratens um Trumps nächste Schritte könnte man jetzt wieder von einer spannenden Zeit reden, nur wäre der Terminus diesmal nicht mit Assoziationen von unterhaltsamer Ambivalenz, sondern mit solchen von Besorgnis und Bangen besetzt. Die Intensität dieser Spannung lässt sich scheinbar nur an einer Skala von Ängsten und Befürchtungen ablesen.


Aber so schlimm kann es doch gar nicht kommen: Nach einem Halbtages-Tief stiegen die internationalen Börsenkurse wieder in ordentliche Höhen, und der Euro wurde gegenüber dem Dollar immer schwächer. Die Großkonzerne und die Finanzmärkte wissen etwas ganz genau, das dem SPIEGEL entgangen war, als er Trumps Wahlsieg mit einer "Revolution" verglich: Eine soziale Umwälzung wird nicht stattfinden. Was reich und mächtig ist, wird reich und mächtig bleiben, nur werden sich die Akzente verschieben. Der Mann, den die weiße Arbeiterschaft und der weiße Mittelstand ins Amt wählten, um gegen ein kalt-elitäres Establishment anzugehen, gehört selbst dem Establishment an, nur einer anderen Fraktion.

     

Im Hintergrund gezündelt


Da unterscheidet sich Donald Trump tatsächlich gar nicht so sehr von Frank Walter Steinmeier, der zwar nicht richtig reich ist, aber – obwohl er als Sozialdemokrat der Sage nach auf der anderen Seite der Barrikade stehen müsste – dem Establishment in allen Funktionen treu gedient hat. Wer diese Behauptung für überzogen hält, sollte auf die Kanzlerin hören, die Steinmeiers Persönlichkeit einfühlsam würdigte: Er sei  ein "Mann der politischen Mitte", der „ in Wirtschaft und Gesellschaft sowie im In- und Ausland“ geachtet werde. Man beachte die diffizile (und ehrlich empfundene) Prioritätensetzung, in der die Wirtschaft zuerst kommt, dann erst die Bevölkerung und schließlich der Rest der Welt. So gehört es sich in einer Regierung, deren Finanzminister Autobahnen privatisieren will, um Banken, Versicherungen und Großaktionären in der Niedrig-Zins-Phase ordentliche Renditen auf Kosten der motorisierten Steuerzahler zu verschaffen.


Nun ist ja Steinmeier kein Lautsprecher wie Trump, sondern eher ein stilles Wasser, dessen heikle Zersetzungsarbeit stets im Tiefen und Trüben gründete. Als Kanzleramtschef des großen Zampano Gerhard Schröder sorgte er unauffällig, aber effektiv dafür, dass mittels der Agenda 2010 und der Abschaffung der Vermögenssteuer ein beispielloser Sozialabbau die Zustimmung der rot-grünen Koalitionsparteien fand. In derselben Funktion agierte Steinmeier auch als Koordinator der Geheimdienste und wies den BND an, im Irak die Bombenziele für Bushs „Allianz der Willigen“ auszuspähen – obwohl sich die Bundesregierung offiziell doch damit brüstete, Deutschland aus der verhängnisvollen Invasion herauszuhalten. Schon zuvor hatte er – noch als Staatssekretär – 1999 mitgeholfen, die Rädchen des Systems so gründlich zu ölen, dass die Bundesrepublik wie geschmiert und ziemlich geräuschlos als Akteur in den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Rest-Jugoslawien glitt.


Der Außenminister Steinmeier arbeitete emsig für die alle früheren Absprachen mit der GUS und Russland obsolet machende NATO-Osterweiterung, schürte die Ukraine-Krise bis zum Putsch sowie zum Sezessionskrieg im Osten des Landes und ruderte erst zurück, als er die Geister, die er gerufen, nicht mehr loswurde, mahnte nun plötzlich besonnen, man dürfe Moskau nicht mit „Säbelrasseln“ verschrecken. Über die gedeihliche Zusammenarbeit in Sachen Global-Bespitzelung der NSA mit dem BND wusste der ehemalige Geheimdienst-Beauftragte (vermutlich) alles, sagte vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages aber (wohlweislich) nichts.


Vom Glück, nichts zu sagen zu haben


In BILD, seit geraumer Zeit Verlautbarungsblatt der deutschen Sozialdemokratie, sagte Steinmeier nach seiner Ausrufung zum Gauck-Nachfolger: "Wer mich kennt, weiß, dass ich es mir nie einfach gemacht habe, sondern immer auch unbequeme Dinge sage, für die es in der Öffentlichkeit keinen Applaus gibt.“ Dieses kecke Statement lässt mehrere Deutungen zu, was er wohl unter unbequem versteht, und reizt zu mehreren Nachfragen:


- Fand es Frank Walter Steinmeier „unbequem“, ja geradezu enervierend, seinen Mitarbeitern im Auswärtigen Amt sagen zu müssen, sie sollten eine Distanzierung von der Resolution des Bundestages zum Völkermord an den Armeniern formulieren?

- Sicherlich fand er es nicht kommod, Mevlüt Cavusoglu an Verstöße gegen die Meinungsfreiheit, Massenverhaftungen und ähnliche Lappalien zu erinnern - allerdings erst als Retourkutsche, nachdem ihn der türkische Außenminister wie einen Schulbuben abgekanzelt hatte. Zuvor hatte Steinmeier davon gesäuselt, dass Europa die Türkei brauche; schließlich will man den inhumanen Flüchtlingspakt mit Ankara nicht platzen lassen.

Unbequem könnte es freilich werden, wenn der designierte Bundespräsident die eigenen Machenschaften in Schröders und Merkels Dienst ansprechen sollte. Aber – wie schon gesagt – Herr Steinmeier ist keine Dreckschleuder wie Mr. Trump (auch nicht in eigener Sache), vermutlich, weil er nicht dessen Fähigkeit besitzt, aus Blödsinn und Gülle Kraft und Erfolg zu ziehen.


In einem aber wird Frank Walter Steinmeier spätestens nach seiner Wahl im Februar durch die Bundesversammlung einem Donald Trump weit voraus sein: Als Präsident aller Deutschen darf er zwar repräsentieren, aber er kann national und weltpolitisch keinen Unfug mehr anrichten und keine folgenschweren Intrigen mehr spinnen.

11/2016

Dazu auch:

Markt-Frank, Kriegs-Niko im Archiv der Rubrik Medien   

 

 

    

Das rote Entlein


Ein trostreiches Märchen handelt von einem vermeintlichen Entenküken, das aufgrund seiner abnormen Größe und abweichenden Aussehens von den geflügelten Geschwistern und der Mama als hässlich, irgendwie degeneriert, diskriminiert wird. Eines Tages aber benutzt der komische Vogel die Teichoberfläche als Spiegel und erkennt, dass er sich in einen wunderschönen Schwan verwandelt hat. Eine solche Metamorphose möchte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow auch anbahnen, sich sozusagen aus der linken Schmuddelecke in die prächtigen Salons des Biederbürgertums beamen, wo Union, SPD und Grüne bereits zu Tische sitzen. Wenn das nur nicht einigen aus der eigenen Partei wie eine allzu schnelle Integration in ein anrüchiges Milieu vorkommt…


Galoppierende Sozialdemokratisierung


Was ist nur in den sonst so unscheinbar netten Thüringer Ministerpräsidenten gefahren? Ohne Not erklärte Ramelow ausgerechnet der Passauer Neuen Presse, dem einstigen Leib- und Magenblatt von Franz Josef Strauß, er sähe den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert gern als nächstes Staatsoberhaupt. „Wenn er bereit wäre zu kandidieren“, sagte der Linken-Politiker, würde ihn persönlich das freuen.


Nun möchte die Linke schon seit geraumer Zeit das Negativ-Image der SED-Nachfolgeorganisation loswerden. Große Teile der Partei üben sich in einer Art von schleichender Sozialdemokratisierung; als Juniorpartner in Koalitionsregierungen (Berlin, Brandenburg, Meck-Pomm) haben die Genossen auch die reaktionärsten – von der SPD initiierten – Beschlüsse, ging es nun um die Förderung dreckiger Braunkohle oder unsozialen Personalabbau, geschluckt und brav vertreten. Ramelow aber wagt sich  einen Schritt weiter vor: Während sich die Parteien, die ein wenig links von der Union und der AFD einzuordnen sind, noch überlegen, ob sie sich nicht auf einen Nachfolge-Kandidaten für den scheidenden Bundespastor Gauck einigen können (Margot Käßmann, vor allem durch tränenreiche Reue nach einer beschwingten Alkoholfahrt für das hohe Amt qualifiziert, hat leider bereits abgesagt.), schert der Thüringer Landesfürst aus, überholt sogar die SPD rechts (Ja, auch das ist möglich!), biedert sich bei der CDU an und schielt dabei auf jene schweigende Mehrheit im Lande, von der er dennoch bis zum Lebensende für eine rote Socke gehalten und niemals auch nur eine Stimme bekommen wird. Mehr Gesinnungswandel war selten…


Nun wäre Norbert Lammert in seiner spröden Art nach dem überall seinen staatstragenden Senf dazugebenden Joachim Gauck, der die Bundeswehr am liebsten in den Schützengräben aller erreichbaren Krisengebiete gesehen hätte, tatsächlich eine Erholung. Aber reicht ein bisschen trockener Humor für das Amt des Nationalen Showmasters mit den kleinen Kompetenzen? Zumal dieser potentielle Kandidat einer Partei angehört, die sich mehrheitlich langsam, aber sicher in die ockerfarbenen Niederungen des völkischen Ressentiments begibt, um der AFD-Konkurrenz das Wasser abzugraben.

   

Der Mann ohne Eigenschaften


Für einen altgedienten Unionspolitiker hat Norbert Lammert erstaunlich wenig Dreck am Stecken; was nicht heißt, dass seine Vergangenheit wie eine blütenweiße, in Liebe für Demokratie und Meinungsfreiheit gewaschene Weste daherkäme.


Im August 2007 leitete Lammert Strafanzeigen gegen Journalisten und die dazu gehörenden Strafverfolgungsermächtigungen an die Staatsanwaltschaften in Berlin, Frankfurt, Hamburg und München weiter. Die schriftlichen Bedenken von Max Stadler (FDP) und Siegfried Kauder (CDU), die Pressefreiheit könne eingeschränkt werden, die mit versandt werden sollten, unterschlug er nonchalant. Es war um die Veröffentlichung angeblich geheimer Akten aus dem Bundestagsausschuss zur Untersuchung der Bespitzelung von Journalisten durch den BND gegangen. Lammert war offenbar der Meinung gewesen, es gehe nicht an, die Öffentlichkeit über Lauschangriffe eines Geheimdienstes auf die sogenannte Vierte Gewalt, die Medien, zu informieren. Was die Schlapphüte tun, muss geheim bleiben – und wenn es die demokratische Kontrolle kostet!


Ein Jahr zuvor hatte Lammert weniger rasch aus der Hüfte geschossen: Am 10. März 2006 entschied der Bundestagspräsident trotz harscher Kritik, die veröffentlichungspflichtigen Angaben der Abgeordneten zu Nebentätigkeiten und Zusatzeinnahmen nicht sofort zu publizieren. Er holte dies dann am 5. Juli nach, als Deutschland im Urlaub weilte. Auch um den „Qualitätsverfall im Fernsehen“ machte sich Lammert Sorgen und stellte gleich das ganze System der staatlichen Rundfunkgebühren (GEZ) in Frage. Vermutlich wollte der hochrangige TV-Kritiker den Vorreitern intellektueller Unterhaltung und kritischer Recherche wie RTLSat 1 oder Pro 7 die lästigen öffentlich-rechtlichen Hürden aus dem Weg zur Marktbeherrschung räumen.


Aber sonst? Ein paar launige Sottisen während dröger Bundestagsdebatten, eine Ernennung zum „Botschafter des deutschen Biers“ durch den Deutschen Brauer-Bund , ein paar „vermeidbare Zitierfehler“ in der Doktorarbeit oder eine philosophische Bestandsaufnahme („Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht.“) – mehr Substanzielles ist kaum zu vermelden. Einmal unterlief Lammert allerdings eine kleine Fehleinschätzung: „Das Parlament ist (...) nicht Vollzugsorgan der Bundesregierung, sondern umgekehrt ist Auftraggeber.“ Moment mal, Herr Lammert, hier werden nur Gaul und Zaumzeug genannt, der Reiter (die Wirtschaft) bleibt außen vor.


Für Bodo Rammelow, der so gern mit den Kindern aus der Oberstadt spielen möchte, statt sich immer mit den roten Schmuddelkindern balgen zu müssen, genügt dies, um Lammert in die Bütt zu hieven und dabei vielleicht ein bisschen Akzeptanz zu erheischen. Aber es droht Ungemach. Um bei Hans Christan Andersens märchenhaftem Tierleben zu bleiben: Manchmal machen auch die von Ramelow bewunderten Schwäne eine Metamorphose durch und entpuppen sich als kriegslüsterne Falken und gierige Heuschrecken – oder zumindest als deren politische Helfershelfer.

10/2016

Dazu auch:   

Geh mit Gott! und Uli, mach du es! im Archiv dieser Rubrik






Glorreiche Rabulisten 


Diesmal haben sich gleich zwei bemerkenswerte Persönlichkeiten der deutschen Politik  ins Rampenlicht dieser Rubrik gedrängt: Da ist einmal Andreas Scheuer, der als Generalsekretär der ohnehin schon radikalen Anti-Flüchtlingspartei CSU fein austariert den bad boy in Sachen Zuwanderung gibt; und da spielt sich wieder einmal der wirtschaftsfromme Sigmar Gabriel in den Vordergrund, indem er die SPD nach einem Scheingefecht auf neoliberalem Kurs hält, um nicht als gefallener Erzengel des Freihandels in die Kurzzeit-Annalen seiner wild entschlossen prinzipienlosen Partei einzugehen.


Bloß keine Integration!


Es handelt sich beim Wirken unserer beiden Protagonisten um eine Art Arbeitsteilung, allerdings nicht im Sinne des modernen Produktionsprozesses, sondern zum Behuf der Erhaltung von Macht oder zumindest Einfluss. Der Machiavelli zugeschriebene lateinische Merksatz divide et impera! darf angesichts der immensen Bedeutung der Fußballsprache für unser tägliches Leben mit Täusch links an und geh rechts vorbei!  oder im taktischen Polit-Sprech mit Diskutiert mal schön und macht dann, was ich will! übersetzt werden.


Für die Umsetzung der ersten Version ist Andreas Scheuer, in einer langen Reihe illustrer CSU-Generalsekretäre wohl der unbedarfteste (Und das heißt bei einem Vorgänger wie Alexander Dobrindt schon einiges!), zuständig. Die zweite Variante ließ Sigmar Gabriel auf dem Parteikonvent der SPD in Sachen CETA mit beeindruckendem Erfolg durchspielen.


Natürlich wollen wir dem Scheuers Anderl keine linke Finte unterstellen (da das rechte Überholen zu seinen Aufgaben gehört). Dafür war die Kanzlerin zuständig, als sie den nach Deutschland strömenden Flüchtlingen einen Willkommensgruß entbot, an dessen Worten sie trotz immer stärker werdender Kritik aus den Reihen der CSU starrköpfig festhielt, ohne irgendwelche Taten folgen zu lassen. Seehofer, Söder & Co. mochten noch so wortmächtig gegen die undeutsche Toleranz polemisieren und inbrünstig (einseitige) Integrationspflichten sowie germanische Leitkulturen beschwören, Pegida und die AFD setzten immer noch eins drauf.


Als die CDU bei jeder Landtagswahl mehr Stimmen an die Rechtspopulisten verlor, begann auch Gottes eigene Partei in Bayern um ihre künftige absolute Mehrheit zu bangen. Da ging Scheuer mit einer neuen Strategie im Presseclub Regensburg an die rhetorische Front. Genauso fremdenfeindlich wie die AFD sollte man argumentieren, aber nicht so verbissen, sondern mit urwüchsigem Humor, wie ihn der Bajuware an sich liebt:


"Entschuldigen's die Sprache, das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Sengalese, der über drei Jahre da ist - weil den wirst Du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern der ist Wirtschaftsflüchtling"


Das brachte zwar Schelte von ein paar Bischöfen und großkopferten Humanduslern sowie die eine oder andere milde Rüge von Seiten abgehalfterter CSU-Granden wie Alois Glück und Theo Waigel ein, erfüllte aber seinen Zweck, denn der von Zugereisten geängstigte Urbayer klopfte sich auf die Schenkel und raunte am Stammtisch: „Der Scheuer, der is scho a Hund; aber Recht hat er.“ Denn auch wenn der junge Senegalese, dessen Existenz und Zukunft möglicherweise gerade durch die erpresserische deutsche Freihandelspolitik zerstört wurde, zwei der wichtigsten Kriterien des Freistaats erfüllt, indem er sich für den FC Bayern empfiehlt und kostümiert in der katholischen Messe herumscharwenzelt, muss klar sein: Einen armen Neger wollen wir einfach nicht bei uns integrieren; einen Chefarzt aus Indien oder Malaysia, der am besten noch ein paar Millionen Privatvermögen mitbringt, vielleicht schon, aber doch nicht jeden hergelaufenen Elendsflüchtling!


So holt man sich die Stimmen von der AFD zurück, auch wenn man sich ein wenig moralisches Gemaule anhören muss! Scheuer hat seine Rolle für die CSU glänzend gespielt  (profitieren werden andere davon). Vielleicht reicht es in seinem Hirn nicht zu jenem berechnenden Kalkül, das einen bayerischen Ministerpräsident auszeichnet, an Bauerschläue indes mangelt es ihm nicht.


Schön, dass wir darüber geredet haben...


Alles stand fest, war von der Parteispitze so schön einvernehmlich mit der Wirtschaft abgesprochen, und dann erhob die doofe Basis ihre widersetzliche Stimme, zunächst gegen TTIP, dann gegen CETA. Sigmar Gabriel, der das Gras wachsen hört, ohne jemals die Heuernte einbringen zu können, rückte darob clever ein wenig vom Freihandelsabkommen mit den USA ab, um dem mit Kanada, das etwas weniger nach Souveränitätsbruch klingt, aber jede nationale Politik gegen die Allmacht der Multis gleichwohl aushebelt und TTIP durch die Hintertür einlässt, seine volle Liebe schenken zu können.


Die aus der Sicht stromlinienförmiger Genossen ewig-gestrigen Sozialdemokraten mit einem halblinken Bewusstsein, ob Jusos, Mitglieder der  Grundwertekommission oder Delegierte einiger Landesverbände, löckten dennoch uneinsichtig wider den CETA-Stachel, worauf  Gabriel sie ausgiebig reden ließ und anschließend die Opportunitätsfrage stellte: Wollt ihr mich beschädigen, auf dass ein anderer die Schmach der Niederlage bei der nächsten Bundestagswahl auf sich nähme? Das wollten freilich die Wenigsten, und so stimmten zwei Drittel der Konventsbrüder und –schwestern der gemächlichen Ratifizierung von CETA zu. Worauf Gabriel, der zwar zu allem und jedem und auch zu nichts etwas zu sagen weiß, bis vor kurzem aber jede Freihandelsdiskussion in der SPD abgewürgt hatte, nun keck erklärte, im Gegensatz zu den anderen Parteien hätten die Sozialdemokraten die Abschaffung des europäischen Rechtsstaatsprinzips offen diskutiert. Er hofft dabei wiederum darauf, dass dem kurzen Gedächtnis der Öffentlichkeit seine Versuche, alle Freihandelsabkommen ohne Aufsehen und Erörterung durchzuwinken, bereits entglitten sind.


Die SPD ähnelt den Burgunden, die Hagen von Tronje (modernes Pendant: Sigmar Gabriel) ins Verderben folgten, obwohl ihnen doch das Desaster bereits vorhergesagt war. Der Unterschied zwischen den beiden tragenden Gestalten der deutschen Geschichte ist, dass Hagen nach dem Untergang seiner Genossen eisern über den Verbleib des Nibelungenschatzes schwieg, während Gabriel gar nicht wüsste, über welche Werte er schweigen könnte und schon deshalb pausenlos redet. Auch muss der ewig erfolglose Kandidat nach dem nächsten (finalen) Flop, sprich: der Bundestagswahl 2017,  nicht wie Hagen fürchten, von irgendeiner Kriemhild enthauptet zu werden oder zumindest für den Rest seines Lebens am Hungertuch zu nagen: Ein paar Brosamen vom Tisch seiner Freunde in der Wirtschaft sind ihm nach dem Ende seiner politischen Karriere sicher; vorsichtshalber wird man den Hofnarren als Berater deklarieren; vielleicht bei EDEKA?


Und der Unterschied zwischen den beiden Selbst- und Hauptdarstellern unseres kleinen Parteienvergleichs? Während ein Andreas Scheuer als Mann fürs Grobe dem Volk immer dann aufs Maul schaut, wenn es sich gerade übergibt, und so die rechte Flanke Seehofers sichert, indem er Erbrochenes zu Klartext recyceltreüssiert Sigmar Gabriel als Strippenzieher, der seine Genossen ein wenig für die linke Galerie diskutieren lässt und danach so gewitzt und so erfolgreich im Sinne der internationalen Konzerne taktiert, bis auch der letzte Gutgläubige der SPD jegliche Glaubwürdigkeit abspricht.

09/2016

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Bad Man Gabriel im Archiv dieser Rubrik

Der letzte Strohhalm in der Rubrik Politik und Abgrund

  

         

 


Uli, mach du es!


Viel muss ein Bundespräsident eigentlich nicht tun. Er darf ab und zu ein paar Gesetze unterzeichnen, sollte Deutschland würdig im Ausland repräsentieren und kann – wenn er Gauck heißt – auf der Münchner Sicherheitskonferenz seine Landsleute auf militärische Abenteuer einschwören. Da der Pastor sich aufs Altenteil zurückzieht, sind die Parteien derzeit in eine schlaffe Nachfolgediskussion verstrickt. CDU-Lammert wird als Kandidat gehandelt (wohl weil man aus seinem derzeitigen Titel nur das tags streichen müsste), der grüne Realo-Rechtsaußen Kretschmann desgleichen, und von der SPD wird der seiner eigenen Intrigen müde Außenminister Steinmeier ins Spiel gebracht. Wir hätten da einen ganz anderen – selbstredend mehrheitsfähigen – Vorschlag.


Erfolg und Engagement


Vom Oberdeutschen erwarten seine Landleute, dass er etwas darstellt, sie wollen sich schließlich nicht von einem tumben Tor international vertreten lassen (obwohl das auch schon der Fall war, ich sage nur: Lübke). Der Präsident sollte populär sein (wie Günther Jauch) und schon etwas im Leben geleistet haben (wie der Franz Beckenbauer, Gewinner und Käufer von Weltmeisterschaften in bestechender Form). Wer dächte angesichts solcher Anforderungen nicht an Uli Hoeneß? Niemand? Das wollen wir nun ändern.


Gemeinsam mit dem ertappten Uhrenschmuggler Karl Heinz Rummenigge hat Weltmeister Uli Hoeneß als Manager und später Präsident (!) den FC Bayern München zum führenden Fußballverein dieses Landes und zu einem der erfolgreichsten Klubs weltweit gemacht. Ohne den Argwohn des Kartellamts zu wecken, kaufte er allen möglichen nationalen Rivalen die konkurrenzfähigen Spieler weg, was dazu führte, dass in unserer Neidgesellschaft die Bayern außerhalb von Münchens Stadtgrenzen in Sachen Beliebtheit gleich hinter dem IS rangieren. Gäbe es nicht ein paar renitente spanische Vereine – die Hoeneß-Truppe würde die Champions League Jahr für Jahr gewinnen.


Wenn Uli mit hochrotem Kopf die Bayer-Ultras auf der einen, die CSU-Granden auf der anderen und die kapitalkräftigen Sponsoren auf der dritten Seite adressierte, tat er dies leidenschaftlich und mit jenem Engagement, das wir uns auch von einem Staatsoberhaupt wünschen.


Rednertalent und Erfahrung


Und reden kann er, der Uli! Wie er sich zum Gewissen der Nation hochstilisierte und den Faulen und Widerspenstigen die Leviten las, das war schon erste Sahne. Ein steuertechnischer Fauxpas ließ ihn kurzzeitig verstummen, doch nun ist er zurück, demnächst wieder als Präsident des FC Bayern – und warum nicht auch von uns allen?


Er ist auch ein Mann von Erfahrung. Wer kann schon von sich sagen, er habe ein WM-Finale gewonnen, ein EM-Endspiel per Elfer in den fünften Stock verloren, mit Abermillionen getrickst und das historisch bedeutende Gefängnis in Landsberg am Lech ausgiebig von innen kennengelernt? Und wem sonst hätte Angela Merkel „hohen Respekt“ dafür gezollt, dass er brav seine Haftstrafe antritt? Tausende einrückender Straftäter haben seitdem vergeblich auf ein Lob der Kanzlerin gehofft.


Auf der Anklagebank kam Uli so ergiebig ins Erzählen, dass aus den 3,5 Millionen Euro, die er dem Finanzamt vorenthalten haben sollte, drei Tage später bereits 28,5 Millionen geworden waren. An dieser Stelle schritt die Strafkammer des Münchner Landgerichts ein und setzte der Aufzählung ein Ende, wohl in Sorge, der ausufernde Enthüllungseifer könne die Bevölkerung beunruhigen, das tatsächliche Ausmaß des Unterschleifs offenbaren und bisher als honorig geltende Bürger belasten, möglicherweise auch aus Angst vor Überstunden. Nach der Verurteilung zu drei Jahren und sechs Monaten vertraten nicht nur Ulis engste Freunde die Ansicht, wer unter uns ohne Steuersünde sei, der werfe den ersten Schein.

    

Gelungene Resozialisierung


In der JVA Landsberg verdiente sich Uli in der neuen Paraderolle als reuiger Sünder binnen kurzem alle erdenklichen hafttechnischen Erleichterungen, Verschonungen und Verkürzungen. Er gilt mittlerweile bundesweit als Musterbeispiel für gelungene Resozialisierung. Darum fragen wir: Warum sollte man einem geläuterten Sünder Steine in den Karriereweg legen? Wäre es nicht vielmehr von Vorteil, wenn der oberste Repräsentant des Staates aus eigenem Erleben wüsste, wie es im Knast zugeht? Weite Teile der Bevölkerung würden solche Erfahrungen auch bei einer ganzen Reihe von Politikern und Konzern-Managern (etwa von VW) goutieren.


Sollte Uli Hoeneß seine legendäre großmäulige Bescheidenheit überwinden, könnten wir der Bundesversammlung einen Kandidaten präsentieren, der unsere Gesellschaft und unser System auf das Authentischste verkörpert, der die (vor allem in München) so oft zitierte Leitkultur mit all ihren schillernden Facetten und Raffinessen personifiziert wie kein Zweiter. Wenn Uli bereit wäre, seine Ämter im Marketing-Konzern FC Bayern, der sich nebenher auch noch Sport-Teams hält, ruhen zu lassen, würde er fast alle Voraussetzungen für eine Kandidatur erfüllen, zumal er deutlich über 40 Jahre alt ist. Der einzige Hinderungsgrund, seine üppige Vorstrafe, müsste sich beheben, aus jedem Register löschen lassen, annulliert doch sogar die Heilige Katholische Kirche Ehen, die eigentlich nur der Tod zu scheiden berechtigt ist, wenn Irrungen und Wirrungen, wie sie sich im armen Kopf des temporär unzurechnungsfähigen Finanz-Zockers Uli abspielten, zur Kurzschlusshandlung vor dem Traualtar geführt haben.


Schließlich ist aus dem Landsberger Kerker schon einmal ein höchst ambitionierter Prominenter als nationaler Hoffnungsträger hervorgegangen, der es erst zum Reichskanzler und dann sogar zum Reichsführer brachte. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.

 

09/2016

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Bayern schämt sich in diesem Archiv

                  

   



Lumpaci & Vagabundus


Als typisch urbayerischen Humor identifizieren viele Menschen (vor allem von außerhalb) derbe Schwänke à la Komödienstadl oder Tegernseer Bauerntheater. Fesche Madeln im Dirndl und zünftige Burschen in der Krachledernen überlisten darin regelmäßig habgierige, verschlagene oder betrügerische Dorfdeppen. Die Farce allerdings, die sich derzeit um das Riedberger Horn abspielt, erreicht höheres Niveau, erinnert ein wenig an das Absurde Theater, mehr aber noch an die 1833 von dem Wiener Dramatiker Johann Nestroy verfasste Zauberposse Lumpacivagabundus, wobei sich die beiden wichtigsten Politiker des Freistaats in die Titelrolle teilen.


Verschaukelter Naturschutz


Der böse Geist in Nestroys Posse verführt Menschen, die auf zauberhafte (irrationale) Weise zu Geld gekommen sind, so lange, bis ihnen nichts mehr davon übrigbleibt. Ministerpräsident Horst Seehofer und sein Heimatminister Markus Söder versprechen ein paar Allgäuer Dörflern viel Geld durch ein Projekt, das eigentlich Rechtsbruch voraussetzt und dessen verheerende Folgen für die Natur und die Landschaft erst richtig erkennbar sein werden, wenn die beiden Politiker nicht mehr im Amt sein werden. Das Goldene Kalb, um das Teile der CSU und die touristische Event-Industrie so wirr tanzen, hört auf den Namen „Skischaukel am Riedberger Horn“.


Laut Wikipedia versteht man unter einer Skischaukel „die touristische und verkehrstechnische Verbindung von in verschiedenen Tälern gelegenen Skigebieten über die Höhenzüge, die diese Täler trennen“. Eine solche Connection würde im vorliegenden Fall die beiden kleinen Wedelhänge der Oberallgäuer Gemeinden Balderschwang und Obermaiselstein per Gondelbahn aneinander ketten und über das Riedberger Horn führen. Das Dumme ist nur, dass dieser Berg, der eine der größten Populationen des Birkhuhns im deutschen Alpenraum aufweist, ein Naturschutzgebiet allerersten Ranges ist: Im bayerischen Alpenplan firmiert das Riedberger Horn in der striktesten Kategorie als „Schutzzone C“, was eigentlich jeglichen Eingriff unmöglich macht. Auch die von allen Anrainerstaaten unterzeichnete Alpenkonvention blockiert die Erschließungspläne kategorisch, und das Naturschutzrecht der EU als höchstrangige Richtlinie weist den Berg als „faktisches Vogelschutzgebiet“ aus.


Der Traum von der Skischaukel also geplatzt? Der Versuch, die wenigen Jahre, in denen noch genug Schnee fürs Skifahren auf das Allgäu fällt, noch einmal kräftig zum Absahnen zu nutzen, gescheitert? Nicht, wenn sich Horst Seehofer in den Kopf gesetzt hat, die Interessen von Parteifreunden aus der kargen Provinz zu bedienen! Dann lässt er nämlich das Volk abstimmen, aber nur in wohldosierter Portion.


Votum für illegalen Kahlschlag


Naturschutz hin, bayerisches, alpenländisches oder europäisches Recht her – wenn es um das altbewährte Händewasch- und Spezerln-Prinzip geht, kennt Seehofer nur noch hilfsbedürftige Freunde: "Wenn jemand ein lokales Anliegen hat und maßgebliche Landtagsabgeordnete das Anliegen unterstützen, und zwar nachdrücklich seit vielen Monaten, dann ist es die Aufgabe einer Regierung, ernsthaft zu überlegen, wie man solche Wünsche erfüllen kann."

  

Zwar lehnt auch Umweltministerin Ulrike Scharf das Skischaukel-Projekt in seltener Unbotmäßigkeit ab, doch springt dem Ministerpräsidenten sein Möchtegern-Nachfolger Markus Söder bei. Dem Heimatminister aus Nürnberg ist das Getue um das größte Gebirge Europas eh ein Dorn im Auge, werden darob doch die wuchtigen, bei bis zu 600 Metern Höhe die Wolkendecke durchstoßenden Gipfel der ihm besonders am Herzen liegenden Fränkischen Schweiz vernachlässigt, und so erklärt er kategorisch: "Der Alpenraum ist kein Denkmal, ist keine Verbotszone für Bürger" Folglich begrüßt Söder den schlauen Plan des Ingolstädter Flachland-Oberbayern Seehofer, Recht und Gesetz mittels einer besonders exklusiven Volksbefragung auszuhebeln.


Seehofer und das Plebiszit


Plebiszite mögen der launige Ministerpräsident und sein etwas grobschlächtiger Adlatus aus Franken – vorausgesetzt, sie erbringen die richtigen Ergebnisse. Dass die Münchner in einer Volksabstimmung gegen eine dritte Startbahn des Franz-Josef-Strauß-Flughafens votiert haben, war eine Panne, aber der Schaden ist nicht irreparabel. Seehofer will einfach noch einmal abstimmen lassen, diesmal aber alle Bayern und notfalls so oft und so lange, bis die nächste Flugschneise steht.


Im Falle Riedberger Horn gehen die beiden listigen Tourismus-Lobbyisten genau den umgekehrten Weg: Nicht Stimmberechtigte aus ganz Bayern sollen befragt werden, auch nicht solche aus dem Allgäu oder zumindest dem Oberallgäu, sondern lediglich die 900 Einwohner der beiden betroffenen Gemeinden. Und da werden sich schon genügend Hoteliers, Skilehrer und Souvenir-Verkäufer finden, denen die Spatzen (um im Tierreich zu bleiben: die Kröten) in der Hand lieber sind als die Tauben auf dem Dach (hier Synonym für einen nachhaltigen Naturschutz zum Nutzen künftiger Generationen). Nur wird manchem das von Markus Lumpaci und Horst Vagabundus in Aussicht gestellte Geld ebenso schnell unter den Fingern zerrinnen wie der Schnee auf den Skihängen in den Zeiten des Klimawandels.


Man sieht mit gebührendem Respekt: Die Spitze der bayerischen Staatregierung fürchtet keine Willensbekundung des Volkes. Es muss dieses nur ordentlich ausgewählt werden.

 

08/2016

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Horsts Welt in diesem Archiv

                   





Geh mit Gott…


Der Bundespastor tritt ab, wir müssen ihn nur noch bis März nächsten Jahres aushalten. Viele Menschen, denen politischer Diskurs, die Sprache als Mittel der Kommunikation und nicht als Vehikel für Leerformeln, Inhalte folglich wichtig sind, hatten befürchtet, Joachim Gauck weitere fünf Jahre als salbadernden Präsidenten der Republik ertragen zu müssen. Bei seinem Staatsbesuch in Chile zeigte der selbsternannte Moralapostel nach einem oberflächlichen Sorry noch einmal, wie egal ihm mittlerweile deutsche Schuld und Verantwortung im Grund geworden sind – wenn er sich denn jemals außerhalb seiner Stasi-Aktendependance damit beschäftigt haben sollte.


Klartext? Nebelkerzen!


Wir neigen dazu, einem gesprochenen Text zu attestieren, er sei wohldurchdacht, wenn er nur fein ziseliert, syntaktisch verschachtelt genug und kryptisch verbrämt daherkommt. Einer, der den einfachen Sachverhalt per pseudo-dialektische Inversion aufzupeppen versteht, simpelste Aussagen meisterhaft verkompliziert und stets den Brustton der Überzeugung vorn auf der Zunge trägt, ist unser Bundespräsident. Ihn als Nervensäge zu bezeichnen, wäre falsch; schließlich kreischt er seine Allgemeinplätze keineswegs schrill hinaus. Auch grummelt er nicht wie eine Unke, seine an der Bibel geschulte Stimme klingt vielmehr sonor, und, wenn schon nicht der Inhalt, so ist doch die Artikulation klar.


Es ist wohl Gaucks geistliche Berufsvergangenheit, die auch im jetzigen Job durchschlägt, wenn er konventionelle Feststellungen beinahe zu metaphysischen Botschaften hochstilisiert. Wo andere eine weitere Amtszeit mit der Begründung, sei seien schlicht zu alt und fürchteten, einen senilen obersten Volksrepräsentanten geben zu müssen (was in dieser Funktion auch nicht unbedingt schlimm wäre), ausgeschlagen hätten, erklärt der Ex-Pfarrer feierlich: „Ich möchte für eine erneute Zeitspanne von fünf Jahren nicht eine Energie und Vitalität voraussetzen, für die ich nicht garantieren kann.“


Und mit einem kokett scherzhaften Verweis auf die gegenwärtige Asylproblematik stellt Joachim Gauck fest, dass die BRD mit etwas Glück sogar seinen Abschied überleben könnte: „Ich bin ja nicht auf der Flucht, sondern ich sage, dieses Land ist so stabil, dass es diesen Wechsel gut verträgt." Und das, obwohl die prekäre und instabile Situation ihn zuvor zu geistiger Tätigkeit nötigte, wie er andernorts ausführt: "Bei dieser Unruhe in den öffentlichen Debatten, und es hat sich auch eine gewisse Veränderung des Lebensgefühls in Deutschland ereignet, da habe ich die Pflicht empfunden, noch mal intensiv nachzudenken."


Nur ist es leider so, dass manchmal Fragwürdiges dabei herauskommt und manche Dinge verzerrt oder verschwiegen werden, wenn der Noch-Bundespräsident nachdenkt und sich anschließend auch noch äußert.


Mit Folterknechten feiern


Eine seiner letzten Auslandsreisen als Staatsoberhaupt führte Gauck nun nach Chile, wo er sich mit einem für die bundesdeutsche Politik besonders heiklen Thema konfrontiert sah. Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts war der Sektenführer Paul Schäfer vor den gegen ihn wegen Kinderschändung ermittelnden Justizbehörden in das südamerikanische Land geflohen und hatte 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago die Colonia Dignidad gegründet. Schäfer, ein evangelikaler Psychopath, hatte den „Musterbetrieb“ nach und nach in ein Konzentrationslager verwandelt, in dem seine rund 300 Anhänger Zwangsarbeit leisten mussten und in dem Kinder regelmäßig sexuell missbraucht wurden.


Gute Beziehungen zu dem 1973 durch einen blutigen Putsch an die Macht gekommenen General Pinochet führten zu einer „Erweiterung der Geschäftsfelder“: Bis zum Ende der Diktatur 1990 wurden auf dem Gelände der Colonia Dignidad politische Gegner des Regimes gefoltert und umgebracht. Die deutsche Botschaft in Santiago schwieg nicht nur dazu, sie wies auch deutschstämmige Hilfesuchende, die aus der Kolonie geflohen waren, ab. Erst der jetzige Außenminister Frank Walter Steinmeier ordnete kürzlich die Offenlegung von Akten an, die das AA und seine Diplomaten schwer belasten.


Es war erwartet worden, dass Gauck in Chile zu dem Skandal Stellung beziehen würde, und er tat es auch – auf seine Weise: "Deutsche Diplomaten haben jahrelang weggeschaut, wenn in der Siedlung Menschen entrechtet, brutal unterdrückt und gefoltert worden sind." Klingt gut, Herr Bundespräsident, trifft die Sache aber nicht. Die Herren Attachés, aber allen voran der damalige Botschafter Erich Strätling, haben nicht weggeschaut, sie haben vielmehr die Verbrechen gedeckt und verharmlost, weil sie von Schäfer mit Gefälligkeiten, Präsenten und handwerklichen Freundschaftsdiensten überhäuft wurden.


Und deshalb ist auch irreführend, was Gauck, der dazu neigt, die Schweinereien, die zugegeben werden müssen, gleich wieder zu relativieren, anschließend bemerkte: Die Verantwortung des chilenischen Staates könne nicht auf Deutschland übertragen werden, wenn in Chile eine Gruppe von kriminellen Deutschen sich an Landsleuten und Chilenen vergangen habe.


Wenn aber die offiziellen Vertreter Deutschlands erste Warnungen überhören, dann Tatsachen ignorieren und vertuschen, schließlich den Schutz für Verfolgte verweigern und sie so möglicherweise in den Tod schicken, fällt sehr wohl zumindest ein Teil der Schuld auf den Staat zurück, den Gauck vorschnell und fahrlässig exkulpiert. Und dass der deutsch-chilenische Milliardär und Pinochet-Unterstützer Horst Paulmann, der in seinen Supermärkten die Produkte der Colonia Dignidad vermarktete und beste Beziehungen zu Paul Schäfer unterhielt, zum offiziellen Botschaftsempfang für den Bundespräsidenten eingeladen wurde, steht für eine gewisse Kontinuität der Verantwortungs- und Skrupellosigkeit bundesdeutscher Diplomatie (die in Chile schon begonnen hatte, als während des Putsches gegen Allende die Tore der BRD-Vertretung den vor den Mördern flüchtenden Menschen verschlossen blieben).


Der sensible Herr Gauck hatte es übrigens abgelehnt, Opfer der Colonia Dignidad zu einem persönlichen Gespräch zu empfangen. Dass an dem Empfang zu seinen Ehren in der Residenz des deutschen Botschafters auch Reinhard Zeitner, ein wegen Kindesentziehung von der chilenischen Justiz zu drei Jahren und einem Tag verurteilter Ex-Wachmann des Sekten-KZs (Filmregisseur Gallenberger: „Ein ziemlich berüchtigter Schläger“), teilnahm, störte den in diesem Falle um die Gästeliste unbesorgten Bundespräsidenten weniger.

  

Ein bisschen kriegerischer


Schlimm, wurde es immer dann, wenn Gauck nicht Inhaltsarmes und Belangloses von sich gab, sondern sich bemüßigt fühlte, den Weg der Nation vorzuzeichnen und der Bundesgemeinde als kämpferischer (kriegerischer?) Hirt die Leviten zu lesen. Dann tadelte er vor der Bundeswehrakademie sein hedonistisches Volk und bereitete es auf künftige Opfer vor, wenn germanische Heere wieder ausziehen müssten, „um unsere Nachbarschaft zu stabilisieren, im Osten wie in Afrika“, um somit in der schönen weiten und doch so nahen Welt für Friedhofsruhe zu sorgen: „Und dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.“

 

Doch der Heldentod (von bisher 55 deutschen Soldaten am Hindukusch) ist nach Ansicht dieses Visionärs neuer militärischer Weltgeltung nicht vergebens (umsonst war er für den Steuerzahler übrigens auch nicht): „Eines haben wir gerade in Afghanistan gelernt: Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig…“ Die gerade im Norden wiedererstarkten Taliban haben diese Einschätzung wohl mit Schmunzeln wahrgenommen. 

Nein, einen Präsidenten, der empathischen Lippenbekenntnissen, etwa in Flüchtlingskrise, sogleich die kalte Retro-Floskel folgen lässt, brauchen wir wirklich nicht. Man möchte dem ehrenwerten Herrn Gauck zurufen: Geh mit Gott, aber geh! Ihr beide werdet weder zur Erklärung der Welt noch zur Gestaltung einer gerechteren und sozialeren Gesellschaft benötigt.

07/2016

Dazu auch:

Der silberne Gauck im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

                        



J. R. FOR PRESIDENT


Als ich 1980 zum ersten Mal in die USA reiste, durfte/musste ich die heiße Phase des damaligen Wahlkampfs um die Präsidentschaft erleben. Zu meiner Verwunderung liefen zahllose Menschen in T-Shirts mit dem Aufdruck „J. R. FOR PRESIDENT“ herum, obwohl die Buchstaben sich weder mit den Initialen des Amtsinhabers Jimmy Carter noch denen des Herausforderers Ronald Reagan deckten. Die Auflösung erfuhr ich einige Zeit später, als die erste große US-Kultserie für die erwachsenen Kinder des Kapitalismus, auch in Deutschland anlief: „Dallas“. Die Meinungsträger hätten offenbar den legendären TV-Fiesling J. R. Ewing den beiden realen Kandidaten vorgezogen.


Vom Schurken zum Publikumsliebling


Im gegenwärtigen Wahlkampf um den Einzug ins Weiße Haus kandidiert mit Donald Trump nun endlich ein Mann, der die meisten Charaktereigenschaften und Tugenden des fiktiven Tycoons Ewing realiter verkörpert – und dafür viel Zustimmung einheimst. Vielleicht lässt sich aus der erstaunlichen Wandlung des Fernseh-Bösewichts zum Publikumsliebling vor drei Jahrzehnten der aktuelle Aufstieg eines ordinären Selbstdarstellers zum Präsidentschaftskandidaten einer Volkspartei ableiten.


„Dallas“ war die Geschichte der Ewing-Sippe, einer texanischen Erdöl-Dynastie, die, ungeachtet interner Streitigkeiten und Intrigen, ihre Konkurrenten als verschworener Clan skrupellos bekämpfte, Politiker bestach, Gegner betrog, erpresste oder anderweitig aus dem Weg schaffte, um die eigene ökonomische Macht zu erhalten und auszubauen. In den Spitzenzeiten der Serie kam hierzulande das spöttische Gerücht auf, die Drehbücher würden von verkappten Marxisten geschrieben, denn so schonungslos entlarvend war der Kapitalismus im Geflecht seiner Machenschaften bis dato noch nicht dargestellt worden, auch nicht von den bemühten Autoren des sozialistischen Realismus in den damals noch existierenden Staatbürokratien des Ostens.


Als Hauptschurke agierte besagter J. R. Ewing (glänzend gespielt von Larry Hagman), ein schmieriger Zyniker, der jeden über die Klinge springen ließ, der ihm in die Quere kam, und auch nicht davor zurückschreckte, die eigenen Schwestern und Brüder übers Ohr zu hauen, der Frauen verführte, um sie auszunutzen und danach abzustoßen. Menschlicher Anstand, bürgerliche Moral und ausgleichende Gerechtigkeit fehlten gänzlich in „Dallas“ – damals ein Novum in der US-Fernsehgeschichte. Und dann geschah Unvorhersehbares: Ein (meist männliches) Millionenpublikum, das sich wohl durch den sonst auf der Mattscheibe allgegenwärtigen Wertekanon aus Gott, Nation und ehelicher Treue bevormundet fühlte, entdeckte seine Sympathien für den smarten Schurken, identifizierte sich gar mit ihm. Je rücksichtsloser J. R. Ewing sich gebärdete, desto mehr Fans applaudierten ihm.


„Klartext“ ohne Wahrheit


Nun lässt sich Donald Trumps polternde Attitüde nicht unbedingt mit der sinistren Eleganz eines J. R. Ewing vergleichen, und doch sind Parallelen in Charakter, Stil und Taktik erkennbar: Wie der Filmschurke bricht der Immobilien-Milliardär mit Traditionen und Konventionen, überschreitet bewusst die Grenzen des guten Geschmacks wie der political correctness. Er gibt sich rassistisch, chauvinistisch, bellizistisch, beschimpft seine Gegner, beleidigt Minderheiten und droht den natürlichen Feinden, den Nicht-Amerikanern also, mit Sanktionen und Mauerbau. Die meisten US-Politiker denken ähnlich nationalistisch wie er und würden auch ganz gern vulgär vom Leder ziehen, fühlen sich aber durch einen ungeschriebenen Verhaltenskodex zum Schweigen verpflichtet.


Trump erinnert an einen Elefanten (übrigens das Wappentier der Republikanischen Partei), der einen Porzellanladen mit voller Absicht in Trümmer und Scherben legt, um dann zu behaupten, das Zeug sei von illegalen mexikanischen Schlampen über die Grenze geschmuggelt worden. 


Viele weiße Wähler aus der Unterschicht oder dem bedrohten Mittelstand sehen in Trump den einzigen Kandidaten, der Klartext spricht – auch wenn ihm jegliche Glaubwürdigkeit abgeht. Wenn der Baulöwe etwa die eigene ökonomische Genialität lobt, aber seine Pleiten verschweigt, Latinos abzuschieben ankündigt, sie aber zu Tausenden in prekären Arbeitsverhältnissen ausbeutet, oder wenn er das politische Establishment angreift und dabei unerwähnt lässt, dass er selbst der missratene (weil zu laute) Sprössling einer Wirtschaftselite ist, die jene Kongressmitglieder und Parteibonzen für ihre Zwecke einsetzt und manipuliert, äußert er offenkundig Unwahrheiten, was aber seine Anhänger nicht zu stören scheint.


Die Abkehr weiter Bevölkerungskreise von der bürgerlichen Moral, sei diese nun als bloße Schimäre oder als nur halb bigottes und systemerhaltendes Korrektiv verstanden, ist kein reines US-Phänomen.

               

Das Ende der bürgerlichen Moral


Die von den Protagonisten der repräsentativen Demokratie und des sozialen Status quo eingezogenen Hemmschwellen der (verbalen) Anständigkeit und der von großbürgerlichen Mentoren definierten Fairness werden derzeit überall eingerissen, und zwar von Rechtspopulisten mit Herrenmenschen-Tendenz. Deutschlands AFD-Höcke ist in Europa bislang nur ein kleines Licht, Marie Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden und der Österreicher Heinz-Christian Strache indes agieren als taktgebende Ideologen der Xenophobie, auch wenn sie ihren Tiraden mittlerweile ein wenig vom liberalen Establishment geborgte Kreide beigeben, um auch in der sogenannten Mitte, dem einstigen Reservoir der klassischen Konservativen, fischen zu können.


Doch während diese Bauernfänger erst auf dem Sprung sind und sich – da noch nicht an der Macht – taktischer Vorsicht und Zurückhaltung befleißigen müssen, lassen es ihre bereits erfolgreichen Kollegen weltweit krachen, in Worten und in Taten. Ein Viktor Orbán würgt in Ungarn die Pressefreiheit ab und regiert offen fremdenfeindlich, ein Recep Erdoğan strebt eine islamistisch-nationalistische Autokratie an, und auf den Philippinen äußert der designierte Präsident Rodrigo Duterte, der Kleinkriminelle liquidieren lassen will, zu einer von mehreren Männern begangenen Vergewaltigung, angesichts des hübschen Opfers hätte er selbst gern mitgemacht.


Macho-Entgleisungen, Kriegsrhetorik und diskriminierende Parolen gehören mittlerweile in vielen Staaten zum propagandistischen Rüstzeug aufstrebender Politiker. Doch nirgendwo zeigt sich die (vordergründige) Ambivalenz der kapitalistisch dominierten Gesellschaft so deutlich wie im US-Wahlkampf: Auf der einen Seite steht die kalte, berechnende Hillary Clinton, an der der Whitewater-Immobilienskandal in Arkansas ebenso abtropft wie die Handy-Affäre um ihren laxen Umgang mit geheimen Daten, die – wie bei TTIP geschehen – Standpunkte ausrangiert wie andere Leute Papiertaschentücher und der Hochfinanz, die der upper middle class und nebenher den von ihrem Kontrahenten geängstigten Minderheiten Ruhe und Freiräume verschaffen soll; ihr gegenüber positioniert sich Donald Trump und beschwört mit dem Habitus eines Amok laufenden Clowns unverbrämt niedere Instinkte und nationale Hybris. Doch es sind dies nicht die Larven oder Fratzen des Systems, es sind seine aller Schleier und Schminkschichten beraubten wahren Gesichter.


Im Gegensatz zum „Dallas“-Ganoven J. R. hat ein Trump weder Charme noch einen Maskenbildner nötig.

05/2016

       


 Grün goes Pegida


Die Älteren unter den Lesern werden sich noch an die grünen Revoluzzer der Anfangszeit erinnern, die Tramperts und Ebermanns, die, nachdem Baldur Springmanns bräunliche Blut- und Bodenfraktion die Partei verlassen hatte, die Republik auf links umzukrempeln drohten. Dann wandelte sich der Chef-Rabauke Joschka Fischer, der einst den Bundestagspräsidenten ein Arschloch genannt hatte, im Schröder-Kabinett zum Nato-Warlord in Serbien, und nun zeigt sich in Baden-Württemberg, dass Grün auch national ziemlich weit rechts sein kann, wobei die Rollen verteilt sind: Winfried Kretschmann als betulich konservativer Landesvater, Boris Palmer als Tübinger OB, der den begüterten Öko-Liberalen das Pegida-Vokabular näherbringt.

 

Von Mao zu Merkel

 

Es begann mit dem Triumphzug Winfried Kretschmanns durch die südwestlichen Bürgerstuben. Der Grüne, der den Sprung vom Mao- zum Merkel-Fan ohne störenden inhaltlichen Diskurs geschafft hat, ist ein Mann, wie ihn sich die fleißigen Schwaben und Badener als Ländlevater vorgestellt hatten: bedächtig, christlich, ökologisch im Anspruch und reaktionär in der Sache. Mit anderen Worten: Kretschmann war der Garant dafür, dass sich nichts ändern würde, dass der Reiche reich bleiben durfte und der Mittelständler anschaffen konnte, und das alles (soweit die Wirtschaft nichts dagegen hatte) in schöner Landschaft.

 

Waren dem erklärten Unionsfreund Kretschmann zunächst noch vorlaute Bemerkungen entwichen, etwa die, dass weniger Autos natürlich besser seien als viele, biss er sich später gehorsam auf die Zunge und stieg in seinen Dienst-Mercedes von der S-Klasse (mit dem Hybrid-Antrieb als Öko-Feigenblatt). Die Industriellen sahen bald in dem ihnen gewogenen Ministerpräsidenten, der in sozio-ökonomischen Fragen, etwa bei der Erbschaftssteuer, die CDU sogar rechts überholte, den Anführer ihrer fünften Kolonne in einer insgesamt noch etwas unreifen und von Chancengleichheit träumenden Partei, und so nimmt es nicht wunder, dass der Unternehmerverband Südwestmetall seine Grünen mit 110.000 Euro alimentierte.

 

Der Mann fürs Grobe

 

Während Kretschmann behutsam das Bündnis mit der Union einleitete und in der Flüchtlingsproblematik nach kurzem Nachdenken beinahe die ganze Welt zum sicheren Herkunftsort, an den man verzweifelte Menschen bedenkenlos zurückschicken könne, erklärte, übernahm es sein jüngerer Partei-und Gesinnungsgenosse Boris Palmer, die neue Haltung der Realos den staunenden Menschen eloquent zu vermitteln.     

Als grüner Oberbürgermeister der wohlhabenden Universitätsstadt  Tübingen wusste Palmer der wissenschaftlichen Elite, dem studentischen Personal und dem gehobenen Mittelstand mit flapsigen Sprüchen gleichermaßen zu gefallen. Den einen imponierte, dass er auf den Dienstwagen verzichtete und mit dem E-Fahrrad zum Rathaus kam, andere waren von seinem Versuch, den Grünen ein paar Prozent von der geplanten Anhebung des Spitzensteuersatzes abzuhandeln, angetan, und die Häuslebauer im idyllischen Suburbia freuten sich, dass er ihnen Flüchtlingsunterkünfte in der näheren Umgebung ersparen wollte.

 

Der Hüter blonder Töchter

 

Auch Boris Palmer würde nämlich gerne abschieben, und bei der Begründung für die Reinhaltung der schwäbischen Ethnie und Soziokultur übertrifft er in Sachen diskriminierender Pointe Seehofer wie Söder bei weitem und lässt sogar Pegida blass statt braun aussehen:

 

"Spätestens seit den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln kommen selbst grüne Professoren zu mir, die sagen: Ich habe zwei blonde Töchter, ich sorge mich, wenn jetzt 60 arabische Männer in 200 Meter Entfernung wohnen."

 

Die Kommentare dazu fielen unterschiedlich aus: Während bei Spiegel Online spöttisch gefragt wurde, ob sich die Väter von dunkelhaarigen Töchtern keine Sorgen machen müssten und auf die Affinität zu Pegida-Höcke verwiesen wurde, rechtfertigte die SZ die Entgleisung mit dem Hinweis, dass Palmer ja schließlich Wahlen so gewinnen würde. Gänzlich daneben lag auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek, der twitterte: "Es ist weniger Problem, was Palmer sagt, sondern wie er es sagt." Nein, diesmal ging es nicht um die Form, sondern um den widerlichen Inhalt.

 

Otto Köhler, der Doyen des kritischen Journalismus hierzulande, stellte dies in der jungen welt klar und zitierte eine ähnliche, aber noch etwas schärfere Textstelle auf Seite 1.344 eines deutschen Standardwerks, nämlich Hitlers „Mein Kampf“. Nur war hier noch nicht von Arabern die Rede, die Gefahr kam von anderer Seite:

 

"Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens Volke raubt…“

 

Selbst wenn man Palmer wegen eines unsäglichen Spruches nicht Rassismus oder Antisemitismus, sondern lediglich Diffamierung und eine inhumane Auffassung von Humor unterstellen will, muss man doch konstatieren, dass er sich willentlich, und sei es auch nur im Halbscherz (Auch unbedachte Worte sind eine gefährliche Waffe!), der Terminologie völkischer Hetzer bedient. In der ernsthaften politischen Diskussion über Flüchtlingsaufnahme und Asylrecht hat er nichts mehr verloren.

04/2016

Dazu auch:

Ein Wintermärchen im Archiv der Rubrik Medien

 

 

 

Sahra W. im Irrtum

 

Wer wie Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken, von der TV-Gesprächsrunde zum Zeitungsinterview und von dort zur Wahlkundgebung eilt und zu allem etwas zu sagen weiß, wird fast zwangsläufig irgendwo einmal danebenliegen. Die Häme allerdings, die der eloquenten Sozialistin entgegenschlug, als sie Missverständliches über die AfD-Erfolge von sich gab, hatte sie nur teilweise verdient. Meist äußerte sie sich immer noch substanzieller als die Masse der Profi-Talker (auch wenn das nicht viel heißt). Was sich Sahra W. aber vorwerfen lassen musste, war zunächst ein gerüttelt Maß an Naivität und Weltfremdheit bezüglich der dumpfen Ausländerfeindlichkeit einer neuen rechten Volksbewegung. Als sie aber nun nachlegte, entstand plötzlich der fatale Eindruck, der rechte Populismus habe mittlerweile auch die Linke erreicht.

 

Verdächtige Gleichklänge?

 

Nicht immer lässt sich aus einem Statement ableiten, welche Meinungsbildung und Herangehensweise zur Quintessenz geführt haben. Wenn also Sahra Wagenknecht dafür plädiert, die Euro-Zone zu verlassen, oder das Freihandelsabkommen TTIP vehement ablehnt, hat sie andere (und erwägenswertere) Gründe als die AfD, die zwar Gleiches postuliert, dies aber mit krudem Nationalismus begründet. Die neoliberale Marktdominanz, die Wagenknecht fürchtet, kommt der AfD, die ja von Lucke einst als Wirtschaftspartei, als härtere FDP sozusagen, gegründet wurde, nämlich gerade recht, nur sollte sie vor allem den Bedürfnissen des rechten Mittelstands Rechnung tragen.

 

Die Galionsfigur der Linken aber erntet Kritik wegen einer seltsam ambivalenten Haltung zu den sich immer xenophober gebärdenden Populisten, wie sie in einem der Welt gewährten Interview deutlich wird: „Natürlich darf man nicht pauschal alle Menschen, die sich angesichts hoher Flüchtlingszahlen noch stärker um Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Wohnungen und steigende Mieten sorgen, in eine rassistische Ecke stellen. Das gilt auch für Wähler der AfD.“

 

Wagenknecht sorgt sich um die Wähler, die der Linken den Rücken kehrten, weil die ihnen nicht querulantisch genug gegen die da oben agitierte, und sich den lautstärkeren Vereinfachern von der AfD zuwandten. Sie unterstellt ihnen aus der Not geborene Motive und spricht die Anhänger einer fremdenfeindlichen Partei zunächst einmal vom Vorwurf des Rassismus frei. Dies ist im besten Fall naiv.

 

Fern der Realität

 

Armut und Besorgnis sind per se keine Entschuldigungen für Desinteresse und chauvinistische Entgleisungen. Mit dem Argument, die Menschen votierten ein wenig falsch, weil sie halt in prekärer sozialer Lage um ihre Existenz fürchteten, hätte man auch das halbe deutsche Volk vom Vorwurf der Hitler-Unterstützung exkulpieren können (Die andere Hälfte hatte genug Kohle und/oder das rechte Bewusstsein.). Und Frau Wagenknecht müsste sich über eines im Klaren sein: Sollte es denen, die glauben, wegen der Flüchtlinge oder überhaupt der Ausländer benachteiligt zu werden, irgendwann einmal ökonomisch besser gehen, würden sie erklären, dass sie es trotz der Flüchtlinge geschafft hätten. Fremdenfeindlichkeit ist keine vorübergehende Einstellung.

 

Als jemand, der in einem Arbeiterviertel wohnt, der notgedrungen zum Ohrenzeugen übl(ich)er Meinungsäußerungen wird, wenn er in der Bäckerei einkauft, die Zeitung holt oder in einem Biergarten sitzt, kann ich der gutsituierten Politikerin, die offenbar solche Alltagsbegegnungen nur vom Hörensagen kennt, versichern, dass es monologische Einstiege gibt, die jeden weiteren Diskurs überflüssig machen. Wenn etwa jemand mit „Eigentlich habe ich nichts gegen Ausländer…“ oder „Die kommen alle nur wegen unseres Sozialsystems…“ anhebt, überlasse ich ihn sofort seiner von der AfD und Bild, dem Zentralorgan deutscher Massenhysterie, gestärkten Selbstgewissheit. Um wieder sinnvolle Gespräche führen zu können, muss man wohl verzweifelt auf eine künftige, in besseren Schulen unterrichtete Generation und neue, verantwortungsbewusstere Medien hoffen.

  

Vielleicht hätte man Wagenknechts Verständnis für die fehlgeleiteten Wähler noch als einmaligen Fauxpas durchgehen lassen können, wären ihr nicht noch bedenklichere Aussagen, die man aus einer ganz anderen Ecke erwartet hätte, über die Lippen gekommen.

 

Schielen nach rechts

 

Dass sie von der „sozial verantwortungslosen Ausgestaltung der Flüchtlingspolitik der Großen Koalition“ spricht, hat vielleicht angesichts der unwürdigen Aufnahmebedingungen eine Berechtigung, nicht aber, wenn sie damit einer restriktiven Asylpolitik das Wort redet und gängige Vorurteile bedient. Im Stile der SeehofersGabriels und (seit einiger Zeit) auch Merkels erklärt sie uns, dass jenes Boot, dessen Geschütze so manche Flucht erst initiierten, nun voll sei. Sie schwadroniert über „Kapazitätsgrenzen“ (der Menschlichkeit?) und barmt, „dass nicht alle Verarmten und Verelendeten der Welt zu uns kommen können“.

 

Dass sich auch unter Immigranten, wie in jeder ausreichend großen Menschengruppe, ein paar unangenehme Zeitgenossen befinden, gibt noch nicht das Recht, die Aversionsknute à la Markus Söder zu schwingen und verzweifelten Menschen, als handle es sich bei ihnen generell um potenzielle Straftäter, prophylaktisch mit der Hausordnung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands zu drohen: „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt.“ Da stimmt der Pegide ungeachtet rechtlicher Prüfungsvorbehalte begeistert zu.

 

Möchte Sahra Wagenknecht auf solch plumpe Weise Wähler der AfD zurückholen, hat sie die etwas klaustrophobe DDR-Vergangenheit Fremde/s fürchten gelehrt oder wurde sie von ihrem Gemahl Oskar Lafontaine, dem stets ein wenig der Ruch des Populismus anhing, beeinflusst? Wie dem auch sei; die Linke, in deren Reihen sich zum Glück Widerstand gegen Sahras neue Flüchtlingssicht regt, wäre gut beraten, auf den Berliner Kabarettisten Martin Buchholz zu hören, der in seinem Newsletter WochenSchauer klarstellt, dass die Abwanderung der Krawall-Wahlbürger zur AfD in Sachsen-Anhalt auch ein Gutes hat (zumindest, wenn man nicht nur auf Mandate schielen, sondern auch unbequeme Positionen gegen den rechten Mainstream vertreten will):

 

28.000 frühere „Linken“-Wähler ergriffen endlich die Flucht, um als politische Flüchtlinge bei der Anti-Flüchtlingspartei Asyl zu beantragen. Damit wird die Links-Partei für mich ein gutes Stück wählbarer.

 

03/2016


Dazu auch:

Die Paten der AfD im Archiv der Rubrik Medien

Moral à la Turque im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund   


     


 

Noskes Erben

 

Eigentlich hatte sich die hiesige Sozialdemokratie ganz diskret und sehr gemütlich in der konservativen Couch-Ecke eingerichtet. Ein schriller Vorstoß ihrer im Seeheimer Kreis (SK) versammelten Rechtsaußen-Prominenz, nach dessen Realisierung es auf deutschen Straßen, an deutschen Grenzen und auch jenseits davon nur so vor Polizei- und Felduniformen wimmeln würde, zeigt nun aber, dass es auch grober und noch viel reaktionärer geht, dass die AFD im Kampf um die nationalistischen Sympathien bald Konkurrenz aus dem Lager der besorgten Genossen fürchten muss.


Linkes Wiegenlied mit nationaler Melodie

 

Dass es in einer Partei, die sich einst als links apostrophierte und von vielen heute noch so etikettiert wird, eine Gruppe rechter Mitglieder geben soll, wirkt wie in lupenreines Paradoxon, ist tatsächlich aber nur die Fortschreibung eines Langzeit-Missverständnisses. Um die Emigration der SPD, der Großen alten Dame der enttäuschten Hoffnungen, ins nationale Lager gedanklich nachvollziehen zu können, sollte man einen kurzen Blick in ihre frühkindliche Geschichte werfen.

 

Die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), 1875 gegründet und 15 Jahre später in SPD umbenannt, schreckte die preußischen Junker und aufstrebenden Industriellen sogleich mit dem radikal klingenden Gothaer Programm, in dem es u. a. hieß: „In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopole der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft..."

 

Wie würde sich der gegenwärtige SPD-Chef Sigmar Gabriel vor seinen Freunden in der Wirtschaft schämen, wenn die jemals von dem starken Tobak erführen, den sein Wahlverein dereinst verzapft hat!

 

Einer allerdings mochte die frohe Kunde schon damals nicht recht glauben: Karl Marx kritisierte in seinen „Randglossen“ zum Gothaer Programm die vollmundige Inkonsequenz der SAP-Genossen und deren Versuch, zunächst die nationalistische Karte zu spielen ("Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des heutigen nationalen Staats.“), und bemängelte, der verstorbene Stichwortgeber Lasalle habe „die Arbeiterbewegung vom engsten nationalen Standpunkt gefasst“. Einem Standpunkt übrigens, dem die spätere SPD auch treu blieb, als sie 1914 im Reichstag die Kredite zur Führung des Ersten Weltkriegs mit bewilligte…

 

Von „Kanalarbeitern“ zu „Seeheimern“

 

Nationalismus und ein gewisser Hang zum deutschen Obrigkeitsstaat waren und sind der SPD also nicht so fremd, wie ihr immer von Christunionisten und chauvinistischen Gruppen unterstellt wurde. Mittlerweile haben die Genossen den nächsten Schritt getan und auch noch den gesamten Ballast von Vergesellschaftung der Produktionsmittel und sozialistischer Umgestaltung über den Bord des Traumschiffs MS Regierungsbeteiligung geworfen. So ist es nur zu verständlich, dass sich ein zartes rechtes Pflänzchen, der nach dem Tagungshotel im südhessischen Seeheim benannte SK, zur mächtigsten Kapitäns- und Lotsenvereinigung innerhalb der Partei entwickeln konnte.

 

Schon früher hatte es stramme Deutschnationale wie Egon Franke und Hans Apel in der SPD gegeben, die als Mitglieder der „Kanalarbeiter“-Riege vor allem unter Helmut Schmidts Kanzlerschaft den Parteikurs maßgeblich mitbestimmten und auch Ministerämter bekleideten. Den feinsinnigeren Macht-Aspiranten des Nachwuchses waren diese eher proletarisch-schlichten, wiewohl rechtsgewirkten Genossen  zu hemdsärmelig, zumal schon der Name der Gruppe etwas anrüchig wirkte. Also gründeten sie 1974 den SK, denn ihnen war klar, wo künftig die Musik spielen würde, nach der karrierebewusste Sozialdemokraten schicklich zu tanzen hatten. Um an die nominelle Macht in Berlin zu gelangen und in die Vorzimmer der tatsächlichen Entscheidungsgewalt, etwa in die Think Tanks, zu den internationalen Sicherheitskonferenzen oder in die Vorstandsetagen der Konzerne vorgelassen zu werden, waren nun geschliffener Takt, Hang zum dezent verbrämten Lobbyismus und die Sachzwang-Argumentation des nachdenklichen Populisten angesagt.

 

Und sie machten Karriere, die jungen Ambitionierten, denen eine flexible Überzeugung und ein geschmeidiger Charakter wichtiger erschienen als irgendwelche volatilen Inhalte. So wurden die SK-Genossinnen Brigitte Cypries und Ulla Schmidt Bundesministerinnen, Sympathisant Peer Steinbrück avancierte zum Kanzlerkandidaten, und zwei Seeheimer Prachtexemplare prägen das Bild der heutigen SPD und – bei aller Bescheidenheit – auch wenig das der bundesdeutschen Politik: der Berliner Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann sowie der Parteichef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel.

 

Eine bessere AFD?

 

Es ist nun aber nicht so, dass die Seeheimer über all den Cocktail-Empfängen auf dem internationalen Parkett die Bodenhaftung und den Kontakt zur Bevölkerung verloren hätten. Gerade im Augenblick beweisen sie wieder, dass sie sensibel auf alle Winde, die dem unteren Volkskörper entfahren, reagieren, indem sie ihr Fähnchen blitzschnell hineinhängen. Als der empathischere Teil der Deutschen der Kanzlerin wegen ihres leider folgenlosen Willkommensgrußes an die Flüchtlinge noch lautstark zujubelte, hielt sich die Seeheimer Clique vornehm zurück. Jetzt, da sich die Stimmung gewandelt hat, weil Unterbringung und Integration von Hilfesuchenden nun einmal Geld kosten, weil Pegida und Konsorten jedes Vergehen, das sich Asylbewerbern zuschreiben lässt, mit Hilfe der Medien propagandistisch ausschlachten und so die etablierte Politik vor sich her treiben, melden sich auch die sich Anbiederungsexperten in der SPD lautstark zu Wort.

 

Das Bundeskriminalamt benötige 400 neue Stellen, gaben die Seeheimer zu Protokoll. Soweit, so bescheiden; aber darauf folgen aktionistische Forderungen von einer Maßlosigkeit, die – ungeachtet jeglicher Umsetzungsunmöglichkeit – den Rechtsradikalen auf der Straße (Pegida) und denen vor den Parlamentstüren (AFP) den Wind  aus den Segeln nehmen soll, indem man sie steuerbord überholt: Die Bundespolizei benötige in den nächsten drei Jahren 20.000 neue Mitarbeiter, beim Zoll sollen es 6.000 Beamte mehr werden. Und weil man mit den Mitteln für diese Einstellungen, die in der gegenwärtigen Situation gar nichts brächten, da neue Kollegen erst langzeitig ausgebildet werden müssten (wie selbst die Polizeigewerkschaft anmerkt), die aber für Deutschkurse, inklusiven Schulunterricht oder soziale Wohnungsbauprojekte fehlen würden, noch nicht zufrieden ist, wird gleich noch die Aufstockung der Bundeswehr von 177.000 auf 200.000 Mann dazu verlangt.

 

In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) erklärte SK-Sprecher Johannes Kahrs das Motiv für die angedachte Verschwendung von Steuergeldern angesichts drängender  Infrastruktur-Probleme, eklatanter Bildungsengpässe oder auch einfach nur der teilweise schäbigen Behandlung von Immigranten auf den (tatsächlich unterbesetzten) Ämtern. In beinahe naiv wirkender Offenheit entlarvte er die eigentliche Intention der Spendierhosen-Taktik, indem er von dem früheren Rattenfänger Ronald Schill, der in Hamburg kurzzeitig Wahlerfolge feierte, den Bogen zu den aktuellen Rechtspopulisten schlug: 

„Als Schill auf Anhieb 20 Prozent der Stimmen in der Hansestadt bekam, war das eine direkte Reaktion auf die damals miserablen Verhältnisse am Hamburger Hauptbahnhof". Wer eine Wiederholung bundesweit verhindern wolle, müsse deshalb jetzt etwas unternehmen. "Wir brauchen eine Trendumkehr. Und wir brauchen sie jetzt."

 

Nur handelt es sich gar nicht um eine Umkehr, sondern vielmehr um eine Verstärkung des Trends. Die Botschaft an die dumpfdeutschen Wähler muss klar sein: Für Law-and-Order-Politik braucht ihr keine AFD, ihr habt doch die SPD!

 

Mehr Soldaten für fremde Länder

 

So durchsichtig und bar geistiger Substanz die SK-Botschaft auch sein mag - bei einem Punkt sollte doch nachgehakt werden: Wozu braucht die Bundeswehr eine Personalmehrung um 13 Prozent oder 23.000 Mann? Strenggenommen verbietet das Grundgesetz den Einsatz der Armee im eigenen Land. Die Karlsruher Verfassungsrichter haben nun allerdings Ausnahmen zugelassen, etwa bei akuter  Terrorgefahr. Auch wenn er eigentlich das Grundgesetz verfälscht, wie die SZ warnt, dürfte ihr Spruch kaum ganze Truppenaufmärsche legitimieren. Zehntausende schwer bewaffneter Soldaten auf der Suche nach zwei, drei gut getarnten IS-Attentätern? Das gäbe Massaker mit üppigen Kollateralschäden! Solche Horrorszenarien würden nicht einmal die mit martialischer Phantasie begabten SK-Genossen goutieren.

 

Also wird vermutlich mit der enormen personellen Aufstockung etwas ganz anderes bezweckt, nämlich die Schaffung personeller Voraussetzungen für Armee-Einsätze auf fremdem Boden. Die Bundeswehr soll nach dem Wunsch der grauen Seeheimer Eminenzen als Global Player in allen möglichen Kriegen, mit oder ohne UN-Mandat, innerhalb oder außerhalb des NATO-Bündnisses, auftreten. Frieden lässt sich so nicht herstellen, allenfalls Vollbeschäftigung in der Rüstungsindustrie – aber wir müssten uns auf mehr Flüchtlinge einstellen.

 

Zurück zur inneren Sicherheit: Die handfeste Zuneigung zur bewaffneten Truppe, die für Ruhe und Ordnung im eigenen Land sorgt, auch wenn sie dafür über Leichen marschieren muss, besitzt übrigens ebenso wie die wenig humane Behandlung von Flüchtlingen in der SPD eine lange Tradition, die bis zu den Anfängen der Weimarer Republik zurückreicht: Bereits 1919 ließ der sozialdemokratische Verteidigungsminister Gustav Noske („Einer muss den Bluthund machen.“) streikende Arbeiter, Spartakisten und Anhänger der Räterepubliken in München oder Bremen zusammenschießen, während er sich den rechtsradikalen Freikorps gegenüber recht tolerant zeigt. Sein SPD-Genosse, Innenminister Wolfgang Heine, dem gewisse Sympathien für die reaktionären Kapp-Putschisten nachgesagt wurden, ordnete 1920 an, jüdische Immigranten, die vor Pogromen in Osteuropa geflohen waren, zu internieren, und zwar in Abschiebungszentren bei Ingolstadt und Cottbus, die er selbst als „Konzentrationslager“ bezeichnete.

 

01/2016

 

Dazu auch:

Das sagt man nicht! in der Rubrik Medien     

               


   

Sekundärtugendbold

 

Nichts scheint ihm etwas anhaben zu können: Thomas de Maizière, multipler Versager auf unterschiedlichen Kabinettsposten, geht unbeirrbar seinen von bürokratischer Kärrnerspflicht gebeugten Gang, ohne Umweg durch die Niederungen der Realität. Man mag ihm Wahrnehmungsdefizite attestieren, doch des Deutschen liebste Eigenschaften, die auch auf finstersten Befehl anspringenden Sekundärtugenden, kann ihm niemand absprechen.

 

Ohne störende Empathie

 

Fleiß, Treue oder Disziplin galten hierzulande seit jeher als unerlässliche Verhaltensmerkmale, die einen braven Bürger auszeichneten und das störungsfreie Funktionieren des Systems garantierten. Ethische Fundierung oder kritisches Hinterfragen der Obrigkeit und ihres Handelns waren in dieser Sicht der Dinge nicht vorgesehen, weshalb Oskar Lafontaine einst den Appell zur „Bündnistreue“ des damaligen Bundeskanzlers, der per NATO-Doppelbeschluss noch ein paar Atomwaffen mehr auf deutschem Boden stationieren wollte, so kommentierte: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit… Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“

 

Nun würde Thomas de Maizière, derzeit mal wieder Innenminister der Republik und ein Mann, der die selektive deutsche Tugend-Palette verinnerlicht hat, ansonsten aber frei von verantwortlichem oder gar kritischem Denken ist, Flüchtlinge, die ihm nicht als Menschen in Not, sondern als zu transportierende und zu minimierende Masse gelten, am liebsten aus den hiesigen Lagern in die Heimat oder sonst wohin expedieren. Dass er bestimmte Herkunftsländer als „sicher“ ansieht, offenbart, dass ihm neben Empathie und humanitärer Geisteshaltung auch noch die Wirklichkeitsnähe abgeht: Er sieht die Welt, wie sie sein sollte, und nicht so, wie sie tatsächlich ist.

 

Kürzlich nahm unser Spezialist für in militärisch schnarrendem Ton vorgetragene Plattitüden sein Mittagessen in der deutschen Botschaft zu Kabul ein, als sich ganz in der Nähe ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte und etliche Menschen mit sich in den Tod riss. Kein Grund für den Minister, der nur deshalb von Amts wegen preußische Scheuklappen-Disziplin propagieren darf, weil seine Vorfahren, hugenottische Flüchtlinge, nicht ins Frankreich der Bartholomäusnacht zurückgeschickt wurden, Verständnis für Familien aufzubringen, die sogar deutsche Massenunterkünfte dieser Terror-Hölle vorziehen.

 

Im Gegenteil: De Maizière sieht in Abschiebung und Rückführung die probaten Mittel, denn: "Aber Afghanistan ist ein großes Land. Dort gibt es unsichere und sichere Gebiete." Tatsächlich hat er bereits als Verteidigungsminister bei früheren Besuchen ein paar Quadratmeter sicheres Afghanistan kennengelernt – durch ganze Bundeswehr-Hundertschaften und die eigenen Security-Kräfte von der dortigen Realität abgeschirmt.

 

Sicher sind für ihn und seine Regierungskonsorten auch Maghreb-Staaten wie das Königreich Marokko, das seinerseits nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Spanischen Sahara fast 200.000 Sahauris in algerische Flüchtlingslager trieb und Kritiker in Foltergefängnissen verschwinden ließ. Die Welt des Thomas de Maizière ist in Ordnung: Diktatur, Gefahren und Verfolgung schützen nicht vor Sicherheit, so wie er sie definiert.

  

Gehorsam ins Desaster

 

Zwischen 2005 und 2009 war Thomas de Maizière Kanzleramtsminister und damit Herr der BND-Spione. In diese Zeit fiel die erst 2015 ruchbar gewordene Bespitzelung deutscher Politikgrößen und Wirtschaftslenker durch den US-Geheimdienst NSA. Obwohl der BND kräftig assistiert und auch in Eigenregie abgehört hatte, wollte der Oberaufseher von nichts gewusst haben. Später wurde allerdings aktenkundig, dass de Maizière zumindest im Fall der Aushorchung des  Luftfahrtkonzerns EADS informiert gewesen war und den Bundestag belogen hatte. Warum? War es Loyalität gegenüber den untergebenen Schlapphüten oder Kuschen vor den USA, oder wollte er vielleicht seiner angeblich schimmerlosen Chefin Angela Merkel eine Blamage ersparen?

 

Auch in den gut zweieinhalb Jahren als Verteidigungsminister bis 2013, einer Schaffensperiode, die er derart effektiv bewältigte, dass danach so ziemlich nichts, was der Bundeswehr gehörte, mehr schoss, flog oder schwamm, machte er sich erneut einer Unterlassung auf dem Geheimdienst-Sektor schuldig. Als politisch Verantwortlicher für den Militärischen Abschirmdienstes (MAD) verschwieg er 2012 dem Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Aufklärung der NSU-Straftraten (und der diesbezüglichen Ämterverstrickungen), dass er von einer frühen MAD-Akte über den Neonazi-Killer Mundlos wusste. Wollte er die Sicherheitsbehörden vor Recherchen und Vorwürfen bezüglich ihrer mangelnden Kommunikation untereinander, der bewussten Vertuschung oder gar der stillschweigenden Duldung der Verbrechen schützen?

 

In seinem Eifer, die Industrie (auch hier wieder allen voran EADS) generös zu fördern und die Aufrüstung der Bundeswehr zur globalen Eingreiftruppe voranzutreiben, ließ de Maizière bis Mai 2013 die Drohne Euro Hawk entwickeln. Erst im Mai 2013 stoppte er das Programm, weil die europäische Flugsicherheitsbehörde den unbemannten Gleiter nur für den Einsatz über unbewohntem Gebiet zertifizieren wollte. Die Konstrukteure hatten nämlich vergessen, ein automatisches Antikollisionssystem einzubauen. Eine Drohne, die, statt zu spionieren, die Luftfahrt sowie Stadt und Land gefährden würde oder allenfalls die Geheimnisse der Wüste und der Arktis hätte ausspähen können, schien selbst dem gutgläubigen Thomas nach vielen in den Sand gesetzten Millionen nicht erste Wahl.

 

Es sind der unbedingte Gehorsam seinen Vorgesetzten oder Volkes Stimme gegenüber und das sture Festhalten an gescheiterten Projekten und falschen Verbündeten, die belegen, dass Thomas de Maizière die deutscheste aller Tugenden verinnerlicht hat, die Nibelungentreue. Nicht dass man ihn mit dem finsteren Hagen von Tronje vergleichen könnte – hätte der ministerielle Tollpatsch den Mordauftrag erhalten, Siegfried würde noch heute leben - , doch der Hang zu sinnentleerter Pflichterfüllung, auch wenn diese in die Katastrophe führt, eint die beiden Recken im (ziemlich flachen) Geiste.

 

Die rechte Wortwahl

 

Dass Syrien, Afghanistan, überhaupt der halbe Orient und große Teile Nordafrikas brennen, scheint de Maizière bis Mitte letzten Jahres nicht aufgefallen zu sein, obwohl doch sein Land große Mengen des Brandbeschleunigers frei Haus lieferte. Das Innenministerium verschlief die Ankunft der Kriegsflüchtlinge an den Küsten Italiens und Griechenlands, ließ sich von der Karawane durch den Balkan nicht aufschrecken, nannte keine Zahlen, alarmierte die Bundesländer und die Kommunen nicht und mahnte keine Vorkehrungen für Verteilung, Unterbringung, Versorgung und Integrationsmaßnahmen an. Thomas de Maizière wirkte nicht auf den Kollegen Finanzminister, die personifizierte schwarze Null, ein, angemessene Mittel zur Verfügung zu stellen, ließ Immigranten, Gemeinden und freiwillige Helfer logistisch, finanziell und buchstäblich im Regen stehen.

 

Als im sächsischen Clausnitz Flüchtlinge nicht aus ihrem vom rechten Mob belagerten Bus aussteigen wollten und Polizisten vor Kameras einen verängstigten Jungen nach draußen zerrten, empörten sich selbst die Scheinheiligen im Lande zumindest verbal, nicht aber Thomas de Maizière: „Ich kann Kritik an diesem Polizeieinsatz nicht erkennen", sagte der Ressortchef mit der eingeschränkten Aufnahmefähigkeit. Und seinen Beamten unterstellte er jene Ignoranz und Ahnungslosigkeit, für die er mittlerweile berühmt ist: „Das war offenbar nicht vorhersehbar für die Polizei."

 

Als sogar der Meister aller Pannen den Ernst der Lage (sprich: das Potential an Ressentiments am riesigen reaktionären Rand der Gesellschaft) irgendwie ertastet hatte, fand er wenig hilfreiche, aber sehr diskriminierende Worte für das angebliche Verhalten von Menschen, die ihn bis dato wenig interessiert hatten: „Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte von Kilometern durch Deutschland zu fahren … Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen."

  

Darauf also reduziert Thomas de Maizière die massenhafte Misere und die quälende Verunsicherung der in Deutschland gestrandeten Flüchtlinge. In der Brust eines rechten Christdemokraten schlägt das Herz eben immer auch ein wenig für Pegida


02/2016

Dazu auch:

Asyl nach Wert im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Menschenkenner im Archiv der Rubrik Medien 



 

Ein Star denkt

 

Den Größen der internationalen Musikszene wird nachgesagt, sie seien ignorante Egomanen, die sich nur für die Gagenhöhe und die Attribute ihres luxuriösen Lebensstils interessierten. Nicht selten werden solche Klischees von der Realität bestätigt. Dass sie aber nicht zwangsläufig zutreffen müssen, belegt die folgende Anekdote, die mir der Nürnberger Konzertveranstalter Peter Harasim erzählte.

 

Harasim lässt in einer alten Fabrikhalle namens „Hirsch“ gern Bands aus einer Epoche auftreten, in der Rock-Musik noch mit Hand, Herz und Rage gespielt wurde, nicht mit elektronischem Overkill. Aber er holt auch weltberühmte Musiker zu größeren Konzerten nach Nürnberg, im Sommer vorzugsweise in den „Serenadenhof“. Hinter dem idyllischen Namen verbirgt sich das Atrium der von den Nazis begonnenen, aber nie vollendeten Kongresshalle, die in architektonischer Hybris dem römischen Kolosseum nachempfunden wurde.

 

Im Rahmen einer Europa-Tournee sollte Kris Kristofferson, eine der letzten lebenden Legenden der großen Country & Western-Ära, im Serenadenhof (der seltsamerweise in seiner Ruinenumgebung keineswegs gigantomanisch oder martialisch, sondern eher idyllisch wirkt) auftreten. Der gebürtige Texaner feierte nicht nur als Sänger und Songwriter (u. a. „Me and Bobby McGee“ oder „Help Me Make It Through the Night“) Triumphe, sondern auch als Hauptdarsteller in Filmen wie „Pat Garrett jagt Billy the Kid“ oder „Heaven`s Gate“. In der eher rechten Country-Szene der USA galt Kristofferson seit jeher als politisches enfant terrible, legte er sich doch mit den bastards in Washington an und unterstützte gar die Sandinisten in Nicaragua.

 

Doch schon bevor der Kartenvorverkauf in Nürnberg begann, meldete sich der Amerikaner bei den Veranstaltern und forderte die Absage des Konzerts im Serenadenhof. Es sei gegen seine politische Überzeugung, ein von den Nationalsozialisten errichteten Forum zu bespielen. Harasim schrieb Kristofferson einen langen Brief, in dem er unter anderem erklärte, dass er seit seiner Jugend Antifaschist sei und die Überzeugung hege, dass man den Nazis „absolut nichts“ überlassen dürfe, „auch nicht einen Inch meiner Heimatstadt“. Er erinnerte daran, dass Bob Dylan 1978 vor 80.000 Menschen ein Open-Air-Konzert auf dem benachbarten Reichsparteitagsgelände bestritten habe und dass viele Besucher darin eine Chance gesehen hätten, das von Hitlers geifernden Reden belastete Areal mit „einem positiven Geist zu erfüllen, ohne die Vergangenheit zu vergessen“. Außerdem bot er Kristofferson eine englischsprachige Führung durch das „Dokumentationszentrum“, das in einem Flügel der Kongresshalle untergebrachte Museum zur Vergangenheit Nürnbergs im Dritten Reich an.

 

Kristofferson, der übrigens mit seiner Familie die Tournee-Routen im Caravan abfährt, antwortete, er habe selten einen so differenzierten Brief von einem Veranstalter erhalten, kam nach Nürnberg, zeigte sich offen und freundlich. Am Abend gab er dann ein hervorragendes Konzert, was in vergangen Zeiten angesichts seiner gelegentlichen Alkohol-Eskapaden keine reine Selbstverständlichkeit gewesen wäre.

  

Dazu auch:

Wer kommt nach? im Archiv der Rubrik Medien   

 

 

 

Genosse Trendsetter

 

Zehn vom Verhalten der Sicherheitsbehörden zumindest begünstigte NSU-Morde, zahllose Überfälle auf Asylbewerber, unaufgeklärte Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oder das Untertauchen von 372 per Haftbefehl gesuchten Neonazis reichten nicht aus, das gesunde Rechtsempfinden in Deutschland aus tiefem Schlaf zu wecken. Ein zugegeben brutaler Flash-Mob in der Kölner Silvesternacht aber, der offenbar großenteils aus Migranten bestand, ließ den rechten Volkszorn hochkochen, setzte die Politik in hektische Bewegung und initiierte weltfremde Vorschläge en masse, um die bedrohte nationale Sicherheit wieder über alles in der Welt zu setzen. Die Wutbürger konnten sich vor allem auf Pegida verlassen – und auf Sigmar Gabriel…

 

Flüchtling gleich Täter

 

Dass sich unter Hunderttausenden von Menschen, die aus Regionen, in denen Gemeinschaft, Recht und Infrastruktur unter indirekter deutscher Mitwirkung zerstört wurden und blanke Brutalität herrscht, geflohen sind, auch Kriminelle und Gewalttäter, ja sogar eingeschleuste Terroristen befinden können, war von vornherein anzunehmen. Kein Grund, Asylbewerber unter Generalverdacht zu stellen, zumal hierzulande immer noch wesentlich mehr Verbrechen an ihnen als von ihnen begangen werden. Dass Frauen von manchen jungen Männern aus arabischen Ländern als nach Macho-Gutdünken zu be(miss)handelnde Sexualobjekte wahrgenommen werden, ist sicherlich auch auf die archaische Geschlechterhierarchie im Islam zurückzuführen, nur findet sich diese mehr oder minder ausgeprägt in fast allen Weltreligionen.

 

Es gibt hierzulande Polizisten, die Übergriffe verhindern oder Übeltäter verhaften können; es gibt Richter, die Urteile sprechen, und es gibt die Möglichkeit, Überführte und Verurteilte wegzusperren, um sie – bei unserem Strafvollzug allerdings ein frommer Wunsch – zu läutern. Es ist auch legitim, das Sexualstrafrecht zum Schutz von Frauen zu verschärfen – allerdings sei die Frage erlaubt, warum die Verantwortlichen dies zu gerade jetzt, nach einer temporären Ballung von Übergriffen durch eine Gruppe von Migranten planen, wo sie doch in der Vergangenheit trotz millionenfacher deutsch-deutscher Notzucht oder Gewalt in der Ehe nicht auf die Idee kamen.

 

Von den Pegida-Geiferern vor sich her getrieben, reicht den Politikern das beträchtliche Sanktionsinstrumentarium nicht mehr aus; jetzt müssen Turbo-Abschiebungen und Verbannungen aufs Land her, jetzt wird mit unsinnigen, nicht durchführbaren oder sogar rechtswidrigen Maßnahmen gedroht, und an die Spitze der selektiven Law-and-Order-Bewegung hat sich der wendige Genosse Sigmar Gabriel gesetzt.

 

Die schweigende Mehrheit wird laut

 

Als viele Bundesbürger erstaunt feststellten, dass die Kanzlerin der Unverbindlichkeit doch zu so etwas wie Mitgefühl fähig zu sein schien („Wir schaffen das!“), und ihr spontan zustimmten, musste Gabriel, der seiner Partei wieder einmal ein (nach Windrichtung zu besetzendes) Sozialthema davon schwimmen sah, zähneknirschend mitmachen – selbstverständlich nicht aus Überzeugung, sondern aus Kalkül. Bald aber verebbte der Willkommensjubel, und die schweigende Mehrheit, die Ausländer allenfalls als Wirte in der Eckkneipe und als Kellner auf Mallorca akzeptiert, erhob ihre Stimme und forderte den Stopp der „Invasion“. Rasch schloss sich der künftige Kanzlerkandidat von der traurigen Gestalt der Volksmeinung an und schwor die SPD darauf ein, sich den Deichhelfern wider die drohende Flut zuzugesellen, im Gegensatz zu Merkel sogar Obergrenzen zu akzeptieren, wenn sie nur zu Kontingenten umgetauft würden, fast die ganze Welt zum sicheren Herkunftsort zu erklären und überhaupt die EU-Demarkationslinien wieder flüchtlingsfest zu machen (ohne darüber nachzudenken, was mit den Massen verzweifelter Menschen, die so im Niemandsland des Westbalkans eingeschlossen würden, geschehen soll).

 

Nach den Übergriffen der Silvesternacht agierte Gabriel immer schneller: In atemberaubender Irrfahrt setzte er sich von der Kanzlerin ab, überholte beinahe den bayerischen Grenz- und Kulturschützer Seehofer rechts und legte mitsamt der stattlichen Riege sozialdemokratischer Bonsai-Geistesgrößen einen untauglichen Vorschlag nach dem anderen auf den Tisch. So sollten etwa Straftäter unter den Asylanten künftig schneller abgeschoben werden. Klingt gut (oder zumindest nach Tatkraft), geht aber meistens nicht: Die einen darf man nicht zurückexpedieren, weil in ihrer Heimat alle staatlichen Strukturen, darunter Justiz und Strafvollzug, zusammengebrochen sind, den anderen drohen Folter oder Todesstrafe, Dritte verfügen nicht über gültige Papiere. Ähnlich wie bei der avisierten Abdichtung der Grenzen gegen Flüchtlingsbefall fabuliert der flotte Sigmar sinnfrei über Vorhaben, für deren Realisierung er erst einmal die Genfer Konvention und zusätzlich das deutsche Grundrecht auf Freizügigkeit  kippen müsste.

 

Integration auf dem Lande?


„Aus den Augen, aus dem Sinn“, mag sich Gabriel bei seinem fadenscheinigsten Versuch, die Meinungsführerschaft unter den selbsternannten Verteidigern des Abendlandes zu erringen, gedacht haben. Sein von der Bundesregierung bereits aufgegriffener Vorschlag, die Residenzpflicht auf anerkannte Asylbewerber auszuweiten und sie aufs Land zu versenden, wurde am heftigsten von Unionspolitikern beklatscht, während sich einige, (zu) wenige, Genossen seiner eigenen Partei – endlich – an die Stirn griffen. Die beinahe menschenleeren und überalterten Weiler im tiefen Osten oder in schwer zugänglichen Mittelgebirgen als Verbannungsziele für Integrationsanwärter auch nur in Erwägung zu ziehen, entbehrt nicht eines gewissen (unfreiwilligen) Humors. Man könnte sich darüber amüsieren, fiele der Faktencheck nicht so tieftraurig aus:

- Flüchtlinge sollen integriert und mit der „deutschen Leitkultur“ vertraut

  gemacht werden. Zudem benötigen viele Mängelerkrankte und

  Traumatisierte medizinische und psychologische Unterstützung. Auf

  dem Land fehlt es an Ärzten, Therapeuten, vor allem aber auch an

  Sprachschulen sowie an Kindergärten, Horten und Inklusionsklassen.

  Sollen vielleicht – ein wahrhaft pegidaner Gedanke – deutsche Kultur

  und Lebensart muslimischen Zuwanderern am Beispiel der typisch

  teutonischen Schweinezucht vermittelt werden?

- Wenn ein Flüchtling in seiner Heimat Felder bestellt hat und sich hier in

  eine Dorfgemeinschaft eingliedern will, sollte ihm die Möglichkeit dazu

  geboten werden. Für die meisten jungen Asylbewerber aber gibt es

  keine Ausbildungs- und Arbeitsplätze auf dem Land.

- In einer größeren Stadt mit ihrem Medien-und Kulturangebot wird es

  ein Migrant leichter haben, geistige Anknüpfungspunkte und

  menschliche Kontakte zu finden als in der oft kulturell unterversorgten

  Provinz mit ihren für Fremde unzugänglichen Sitten und Gebräuchen.

  Zudem sind die meisten No-Go-Areas für Menschen mit dunkler

  Hautfarbe und exotischem Aussehen vor allem im Osten der Republik

  Kleinstädte, Dörfer und rurale Landstriche. (Was nicht heißen soll, dass

  nicht die Bürger und Verwaltungen etlicher Orte in ländlichen Regionen

  bei der Aufnahme von Flüchtlingen mehr Verantwortungsbewusstsein

  als die Berliner Politiker bewiesen hätten.)

- Gabriel will die Ghettobildung in Ballungsräumen verhindern,

  vernachlässigt bei seinem Schnellschuss allerdings zwei Tatsachen:

  Zum einen drängen viele Flüchtlinge in Großstädte, weil dort Verwandte

  und Bekannte wohnen, die ihnen den Start ins neue Leben erleichtern

  können. Andererseits ist (seit Jahrzehnten) eine verfehlte

  Wohnungsbau- und Mietpreispolitik die allererste Ursache für

  Ghettobildung innerhalb einer Kommune.

 

Es ist der Eifer, den Gabriel an den Tag legt, um den Aufenthalt für gehetzte Menschen in Deutschland so unangenehm wie möglich zu gestalten und so eine schlecht informierte und angstinfizierte Bevölkerungsmehrheit in ihren Vorurteilen und Aversionen zu bedienen, der den Mann so unglaubwürdig und sein Gebaren so widerlich wirken lässt.

 

Eine sozialdemokratische Rolle rückwärts

 

Für den Parteichef und seinen kongenialen Mitstreiter Frank Walter Steinmeier reduziert sich sozialdemokratische Politik auf zwei Kernsujets: das Aufgreifen von Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung (ungeachtet des Hintergrunds und der Legitimität) zwecks Instrumentalisierung für die eigenen Wahlkampagnen sowie die gleichzeitige Anbiederung an die höchsten Wirtschaftskreise, an die tatsächlichen Entscheider der Republik somit.

 

Die Schadenfreude stand Gabriel aufs Gesicht geschrieben, als offenssichtlich wurde, dass sich die sonst so instinktsichere Kanzlerin bei ihrer als folgenlose Geste, nicht als Handlungsanweisung gemeinten Willkommensbotschaft an die Flüchtlinge in der Bevölkerungsakzeptanz verrechnet hatte und er sich sogleich ins xenophobe Lager der besorgten Bürger schlagen konnte, um anschließend der Partei die Rolle rückwärts in die tiefste Reaktion zu verordnen. Parellel dazu hofiert er die Konzerne im Lande, setzte sich etwa über das Veto des Kartellamts zur Tengelmann-Übernahme durch den künftigen Monopolisten Edeka hinweg oder genehmigte mehr Waffenexporte an Nicht-Nato-Staaten, insbesondere auch an Saudi-Arabien, das derzeit vom Terroristenfinancier und Anstifter weltweiter Konflikte zum direkten Kriegsherrn (Jemen) aufsteigt, als jeder Bundeswirtschaftsminister zuvor. Ins Bild passt, dass der andere Genosse der Bosse, Außenminister Steinmeier, kurz nach den Massenhinrichtungen im Gottesstaat zur Eröffnung eines Kulturfestivals nach Riad reist. Den Handelspartner der ersten Industrieadressen hierzulande sollte ein fügsamer Sozialdemokrat tunlichst nicht verstimmen!

 

Doch die von der SPD erhoffte Unterstützung wird ausbleiben: Die Konzern-Lobbyisten lassen sich die Gefälligkeiten der einstigen Arbeiterpartei zwar gerne gefallen, werden aber, wenn es darauf ankommt, als politischen Juniorpartner und legislativen Erfüllungsgehilfen schon aus bewährter Tradition immer die Union vorziehen.

 

Letztendlich nutzt all das peinliche Gewusel weder Sigmar Gabriel in seiner Sackgasse, genannt Kanzlerkandidatur, noch der SPD in ihrem galoppierenden Bedeutungsverlust. Die Zeiten, da die Partei vom Genossen Trend schwärmte, weil sie bei Wahlen kontinuierlich zulegte, sind längst entschwunden. Und der Versuch, mit populistischen Forderungen Punkte in den Niederungen der Volksmeinung zu sammeln, ist Gabriel, der so gern den neuen Trendsetter geben würde, aber doch nur den Flatulenzen des Spießertums hinterherläuft, kläglich misslungen. Interviewt, welcher Partei sie derzeit ihre Stimme geben würden, nannten bei einer bayerischen Repräsentativerhebung letzte Woche gerade einmal 16 Prozent der Befragten die SPD. Zum Vergleich der erklärt rechtsnationale Block: Seehofers CSU kam auf 47, die AFD auf 8 Prozent, und für die ebenfalls stramm flüchtlingsfeindlichen Freien Wähler votierten immerhin noch 5 Prozent.

 

Dieses Ergebnis zeigt, dass auch die Dumpfen im Lande nicht auf Gabriels rechtsgefärbte Zuckerl hereinfallen, sondern im Zweifel den Ober-Populisten Seehofer oder gleich die chauvinistischen Originale wählen – und nicht die sozialdemokratische Kopie.


01/2016

 

Dazu auch:

Sichere Herkunft in der Rubrik Politik und Abgrund

Die Flüchtlingsmacher und Asyl nach Wert in derselben Rubrik




2015


        

 

Halt an, Haseloff!

 

Sachsen-Anhalt rückt recht selten ins öffentliche Interesse der Republik: ein wenig Chemie, ein bisschen Luther, einige schöne Burgen und die Überbleibsel des anrüchigen Braunkohle-Tagebaus. Und wie das Land, so sein Ministerpräsident: Reiner Haselhoff, einst in der Blockflöten-CDU der DDR politisch sozialisiert, wirkt eher grau und langweilig, man übersieht ihn leicht im bunten Reigen der 16 Föderal-Fürsten. Damit sich diese Wahrnehmung ändert, hat sich Hasselhoff nun zu Wort gemeldet. Und damit über seine Wortmeldung auch gesprochen und geschrieben wird, hat er zwei Reflexzonen des deutschen Volkskörpers verbal touchiert: Flüchtlinge und sichere Grenzen.

 

Die eingezäunte Freiheit

 

So fordert Haselhoff den dauerhaften Schutz der deutschen Außengrenzen. „Wenn ein nicht funktionierendes System wie Schengen dazu beiträgt, Europa zu spalten, müssen wir die nationale Grenzsicherung wieder einführen, um Europa zusammenzuhalten.“ Zum Verständnis: Erst wenn wir die Schlagbäume wieder herunterlassen, gegebenenfalls Stacheldraht anbringen und bewaffnete Grenzschützer patrouillieren lassen, wird unser Kontinent wieder zu einer großen Familie, wobei die deutschen Eltern und Kinder in einem Haus wohnen, die entfernten Tanten, Onkel und die restliche bucklige Verwandtschaft aber in ihren eigenen Hütten, möglichst weit weg.

 

Nun wird die neue Abschottung weder Flüchtlinge abhalten, deren Routen dadurch lediglich teurer und gefährlicher werden, noch IS-Terroristen, die längst über exzellente Reise-Logistik verfügen und zudem häufig ihre Frontleute aus den vernachlässigten Vorort-Ghettos der Zielstaaten rekrutieren. Vielleicht ist daher Haseloffs Vorstoß als eine Art nostalgischer Regression zu deuten. Schließlich ist der Ministerpräsident in einem Staat aufgewachsen, der seine Grenzen hervorragend gegen Querungen von innen und außen zu sichern verstand. Möglicherweise ließ der „antifaschistische Schutzwall“ (SED-Jargon für die Mauer) ein Gefühl von Geborgenheit aufkommen, eine Geisteshaltung, die den freien Reiseverkehr (den kritische Geister neben dem Binnenfrieden zu den wenigen Vorteilen der EU für normale Menschen zählen) als frivol, beunruhigend, ja sogar die sorgsam eingehegte Biedermeierlichkeit bedrohend einstuft.

 

Doch Haseloff legt noch eins nach: „Wir brauchen wieder die Hoheit über unser Territorium.“ Und die ist uns seiner Meinung nach nicht von Konzernen, Bankenkonsortien und politischen Seilschaften entwunden worden, sondern von Kriegs- und Elendsflüchtlingen, deren rücksichtslose Landnahme dem deutschen Volk den deutschen Boden (über den es dank Monsanto und Spekulation ohnehin kaum mehr souverän verfügen kann) raubt. So werden unter dem Beifall einer (viel zu selten) schweigenden Mehrheit Opfer zu Tätern in längst vertuschten Fällen gemacht.

   

Wie berechnet man Menschenrechte?

 

Haseloff räsoniert gleich weiter, dass sein Bundesland im Jahr höchstens 12.000 Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen könne, sozusagen um die Obergrenzhoheit über das zu sichernde Territorium nicht zu verlieren. Er rechnet das für die ganze Republik hoch und kommt auf 400.000 Immigranten per annum. Mit Rechnen und Messen sollte sich Reiner Haseloff eigentlich auskennen, hat er doch sein Physiker-Diplom einst mit Untersuchungen zu umwelttechnischen Messverfahren erworben.

 

Nur, welche Grundlagen liegen den Berechnungen des Christdemokraten zugrunde? Er möchte doch sicherlich nicht gegen das Asylrecht in der deutschen Verfassung oder die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen, denen zufolge Menschen, die aus politischen oder ethnischen Gründen diskriminiert und massakriert werden oder wegen anderer Gefahren für Leib und Leben ihre Heimat verlassen, als Verfolgte anzuerkennen sind, ohne dass Mengenbeschränkungen eine Rolle spielen dürfen. Also muss Haseloff eine wissenschaftliche Hypothese oder eine mathematische Gleichung im Ärmel haben, die ihn zu der gewagten Prognose von 400.000 zähneknirschend zu ertragenden Immigranten veranlasst.

 

Vielleicht lässt sich der Haseloffs Vorstoß aus dem Motto seiner Homepage ableiten: „Streng in der Sache, milde in der Form, treu sich selbst.“ Tatsächlich kann man ihm eine gewisse Strenge im Kampf gegen Überfremdung nicht absprechen, ächzt Sachsen-Anhalt doch bereits jetzt unter einem Ausländeranteil von 1,9 Prozent. Andrerseits manifestiert sich eine gewisse Milde in der formalen Zulassung von 12.000 Flüchtlingen – quasi ein Versuch, Menschenrechte mathematisch zu quantifizieren. Und treu bleibt der Ministerpräsident sich und seinem Machterhaltungstrieb, indem er zumindest schrittweise auf die Pegida-Rabauken (immerhin potentielle Wähler) zugeht. Vielleicht haben bei der Festlegung auf 400.000 Auserwählte allerdings auch religiöse Kalkulationen eine Rolle gespielt, die der Katholik Haseloff ausnahmsweise der Heilslehre einer konkurrierenden Sekte entlehnt haben könnte.

 

Das Himmelreich ist voll

 

Nach einer Formel, die sie aus Büchern des Alten Testaments ableiteten, errechneten die Zeugen Jehovas, dass dereinst genau 144.000 Fromme des Himmelsreichs teilhaftig werden. Könnten ähnliche Rechenkunststücke Reiner Haseloffs zu der kryptischen Zahl von 400.000 Menschen, die nicht zuletzt wegen der EU-Interventionspolitik und der Lieferung von Waffen made in Germany aus ihrer Heimat fliehen mussten, jetzt aber das deutsche Paradies betreten dürfen, geführt haben? Die Zeugen Jehovas allerdings haben ihr Heilversprechen modifiziert, handelte es sich doch zunächst um eine kleine Sekte, die mittlerweile zu einer großen, weltumspannenden Gemeinschaft geworden ist, welche allen Erlösungssüchtigen etwas bieten sollte. Für den Rest der eingeschriebenen Gläubigen ist nun nach dem Jüngsten Gericht ein ewiges Leben auf Erden vorgesehen. Eine adäquate Ergänzung fehlt im Entwurf des sächsisch-anhaltinischen Vordenkers.

 

So wie Haseloff zu wissen glaubt, wann genau das Boot voll sei, hegten die Zeugen Jehovas die Gewissheit, den Weltuntergang exakt voraussagen zu können, und kündigten ihn für 1914, dann für 1925 und zuletzt für 1975 an. Mittlerweile sind sie vorsichtiger geworden und schweigen lieber zu diesem Thema. Vielleicht sollte man das dem christdemokratischen Parteipropheten auch ans Herz legen.


12/2015



Etikettenschwindel


Mitte Dezember soll auf dem Bundesparteitag in Berlin die Juristin Katarina Barley zur Generalsekretärin der SPD gewählt werden, mithin zur Nachfolgerin von Yasmin Fahimi, die sich einem Chamäleon gleich in die für die heutige Sozialdemokratie typische Kontur- und Richtungslosigkeit einfügte und sich nun– erschöpft von so viel Anpassung – als Staatssekretärin in das ̉Arbeitsministerium von Mutter Nahles flüchtet. Und schon warnt Springers Flaggschiff Die Welt, die Triererin Barley gehöre dem "linken Flügel" der SPD-Bundestagsfraktion an.

 

Manch einer wird sich verwundert die Augen reiben: Das Phantom vom linken Flügel in der SPD geht wieder einmal um. Sind revolutionäre Stürme aus dem Schoß der sich mittlerweile dem Bonsai-Format nähernden Volkspartei zu befürchten? Gemach, drei Beobachtungen lassen vermuten, dass die Grütze nicht ganz so rot gegessen wird, wie sie von eifrigen Journalisten angerührt wurde:

 

Die Welt ist am äußersten rechten Rand des bürgerlichen        Meinungsspektrums angesiedelt. Als links gälte bei ihr bereits ein  Mitglied der CDU-Mittelstandsvereinigung, das Wörter wie  Mitbestimmung oder Steuergerechtigkeit richtig buchstabieren kann.

- Spötter behaupten, der/die letzte Linke habe die SPD bereits 1919  verlassen.

- Immer wieder sprangen Sozialdemokraten als (gefühlte) Linke, um als  gestandene Reaktionäre oder gehätschelte Schoßhündchen des      Establishments zu landen. Denken wir nur an den radikalen Juso und  späteren Kriegs- und Reichenkanzler Gerhard Schröder oder an Heiko  Maas, mit dem die Vorratsdatenspeicherung erst gar nicht, dann aber,  als er erst Bundesjustizminister war, umso schneller zu machen war.  Überhaupt ist bei der SPD das kategorische Basta „Mit uns nicht!“ ein  sicheres Zeichen für die zeitnahe Übererfüllung der Wünsche aus  Wirtschaft und/oder Union. Oder poetisch ausgedrückt: Ein Flügel pflegt  zu entfleuchen, der linke bei der SPD besonders flugs.

 

Nun muss die vermeintlich linke Katarina Barley irgendwie mit ihrem Chef, dem ebenso glaubwürdigen wie erfolgreichen Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, auskommen. Frühere Äußerungen deuten allerdings künftige Probleme an: Sie möge „Menschen mit Profil“, die auch „ein paar Ecken und Kanten“ hätten, sagte sie. Sie muss Gabriel hassen!

 

Andererseits gleicht ihr Verhältnis zu Pegida haargenau dem windelweichen Schmusekurs, den Gabriel einst einschlug, bevor er registrieren musste, dass es in diesem trüben Sumpf nichts zu fischen gibt. Man müsse reden „mit den Menschen, die sich sehr verunsichert fühlen“, erklärte Barley, als könne eine Gesprächstherapie für unbeholfene Neonazis den schüchternen Fremdenhass von den Straßen bannen.

 

Sehen wir uns das Abstimmungsverhalten der neuen Hoffnungsträgerin einer siechen Partei einmal näher an: Katarina Barley zeigte sich im Bundestag wehrhaft und befürwortete alle Bundeswehreinsätze bzw. deren Verlängerungen von Somalia bis Afghanistan, vom Libanon bis zum sicheren Herkunftsland Kosovo. Auch stimmte sie für nationale Ausnahmeregelungen beim Anbau gentechnisch manipulierter Pflanzen, was sie zum Darling der Agro-Monopole prädestiniert, sowie für die Vorratsdatenspeicherung, was die Nachrichtendienste jubeln lässt.

 

Nein hingegen sagte sie etwa zur Ost-West-Angleichung des Rentenniveaus oder zu einer nachhaltigen Liegenschaftspolitik, die u. a. die Unterbringung von Flüchtlingen erleichtert hätte. Die (nur zur Erinnerung) Sozialdemokratin votierte auch gegen die Verhinderung von EU-Subventionen für AKW-Neubauprojekte und gegen die Kündigung bilateraler Kooperationen in der Nuklear-Technologie. Die Wirtschaft dürfte sich auch über ihr entschiedenes Njet zur Ablehnung anonymer und völkerrechtlich illegitimer Schiedsgerichte bei TTIP und Ceta gefreut haben. Überhaupt werden Militärs, Schnüffler und Großkonzerne den „linken“ Engel noch ganz arg lieb gewinnen.  

 

Fraktionsdisziplin? Taktischer Gehorsam? Egal. Wer so abstimmt, führt den Verdacht der Linksabweichung überzeugend ad absurdum. Folglich kann sich Katarina Barley in die Gilde der ehrenwerten Opportunisten einreihen und mit den Genossen aus voller Kehle das gendertechnisch allerdings nicht ganz korrekte Kampflied der deutschen Spezialdemokratie anstimmen: „Brüder, zur Sonne, zur Feigheit!“

 

11/2015       

 


  

Mensch Schäuble!?

 

Das 25-jährige Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung war für Bild, die Hauspostille des gut-, klein- und spießbürgerlichen Furors, Anlass genug, uns die Briefkästen ungebeten mit einer Sonderausgabe zu verstopfen. Da ein denkender Mensch dem Springer-Verlag kein Geld in den Rachen des stummen Verkäufers wirft, kommt er nur selten in den (fragwürdigen) Genuss des Revolverblatt-Panoptikums. Umso erstaunter wird er in diesem seltenen Falle feststellen, dass ein offenbar von der Senilität angefressener Udo Lindenberg sich bereitfindet, Banales ins Mikro eines Bild-Schreiberlings zu säuseln. Eher durfte man schon mit unsinnigen Statements der blonden Betroffenheitswalküre des germanischen Films, Veronica Ferres („…weil wir Deutschen Waldmenschen sind“), rechnen; den unbestrittenen Höhepunkt der nationalen Nabelschau aber liefert Wolfgang Schäuble mit kryptisch verschwurbelten Bemerkungen zu teutonischer Kunst und Kultur.

 

Unter dem Titel „Was mir Freude macht, wenn ich an Deutschland denke“ soll der sonst stets so verkniffen und pessimistisch wirkende Bundesfinanzminister, eigentlich eine typische Euphorie-Bremse, typische Dinge skizzieren, die sein Herz hüpfen lassen. Und gleich 25 zum Teil illustrierte Lustobjekte (vom Tempelhofer Luftbrückendenkmal über Sylt bis zum Freiburger Münster), quasi für jedes Zusammenwucherungsjahr eins, kommentiert der Freund systemrelevanter Banken und Feind levantinischer Leichtlebigkeit kurz und bisweilen etwas wunderlich.

 

So taucht als freudespendende deutsche Institution an 21. Stelle der Name des „Tunnel-Bohrers“ Martin Herrenknecht auf, weil dieser „weltweites Ansehen“ genieße. Gut, Herrenknecht stammt wie Schäuble aus dem Ländle, hat zufällig die Ausschreibung für die Wühlarbeiten von Stuttgart 21 gewonnen und verfügt über einen illustren Freundeskreis. Zu dem wiederum gehören u. a. Lothar Späth, früherer BW-Ministerpräsident, der eher ein intensives Gerüchle denn nur ein Geschmäckle hinterließ, und Werner Schmidt, der einstige Vorstandsvorsitzende der Bayern LB, der nach dem Hypo-Alpe-Adria-Skandal wegen Bestechung zu 18 Monaten verurteilt wurde. Aber der laxe bis illegale Umgang mit Geldern – und seien es Parteispenden – war für Wolfgang Schäuble noch nie ein Hindernis auf dem Weg zum deutschen Denkmal. Herrenknecht aber wird sich für die eine dezente Werbung darstellende Ernennung zum Freudensymbol sicherlich erkenntlich zeigen (falls er dies als vorauseilender Götterfunke nicht schon getan hat). Ein Händle wäscht bekanntlich das andere…

 

Die 24. Freude wird durch ein Foto in Szene gesetzt, das den zwischen seinem Schreibtisch und der Wand, an der ein Kunstobjekt hängt, sitzenden Minister zeigt. Das Gemälde „Verwegenheit stiften“ stammt von Jörg Immendorff, der sich einst vom Maoisten zum Kokainisten und Bild-Illustrator entwickelt hatte und Assistentenwerke als eigene Originale ausgegeben haben soll. „Von meinem Schreibtisch sehe ich drauf, lasse mich ermutigen und inspirieren“, schwärmt Schäuble. Überraschenderweise scheint der als akribischer Malocher verleumdete Politiker Mut und Inspiration der schnöden Arbeit vorzuziehen, wie das Foto nahelegt. Um das Werk stets im Auge zu behalten, müsste Schäuble nämlich mit dem Rücken zu seiner Schreibtischplatte sitzen.

 

Dass ein Finanzminister vor allem die Knete im Sinne hat, wenn es um Werte geht, ist nicht weiter verwunderlich. Daher Rang 15 für die 1-Euro-Münze. „Das Euro-Bargeld erinnert uns jeden Tag beim Blick ins Portemonnaie daran, dass Europa zusammengewachsen ist…“ Davon abgesehen, dass Herr Schäuble sicherlich schon lang nichts mehr bar bezahlt haben dürfte (und wenn, dann nicht mit harter Münze), erinnert das Schütteln des leeren Geldbeutels die griechischen Rentner in erster Linie daran, dass sie nicht mehr allzu viel Zeit vor sich haben, können sie sich doch die Medikamente und ärztlichen Behandlungen eines auf EU-Geheiß zwangsprivatisierten Gesundheitswesens nicht mehr leisten. Auch beim Zusammenwachsen fallen offenbar Späne.

 

Hymnisch und irgendwie zutreffend hingegen Schäubles Kommentar zur Nummer 5 in der Hitliste deutscher Annehmlichkeiten: „Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes gelang ein juristisches Meisterwerk, auf dem unsere Demokratie nun schon seit Jahrzehnten sicher ruht.“ Was heißt hier „ruht“? Tief und fest schläft, wäre der treffendere Ausdruck. Die Regierungen und Parteien, die unsere Demokratie repräsentieren, scheren sich nämlich einen Dreck um die Verfassung von anno dazumal. Es sei denn, ein Artikel stört, etwa beim Asylrecht; dann ändert man ihn eben, wenn möglich.

 

Ein Fläschchen Wein aus der Heimat, ein bisschen Aachener Dom und der Berliner Reichstag runden ein Potpourri deutsch-fröhlicher Befindlichkeiten ab, das alle Sorgen sozial Schwacher, die mit deutscher Wertarbeit ausgestatteten Diktatoren und Islamisten, die u. a. von deutscher Marktmacht losgetretenen Flüchtlingswellen und die  flammende Willkommenskultur deutscher Neonazis außen vor lässt. Trotz oder gerade wegen solcher Petitessen ist sich Schäuble mit Voltaires irrlichterndem (deutschem) Professor Pangloss im „Candide“ sinngemäß einig: Wir leben im besten aller möglichen Deutschlands.

 

10/2015

      

  

 

Babyface statt Münte

 

Ein Mann organisiert erfolgreich die geldschweren, aber inhaltsleeren Präsidentschaftswahlkämpfe von Barack Obama und verhilft dann dem erzreaktionären Tory-Chef David Cameron in Großbritannien zur Wiederwahl. Schon als er zuvor dem US-Senator Max Baucis als Kampagnenleiter diente, offenbarte er eine selbst für diesen Job bemerkenswerte Skrupellosigkeit: Er instrumentalisierte die Homophobie des Wahlvolks von Montana, indem er den wichtigsten Gegenkandidaten als schwul hinstellte, und nutzte den bläulichen Teint eines anderen Kontrahenten, der eine Anti-Infektionslösung zu sich nehmen musste, um von politischen Aussagen abzulenken. Man könnte Jim „Babyface“ Messina mit Recht einen Opportunisten, Verleumder und Polit-Fälscher nennen – oder aber den Hoffnungsträger der SPD.

 

Die glorreiche Kampa

 

Natürlich lieferte die Entscheidung der abgehalfterten Juniorpartner in der Merkel-Regierung, den abgefeimten PR-Spezialisten für viel Geld als Manager der nächsten Wahlkämpfe einzukaufen, Kommentatoren aller Couleur reichlich Stoff für Kritik, Spott und mediales Kopfschütteln. Doch die weisen Publizisten irren, wenn sie glauben, die SPD werde ihre Unschuld verlieren, wenn sie ihr künftiges Wohl einem Trickser und Rosstäuscher anvertraut; die ehrwürdige Partei geht nur konsequent den Weg weiter, den sie spätestens 1998 eingeschlagen hat, als sie den verdienten Genossen Müntefering, der vielleicht weniger geldgeil als Messina war, aber gedanklich ähnlich tickte wie dieser, im Wahlkampf Schröder gegen Kohl erstmals zum Kampagnen-Leiter bestellte.

 

Franz Müntefering diente seiner Partei u. a. als Minister, Vorsitzender der Bundestagsfraktion, Vizekanzler und eben als Boss des „Kampa“ genannten Propaganda-Teams für Wahlkämpfe. Ihm genügte ein Modalverb für die Satzaussage („Die kann Partei“ über Andrea Nahles), womit er sich um die Förderung des Pidgin-Deutschs verdient machte, während er mit abstrusen Vergleichen („Das ist das schönste Amt neben dem Papst – Vorsitzender der SPD zu sein.“) geradezu stilbildend auf dem Gebiet des blasphemisch-masochistischen Irrationalismus wirkte. Müntefering tat sich hart, komplexe politische Inhalte zu postulieren, also verzichtete er – im besten Einvernehmen mit seiner Partei – ganz auf solche. Immerhin ließ er einen tiefen, ehrlichen Einblick in die Validität der von ihm unters Volkgebrachten stimmenheischenden Luftblasen zu: „Dass wir oft an Wahlkampfaussagen gemessen werden, ist nicht gerecht.“

 

Abschied von den Inhalten

 

In jener Zeit verabschiedete sich die deutsche Sozialdemokratie endgültig von den letzten der Tradition der Arbeiterbewegung entlehnten Paradigmen. Das Geschwätz von gestern sollte nicht die Chancen auf heutige Wahlsiege schmälern. Wie die Parteien in den USA versprach die SPD vieles, um nach dem Urnengang wenig bis nichts zu halten oder die Ankündigungen sogar ins Gegenteil zu verkehren.

 

Mit der SPD werde es keine Mehrwertsteuererhöhung geben, hieß es einst kategorisch. Nach der Wahl wurde die MWSt noch drastischer heraufgesetzt, als der Koalitionspartner CDU/CSU es ursprünglich geplant hatte. Vor allem aber Gerhard Schröder konterkarierte den sozialen Anspruch seiner Partei, indem er per Abschaffung der Vermögenssteuer eine gewaltige Umverteilung von unten nach oben einleitete. Auch das klassische SPD-Bekenntnis zum Weltfrieden unterlief der autoritäre Niedersachse und schickte die Bundeswehr in einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien. Dazu kommen noch ein Wirtschaftsminister namens Gabriel, der verbal die Waffenexporte begrenzen will, aber de facto mit der Rüstungslobby Erleichterungen für eben diese Ausfuhren vereinbart, ein Veto (vor der Wahl) gegen die Ausländermaut, das auf den Regierungsbänken dahin schmilzt, die windelweiche Haltung zum Braunkohletagebau und vieles mehr.

 

Für die SPD ist also Tarnen und Täuschen längst zur politischen Strategie geworden, und das kann Jim Babyface Messina auch, vermutlich sogar noch besser. Allerdings, werden nun einige altgediente Genossen bemängeln, fehle ihm der Stallgeruch, den Münte hatte.    

 

Der Erfolg heiligt die rechten Mittel

 

Da im Stall der SPD längst keine politisch relevanten Objekte mehr scharren, sondern lediglich deren verrottete Hinterlassenschaften vor sich hin muffeln, dürfte es Messina nicht schwerfallen, sich durch intensives Herumwälzen das gewünschte Odeur zu holen. Und dann kann er mit Fakes und Diffamierungen ans Werk gehen, um der Partei seines Herzens die Stimmen der Doofen zu sichern. Zwei Probleme könnten dabei allerdings auf Messina zukommen:

 

In den USA war er es gewohnt, für die Wahlkampagnen

   Millionenspenden aus der Oligarchie, die sich dafür Wohlverhalten der

   Politiker versprach, einzusammeln. Welcher deutsche Milliardär wird

   aber viel Geld für die SPD als Zweitpartei ausgeben wollen, da diese in

   vorauseilendem Gehorsam ohnehin beschließt, was er wünscht? Zumal

   er ja bereits das Original, die Union, fürstlich honoriert.

 

-  Wie kann Messina einen Mann wie den obskur lavierenden Sigmar

   Gabriel, dem kaum jemand auch nur seinen Hund anvertrauen würde,

   zum Bundeskanzler machen? Wird er – der ausgeklügelten

   messinischen Logik folgend – Angela Merkel als lesbische Aidskranke

   verunglimpfen?

 

Der Erfolg heiligt bekanntlich die Mittel, und die dürfen nach SPD-Wahrnehmung ruhig rechts und unseriös sein, denn mit diesen Attributen hat die Partei schon lange kein Problem mehr. Insofern ist Jim Messina genau der richtige Impulsgeber für eine verantwortungslose Zukunft in Regierungsverantwortung.

 

09/2015   

 

 


 

Der TTIP-Flüsterer

 

John B. Emerson, US-Botschafter in Berlin, ist ein smarter Vertreter seines Landes – insbesondere wenn es um die wirtschaftlichen Interessen der Regierung in Washington und der sie beauftragenden Konzerne geht. Ein in den Nürnberger Nachrichten (NN) veröffentlichtes Interview verdeutlicht Emersons Geschick, heikle Fragen zu umschiffen und den Antworten eine beruhigende Wendung zu geben. Wie ein Pferdeflüsterer aufsässigen Tieren Sicherheit und letztendlich Gehorsam suggeriert, vermittelt der Diplomat der NN-Journalistin und den Lesern das Gefühl, ihre Befürchtungen seien gegenstandslos.

 

An den US-Universitäten sind Debattier-Kurse en vogue. Bei den Diskussionen geht es nicht um Erkenntnisgewinn, theoretische Inhalte oder Klarlegung von Standpunkten, sondern um Strategien, den Widerpart mittels Spitzfindigkeiten und Rabulistik als weltfremd, lächerlich oder zumindest ängstlich hinzustellen. Botschafter Emerson hat sich in dieser Disziplin offenbar zum Spezialisten ausbilden lassen. Jedenfalls versetzte er die arglose Wirtschaftsredakteurin Tanja Toplak-Pall in andächtiges Schweigen, indem er ihr die Fragen im Mund herumdrehte bzw. Antworten gewährte, wie sie das delphische Orakel nicht verwirrender hätte anbieten können.

 

Völlig richtig stellt die Interviewerin der NN zum Freihandelsvertrag TTIP fest: „Ein umstrittenes Thema sind vor allem die nicht öffentlichen Schiedsgerichte und der Investitionsschutz…“

 

Väterlich besänftigend (und voll an den realen Befürchtungen vorbei) entgegnet Emerson: „Wir sind uns bewusst, dass die Öffentlichkeit darüber besorgt ist. Aber: Das Instrument existiert in weltweit über 2000 Verträgen. In den vergangenen 35 Jahren wurde es nur 13-mal gegen die USA eingesetzt. Wir haben jeden Fall gewonnen.“

 

Hier versäumt es die Journalistin nachzuhaken, und so bleibt eine beschönigende Bestandsaufnahme unwidersprochen stehen, nach der gar nicht gefragt wurde. Die berechtigten und erhärteten Zweifel in Europa betreffen nämlich nicht Klagen gegen die USA, sondern Schadenersatzforderungen aus den USA, durch Unternehmen, die sich von der staatlichen Gesetzgebung oder von regionalen Behörden anderer Länder um die Chance zur Profitmaximierung gebracht sehen. Nur ein Narr würde vor einem nicht öffentlich agierenden Schiedsgericht ohne jede Berufungs- oder Revisionsmöglichkeit ausgerechnet gegen den Staat vorgehen, der die Sozial-, Gesundheits-, Umweltschutz- oder Arbeitsrechtsnormen ohnehin schon auf ein wirtschaftsaffines, also unterstes, Niveau gesenkt hat und der diese ganzen ominösen Regelungen bestens kennt, weil er sie im Dienste der US-Konzerne kreiert und implementiert hat.

 

Umgekehrt wird ein Schuh draus. Es sollen hier nur einige Auszüge aus der Horror-Liste der Klagen von US-Unternehmen gegen souveräne Staaten angeführt werden:

- Im Rahmen des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA

  erstritt sich die Firma Metaclad Schadenersatz von Mexiko, weil dort

  eine Provinzregierung die Verklappung von Giftmüll in einem  

  Naturschutzgebiet untersagt hatte.

- Fünf Millionen Dollar Entschädigung erhielt der US-

  Entsorgungsspezialist S.D. Meyers von Kanada, weil er keinen PCB-

  Abfall dorthin exportieren durfte.

- Gute Chancen hat der US-Gasproduzent Lone Pine bei seiner Klage

  gegen Kanada, weil die Provinz Quebec Frecking verboten hat. Und hier

  geht es um richtig viel Geld, nämlich 250 Millionen Dollar.

- Milliarden wollte der US-Tabakkonzern Philip Morris von der

  australischen Regierung, weil er sich durch deren strikte Antiraucher-

  Gesetzgebung an guten Geschäften gehindert sah. Als Philip

  Morris scheiterte, versuchte er dasselbe mit dem kleinen Uruguay.

  Zwar existiert kein Freihandelsabkommen Uruguays mit den USA, wohl

  aber mit der Schweiz. Daher konnte die dortige Philip-Morris-

  Niederlassung tätig werden. Die Klage wurde von einem geheimen

  Schiedsgericht angenommen, und mittlerweile hat die Regierung in

  Montevideo die Gesetze entschärft.

 

Über die Gefahr, dass Staaten von den Konzernen mittels enormer Schadenersatzdrohungen dazu gezwungen werden, ihre Gesetzgebung an das US-Modell des „freien Marktes“ anzupassen, verliert Mr. Emerson kein Wort.

 

Umso behänder dreht und wendet er sich, wenn er auf die Akzeptanz von TTIP in seiner Heimat angesprochenwird. Er räumt ein, dass bei Freihandelsabkommen Befürchtungen wegen möglicher Jobverluste existieren, schließt dies jedoch beim Pakt mit den Europäern aus: „Das wird aber zwischen zwei Handelspartnern mit hohem Lohnniveau wie der EU und den USA nicht passieren.“ So lullt der Botschafter die eigenen Landsleute ein, nur um auf den korrekten Einwand der NN-Journalistin hin, auch in der EU gebe es Billiglohnländer, zuzugeben: “Stimmt. Aber in dem Fall wäre das ja dann gut für diese EU-Staaten.“

 

Mit anderen Worten: Natürlichwürden Konzerne Arbeitsplätze in den USA abbauen und nach Bulgarien verlegen, wenn sie von dort aus den europäischen Markt mit billig produzierten Waren überschwemmen und im Rahmen des von TTIP garantierten Investitionsschutzes auch gleich die Legislative in Sofia mitgestalten könnten.

 

Emerson flüstert hiesigen Journalisten und Politikern die Vision einer Schönen neuen Welt ein, in der quengelnde Bürger und Bedenkenträger nicht mehr mitreden dürften und vernünftige Kapitalisten endlich das ausschließliche Sagen hätten.

 

08/2015

 

Dazu auch:

Der Teufelspakt im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund               


 

Tod einer Mumie

 

„Eine prägende Figur des deutschen Fußballs“ sei von uns gegangen, barmte DFB-Chef Wolfgang Niersbach. „Dein Lebenswerk bleibt in Erinnerung“, schrieb der derzeitige (Noch-)Boss des Weltverbandes FIFA, Joseph Blatter, dessen Lebenswerk ebenfalls noch lange in unseren Köpfen verharren wird. Klinsmann, Löw und die dpa überschlugen sich in Huldigungen der verblichenen Größe; Grund genug, sich ein noch wenig mit Gerhard Mayer-Vorfelder (kurz und populär: MV) nach dessen Abgang zu beschäftigen.

 

Der Politiker und die Hymne

 

Oft vergisst man, dass MV, einst unter den durchweg finsteren Gestalten des Weltfußballs eher die Frohnatur, am Anfang einen Nebenjob als Politiker innehatte und in dieser Funktion ein irgendwie mumifiziertes Geschichtsbewusstsein sowie eine gewisse Nonchalance im Umgang mit Steuergeldern (bzw. deren Hinterziehung) offenbarte.

 

Als Kultusminister Baden-Württembergs (1980 – 1991) ließ MV an den Schulen die (anderswo als peinlich gemiedene) dritte Strophe der Nationalhymne von den Klassen wieder singen und bewies damit ein ungebrochenes Nationalgefühl, das an zwölf Jahre Tausendjähriges Reich sowie dessen Maxime „Deutschland über alles in der Welt!“ und dessen imperiale Gebietsansprüche „Von der Maas bis an die Memel…“ gemahnte.

 

Aus der Zeit seines segensreichen Wirkens als Finanzminister im Ländle (1991 – 1998) ist noch die Steueraffäre der Tennis-Göttin Steffi Graf und ihres Vaters Peter erinnerlich. Letzterer musste eine Haftstrafe antreten, weil er dem Fiskus zwölf Millionen DM vorenthalten hatte. Danach erklärte Peter Graf, er habe sich nicht rechtzeitig abgesetzt, weil ihm Mayer-Vorfelder versichert habe: „Sie können hier bleiben. Ich habe die richtigen Leute dabei.“ Zwar bestritt MV dies vehement, doch selbst das Gericht befand in der Urteilsbegründung, Graf sei es „zu leicht gemacht worden“. Ein Geschmäckle jedenfalls blieb.

  

Sportführer und Salon-Rassist

 

Von 2001 bis 2006 amtierte der gebürtige Mannheimer als Präsident des DFB. Auch aus der Zeit als Sportfunktionär ist ein (vorsichtig ausgedrückt) archaisches Welt- und Menschenbild überliefert. So sorgte sich MV um den Ausverkauf teutonischer Spieler und die ungehemmte Zuwanderung aus dem Osten: „Was wird aus der Bundesliga, wenn die Blonden über die Alpen ziehen und statt dessen die Polen, diese Furtoks und Lesniaks, spielen?“

 

Die völlige Durchmischung respektive Durchrassung blieb ihm stets ein Gräuel, denn: „Der südamerikanische und der afrikanische Fußball haben genetisch andere Voraussetzungen.“ Als eine Art Sarrazin unter den nationalen Sportsfreunden mahnte MV, das urdeutsche Element befinde sich auf dem absteigenden Ast: „Wenn beim Spiel Bayern gegen Cottbus nur zwei Germanen in den Anfangsformationen stehen, kann etwas nicht stimmen.“

   

Wie muss sich MV noch vor dem Grab umgedreht haben, als er mit ansehen musste, wie Neger, Türken und Polen letztes Jahr den WM-Titel nach Deutschland holten…

 

Zweimal wurde der Schwabe mit badischem Migrationshintergrund ins FIFA-Exekutiv-Komitee gewählt. In diesem Männerverein schien sich der dem Wein und großen Geld zugeneigte MV sichtlich wohl zu fühlen, zumal er gute Freunde fand.

 

Doping? Korruption? Wo denn?


 

Einen davon, den Schweizer Sepp Blatter, unterstützte er vehement und erfolgreich bei dessen Kandidatur als FIFA-Präsident. Nun kann man dies MV bei den vorhandenen Wahlalternativen kaum vorwerfen. Schließlich steht auch der heutige DFB-Boss Niersbach wie ein Mann hinter der Kandidatur eines französischen UEFA-Präsidenten namens Michel Platini, dessen Votum für die WM-Vergabe in die Wüste seinem Sohn Laurent immerhin den hochbezahlten Posten als Europa-Chef der milliardenschweren Katar Sports Investments einbrachte.

 

Von Doping im Fußball wollte MV generell nichts wissen. Da muss es ihn hart und unerwartet getroffen haben, dass sich der Verdacht, der Verein seines Herzens, der VfBäh (Fan-Dialekt) Stuttgart, habe Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts intensiv mit illegalen Mitteln gearbeitet, so weit erhärtete, dass mittlerweile die Staatsanwaltschaft ermittelt. Zwischen 1975 und 2000 hieß der Präsident des VfB allerdings Mayer-Vorfelder. Dass der Patriarch dem Club am Ende immense Schuldenhinterließ, kann (zu einem kleinen Teil) auch darauf zurückzuführen sein, dass er Rechnungen über 117000 Mark für Lieferungen abzeichnete, die vom Freiburger Professor Klümper, dem Papst der bundesdeutschen Anabolika-Zauberer, stammten.

 

08/2015

 

Dazu auch:

Deutscher Sang im Archiv der Rubrik Medien

Hehre Heuchler ebenfalls im Medien-Archiv     


 

 

Der taubblinde Agent

 

Kassel: Ein Mann sitzt in einem Internet-Café. Neben ihm wird auf den Besitzer geschossen. Der Mann hört nichts. Tödlich getroffen verblutet das Opfer. Der Mann sieht nichts. Obwohl er als Angestellter des Verfassungsschutzes im rechtsradikalen Milieu ermittelt und die Täter eben jener Szene angehören, weiß der Mann von nichts; er war seinen Angaben zufolge rein zufällig am Tatort.

 

Der Mann heißt Andreas Temme, hört auf den Spitznamen Kleiner Adolf und wird demnächst wieder einmal im Münchner NSU-Prozess vor Gericht erklären müssen, wie es sein kann, dass er punktgenau zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und doch nicht mitbekam, wie die mutmaßlichen Täter, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, Mitglieder der von ihm betreuten Extrem-Kundschaft somit, den türkischstämmigen Juniorchef Halit Yozgat erschossen. Natürlich geriet Temme selbst unter Tatverdacht, verschwieg er doch zunächst den Ermittlern seine Anwesenheit im Internet-Café, klangen seine Aussagen doch auch später so glaubwürdig wie Grimms Tatsachenberichte aus der deutschen Märchenwelt. Groß geschadet haben Temme seine Ignoranz, seine Unglaubwürdigkeit oder seine Verstrickung (was immer davon zutrifft) jedenfalls nicht. Wegen erwiesener Unfähigkeit wurde der seltsame Zeuge in den Innendienst versetzt und blieb verbeamtet. Wir aber haben nachzufragen, ob es sich um einen besonders schweren Fall von Sinnesbehinderung, verbunden mit kognitiver Einschränkung, oder um ein weiteres Stolpersteinchen in dem tiefbraunen Mosaik, das da Verfassungsschutzbehörden heißt, handelt.

 

Taubblind sind Menschen von Geburt an, oder sie werden es durch eine fürchterliche Krankheit, das Usher-Syndrom. In unserem Fall scheint eine dritte Kausalität hinzuzukommen: vorwiegend in Geheimdienstkreisen auftretender temporärer Ausfall aller sinnlichen und geistigen Wahrnehmung. Man sieht und hört nichts, verschweigt dazu noch Insider-Kenntnisse, um Kollegen zu decken, Spuren zu verwischen, falsche Fährten zu legen („Döner-Morde“) – eine offenbar gängige Taktik deutscher Verfassungsschutzämter, erprobt nach dem Oktoberfest-Attentat oder während der NSU-Mordserie, bei Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund jedenfalls. Der solcherart schwerbehinderte Andreas Temme ist wohl eine Symbolfigur für Spionagetätigkeit zum Wohle unseres politischen Systems (das sich stets nur von links bedroht fühlt), aber er ist auch ein Gott des Zufalls.

 

Der als ehrgeizig beschriebene Schlapphut soll von 2003 bis 2006 nur eine einzige rechte Quelle, den vorbestraften Neonazi Benjamin G., als Informanten geführt haben, und zwar wegen dessen Kontakten zu der eher unbedeutenden „Deutschen Partei“. Dabei hatte der V-Mann wesentlich brisantere Verbindungen, etwa zum Kasseler Sturm 18 und zu Blood & Honour in Nordhessen, beides gewalttätige rechtsextremistische Gruppen. Besonders interessant waren seine connections zum Dortmunder Ableger von Combat 18: Zwei Tage vor dem Mord in Kassel hatten die beiden NSU-Täter nämlich den türkischstämmigen Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in der Nähe von Dortmunder Neonazi-Treffpunkten  erschossen.

 

Andreas Temme, der doch als Rechtsextremismus-Experte galt, sagte in seiner Vernehmung durch die Generalbundesanwaltschaft aus, dass ihm die Kasseler Gruppe Sturm 18 nichts sage, dass er die Arische Bruderschaft nicht kenne und dass er vom Thüringer Heimatschutz erst aus der Presse erfahren habe. Erst Wochen nach dem Mord an Yozgat, als er längst von anderen Besuchern des Internet-Cafés identifiziert und selbst zunächst als Mordverdächtiger verhaftet worden war, gab er seine Anwesenheit während der Tatzeit zu. Er habe Angst um seine junge Ehe gehabt, da er aus sexuellen Motiven dort gechattet habe, führte er zur Entschuldigung an.

 

Das mediale Ausleben seiner Triebe erklärt aber nicht, warum Temme am Nachmittag vor dem Mord zweimal mit seiner Quelle Benjamin G. telefoniert hat. An die Gesprächsinhalte können sich die beiden leider nicht mehr erinnern. Wie die Website der Zeit und Welt am Sonntag berichteten, gehen die Hamburger Anwälte der Yozgat-Familie in Beweisanträgen davon aus, dass Temme „konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Opfer und den Tätern“ erhalten habe. Erhärtet wird diese Annahme durch den Polizei-Mitschnitt eines Telefonats zwischen dem dubiosen „Verfassungsschützer“ und dem damaligen hessischen Geheimschutzbeauftragten Gerald-Hasso Hess nach dem Mord, das letzterer mit der aufschlussreichen Bemerkung begann: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann nicht vorbeifahren!“ Lediglich eine ironische Gesprächseinleitung, wiegelte Hess vor dem Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags ab.

 

Unter den zahllosen Ungereimtheiten bei der Aufklärungder NSU-Mordserie markieren die merkwürdigen Handlungen, Kontakte und Einlassungen des Agenten Andreas Temme einen vorläufigen Höhepunkt. Oder sollte man besser von der Spitze eines Eisbergs sprechen? Zufällig befindet sich der Neonazi-Spezialist, der die gefährlichsten Gruppierungen der Szene nicht kennen will, pünktlich am Tatort; zufällig hört und sieht er nicht, was um ihn herum geschieht; durch einen unglücklichen Zufall passiert ein Mord, während er gerade ein virtuelles Porno-Techtelmechtel führt, so dass er den Ermittlern seinen Aufenthalt im Internet-Café verschweigen muss, um seine schwangere Frau nicht aufzuregen; und wie es das Pech will, eröffnet sein Geheimschutzbeauftragter ein Telefongespräch mit einer missverständlichen Sottise, die böse Zungen als belastend bezeichnen würden. Dazu bleiben dem „Experten“ durch widrige Umstände die terroristischen Kontakte seines V-Manns verborgen.


 

Die illustre Zunft der Zufallsmathematiker beschäftigt sich gern mit den Gewinnchancen beim Roulette und im Lotto (oder mit Börsen-Kaffeesatz und Wirtschaftstheorien). Würde sich einer dieser Ergründer der numerischen Plausibilität an die Kette von absurden Prämissen im Fall Andreas Temme wagen, käme er womöglich zu dem Ergebnis, dass vier Sechser mit Zusatzzahl eines einzigen Spielers in einem Monat auch nicht unwahrscheinlicher wären als das Zusammenspiel der diversen bizarren Gegebenheiten vor, während und nach dem Mord in Kassel.

 

Natürlich wollen wir uns nicht in die obskure weltweite Gilde der Verschwörungstheoretiker einreihen, doch quält uns angesichts einer Fülle von Verdachtsmomenten ein staatsabträgliches Misstrauen: Könnte es nicht sein, dass Andreas Temme nur der rücksichtslos in Marsch gesetzte, aber eigentlich doofe Bauer eines Schachspiels ist, in dem die deutschen Geheimdienste die bürgerliche Demokratie matt setzen wollen?

 

05/2015

 

Dazu auch:

Doofe Spione? Im Archiv der Rubrik Medien 


 

 

Déjà-vu in Washington

 

Vor Jahrzehnten – die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern – liefen auch bei uns die US-Fernsehserien Dallas und Denver-Clan (O-Titel:  Dynasty). Skrupellose Ölbarone und Banker kämpften um Einfluss, schöne Frauen und Geld. Letztendlich aber blieben Macht und Triumph immer in der Großfamilie. Die Superreichen wurden derart intrigant und fies dargestellt, dass einige Europäer argwöhnten, die Drehbücher seien von Krypto-Kommunisten mit der Intention verfasst worden, den Kapitalismus zu desavouieren. TV-Zuschauer in den Staaten indes mögen die üblen Tricks der Schurken, solange diese obsiegen; sie verehren per se den Erfolg, der bekanntlich die Mittel heiligt, zumal wenn sich dadurch die eigene Sippe oben festsetzen kann. Dieses archaische Faible wird im nächsten Präsidentschaftswahlkampf (wieder einmal) eine entscheidende Rolle spielen.

 

In der ältesten Demokratie der Neuzeit scheinen sich die Bürger nach einer Mischung aus Wahl- und Erbmonarchie von erheblicher finanzieller Potenz und mit einer langen Kette möglicher Thronfolger zu sehnen. Wichtige Voraussetzung und einzige Konstante im chaotischen Polit-Geschäft der USA ist die Millionenschwere des Kandidaten, ob er sich nun als Gouverneur, für den Kongress oder fürs Oval Office bewirbt. Um ein populäres Bibel-Gleichnis zu strapazieren: Eher zieht ein Kamel ins Weiße Haus ein als ein Armer. Die Chancen steigen, wenn der Thronprätendent dazu einen bekannten Namen trägt, am besten den einer alteingesessenen Dynastie von Staatsmännern. Schon die Roosevelts konnten den Wiedererkennungs-Bonus nutzen und reüssierten im Doppelpack; den Kennedys blieb dies nur deshalb verwehrt, weil ein möglicher Nachfolger von John F. einem Attentat zum Opfer fiel (Robert) und ein anderer seine Sekretärin zu einem ungünstigen Zeitpunkt in den Fluss fuhr (Edward).

 

Nächstes Jahr aber werden die US-Wahlberechtigten vor der schwierigen Entscheidung stehen: Bush zum Dritten oder doch lieber Clinton reloaded? Es stehen Kampagnen ins Haus, die viele Millionen Dollar kosten werden, um Hillary und Jeb im Flitter-Kitsch des Show-Business als Sympathieträger mit ein wenig Kompetenz zu verkaufen. Für welche Politik die Nachnamen stehen, werden die wenigsten Wähler am Ende noch wissen.

 

Bill Clinton, dem die Außenpolitik ziemlich egal war, ist vielen nur noch als der Präsident mit der Vorliebe für zungenfertige Praktikantinnen im Gedächtnis geblieben. George Bush, immerhin zuvor CIA-Chef gewesen, konnte zwar den Niedergang der einheimischen Wirtschaft in seiner Zeit als Chef des Landes nicht als Pluspunkt verbuchen, bestach aber durch angenehme Unauffälligkeit. Sein Sohn George W. hingegen war unter vielen US-Staatschefs  mit bescheidenen geistigen Fähigkeiten der wohl moderateste. Zudem sagen ihm Spötter eingedenk des Auszählungsdesasters in Florida vor seiner ersten Amtszeit nach, er sei der erste Präsident in der Geschichte gewesen, der nicht gewählt wurde.

 

In eben diesem Florida war Bruder Jeb Bush damals Gouverneur. Die US-Bürger halten ihn für intelligenter als George W. (was nun wirklich nicht viel heißt), zudem spricht er spanisch (was viele Hispanics zu den Republikanern ziehen dürfte), und er ist zwar ein Erzreaktionär, aber er weiß sich wenigstens zu benehmen. Er wird also vermutlich gegen Hillary Clinton gewinnen, der man die Empathie einer Tiefseekrabbe nachsagt, die zudem nur unzureichend mit Handys umgehen kann und zum demokratischen Establishment zählt. Die Republikaner behaupten, solche Bürgerferne gebe es bei ihnen nicht; ihre Milliardäre seien Menschen wie Du und Ich, nur ein bisschen spendierfreudiger.

 

So erneuert sich also die quicklebendige westliche Demokratie durch wiedergeborene Christen (die Bushs) oder die Reinkarnation Bill Clintons in femininer Form. Seien wir froh, dass Angela Merkel in Deutschland einen Gatten ohne politische Ambitionen und keine Kinder hat!

 

04/2015

 

Dazu auch:

Bush kann lesen! im Archiv dieser Rubrik

       

 

 

Erleuchtete Gier

 

Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?       

                                        Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper 

 

Wer würde jemals einen religiösen Fundamentalisten an der Spitze eines großen Geldinstitutes vermuten? Niemand verwundert, dass Josef (!) Ackermann, früherer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, nicht auf die Vornamen Jesus Christus hörte, zählen doch Wucher und Übervorteilung nicht zu den Lieblingstugenden der an die Dreifaltigkeit Glaubenden. Sein Nachfolger allerdings tut bereits durch den Namenseintrag in seinem Reisepass kund, dass er der strengen Edel-Sekte der jains angehört. Mit der Frömmigkeit ist das aber so eine Sache; man kann Profit für sein Seelenleben daraus ziehen – und gleichzeitig den ungläubigen Rest der Welt abzocken.

 

Religionsstifter neigen dazu, ethische Werte ihrer Präferenz in ein System zu pressen, das durch Rituale, Mysterien und Ornamente zum Gesamtkunstwerk verschönt wird. Um es mit der Konsequenz nicht auf die Spitze zu treiben, werden die rigorosen Regeln meist mit sophistischen Hintertürchen versehen (wofür beispielsweise viele Millionen Katholiken schon wegen Beichte und Ablass dankbar sind). Inhalte und göttliches Personal des Kultus werden gerne älteren Religionen entlehnt. So ging auch Mahavira vor, der im Indien des 6. Jh. v. Chr.  den Jainismus quasi als Konkurrenzverein zum Buddhismus begründete und wie jener kräftig vom Brahmanismus abkupferte. Der derzeit wohl bekannteste Jünger Mahaviras ist der Co-Vorstandschef der Deutschen Bank, Anshu Jain.

Den jains wird per Gelübde von Anfang an einiges abverlangt, was Moral und Askese betrifft. Die drei ethischen Grundprinzipien sind Gewaltlosigkeit gegenüber allen beseelten Existenzformen, Unabhängigkeit von unnötigem Besitz und Wahrhaftigkeit.

 

Das erste Gebot untersagt den Gläubigen das Kriegshandwerk, aber auch eine Tätigkeit auf dem Acker, da der Soldat Menschen, der Bauer aber Tiere und Pflanzen verletzt oder vernichtet (wobei es zu den transzendentalen Ungereimtheiten zählt, dass der Landmann nach dem Ernte-Gemetzel auch die jains mit Reis versorgen darf). Bleiben also nur friedliche Tätigkeiten wie der Handel oder die Geldwirtschaft. Von Anshu Jain ist nicht bekannt, dass er jemals einen Menschen geschlagen hätte, er ernährt sich vegetarisch (auch wenn das Gemüse vom verachtenswerten Agronomen stammt) und behandelt offenbar seine Frau und seine zwei Kinder gut.


 

Als Investmentbanker in den USA und Großbritannien erzielte er hohe Renditen, was bei dieser Art der Spekulation stets dadurch erreicht wird, dass man gegen ganze Länder und Volkswirtschaften wettet, Produktionsbetriebe in den Ruin treibt oder Arbeitsplätze zugunsten kurzfristig steigender Börsenkurse wegrationalisiert. Die Abteilung der Deutschen Bank, die Jain anschließend leitete, verbriefte so viele riskante (faule) Kredite in den USA, dass sie – teilweise mittels Dokumentenfälschungen – rund 1,4 Millionen Familien dort per Zwangsräumung auf die Straße setzen musste. Aber nach den ehernen Regeln des Jainismus, dessen hermetisches System Nötigung zum Selbstmord offenbar nicht sanktioniert, hat der fromme Anshu keine Sünde begangen, da kein Schuldner körperlich von ihm gezüchtigt wurde.


 

Ein Verstoß gegen das zweite Gebot ist Anshu Jain ebenfalls schwer nachzuweisen. Möglicherweise ist er tatsächlich unabhängig von unnötigem Besitz, weil er seine Bar- und Liegenschaften jederzeit hingeben könnte - existieren doch sicherlich noch ein paar Konten auf fernen Inseln. Jahr für Jahr war der Inder der höchstbezahlte Manager einer deutschen Aktiengesellschaft, da spielt es jetzt kaum mehr eine Rolle, ob er als Chef vom Ganzen nun sechs oder zehn Millionen Euro pro Jahr und möglicherweise noch ein paar Aufsichtsratstantiemen zusätzlich kassiert. Vielleicht hat er den Mammon auch tatsächlich nötig; mit dem Niveau steigen bekanntlich die Ansprüche…

 

Wir kommen zum Prinzip der Wahrhaftigkeit. Nun ja, wer wird es einem Mann, der um die Nichtigkeit eines Lebens oder einer Gemeinschaft angesichts der schier endlosen Reinkarnationskette weiß, verübeln wollen, dass er mithalf, biedere deutsche Kommunen wie Hagen, Pforzheim oder Würzburg durch dubiose Wettgeschäfte und falsche Zinsprognosen um Millionen zu erleichtern. Auch Infrastruktur ist vergänglich, und die materielle Hilfe, die Bürger jetzt bekommen, wird ihnen im nächsten Leben vielleicht fehlen. Immerhin muss sich Jain nicht wie sein Führungskollege Jürgen Fitschen wegen Verdachts der Falschaussage in der Causa Kirch vor Gericht verantworten. Und dass die Deutsche Bank unter der Ägide des frommen Mannes an Strafgeldern mal 1,4 Millionen Euro wegen fragwürdiger Hypothekenkredite, dann mal 725 Millionen Euro wegen Manipulation der Interbankenzinssätze Euribor und Libor berappen musste, gehört in der oberen Finanzwelt wohl zu den Kavaliersdelikten oder – spirituell gesehen – zu den lässlichen Sünden.

 

Anshu Jain darf also als unbefleckt aus Mangel an Beweisen gelten. Wenn er alle Ausflüchte, die ihm seine Religion offen lässt, beherzt nutzt und dazu noch ethisch begründet, dass nach dem Kamel auch der Reiche noch durchs Nadelöhr passt, hat er sich ein reines Gewissen redlich verdient. Eins aber lehrt uns Sünder sein Beispiel: Wann immer ein Finanz-Guru die höheren Werte des Seins und die Harmonie des Universums preist, sollte man die Beine in die Hand nehmen und machen, dass man so weit wie möglich in die Realität entkommt.

 

04/2015

                                                                                                                      

 

Oppermännchen

 

Sollten Sie einen Banküberfall planen und einen Komplizen benötigen, der zuverlässig Schmiere steht, nehmen Sie bitte nicht Thomas Oppermann, den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Für einen solchen Job benötigt man nicht unbedingt einen ehrlichen Partner (die Politiker-Tätigkeit würde also kaum stören), doch so ein Komplize sollte unauffällig und verschwiegen agieren, Oppermann aber ist ein Plappermäulchen. Noch während sie die letzten Banknoten in den Beutel stopfen, wüsste bereits die ganze Stadt von Ihrem Raubzug. Wenn Oppermann den Mund aufmacht, schadet er anderen – und manchmal auch sich selbst.

 

In der mit politischen Leichtgewichten so reich gesegneten SPD ist ihr Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann zweifellos der auffälligste Dampfplauderer. Er denkt nicht viel und erst recht nicht nachhaltig, dafür aber laut, und er dreht bisweilen artige Pirouetten bei dem Versuch, das Gesagte wieder einzufangen.

 

Als wir im Juli 2013 dank Edward Snowden Details über das Ausmaß und die Methoden der Bespitzelung durch den US-Geheimdienst NSA erfuhren, preschte Oppermann rhetorisch vor, gebärdete sich als Schutzpatron aller gefährdeten Whistleblower, forderte Asyl in Deutschland für den Emthüller und ging die politisch Verantwortlichen in Washington und Berlin mutig und frontal an:


 

„Edward Snowden hat Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Es geht nicht darum, was politisch wünschenswert ist. Wie bei jedem anderen Asylantrag auch, ist zu prüfen, ob Edward Snowden politisch verfolgt wird… Seine Enthüllungen zeigen, dass die Überwachungstätigkeiten in den USA völlig außer Kontrolle geraten sind. Die Veröffentlichungen offenbaren auch das Dilemma der Bundesregierung.“

 

Ob dieser Rede mit Donnerhall soll Angela Merkel die rechte Augenbraue gleich um mehrere Millimeter gehoben haben. Und von US-Präsident Obama wird kolportiert, er habe sich vor Schreck und Scham drei Tage lang nicht ans Mithör-Telefon getraut.

 

Oppermanns Dilemma war nur, dass kurz darauf Bundestagswahlen stattfanden und die Rest-SPD als Junior-Partner ins Regierungsbett mit der Union schlüpfte. Unter solch widrigen Umständen muss man schon mal die Moral an der Garderobe abgeben. Im August 2014 hatte der spezialdemokratische Fraktionschef seine Meinung dann ein wenig (höchstens um 180 Grad) geändert und schüttelte nun den Kopf über die Verworfenheit Edward Snowdens. Der habe amerikanisches Recht gebrochen. Dafür werde er zur Rechenschaft gezogen. „Das wäre in Deutschland nicht anders.“ Und die US-Spähangriffe? Schwamm drüber, machte der SPD-Vordenker brav Männchen, es müsse „an einer Normalisierung der deutsch-amerikanischen Beziehungen" gearbeitet werden. „Es geht nun darum, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen und das bewährte Bündnis mit den Amerikanern fortzusetzen.“

 

Wer aber stellt das verlorene Vertrauen in Thomas Oppermann wieder her? Ex-Landwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich sicher nicht. Der Bayer, nicht gerade der hellste Kopf in der Koalition, aber im Kameradschaftsmief der CSU so sozialisiert, dass er Kumpel und Kollegen vor dräuendem Ungemach warnt, hatte Sigmar Gabriel gesteckt, dass gegen den Genossen Sebastian Edathy wegen dessen Vorliebe für nackte Knaben ermittelt werde. Der SPD-Chef informierte Frank Walter Steinmeier und – welche Unvorsichtigkeit!– Thomas Oppermann, der natürlich nichts besseres zu tun hatte, als seinerseits die Öffentlichkeit von der Indiskretion des Ministers zu unterrichten. Dieser trat daraufhin zurück, während die Petze blieb, wohl weil man ihr chronische Logorrhoe (Sprechdurchfall) und damit krankheitsbedingte Strafunmündigkeit attestierte.  

 

Allerdings kristallisiert sich derzeit heraus, dass Oppermann wohl Probleme hat zu schweigen, das Verschweigen aber offenbar ganz gut beherrscht. So hatte er vor dem Edathy-Untersuchungsausschuss des Bundestags zwar ein Gespräch mit Jörg Ziercke, dem ebenfalls sehr redseligen Ex-Chef des Bundeskriminalamts, zugegeben, jedoch weitere telefonische Techtelmechtel mit diesem Informanten anscheinend glatt vergessen. Dabei weiß doch jeder, dass nach dem Ausposaunen von Indiskretionen stets akribisch nach dem Loch gefahndet wird, aus dem der Wind blies.

   

Erst unlängst hatte sich Oppermännchen auf anderem Gebiet in die Schlagzeilen gedrängt, und zwar mit dem Entwurf für ein neues Einwanderungsrecht. Nein, der Sozialdemokrat denkt dabei nicht an Kriegsflüchtlinge, an die im Mittelmeer ersaufenden Familien und die verzweifelten Elendsemigranten. Er möchte vielmehr die Hochqualifizierten für die deutsche Wirtschaft anwerben und schlägt eine Quote, die Arbeitgeber in den jeweiligen Branchen festlegen, und ein Punktesystem, das Bedarf, Sprachkenntnisse und Ausbildung berücksichtigt, vor. Nichts davon ist neu, ist originär Oppermanns Hirn entsprungen; von Kanada bis Australien praktizieren Erstwelt-Regierungen schon geraume Zeit diese soziale Selektion. Doch hinter der „vernünftigen“ Regelung stecken so viel Zynismus und Inhumanität, dass man den kalten Kaffee,den uns diese trübe Tasse serviert, doch etwas umrühren sollte.

 

Schon vor 20 Jahren konnte ich in Indien beobachten, was es bedeutet, wenn Nationen, die durch die Spätfolgen des Kolonialismus, durch Freihandel und Abwerbung im Elend gehalten werden, ihre besten Köpfe, sozusagen ihre Human-Ressourcen, verlieren. Auf den Universitätsfluren von Bangalore, wo damals fast alle wichtigen EDV-Programme geschrieben wurden, drängten sich die Headhunter amerikanischer, europäischer und japanischer Konzerne, während draußen die Fahrbahnen und Brücken der Karnataka-Metropole zerfielen, die Wasserversorgung zusammenbrach und Zehntausende an den Straßenrändern hungerten. Das südindische Kerala, Bundesstaat mit der höchsten Alphabeten- und Akademikerquote, bildete ganze Heere hochqualifizierter Ingenieure aus, nur um sie nach dem Examen an die arabischen Golfstaaten zu verlieren, während technisches Know-how in den heimischen Millionenstädten und auf dem Agrar-Sektor fehlte. Nach Oppermanns Plan soll die Dritte Welt ihre Besten für die Bedürfnisse der westlichen Industriegesellschaft fit machen – und selbst in der Unterentwicklung verharren.

 

Thomas Oppermann ist das Gesicht der neuen wirtschaftsaffinen Sozialdemokratie, er ist vor allem (von Kopf wollen wir angesichts seiner intellektuellen Kapazitäten nicht reden) ihre Zunge.

 

03/2015

 

 

 

 

Die Untoten

 

Was haben wir uns gefreut, als der Besserverdienenden-Wahlverein FDP endlich die Türen zu den deutschen Parlamenten von außen zumachen musste. Als das Mäntelchen der Freiheit, das sich die Partei so lange um den käuflichen Leib gewickelt hatte, so zerschlissen war, dass es von selber abfiel und jede Menge Lobbyisten-Kohle und Ämter-Patronage darunter sichtbar wurden, haben wir mit Dosenbier angestoßen (Champagner konnten sich nur die Liberalen leisten – gesponserten natürlich.). Selbstredend waren wir gleichzeitig auch ein bisschen traurig über das unvermittelte Abtreten einer Riege richtig talentierter Clowns wie Westerwelle, Rößler, Niebel und Klein-Lindner, aber insgesamt überwog doch die Erleichterung. Und jetzt das: Sie sind wieder da, sie waren nie weg – Untote, die sich andere Körper zugelegt haben!

 

Die FDP hatte sich die Freiheit auf die Fahnen geschrieben, die Frage blieb allerdings stets, welche. Wie sich herausstellte, nahmen sich die Liberalen eine Mange Freiheiten heraus, etwa wenn es um die prompte Bedienung ihrer zahlungskräftigen Klientel ging, ansonsten zeigte sich ihr Führungspersonal frei von Sinn, Geist und Verantwortung. Nehmen wir nur Guido Westerwelle, der in höchst freier Interpretation die spätrömische Dekadenz im Milieu der Sozialhilfeempfänger dingfest machte, oder den Teppichschmuggler Dirk Niebel, der alle Institutionen abschaffen wollte, in denen er zuvor versagt hatte (Bundeswehr, Arbeitsagentur) oder wo er künftig zu versagen gedachte (Entwicklungshilfeministerium).


Als dann noch der Außenminister Westerwelle einen für FDP-Verhältnisse unverzeihlichen Fehler beging, nämlich ein Mal verantwortlich zu handeln und eine direkte Beteiligung der Bundeswehr an der Zerschlagung Libyens abzulehnen, wollten auch die treuesten Mäzene nicht mehr: Ausgerechnet die bis dato als glänzende Wegbereiter für dubiose Geschäfte geschätzten Liberalen, erschwerten der deutschen Rüstungsindustrie noch unverhohlenere und lukrativere Friedenmissionen in einem Krisengebiet!

 

Da half auch Christian Lindners kunterbunter Versuch, der FDP durch Farbspiele im Signum ein neues Image zu verschaffen, nichts mehr. Neben dem traditionellen Blau (wahrscheinlich für Dunst) und Gelb (für Neid?) sorgt nun noch Magenta für die optische Darstellung der Restpartei. Das erinnert fatal an die Telekom, die einst, nachdem sie sich aus der Deutschen Post entpuppt hatte, quasi als vertrauensbildende Maßnahme die zuvor gelben Telefonhäuschen in Magenta streichen ließ, während ihre allerorten gepriesenen Volksaktien und mit ihnen die Ersparnisse von Millionen gutgläubiger Börsendilettanten in den Keller rauschten.

 

Nein, dieses Panoptikum an der FDP-Spitze genügte den gehobenen Ansprüchen höherer Wirtschaftskreise nicht mehr, die natürlich umsorgt sein wollen – aber bitte mit Niveau und Effizienz. Man glaubte die Liberalen also tot und vergessen, weitab von Pfründen wie Sponsoren, und für Banker, Apotheker oder Milliardäre wegen zu großer Ferne zu irgendwelchen Regierungsposten nicht mehr interessant. Doch wir hätten es besser wissen müssen, lehren uns doch schon seit geraumer Zeit unzählige Romane, Filme und TV-Serien, dass Vampire sozusagen die besseren Menschen sind und ihnen jede Menge Verwandlungspotential zur Verfügung steht. Was verblichen und verrottet ist ,kann sich sehr wohl in anderen Hirnen und Figuren niederlassen. Und so kommt das ruhelose FDP-Gedankengut, jenes Konglomerat aus Finanzmarkt-Stampede und Sozial-Nihilismus, heute in der Maske des SPD-Vorsitzenden Gabriel oder des grünen Gothic-Fans Kretschmann, der liebend gern mit anderen – nachtschwarzen – Infizierten kungeln würde, daher.


Denn auch in die Union haben sich die unheiligen Geister eingeschlichen: Da fabuliert Wolfgang Schäuble, bar aller christlichen Verantwortung und Nächstenliebe, von der der Pflicht der Armen zu sparen und gönnt sich die Freiheit, von den Griechen Multi-Milliarden Schulden zurückzufordern, deren Gegenwert die Hellenen nie gesehen haben, weil sie sich lediglich im grauen Raum der verlorenen Heuschrecken-Seelen aufgehäuft haben; und im südlichen Freistaat, in dem die edle Bürgertugend liberté vor allem mit Freibier assoziiert wird, ist Horst Seehofer so frei, seine Meinungen und Standpunkte je nach Volksstimmung, Industrie-Vorlieben und Alkoholpegel in den Festzelten flexibel zu gestalten.

 

Der Nachtwächter-Staat, dessen Funktion darauf beschränkt ist, die Wirtschaft und das Finanzkapital ruhig träumen zu lassen und beide vor sozialen Umwälzungen zu behüten, ist längst geistiges Allgemeingut der erwähnten Parteien geworden und bedarf seiner ursprünglichen Verfechter nich tmehr: Das Personal der FDP hat seine Schuldigkeit getan, es kann gehen. Der Neoliberalismus spukt in allen bürgerlichen Köpfen und verwandelt ihre Träger in Wiedergänger der flotten Sozialdarwinisten, er braucht keine eigene Partei mehr.

 

Nur bei der Kanzlerin liegt die Sache ein wenig anders. Sie ist für neue (oder alte) Ideen nicht empfänglich, sondern setzt emotionslos die Vorgaben der globalen Thinktanks um. Böse Zungen behaupten, sie sei bereits als Zombie auf die Welt gekommen, was sich schwer verifizieren lässt, denn wo Inhalte und Aussagen gänzlich fehlen, hat jede Recherche ihren Sinn verloren. Wie dem auch sei, Angela Merkel gibt auch der Geisterwelt ein Rätsel auf, was ihre (eigene oder übergestülpte) Überzeugung und Mission betrifft. Sicher scheint nur zu sein: Sie glaubt an die Macht des Taktischen.

 

01/2015

   

Dazu auch:

Tricky Dirk in diesem Archiv

 

 

 2014  



  

Bayern schämt sich

  

Uli Hoeneß, ehemaliger Präsident des FC Bayern München und millionenschwerer Steuerbetrüger, hat den Bayerischen Verdienstorden zurückgegeben. Weil er von Politik und Justiz enttäuscht sei, kolportierte Bild, das Sprachrohr des deutschen Wesens, das unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Herz für Sünder zeigt. Weil er von der Münchner Staatskanzlei dazu gedrängt wurde, stellte sich wenig später heraus. Das wirft die Frage auf: Ist der stolze Freistaat neuerdings zu Reflexion und Scham fähig?

 

Wäre an der Bild-Ente etwas dran gewesen, hätte man Hoeneß einer Todsünde zeihen müssen, nämlich der Undankbarkeit seinen mit elterlicher Nachsicht agierenden Hütern gegenüber:

 

Hatte nicht das Gericht den Prozess mit solcher Geschwindigkeit über die Bühne gebracht, dass Hoeneß gar nicht mehr dazu kam, noch ein paar Namen von Mitwissern oder Komplizen zu nennen, und die zuständige Steuerfahnderin in ihren Berechnungen die unterschlagenen Millionen nicht – wie während der Verhandlung wiederholt geschehen – ein weiteres Mal vervielfachen konnte?

 

War der damalige Bayern-Boss nicht von weiten Teilen der Politik zu einem aufrechten Outlaw, einem Rächer der Erben und Besteuerten, der den Freistaat und die Schweiz zu seinem persönlichen Sherwood Forest umgestaltet hatte, hochstilisiert worden? Hatte ihn nicht Angela Merkel als leuchtendes Vorbild hingestellt, nur weil er sich dem Richterspruch beugte und eine Haftstrafe antrat – was bei Tausenden verurteilter Verbrecher zu der irrigen Annahme führte, sie würden auch von Frau Kanzlerin höchstpersönlich in den Knast komplimentiert werden?

 

Nein, so undankbar ist der Uli nicht. Horst Seehofers Staatskanzlei hatte dem Delinquenten dringlich nahegelegt, auf den von Edmund Stoiber verliehenen Orden zu verzichten. Und so brachte des Ex-Weltmeisters Gattin das edle Stück Blech dem Ministerpräsidenten zurück, auf dass diesem eine bessere Verwendung einfiele.

 

Warum aber diese spektakuläre Rückhol-Aktion? Schämt sich der Freistaat, der bislang bei allen Verfehlungen seines politisch-wirtschaftlichen Bussi- Establishments wie ein Fels in der Brandung kleinmütiger Reue ungerührt ausgeharrt hatte? Zeigt etwa ein Ministerpräsident, dessen Vorgänger sich noch im Glanze der Geld- und Halbwelt gesonnt hatten, plötzlich Skrupel, einen Häftling in den Reihen der zurzeit gut 1700 Dekorierten zu belassen?

 

Den Bayerischen Verdienstorden erhält, wer sich um den Freistaat besonders verdient gemacht hat. Detaillierte Begründungen für die Auswahl gibt es nicht – sie würden auch manchmal schwerfallen. So erhielten ungeachtet irgendwelcher Meriten alle Ministerpräsidenten, unter ihnen Affären-Strauß, Amigo-Streibl und Hypo-Alpe-Adria-Beckstein, die Plakette, dazu Filmsternchen, Schützenkönige oder Rüstungsunternehmer. Unter den Ordensträgern gab es dümmere und schlimmere als Uli Hoeneß, aber keiner musste die Auszeichnung retournieren. Zur handverlesenen Gilde gehörten so unterschiedliche, in jedem Fall aber illustre Größen wie der Fußballer Lodda Matthäus, der die süße fränkische Mundart in mehrere Sprachen dieser Welt einfließen ließ (und sie auch heute noch verbreitet, wenn man die Mikrofone nicht vor ihm versteckt), oder der frühere Diktator Paraguays, der Massenmörder Alfredo Stroessner (dessen Verdienste um Bayern sich wohl aus seinen Hofer Wurzeln ableiteten).

 

Warum also wurde ausgerechnet Uli Hoeneß abgestraft, der sich doch tatsächlich Verdienste erworben hatte, als er für die monopolistische Profit-Maschine Bayern München, die nebenbei eine Fußball-Abteilung betreibt, Stars wie Neuer oder Götze mit goldenem Handschlag in den Freistaat holte, während die Kicker-Landschaft außerhalb langsam verödete? Warum wendet sich die Staatsregierung derart brüsk von einem gefallenen Stern ab, den sie einst als bajuwarischen Vorzeige-Parvenü hätschelte? Die Antworten auf diese das sorgsam abgestumpfte Rechtsempfinden erschütternden Fragen lassen sich nur in der wankelmütigen Persönlichkeit des derzeitigen Chefs vermuten.


Während ein Franz Josef Strauß mit der aufrechten Statur einer Latschenkiefer und einem mittels Hefeweißbier und Obstschnaps abgeschotteten Gewissen zu allen Freunden in guten und in schlechten Zeiten stand, mochten sie auch noch so tief in zwielichtige Geschäfte verstrickt sein, lässt das Ingolstädter Sensibelchen Horst die CSU-Spezerln fallen, sobald er ein wenig Gegenwind verspürt. Dieser unwürdige Ministerpräsident hat einfach die beiden wichtigsten Gebote der Regentschaft im Freistaat nicht verinnerlicht: In Bayern gehen die Uhren anders und Bayern schreibt seine eigenen Gesetze.

 

12/2014

Dazu auch:

Horsts Welt im Archiv derselben Rubrik      

 

 

 

Vitamin U 

 

Diesmal werden gleich zwei Persönlichkeiten der deutschen Politik, die es immer wieder auch in andere Rubriken der Website geschafft haben, an dieser Stelle gewürdigt: Angela Merkel und Sigmar Gabriel. Beiden ist in seltener Eleganz der Synchron-Sprung von der ökologischen Verantwortlichkeit in die wirtschaftsaffine Umweltgefährdung ohne Umweg über wissenschaftliche Erkenntnisse, politische Bedenken oder ähnliche Lappalien geglückt.

   

Deutsche Spitzenpolitiker stehen nicht gerade in dem Ruf, einer intakten Umwelt den Vorrang gegenüber dem (bedenken)freien Spiel der Märkte und den ungehinderten Expansionsgelüsten der heimischen Wirtschaft einzuräumen. Wirft man allerdings einen Blick in die jüngere Vergangenheit der wichtigsten Darsteller auf der Regierungsbühne, könnte man zu dem Schluss kommen, sie seien früher Öko-Freaks gewesen. Jedenfalls bildeten naturnahe Kabinettsposten mit den dazugehörigen Lippenbekenntnissen wichtige Sprossen ihrer Karriereleitern.

 

Eine schöne Mär des bürgerlichen Parlamentarismus kündet uns Wunderbares: Der Abgeordnete im Bundestag sei einzig seinem Gewissen verantwortlich, was dann doch auch für die Regierungsmitglieder, die Ober-Abgeordneten quasi, gelten müsste. Nun ist es aber so, dass das Gewissen eines Ministers noch nicht wissen kann, was es dereinst als Kanzlergewissen empfinden wird. Die Zeiten ändern sich, und die Interessengemeinschaften in ihnen…

 

Nur so ist es erklärlich, dass es die Ex-Bundesumweltministerin Angela Merkel, mittlerweile von der Wirtschaft und erstaunlich vielen Bürgern zur Wahlmonarchin gekürt, im Gegensatz zu den meisten ihrer internationalen Kollegen für unter ihrer Würde hielt, zum Welt-Klimagipfel nach New York zu reisen. Allerdings war die Brandenburgerin schon 1994 von Helmut Kohl lediglich als willige Ersatzfrau eingesetzt worden, um den bei Unternehmern und FDP (Können Sie sich an die noch erinnern?) verhassten Vorgänger Klaus Töpfer, der es wohl etwas zu ernst meinte mit Naturschutz und Nachhaltigkeit, loszuwerden.

 

Als Bundeskanzlerin brillierte sie in einer Schmierenkomödie mit ungewollt gutem Ende, die da „Atomausstieg“ hieß. Kaum war sie mit dem FDP-Liberalismus im Bett (Herr Westerwelle wird dieses Bild als Zumutung empfinden!), revidierte sie flugs das von SPD und Grünen beschlossene allmähliche Ende der Energieerzeugung per Kernkraft. Nach Fukushima verabschiedete sie sich aus Furcht vor Volkes Zorn erneut von der Nuklear-Technologie, diesmal aber so jäh, dass Deutschland noch auf Jahrzehnte hinaus Schadenersatzansprüche seitens der Atomindustrie und Milliardenforderungen wegen der Lagerung des strahlenden Schrotts und des Rückbaus der KKWs fürchten muss (Wartet erst mal TTIP ab!).

 

Merkels kongenialer Partner in der jetzigen Koalition,Sigmar Gabriel, glänzt als gewaltiger Verkünder froher Botschaften. Den Menschen fehlt allerdings inzwischen der Glaube, konstatieren sie doch, dass unter dem selbsternannten brutalst-möglichen-Kriegswaffenexport-Verhinderer mehr Rüstungsgüter aus Deutschland, vorzugsweise in dubiose Staaten, ausgeführt wurden als je zuvor – mit der Genehmigung seines Wirtschaftsministeriums.

 

Auch unser stets ein wenig an einen wuseligen Staubsaugervertreter erinnernder Tausendsassa begann seine bundesministerielle Karriere 2005 als Umweltminister. Unauslöschlich in unser Gedächtnis eingebrannt wird sein heldenhafter Kampf gegen die gemeine Glühbirne bleiben. Mittlerweile ist Gabriel zum Vorsitzenden der SPD-Reste avanciert, was angesichts seines strategischen (böse Zungen: opportunistischen) Geschicks und seines Geltungsbedürfnisses manche Genossen zu einem Vergleich mit Napoleon animierte, der allerdings fehl am Platze ist: Der Korse verlor die entscheidenden Schlachten erst am Ende seiner Laufbahn, Gabriels Karriere hingegen bestand von Anfang an aus einer Serie von Waterloos.

 

Wie seine Übermutter Angela propagierte er eine doppelte Kehrtwendung in der Energiepolitik, den Ausstieg aus dem Kohle-Ausstieg nämlich. Schon in den Koalitionsvertrag zwischen Spezial- undChristdemokraten wurden zwei einander ausschließende Vorgaben aufgenommen: das (nun nicht mehr haltbare) Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 zu drücken, und ein folgenschwerer Treueeid zur Dreckproduktion: „Die konventionellen Kraftwerke (Braunkohle, Steinkohle, Gas) als Teil des nationalen Energiemixes sind auf absehbare Zeit unverzichtbar.“ Um diese absurde Konstellation hinzukriegen, haben die Stromkonzerne laut Wirtschaftsdienst Bloomberg den ehemaligen Vizechef der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Ulrich Freese, der als Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat von Vattenfall sitzt, zur SPD gesandt. Der Spiegel nannte Freese einst den „bissigsten Lobbyisten für die Braunkohle“.


Profitorientierten Argumenten seiner Strippenzieher in den Vorstandsetagen mag sich Gabriel nicht entziehen, und so bekennt er sich durch die Blume zu Landschaftszerstörungen, Zwangsumsiedlungen und Luftverpestung, wie sie die Ausweitung des Braunkohle-Tagebaus so mit sich bringt. Um das bisschen Gesicht, das noch irgendwo an ihm klebt, zu wahren, verdammt er die Kraftwerksbetreiber dazu, bis 2020 den Ausstoß von CO 2 um 22 Millionen Tonnen (sagenhafte 6,5 Prozent!) zu reduzieren. Wie sie das bewerkstelligen (oder umgehen) sollen, überlässt der gestandene Wirtschaftsliberale selbstverständlich den Verursachern.


Auch in Sachen Fracking hat der Ex-Umweltminister seine Partei klar auf einen mutigen Rückzugskurs (vom Mit uns nicht! zum Ja, aber mit opportuner Expertise!) getrimmt. Zunächst wurde das Verbot des Einsatzes einer Technologie, die von Grundwasserverseuchung bis zu kleineren Erdbeben so ziemlich jede Katastrophe auslösen kann, für den Bereich bis 3000 Meter Tiefe stillschweigend gestrichen. Dann einigte man sich mit den Press- und Spreng-Fans von der Union auf die Bildung eines Gremiums von sechs Wissenschaftlern, die mehrheitlich (!) den Anträgen der Ernergiekonzerne auf „Probebohrungen“ Unbedenklichkeit bescheinigen können. In der Kommission sollen u. a. Experten der Geo-Bundesanstalt sitzen, die wiederum dem Wirtschaftsministerium unterstellt ist und schon früher ihre Sympathie für die Gasgewinnung per Kompression und Chemie kaum verhehlen konnte. Mitgemischt hat natürlich wieder die IG BCE, die sich von jeher als Vorhut der Chemie- wie Pharma-Lobby versteht und deren in Regierungskreisen gern gehörter Boss Michael Vassiliadis ein ausgewiesener Fracking-Freak ist.

Natürlich wäre auch denkbar, dass Gabriel Schaden von der deutschen Politik abwenden wollte. Derzeit agiert er nämlich auch noch als brutalst-möglicher Verhandlungsführer bei der Modifizierung der unsäglichen Freihandelsabkommen CETA und TTIP. Bedenken zum geplanten Investorenschutz mit seinen privatwirtschaftlich dominierten Femegerichten gehen ihm locker über die Lippen, weiß er doch längst, dass sich an dem Fakt, dass Staaten ihre Gesetzgebung künftig an die Bedürfnisse der Großkonzerne anpassen müssen, nichts mehr ändern wird. Will man also künftig milliardenschwere Regressforderungen vermeiden, sollte man den Umweltschutz nicht zu ernst nehmen und auf bestimmte Gesetze wie Verbote klugerweise von vornherein verzichten.

 

Angela Merkel und Sigmar Gabriel hat offenbar ihr Umweg über das Umwelt-Ressort nicht geschadet. Sie konnten sich zugleich bodenständig und um das Weltklima besorgt geben, ihr Image wurde durch geradezu menschliche Züge vervollkommnet, und zum Glück für die spätere Laufbahn blieb inhaltlich nichts haften. In dieser Funktion lässt sich publikumswirksam und folgenlos über ökologische Nachhaltigkeit und Energiewende sinnieren, ehe man sich dann im Wirtschaftsministerium oder Kanzleramt wieder freudig dem Diktat der Unternehmenlenker beugt. Auf dieselben Effekte setzt übrigens auch Markus Söder, der hemmungslose Freund der Konzerne, der auch schon einmal die bayerischen Staatsforsten als Ressortchef beaufsichtigte und nun Horst Seehofer beerben möchte. Es freut den Bundesbürger einfach, wenn die Hoffnungsträger der Nation als Kümmerer vor heiler Natur posieren, auch wenn es sich nur um eine Momentaufnahme handelt. Diese wirkt jedenfalls ansprechender als die früher so populären sympathieheischenden Fotos von Politikern mit Pony und Lieblingskatze. Oder Schäferhund.

 

11/2014

 

Dazu auch:

Mieser alter Mief im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Bad Man Gabriel ebd.

Eine ehrenwerte Frau im Archiv der Rubrik Medien

 

 
  

Horsts Welt

 

In Bayern hat der Seehofers Horst das Sagen, sagt man. Dass für den derzeitigen Throninhaber der CSU-Wahlmonarchie das Reden die dem Denken vorgelagerte Aktivität darstellt, haben das Freistaatsvolk und die Polit-Untertanen in München und Berlin lange Zeit als charmanten Eigensinn und schnoddrigen Individualismus akzeptiert – oder es war ihnen einfach wurscht, solange das Stimmvieh nicht in eine Stampede ausbrach. Nun aber werden die Gedankenkreisel immer rasanter, folgen den Ankündigungen immer rascher die Dementis, sind die Seiten- und Überzeugungswechsel auch von den Wendigsten kaum mehr nachzuvollziehen, so dass nicht wenige (auch in der eigenen Partei) sich in tiefer Sorge fragen: Lebt der Horst in seiner eigenen Welt? Und wenn ja, in welcher?

 

Der Ministerpräsident verfügt über einen massigen Körperbau, eine gutturale Stimme und jenen derben Mutterwitz, der einem „die Oberhoheit über den Stammtischen“ (Vorgänger Stoiber) sichert. In diesen Eigenschaften ähnelt er dem allerdings nicht ganz so langen, dafür aber umso breiteren Franz Josef Strauß, dessen Erwähnung auch heute noch in jedem echten Bayern geradezu sizilianisch anmutende Familiengefühle weckt. Doch andere FJS-Qualitäten wie strategische Skrupellosigkeit gegenüber Freund und Feind, Affinität zur Schattenwirtschaft oder ungehemmten Machtinstinkt besitzt Seehofer nicht in ausreichendem Maße. Der Ingolstädter schwadroniert lieber freigeistig (hier: frei von Geist) über Wahrheiten, deren Halbwertzeit oft das Ende seiner Suada kaum überdauert. Bei jedem handfesten Strauß-Skandal lächelte das bayerische Volk beifällig: „A Hund is er scho!“ Wenn Seehofer sich wieder einmal in seinen Ankündigungen von gestern verfängt oder beim Herumreißen des Steuers auf die politische Gegenfahrbahn gerät, fragt sich der Wähler zwischen Spessart und Karwendel dagegen genervt: „Was will der Horst denn nun schon wieder?"


Als Edmund Stoiber in der letzten Phase seiner Amtszeit nur noch Unverständliches in die Mikrofone stammelte, wusste jeder, dass der Mann gerade untragbar wurde. Seehofer artikuliert sich zwar auch jetzt noch verbal verständlich, doch taumelt er inhaltlich zwischen den selber gegrabenen Fallgruben eines handlungsperspektivischen Mikrokosmos umher, dessen Gesetzmäßigkeiten keiner mehr begreift – sein Erschaffer schon gleich gar nicht.

 

Für den Ministerpräsidenten besteht sein Freistaat aus den satt grünen Wiesen und von Millionärsghettos umzingelten Seen des Voralpenlandes im Süden, den Weinbergen und Burgenregionen im Norden, den blitzenden Karossen von BMW und Audi und den tüchtigen Rüstungswerken von Krauss-Maffei Wegmann und Diehl. Ein solch schönes Stück Erde muss einfach die Vorreiter-Rolle bei allen relevanten Dingen in der Bundesrepublik übernehmen, sagt sich der Horst und beginnt, sich konsequent zu verheddern. Wir sind spitze bei der Energiewende, posaunt seine Partei aus, weiß aber nicht, ob sie noch auf Windkraft zählen kann, nachdem die Masten in die wenigen Einöden verschoben werden müssen, während man Stromtrassen aus dem Norden mal absegnet und dann wieder ablehnt, Wasserkraftwerke erwägt, kurz danach verwirft, Gedankenspiele mit Biomasse treibt und plötzlich wieder olle fossile Gaskraftwerke favorisiert.


So flexibel sich der Horst sonst zeigt, wenn er etwa in der Schulpolitik nachgiebig bis zur Selbstaufgabe wird – an einer Lachnummer hält er stur fest, als hinge seine christsoziale Seligkeit daran: Die Maut für ausländische Kraftfahrer muss kommen! Vielleicht ein wenig abgespeckt, vielleicht ganz anders als geplant, vielleicht als Kostenfaktor statt als Einnahmequelle, vielleicht vom Europäischen Gerichtshof als ein bisschen illegal eingestuft… Egal wie der Wechselbalg am Ende aussieht: Maut bleibt Maut! Möglicherweise sieht Seehofer das Straßenzoll-Gezerre auch als Chance, einen potentiellen Nachfolger im CSU-Marionettenspiel als Simpel auftreten zulassen. Er möchte nämlich höchstpersönlich Regie beim Schaulaufen der Thron-Prätendenten führen, selbst wenn er in Verkennung einer immer mürrischer werdenden Volksmeinung damit drohen muss, noch ein wenig länger hocken zu bleiben. Sein erstes Opfer ist also Alexander Dobrindt, der als Maut-Hofnarr binnen weniger Monate alle Aussichten eingebüßt hat.

 

Doch was FJS bis zur Kunst perfektioniert hatte, nämlich Intrige, Ämterpatronage und personelle Strippenzieherei, ist bei Horst nie über bruchstückhafte Taktik ohne Perspektive hinausgelangt. So gelang es ihm zwar, die ehrgeizige Ilse Aigner durch seine erratischen Energiepläne in eine Art Wachkoma, das jede ministerielle Handlung unmöglich macht, zu versetzen, und auch Christine Haderthauer hat sich in die Schmuddelecke zurückgezogen, um mit Modellautos zu spielen, doch ein weiterer Nachfolge-Kandidat, das Nürnberger Ekel Markus Söder, tanzt ihm auf der Nase herum.

 

Söder, von minderer Intelligenz als FJS, aber wenigstens genauso machtgierig wie jener, lässt ab und zu vor Journalisten ein paar Worthülsen fallen, die Undurchführbares einfordern, vor allem aber dem Wähler imponieren sollen. Ob von der Halbierung der bayerischen Zahlungen beim Länderfinanzfinanzausgleich die Rede ist oder von einem „Konjunkturcheck“ für Vorhaben des Berliner Koalitionspartners SPD – stets muss Seehofer dementieren und seinen Finanzminister schelten. Der aber reagiert auf das Chef-Geschimpfe überhaupt nicht und tut das einzige, was ihm, dem nicht einmal hartgesottene fränkische CSUler über den Weg trauen, Sympathien eintragen kann: Er schweigt, versteckt sich – und lauert.

 

Denn Horst, der sich selbst nie (andere aber zeitweise schon) im Griff hatte, scheint an zunehmenden Bewusstseinseintrübungen zu leiden. Wie sonst ließen sich seine Worte (Wörter?) in einem unlängst erschienenen Spiegel-Interview deuten? Auf deutsche Rüstungsexporte in den Nord-Irak angesprochen, erklärte er: „Die Kurden sind heilfroh, wenn sie sich mit unseren Waffen verteidigen können.“ Und zwar gegen unsere Waffen, die über befreundete Mittelsmänner beim Islamischen Staat (IS) gelandet sind. Dann aber sagt Seehofer einen Satz, der beweist, dass er zwischen Ursache und Wirkung sowie Tätern und Opfern nicht mehr unterscheiden kann, eine Sequenz, die schmerzhaft in Hirnschmalz gemeißelt zu werden verdient:

 

„Rüstungsexporte haben den Sinn, Menschen zu schützen und Regionen zu stabilisieren.“

 

Geht unser Irrläufer davon aus, dass die Waffen des IS auf Bäumen gewachsen sind, oder glaubt er, dass die Islamisten mit den schmucken Import-Geschützen aus dem Westen ein Gebiet bis hin zur Friedhofsruhe stabilisieren können?  Angesichts dieses eklatanten Falles geistiger Umnachtung kann nur noch eines helfen. Ihr Mütterchen im oberbayerischen Pfaffenwinkel, ihr frommen Weiblein in Altötting, Gößweinstein und anderen Wallfahrtsorten: Betet für den Horst, auf dass der Herr die Finsternis von ihm nehme!

 

11/2014

Dazu auch:

System Bayern im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund
               

 

 

Erbarmen Obama!

 

Himmel hilf! Der – abgesehen von vielleicht 400 Hedgefonds-Bossen, Finanzmarkt-Jongleuren, Rüstungsmagnaten und IT-Monopolisten – wohl mächtigste Mann der Welt scheint sein Gedächtnis verloren zu haben.


In einer Rede vor der UN-Vollversammlung geißelte Barack Obama, 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, den Terror-Feldzug des Islamischen Staates (IS), einer mit westlichen Waffen via Qatar und Saudi-Arabien aufgerüsteten Zeloten-Truppe also, in Syrien und im Irak mit scharfen Worten. Der Friedensnobelpreisträger sprach von einem „Krebsgeschwür“, das „vernichtet“ werden müsse. Dann nahm er sich Russland zur Brust, das die Dreistigkeit besessen hatte, sich gegen die militärische wie wirtschaftliche Einkreisung durch die USA und ihre Verbündeten mit ähnlich rüden Methoden zu wehren, wie die NATO sie anwandte, als sie in der Ukraine einen gewählten Präsidenten wegputschen ließ. Obama warf Putin indirekt vor, er pflege die Vision einer Welt, in der die Macht das Recht bestimmt, in der die Grenzen einer Nation von einer anderen willkürlich verschoben werden könnten.

 

Und nun vergaß der US-Staatschef anscheinend, welches Land er repräsentierte bzw. wie diese Nation in der Vergangenheit – bis hinein in die Gegenwart – agierte:

 

Amerika steht für etwas anderes. Wir glauben, dass die Macht aus dem Recht entsteht –dass größere Nationen kleinere nicht tyrannisieren sollten; dass die Völker in der Lage sein sollten, ihre eigene Zukunft zu wählen.

 

Millionen von Menschen im Irak, in Syrien, Libyen, Afghanistan, Vietnam, Laos, Guatemala, Honduras, Angola oder auf Grenada werden angesichts dieses Statements nicht wissen, ob sie nun kopfschüttelnd lachen oder bittere Tränen vergießen sollen, haben sie doch alle Angehörige und Freunde in Kriegen und bei Interventionen verloren, die der Durchsetzung nordamerikanischer Hegemonie dienten. Salvador Allende wird sich in seinem Grab umdrehen, was Zehntausenden „verschwundener“ Argentinier verwehrt bleibt, weil sie aus Helikoptern in die Fluten des Rio de la Plata oder des Südatlantik geworfen wurden – als Konsequenz der von US-Geheimdiensten orchestrierten Operación Cóndor. Unter dem Diktat des wirtschaftlich-militärischen Komplexes in Washington stöhnen heute auch die mit dem Freihandelsabkommen NAFTA bestraften Nachbarstaaten Kanada und Mexiko. Europa wird es nach der Unterzeichnung von TTIP ähnlich ergehen…

 

Doch Barack Obama wurde offenbar nicht nur von einer Amnesie von der historischen Vergangenheit abgeschnitten, seine Gedanken wirken auch im Präsens seltsam wirr und weltfremd. In einer anderen Passage, die übrigens ebenso wie die vorherige von den deutschen Zeitungen mitleidig übergangen wurde, erklärt der Patient ohne Krankheitseinsicht, dass Amerika eine Macht in der pazifischen Region bleiben und dort „Frieden, Stabilität und den freien Handelsverkehr zwischen den Nationen“ fördern werde.

 

Aber wir werden darauf bestehen, dass alle Nationen sich an die Regeln der Verkehrswege halten und ihre territorialen Streitigkeiten friedlich, in Übereinstimmung mit dem internationalen Gesetz, lösen.

 

Klingt zunächst ganz vernünftig, dass China, Japan oder Vietnam ihre Ansprüche auf diverse Inselgruppen von einem unabhängigen Tribunal klären lassen. Doch plötzlich fällt dem objektiven Beobachter ein, dass dies ausgerechnet der Präsident eines Landes fordert, das die Urteile des Internationalen Gerichtshofes von Den Haag stets dann nicht anerkennt, wenn es selbst betroffen ist. So verlangen die USA immer wieder die Bestrafung von Terroristen, missliebigen Politikern und unbotmäßigen Nationen durch die Super-Juristen in Holland, lehnen aber jede Zuständigkeit derselben Instanz für eigene Staatsbürger und Handlungen kategorisch ab. Als 1986 das von Ronald Reagan regierte Reich des Guten wegen der völkerrechtswidrigen Verminung der Häfen in Nicaragua von den Haager Richtern zu Reparationszahlungen verurteilt wurde, erkannte es den Schuldspruch nicht an und brachte gleichzeitig eine Resolution im UN-Sicherheitsrat zur Einhaltung internationalen Rechts durch sein Veto zu Fall.

 

Weiß Obama das, hat er es vergessen oder verwechselt er einfach Opfer und Schurken, Schuldige und Erduldende miteinander? Es könnte natürlich auch sein, dass der jetzige Präsident der USA sich nur nahtlos in die glänzende Gilde skrupelloser Machtpolitiker vom Format der Bushs, eines Ronald Reagan oder Richard Nixon einreihen möchte...

 

09/2014

Dazu auch:

Tatort Indochina in der Rubrik Politik und Abgrund

 

 

  

Der Phantom-Däne

  

Anders Fogh Rasmussen, dänischer NATO-Generalsekretär, scheidet aus dem Amt. Damit verlieren die USA ihren treusten Vasallen in Europa, und der gesamten Nordatlantischen Allianz geht ein Mann mit seherischen Fähigkeiten und den Tugenden eines scharfen Spürhundes, der Bedrohung und Verrat selbst dort wittert, wo die Luft ziemlich rein ist, verloren.

 

In den Anfängen wurde die steile Karriere wegen Rasmussens Diskretion bezüglich dubioser Vorgänge kurz abgeklemmt: Als Wirtschaftsminister musste er 1992 zurücktreten, weil er das Parlament ungenau und nicht ganz vollständig über die „kreative Buchführung“ (Wikipedia) in seiner Verwaltung informiert hatte. Kreative Buchführung, das hat mit schwarzen Kassen, Bezahlung imaginärer Leistungen, phantasievoller Abrechnung zu tun – ein Indiz für die Vorliebe Rasmussens für Übersinnliches und dräuende Phantome.

 

Diese Jugendsünde verhinderte später weder Rasmussens Wahl zum dänischen Regierungschef (2001) noch zum EU-Ratspräsidenten (2002). Der stramme Neoliberale führte seine ohnehin rechte Venstre-Partei nach ganz rechts, kreierte u. a. das inhumanste Ausländerrecht Europas und senkte zugunsten seiner reichen Gönner die Steuern. Dann, im Jahre 2003, hatte er als Jünger des globalen Sehers George W. Bush seine erste große Vision: Im Wüstensand des Irak erschienen ihm plötzlich Massenvernichtungswaffen. Als die USA wegen einer Gefahrenquelle, die sich wie weiland der Heilige Gral in den blauen Äther verflüchtigte, einen Krieg gegen das Zweistromland vom Zaun brachen, schickte der Kopenhagener Nostradamus gegen den Mehrheitswillen seiner Landsleute ein dänisches Militär-Kontingent nach Arabien. Rasmussen, der im eigenen Land keine Flüchtlinge haben wollte, sorgte mit dafür, dass der Irak bis heute (und vermutlich noch weit in die Zukunft hinein) die Welt mit Asylsuchenden versorgt.

 

Als Venstre immer mehr Wähler wegliefen, entsann sich Washington des vorauseilenden Gehorsams seines liebsten Verbündeten und machte diesen 2009 mit Zustimmung der – natürlich völlig souveränen – Partner-Regierungen zum NATO-Generalsekretär, zum obersten Verteidiger des Westens und seiner Werte sozusagen. Zunächst bewarb sich der Däne eifrig um den Kriegsnobelpreis der internationalen Rüstungsindustrie, indem er in jeden zweiten Satz die dringende Forderung nach der Erhöhung des Wehretats in allen NATO-Ländern einfließen ließ. Dann konnte sich Rasmussen kurz vor Ende seiner Amtszeit tatsächlich mit weiteren, höchst willkommenen, Visionen für die US-Protektion revanchieren.

     

Gerade erst mit dem Ukrainischen Freiheitsorden ausgezeichnet, wohl weil er die militärische Einkreisung Russlands als Präventiv-Maßnahme für die Sicherheit der aufrechten Demokratien vorangetrieben hatte, entlarvte er die Öko-Bewegung als fünfte Kolonne, weil deren Anti-Fracking-Kampagnen von Moskau unterstützt würden. Zufällig gieren US-Konzerne seit geraumer Zeit nach Fracking-Lizenzen für die besonders ergiebigen Erdgas-Vorkommen in der umkämpften Ostukraine.

 

Als die Kämpfe zwischen den Separatisten und den west-ukrainischen Streitkräften, unterstützt von den Neonazi-Milizen des Rechten Sektor, der Privatarmee des Oligarchen Achmetow und Söldnern der US-Firma Academi (früher Blackwater), intensiver wurden, sah Rasmussen etwas, was zuvor nur die Regierung in Kiew wahrgenommen hatte: Eine russische Panzertruppe sei über die Grenze in die Donezk-Region eingedrungen, dort aber von den heldenhaften Verteidigern der freien Marktwirtschaft vernichtet worden.

 

Schade nur, dass die Trümmer und Gefallenen der Schlacht sich in Luft auflösten, alle Aufklärungssatelliten im Weltall einen Blackout hatten, die Piloten westlicher Spionage-Jets anscheinend gerade Monopoly spielten und die Kameraleute sowie Fotografen der freien Welt diese Sternstunde der wachsamen Menschheit glatt verpennten... Ein einsamer Mahner indes blieb hellwach, so dass ihn die mangelnde Evidenz nicht anfocht: Fogh Rasmussen sprach von Beweisen für eine russische Invasion; mit übersinnlichen Phänomenen kennt sich der Däne nämlich so gut aus, dass er Richard Wagners Schaueroper Der fliegende Holländer die Horror-Version Der anrollende Russe folgen ließ.

 

In einem von den deutschen Medien eher stiefmütterlich behandelten offenen Brief an die Bundeskanzlerin warnten ehemalige US-Geheimdienstler, darunter Schwergewichte wie William Binney (früherer Technischer Direktor der NSA), Ex-CIA-Analyst Ray McGovern und Ann Wright, die von ihrem Posten als Foreign Service Officer im Außenministerium zurückgetreten war, die Behauptungen aus Kiew und vor allem Washington über eine russische Invasion in der Ostukraine für bare Münze zu nehmen: „Unserer Meinung nach sollten Sie gegenüber den aktuellen Vorwürfen des US-Außenministeriums und der NATO-Offiziellen gleichermaßen misstrauisch sein.“ Die einstigen Chef-Agenten verglichen die derzeitige Propaganda gegen Moskau mit den Fehlinformationen, die seinerzeit über Saddam Husseins „Massenvernichtungswaffen“ gestreut wurden und nannten auch den wichtigsten Märchenerzähler beim Namen: „Wir hoffen, dass Ihre Berater Sie an die unsaubere Weste von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Sachen Glaubwürdigkeit erinnert haben. Es scheint uns, dass Rasmussens Reden weiterhin in Washington verfasst werden.“

 

Und ein solch loyaler Alliierter verlässt nun das Schlachtfeld der Medien- und Meinungsmanipulation! US-Friedensnobelpreisträger Obama und BRD-Kriegsministerin von der Leyen werden ihm nachtrauern.

 

09/2014

 

Dazu auch:

Dem Vieh verboten im Archiv der Rubrik Medien 

      

 

 

Der silberne Gauck

 

Der Mann ist mit sich selbst, seiner Wortgewandtheit und seinem Amt zufrieden. Das ist an sich schön, würde es sich nicht um einen Bundespräsidenten handeln, der keinem Fototermin aus dem Weg geht und in Unkenntnis einer Volksweisheit, der zufolge Reden Silber,  Schweigen aber Gold ist, zu allem seinen Senf absondert – selbst wenn der neben folgenlosem Quark auch giftige Ingredienzen in gefährlicher Konzentration enthält.

 

Unlängst ging ein Schnappschuss durch die deutsche Presse, der einen verschmitzt und telegen wie einst Kinostar James Garner die Objektive der Kameraleute suchenden Joachim Gauck zeigte, während neben ihm der polnische Präsident Komorowski, dem Anlass wesentlich angemessener, ernst – aber eben nicht so attraktiv – dreinblickte. Das deutsche Staatsoberhaupt war bei der Eröffnung einer Ausstellung zum Warschauer Aufstand vor 70 Jahren zugegen und erteilte laut dpa sich, seinen Landsleuten (und versehentlich auch der Hitler-Diktatur gleich mit) bei dieser Gelegenheit die Absolution: „Die Polen hätten verziehen, dass das Nazi-Regime auf den Aufstand mit Terror und Gewalt geantwortet hat.“  So ist er, der stets auf sein äußeres Erscheinungsbild bedachte Übervater der Nation, der zu allem etwas zu sagen weiß; nur dass Vati immer ein wenig wie ein eitler Besserwisser wirkt, der an jedes Pudels Kern haarscharf vorbei laviert.

 

Die Bundesdeutschen haben es nicht leicht gehabt mit ihren Präsidenten. Gauck-Vorgänger Wulff scheiterte an seiner Affinität zu Freibier und halbseidener Prominenz. Davor zog sich Horst Köhler beleidigt zurück, weil eine (ungeschickte, aber ehrliche) Aussage, der zufolge die Bundeswehr in Afghanistan nicht wegen humanistischer Gefühlsduselei, sondern zum Schutz der „freien Handelswege“ (für die NATO-Märkte) im Einsatz sei, öffentlich kritisiert wurde. Wesentlich peinlicher für die (damals noch junge) Republik: Von den ersten fünf Bundespräsidenten waren zwei Mitglieder der NSDAP gewesen (Scheel, Carstens), während einer KZ-Baupläne per Unterschrift abgesegnet hatte (Lübke).

 

Da wenigstens ist Joachim Gauck unbelastet. Nach Aussagen von Bürgerrechtlern fiel er während der letzten Tage der DDR zwar nicht gerade durch ausufernden Mut auf, dafür versucht er nun, quasi als rhetorische Speerspitze deutschem Militär den Weg in ferne Länder zu ebnen und bisherige Einsätze tapfer schönzureden: „Eines haben wir gerade in Afghanistan gelernt: Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig…“ Gelernt haben wir vor allem, dass notwendigerweise 54 deutsche Soldaten starben, mindestens ein Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurde (dessen Urheber sich wenig später zum General befördert sah), Milliarden von Euro vergeudet wurden und sich heute im Nordosten Afghanistans mehr Taliban tummeln als vor Ankunft der Bundeswehr.

 

Die seltsame Einschätzung einer desaströsen Intervention äußerte Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor versammelter globaler Militär-Lobby mehr oder weniger verklausuliert für die nächsten Bundeswehreinsätze in Krisenländern warb. So richtig vom Leder zog der Präsident, den uns SPD und Grüne eingebrockt haben, aber vor der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg: „Und dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.“ Das allerdings kann einen sturmerprobten Pfarrer, der den Glücksentzug offenbar erfolgreich hinter sich gebracht hat, nicht erschüttern. „´Ohne uns` als purer Reflex kann keine Haltung sein, wenn wir unsere Geschichte ernst nehmen.“ Die Gesellschaft müsse sich bewusst werden, welche Aufgaben die Truppe in Zukunft wahrnehmen solle. „All das darf nicht allein in den Führungsstäben und auch nicht allein im Parlament diskutiert werden. Es muss da debattiert werden, wo unsere Streitkräfte ihren Ort haben, in der Mitte der Gesellschaft.“

 

Hätte Gauck der Gesellschaft ein wenig zugehört, wüsste er, dass die Diskussion längst gelaufen ist. Trotz ihrer sonstigen Manipulierbarkeit und trotz des bellizistischen Trommelfeuers der Medien sind zwei Drittel der Deutschen zu dem Schluss gekommen, dass der Ort der Streitkräfte besser in der Mitte des Landes liege und nicht in Weltregionen, die zur besseren Durchsetzung westlicher Marktinteressen kriegerisch befriedet werden sollen.

 

In der Evangelischen Akademie schlägt der Herr Pastor natürlich ganz andere Töne an. Angesichts des permanenten Flüchtlingsdramas im Mittelmeer fordert er mit Recht, dass Asylbewerber nicht zurückgeschickt werden dürften, ohne angehört zu werden, oder dass sie leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten sollten. Kein Wort aber verliert Gauck über die inhumane Politik seines Landes, das alle Lasten bei der Aufnahme per Dublin-III-Verordnung den süd- oder osteuropäischen Staaten mit prekären Küsten und Grenzen aufbürdet, lieber die Abfangjäger der Wach- und Schließgesellschaft Frontex zur See aufrüstet und dessen Wirtschaft ordentlich am Mauerbau für die Festung Europa verdient. Und dann macht Gauck klar, dass es ihm eigentlich gar nicht so sehr um das Schicksal Hunderttausender von Verzweifelten geht, sondern um das Image (seines und das seines Kontinents): „Die Bilder der Särge im Hangar von Lampedusa, die Bilder der kletternden Menschen am Stacheldrahtzaun der Exklaven Ceuta und Melilla – sie passen nicht zu dem Bild, das wir Europäer von uns selbst haben.“

 

Zu Snowdens Enthüllungen schwieg der eloquente Präsident lange, ehe er eine verworrene Erklärung abgab, in der Ursache bzw. Basis (Freiheit in Gefahr) und Wirkung bzw. Überbau (Freiheitsgefühl) sauber die Ränge getauscht haben: „Die Angst, unsere Telefonate oder Mails würden von ausländischen Nachrichtendiensten erfasst und gespeichert, schränkt das Freiheitsgefühl ein – und damit besteht die Gefahr, dass die Freiheit an sich gefährdet wird.“ Ach Joachim, würdest du nur auf die alten Römer hören: Si tacuisses, philosophus mansisses. Frei übersetzt: Hättest du den Mund gehalten, könnte man dich noch ernst nehmen.

 

08/2014

 

Dazu auch:

Die Niederlage im Archiv der Rubrik Medien 

Sport, Spiel, Krieg im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

EU-Verbrechen (Archiv von Politik und Abgrund)  

 

 

 

Der Zauberlehrling

  

In Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling“ nutzt der unbedarfte Gehilfe eines Hexers die Abwesenheit des Meisters, um die eigenen magischen Kräfte zu erproben. Er verwandelt einen Besen in seinen Arbeitssklaven, der Wasser vom Fluss für ein Bad holen soll. Als der Zuber voll ist und eine Überschwemmung droht, kann der Azubi seinem Helfer nicht mehr Einhalt gebieten und klagt: Die ich rief, die Geister,/Werd ich nun nicht los. Durch die Rückkehr des weisen Senior-Zauberers wird er schließlich gerettet. Die Parabel wurde von Walt Disney im Zeichentrick-Format mit Micky Maus in der Titelrolle erfolgreich verfilmt. Die Zeitläufte erfordern indes eine moderne Interpretation des Märchenstoffs, mit Frank Walter Steinmeier als Hauptdarsteller.

 

Der (wiederholte) Außenminister der Bundesrepublik hat so manchen Stein ins Rollen gebracht, den er später nicht mehr stoppen konnte, und die eine oder andere Fehlentwicklung virtuos eingeleitet: Als Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder, dem Genossen der Bosse, beschleunigte Steinmeier im Steuerungskreis zur Umsetzung der Hartz-Reformen den sozialpolitischen Kahlschlag, führte den Klassenkampf von oben mittels Abschaffung der Vermögenssteuer und sorgte ganz nebenbei dafür, dass sich auch die treuesten Wähler nicht mehr erinnern konnten, wofür das „S“ bei SPD eigentlich steht.

 

In seiner Funktion als Geheimdienstkoordinator öffnete er Tür und Tor für eine gedeihliche Zusammenarbeit mit den US-Spionen, ließ während des Irak-Krieges den BND Bombenziele für Bushs Luftwaffe ausspähen – und wundert sich nun, dass NSA und CIA die Einladung zur vollständigen Durchleuchtung deutscher Politik, Wirtschaft und Gesellschaft so dankbar annahmen.

 

Zusammen mit Schröder und Fischer betrieb Steinmeier1999 die völkerrechtswidrige Militäraktion gegen Serbien, die nur vollendete, was die Vorgänger in der Kohl-Regierung begonnen hatten: die Destabilisierung und letztendliche Zerstückelung eines missliebigen Staates. Und da sich Geschichte wiederholt, wenn auch als Farce, versuchte sich Steinmeier, mittlerweile wieder einmal Außenminister, auch als Mentor ebenso pro-westlicher wie dubioser Kräfte in der Ukraine zum Behuf der schleichenden Nato-Erweiterung gen Osten.

 

Konsequent förderte Steinmeier den Milliardärs-Günstling Vitali Klitschko, der soeben als Bürgermeister von Kiew eine Schwulen-Demo verbot, und ließ sich händeschüttelnd mit den Faschisten von der Swoboda-Partei fotografieren. Als ihm aber der Maidan doch ein wenig zu gewalttätig wurde und er ein Abkommen zur Beilegung der Auseinandersetzungen mit den Oppositionellen und dem zwar korrupten, aber immerhin gewählten Präsidenten Janukowytsch aushandelte, da mischte sich der Hexenmeister (in Gestalt der US-Administration) ein, der im Gegensatz zur Goethe-Vorlage nicht weise dem Wahnsinn ein Ende setzte, sondern vielmehr zur Durchsetzung seiner Interessen höchst aggressiv am nächsten Tag einen Putsch inszenierte.

 

Lernte unser Zauberlehrling nun seine Lektion? Mitnichten. Wie nämlich der Fortgang der Geschichte zeigt, versuchte Frank Walter, nachdem er – eingedenk der EU-Interessen an den Rohstoffen der Ost-Ukraine – das Regime in Kiew zum Eroberungsfeldzug gegen Teile des eigenen Volkes ermuntert hatte, einen Waffenstillstand zu vermitteln. Und während er jetzt plötzlich von Friedensverhandlungen schwadronierte, beschoss die west-ukrainische Armee, unterstützt von Neonazi-Milizen und Oligarchen-Söldnern, mit dem Plazet des bösen amerikanischen Magus die Zivilbevölkerung im Osten des Landes. Wieder einmal konnte Steinmeier die Geister, die er einst gerufen hatte, nicht zügeln.

 

Natürlich drängt sich da der Vergleich Steinmeiers mit einer anderen literarischen Figur auf: Wirkt er nicht ein wenig wie Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt? Doch bei näherem Hinsehen müssen wir trotz ähnlicher Handlungsresultate eine Wesensverwandtschaft verwerfen und die gravierenden Unterschiede beider Charaktere betonen: Don Quijote von der Mancha war ein durchaus sympathischer Mann, der an die ritterliche Ehre glaubte, sich für die Schwachen einsetzte, allerdings bis zum Realitätsverlust den Träumen von vergangenen ruhmreichen Epochen nachhing. Frank Walter Steinmeier hingegen glaubt an gar nichts und handelt macht-und sozialpolitisch rücksichtslos und berechnend bis zum letzten – nur verkalkuliert er sich leider pausenlos…

 

07/2014

Dazu auch:

Markt-Walter, Kriegs-Niko im Archiv der Rubrik Medien                  

 

 

 

Scheitern als Weg

 

Es war einmal ein prachtvoller Hauptstadt-Flughafen. Aus allen Ländern der Welt schwebten fröhliche Menschen in Berlin ein und erfreuten sich der eleganten Architektur, der edlen Basare und der feinen Spezereien, die in Restaurants der gehobenen Preisklasse angeboten wurden. Soweit das Märchen.

 

In Wirklichkeit wird die größte Flughafen-Baustelle Europas, deren erster Spatenstich mittlerweile sieben Jahre zurückliegt und deren Fertigstellung eigentlich bereits voriges Jahr hätte pompös gefeiert werden sollen, nicht 2013 fertig und wohl auch nicht in näherer Zukunft. Sicherheitsmängel, technisches Chaos und gestalterischer Größenwahn ließen ein Prestige-Objekt zur Blamage für Ministerpräsidenten, Regierende Bürgermeister, Planer und Architekten verkommen.

 

Doch nun hat der neue Manager des Flughafens Berlin Brandenburg, Hartmut Mehdorn, entschieden, dass 2014 eine Teilinbetriebnahme mit zunächst zehn Flugbewegungen pro Tag erfolgen soll. Setzt man diese Zahl in Relation zum Tempo der Nachbesserungsarbeiten und zu den angestrebten Passagierzahlen, so ist zu vermuten, dass die die oft zitierten 27 Millionen Fluggäste nicht für ein Jahr, sondern für ein Jahrhundert avisiert wurden.

 

Hartmut Mehdorn, vom mittlerweilen aus Gesundheitsgründen zurückgetretenen brandenburgischen Ministerpräsidenten Platzeck als Retter vorgeschlagen (Der Mann war wohl wirklich krank!) und im März dieses Jahres installiert, kennt sich aus mit Pleiten und Pannen. Böse Zungen behaupten sogar, Versagen sei sein Prinzip, Tricksen seine Methode. Über die ersten Vorschläge, die Mehdorn für die schnellere Fertigstellung des Großflughafens einbrachte, lachten sich laut Medienberichten Fachleute, ob Sicherheitsexperten oder Bautechniker, unisono schief. Sehen wir uns die früheren Meriten des knallharten Managers mit der weichen Erfolgsstatistik doch einmal näher an:

 

Von 1999 bis 2009 drängte sich Mehdorn als Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG so vehement in den Vordergrund, dass 70 Prozent aller Deutschen glaubten, sein Vorname sei Bahnchef. Unter seiner Ägide wurde die DB so gründlich „saniert“, dass heutzutage die Großstadt Mainz wegen Fachkräftemangels im Stellwerk von der Außenwelt abgeschnitten ist. Um die Bahn für einen Börsengang attraktiv zu machen (der nie stattfand), baute Mehdorn Personal ab, sourcte Reparaturarbeiten aus, vernachlässigte die Schienenwartung, verknappte die Schulungen für Zugführer und Techniker. Zu den Folgen dieser Politik des Kahlschlags gehörte, dass die Bahn wetterfühlig wurde. Ältere unter uns erinnern sich vielleicht noch an einen stolzen Werbeslogan, der die Einsatzfähigkeit der Züge bei jedem Klima signalisieren sollte: „Alle reden vom Wetter, wir nicht! Deutsche Bundesbahn.“ Inzwischen stellt die DB bei Verspätungen und Ausfällen weinerlich fest, dass es im Winter kalt ist (vereiste Weichen), im Sommer warm (Gleisverformungen) und im Herbst feucht (nasses, glitschiges Laub auf den Schienen).

 

Auch der Ultra-Irrsinn „Stuttgart 21“ wurde von Mehdorn angestoßen. Verstöße gegen den Naturschutz, Missachtung von Massenprotesten und eine explosionsartige Entwicklung der Kosten lassen das Projekt jetzt schon als die gigantomanische Phantasmagorie eines kranken Hirns erscheinen. Mittlerweile machen so viele Expertisen Sicherheitsbedenken gegen die Verbuddelung des Bahnhofs geltend, dass Spötter fragen, ob man nicht stattdessen die Stadt Stuttgart ein wenig höher legen könnte. Doch Mehdorn stolperte bei der DB nicht über seinen Größenwahnsinn, sondern über die Manie, Mitarbeiter und vor allem Kritiker seiner Geschäftspolitik bespitzeln zu lassen.

 

Danach nahm sich der Ex-Bahnchef „Air Berlin“ als Sanierungsexperte vor. Unter seinem Vorgänger Hunold war die zweitgrößte deutsche Luftfahrtgesellschaft in eine leichte wirtschaftliche Schieflage geraten. Als Sparkommissar Mehdorn nach nur 15 Monaten im Amt abtrat, ging es „Air Berlin“ richtig schlecht. Immerhin hatte er die Betreiber-Gesellschaft unseres Pleite-Flughafens (mithin seinen jetzigen Arbeitgeber) kurz zuvor noch auf Schadenersatz an die Fluglinie verklagen lassen.

 

Und nun soll eben dieser Mehdorn den „Willy-Brand-Flughafen“ doch noch retten. Seine Beauftragung lässt bei vielen Bewohnern dicht besiedelter Bezirke von Berlin und Potsdam, die in der Flugschneise liegen (während seltsamerweise Villenviertel mit schütterer Population bei der Routenplanung ausgespart blieben), die Hoffnung keimen, der Airport werde nie fertiggestellt. In diesem Fall könnte man das Gelände öko-freundlich umwidmen und die Bundesgartenschau dort veranstalten; die Parkplätze wären schon vorhanden. Nur, wo sollen die vielen Besucher, die aus der Ferne nach Berlin kommen, dann landen?

 

08/2013            

 

 

 

 

 

 

Mauthelden

 

Für den Alexander Dobrindt ist Denken harte Arbeit. Als frischgebackener Verkehrsminister hat er sich dabei mächtig angestrengt, ist aber nicht sehr weit gekommen. Ihm hat nämlich der Seehofers Horst per Koalitionsvertrag die schier unlösbare Aufgabe eingebrockt, den Kreis quadratisch zu berechnen oder, anders ausgedrückt, alle Autofahrer per Maut gleich zu belasten, aber die deutschen dann doch wieder nicht. Was dabei herauskam, könnte glatt als Zulassungsarbeit für jedes Nervensanatorium im schönen Alpenvorland durchgehen.

 

Als es dem bayerischen Ministerpräsidenten nach langer Zeit wieder einmal gelang, seine multiplen Persönlichkeiten zu einer entschlusskräftigen Führungsfigur zusammenzuführen, ging er daran, ein Unrecht auszumerzen, das ihn schon lange empörte: Wenn der arme deutsche PKW-Pilot andere Länder wie Österreich, Italien oder Frankreich mit seiner rasanten Anwesenheit beehrt, muss er für die Nutzung von Autobahnen einen Obolus entrichten – der arme dort einheimische Fahrer zwar auch, doch ist dessen Not unserem Horst völlig Weißwurst.  

 

Also will sein Vollzugsgehilfe Dobrindt die Ösis, Welschen oder Käsköppe zur Kasse bitten, wenn sie auch nur einen Quadratzentimeter deutschen Asphalts (selbst auf der gemeinen Landstraße) abnutzen. Auch die teutonischen Volksgenossen des eifrigen Bayern müssen zunächst Maut bezahlen, erhalten das Geld aber durch die Hintertür einer Kfz-Steuerminderung wieder zurück – soweit jedenfalls der wirre Plan. In der Justiz spricht man bei solchen Tricks von Strafvereitelung, und die wiederum ist strafbar. Es ist also anzunehmen, dass der Europäische Gerichtshof das selektive Abkassieren wegen „mittelbarer Diskriminierung“ anderer EU-Bürger wieder einkassieren wird.

 

Die Opposition spottet, die Koalitionsfreunde von der SPD grinsen hinter vorgehaltener Hand, der Bundesrat wird das Gesetz ohnehin nicht passieren lassen, nur der tapfere Alexander Dobrindt klammert sich an seine Vorlage, weil hinter ihm Horst Seehofer, ein legendärer Wetterhahn in der Brandung, ausnahmsweise stur bleibt. Da ist es natürlich doppelt peinlich, wenn einem auch noch die Schwesterpartei in den breiten Rücken fällt. Die CDU-Landesvorsitzenden von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, Strobl und Laschet, halten die Fremden-Maut jedenfalls für Blödsinn, vermutlich weil sie befürchten, dass dann die Schweizer nicht mehr über die Grenze einfallen, um Konstanzer Supermärkte leerzukaufen, und dass künftig keine holländischen Wohnwagenbesatzungen mehr die Kölsch und Alt entlang der Heerstraßen nach Süden aussaufen. Und sogar Bundesfinanzminister Schäuble kündigt nun an, neue Abzock-Pläne entwerfen und eigene Maut-Häusle bauen zu lassen.

 

Da ist das Ingolstädter Urgestein Horst Seehofer von anderer Denkungsart. Was außerhalb und nahe unserer Demarkationslinien (sowie nördlich der Donau) vor sich geht, interessiert ihn nur am Rande. Wegen ihm könnten die Grenzen wieder dichtgemacht werden, und von logischer Argumentation hat er ohnehin noch nie viel gehalten, gelten für ihn doch die Richtlinien des geistig-bayerischen Reinheitsgebotes: Zugereiste brauchen wir nicht. Das Boot ist voll. Und: Mir san mir!

 

Das einzig wirksame Mittel, um den xenophoben Kreuzzeug des frommen Christsozialen Seehofer und seines verkehrspolitischen Geisterfahrers Dobrindt zu stoppen, hätten vielleicht die nordspanischen Gemeindevorsteher zur Hand: Wenn sie von jedem bayerischen Pilger auf dem Sankt-Jakobs-Highway Wegezoll wegen des Zertrampelns von Bergpässen, Gehsteigen und Waldpfaden verlangen würden, kämen die beiden Herren in München vielleicht ins Grübeln. Denn etliche gottesfürchtige Langstreckenläufer aus dem Freistaat könnten sich den Absolutionsgang nach Santiago de Compostela nicht mehr leisten, müssten unverrichteter Dinge und voller Sünden ins Land, wo Bier und Vitamin B als Lebensmittel gelten, zurückkehren und würden sich mit einem vorwurfsvoll-drohenden „Wir sind dann mal wieder da!“ an die bayerische Staatkanzlei wenden.

 

08/2014

Dazu auch:

Wadenbeißerchen in dieser Rubrik

              

 

 

Frau Ex-Doktor

 

„Ich bin etwas lax in Fragen des geistigen Eigentums.“ Dieses Bekenntnis des großen Dramatikers Bertolt Brecht hatte die spätere Vorzeige-Politikerin Baden-Württembergs, Annette Schavan, offenbar verinnerlicht, als sie 1980 ihre Doktorarbeit schrieb. Auch das hehre Thema „Person und Gewissen“ konnte die Unionschristin nicht von einem kleinen Unterschleif abhalten, der leider entdeckt wurde und sie sowohl den akademischen Titel als auch den Job als Bundesministerin für Bildung und Forschung kostete. Zwar war es bitter, dass ausgerechnet Busenfreundin Angela Merkel die umtriebige Wahl-Schwäbin entlassen musste, doch hat unser aller Kanzlerin inzwischen eine schöne neue Beschäftigung für die einstige Weggefährtin gefunden: Annette Schavan wird Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland im Vatikan.

 

Nun ist das diplomatische Korps ja ein ziemlich elitärer Haufen, und prompt wies das Auswärtige Amt darauf hin, dass Frau Schavan nach ihrer Entdokterung nicht – wie sonst bei Gesandten üblich – eine abgeschlossene akademische Laufbahn vorweisen könne. Die Bundesregierung hielt aber in der weisen Erkenntnis an der Ernennung der Unvollendeten fest, dass die Repräsentanz am Heiligen Stuhl eher Gottvertrauen als wissenschaftliche Skepsis erfordert.

 

Un(ein)geweihte mögen zwar glauben, bei dieser Karrieresprosse handele es sich um einen Abschiebe-Posten in einem Duodez- oder Operetten-Ländchen, doch weit gefehlt: Bei dem von Rom umgebenen Mini-Staat handelt es sich um ein putzmunteres Territorium, von dessen Umtriebigkeit, Intrigenlust und (krimineller) Energie sich selbst Mekka eine Scheibe abschneiden könnte:

 

Da wird ein Kammerdiener des deutschen Petrus-Imitators Ratzinger verknastet, weil er milde Gaben und Briefe an das Oberhaupt der katholischen Kirche stahl. Jetzt sitzt er in einem vatikanischen Gefängnis, und wer von der Heiligen Inquisition, ihren Kerkern und Wahrheitsfindungsmethoden gehört hat, wird fürchten, dass der treulose Domestik kaum in den Genuss modernen Strafvollzugs kommen wird.

   

Da stirbt ein Papst (Johannes Paul I.) nach nur 33 Tagen Unfehlbarkeit – und es wird zunächst kolportiert, er sei selig lächelnd bei der Lektüre mittelalterlicher Erbauungsliteratur entschlafen, bis durchsickert, dass er gerade über den Buchhaltungsunterlagen saß, als ihn der Schlag traf.


Da baumelt Roberto Calvi, Präsident des mit der Vatikanbank verbandelten Geldinstitutes „Ambrosia“, unversehens an einem Strick unter einer Londoner Brücke. Am nächsten Tag folgen ihm per Fenstersturz seine Sekretärin und – wenig später – sein  Banker-Kollege Sidonia mittels Zyankali in den Himmel. Die üblichen bösen Zungen munkeln etwas von Mafia.

 

Das können wir uns zwar im Dunstkreis der Heiligkeit nicht vorstellen, bemerkenswert aber bleibt doch, dass der amerikanische Erzbischof Marcinkus, der mit den verblichenen Financiers eng vertraut war und vor allem mit Calvi gern Kokain-Gelder wusch, das Vatikan-Gelände nicht mehr verlassen durfte, weil er ansonsten von profanen Bütteln verhaftet worden wäre.

 

Doch, doch, im Vatikan ist mächtig was los! Fragt sich nur, was die von der gebürtigen Rheinländerin zum reifen Schwaben-Mädel mutierte Ex-Doktorin dazu bewegte, in die letzte echte Männer-Domäne vorzudringen. Will sie die Quote einführen oder aufbessern? Möchte sie aus theologischer Neugier am Heiligen Stuhl schnuppern? Hat sie vor, die lässliche Sünde des Plagiats an höchster Stelle zu beichten und sich vom leutseligen Franciscus im Gegenzug gestehen zu lassen, dass auch er in der Schule abgeschrieben habe? Oder sind Bewerbung und Berufung dem prosaischen Fakt geschuldet, dass der Botschafter-Posten im Herzen der Christenheit zu den höchstbezahlten in der diplomatischen Welt zählt? Von der opulenten Altersversorgung ganz zu schweigen…

 

Insgesamt aber schlägt Annettes Himmelfahrt ein neues Kapitel im märchenhaften Umgang unseres Staatswesens mit prominenten Sündern auf: Schon Uli Hoeneß bekam Lob und Anerkennung von der Kanzlerin und anderen Größen für seine entsagungsvolle Bereitschaft, ein handfestes Verbrechen im Gefängnis zu büßen (und möglicherweise weitere Beteiligte durch Verzicht auf Berufung zu schonen). Mit der Beförderung der Kopistin ins spirituelle Zentrum der Jesusjünger, des christlichen Schamanen-Glaubens sozusagen, hat das Prinzip „Sühne durch Lob und Belohnung“, das allerdings nur für die finanziell und gesellschaftlich Bessergestellten greift, das adäquate Etikett gefunden: Schavanismus.


 

05/2014   

 

 

 

Gauweilers Krieg

 

Einmal im Jahr strömen Bundes- und Landespolitiker der staatstragenden Parteien in Bierzelte und Festhallen der bayerischen Provinz, geben die ihnen verbliebenen Reste an Realitätssinn, analytischem Verstand und diplomatischer Zurückhaltung an den Garderoben ab und beginnen, den sich vor ihnen mit Hopfensud benebelnden Massen nach dem Maul zu reden. Dieser Ochsen-Auftrieb zum Gipfel der flachen Pointen, genannt Politischer Aschermittwoch (wobei offenbleibt, ob die Religion oder doch eher die Vernunft zu Kreuze kriecht), läuft stets nach den gleichen Ritualen ab, und auch die Visagen der Clowns auf den Bühnen sind meist die vom vorigen Jahr – mit einer Ausnahme: Nach genau zwei Jahrzehnten ist Peter Gauweiler wieder da!

 

Den Mann, der einst seinen geistigen Ziehvater derart devot anhimmelte, dass es dem sogar peinlich wurde (was bei einem Barock-Autokraten wie Franz Josef Strauß, dem Speichelleckerei das täglich Brot ersetzte, erstaunlich war), hatte man eigentlich im Grantler-Eck Alt-Münchner Beisln vermutet. Tatsächlich aber wollte der Jurist mit den zwei Revers-Stickern (FJS und Gaga-König Ludwig II), der gegen den Euro ist, und gegen die EU und gegen alles Fremde, ja alles Außerbayerische, der Europäischen Zentralbank verbieten lassen, Staatsanleihen notleidender Südländer aufzukaufen, um diese vor mörderischem Zinsdienst zu retten. Das Bundesverfassungsgericht schloss sich zumindest teilweise seiner Argumentation an und fordert nun Klärung vom Europäischen Gerichtshof. Da entsann sich auch Horst Seehofer des einstigen Landesinnenministers, insbesondere dessen volkstümlicher Xeno- und Homophobie, und machte ihn zum Stellvertreter, um am extremen rechten Rand den Angriffen der Aktion für Deutschland und der NPD mit gleicher Waffe zu trotzen.

 

Und nun durfte Peter Gauweiler gar vor der Bierdümpfel-Menge in Passau reden. Ausgewiesenen Populisten ist gemein, dass sie ab und zu auch vernünftige Argumente für ihre Forderungen instrumentalisieren (schließlich liegt Volksmeinung nicht immer und überall daneben), fatal dabei bleibt indes, dass die Herleitungen und Weiterungen derselben meist krudesten Phantasien entspringen und in böse Richtungen deuten. So hat Gauweiler stets die Afghanistan-Intervention der Bundeswehr abgelehnt. Heute kann er mit dieser Meinung hausieren gehen und Zurückhaltung in Sachen Ukraine anmahnen, ohne dass ihn das Parteivolk, das bislang expanisionistischen Tagträumereien der Unions-Granden (und ihrer SPD-Koalitionsfreunde) widerspruchlos folgte, dafür auspfeift.

 

Der Einsatz in Afghanistan sei „nicht von der Art, dass er auf eine schnelle Wiederholung drängt“, stellt Gauweiler in Passau fest, während Verteidigungsministerin von der Leyen bereits weitere Baustellen in Afrika aufmachen will. Dann nimmt sich der Grandseigneur des bajuwarischen Querulantentums einen unsäglichen Ausspruch des einstigen SPD-Feldherren Peter Struck vor, demzufolge „die Freiheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wird“. Dass dies Unsinn ist, schwante schon dem ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der lieber von der „Freiheit der Handelswege“ sprach. Darum geht es nämlich: Der Westen verteidigt sein Recht auf Ausbeutung, Profit und Handelsmonopol in Mittelasien und dem Rest der Welt! Hätte Struck richtig gelegen, sähe es wohl künftig recht schlecht für die Freiheit Deutschlands (und Bayerns) aus, denn in Kabul werden wahrscheinlich zeitnah die Taliban übernehmen...

 

Gauweiler entlarvt also in seiner Passauer Rede den Blödsinn, nur um ihn im selben Atemzug durch noch größeren zu ersetzen:

„Deutschland wird in der Münchner U-Bahn verteidigt, aber nicht am Hindukusch.“

 Da ist er wieder, der schwarze Peter, der seinen Pöbel im Bierdunst mittels wohlfeiler Ressentiments und dumpfer Chauvinismen fest im rhetorischen Griff hält. Die Taliban sind bereits mitten unter uns, machen uns in den Untergrund-Waggons in ihren fremdartigen Gewändern, mit ihrem dunklen Aussehen und den undeutschen Dialekten die Sitzplätze streitig. Der Krieg ist schon da, und es bedarf schwarzer Sheriffs, privater Schutzstaffeln und engagierter Maßkrug-Brigaden, um München wieder zu jenem Idyll in Sepia-Braun zu machen, das einem im rechten Eckerl des Hofbräuhauses zechenden Peter Gauweiler, der vergebens auf göttliche Eingebungen, nicht aber auf fremdenfeindliche Einflüsterungen wartet, vorschwebt.

  

03/2014

 

 

Schröder für Arme

 

Erst die gute Nachricht: Kurt Beck, pummeliger Knuddelbär der SPD, der einst gesundheits(krankheits)bedingt das Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten niederlegen musste, ist physisch wiederhergestellt. Jedenfalls lässt seine Genesung die Übernahme eines Lobbyisten-Postens im Dienste des Pharma-Unternehmens Boehringer Ingelheim zu: ein Traumjob für einen Genossen!

 

Damit tritt Beck in die (allerdings zu großen) Fußstapfen seines Vor-Vorgängers als Chef der ob ihres bedingungslosen Taktierens gefürchteten Linkspartei der rechten Mitte, des Ex-Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Dieser Große Zampano der Polit-Arena, wegen dessen originellen (a)sozialpolitischen Lösungen bereits eine Umbenennung der SPD in Spezialdemokratische Partei Deutschlands erwogen wurde, hatte zusammen mit seinem lupenreinen Freund Putin und gegen ein bisschen Geld die Ölpipeline durch die Ostsee vorangetrieben.

 

Da muss der bescheidene Beck natürlich kleinere Brötchen backen. Boehringer verfügt über ein gewisses Schmuddel-Image, seit der Konzern mit seinem Produkt Agent Orange der US-Luftwaffe half, die Wälder Vietnams zu entlauben und die Menschen dort zu verkrüppeln. Aber immerhin saß damals eine moralische Instanz wie Richard Ohnwissen von Weizsäcker (späterer Bundespräsident) im Vorstand.
 

Warum aber will sich der mit allen trüben Wassern gewaschene Pharma-Riese ausgerechnet von dem biederen Pfälzer Beck beraten lassen? An dessen Cleverness und Geschäftstüchtigkeit kann es nicht liegen; ist doch die Nürburgring-Pleite, als seine Mainzer Regierung glaubte, mit halbseidenen Partnern auch ein bisschen Las-Vegas-Kapitalismus spielen zu dürfen, eine prächtige Hinterlassenschaft, die seine Nachfolger noch lange an ihn erinnern wird. Aber vielleicht weiß der emeritierte Landesvater aus Erfahrung, wie man ein Genehmigungsverfahren abkürzen und wo man ein Hintertürchen öffnen kann. Oder er kennt einfach nur die richtigen Leute vom Stammtisch mit Saumagen.

 
10/2013

 

 

 

Bush kann lesen!

 

Für 250 Millionen Dollar wurde in Dallas eine offizielle Bibliothek für George W. Bush, jenen Präsidenten, der unter vielen tumben US-Staatsoberhäuptern als dasjenige mit dem überschaubarsten Quantum an Intellekt galt, errichtet. Damit dürfte wohl auch eine Streitfrage, die weltweit viele Beobachter der Politik des Weißen Hauses zu Washington umtrieb, endgültig beantwortet sein: Jawohl, Bush kann lesen!

 

Zwar werden Skeptiker einwenden, im Fundus befänden sich 50.000 Audio- und Videokassetten sowie vier Millionen Digitalfotos, Exponate somit, deren Studium keine näheren Kenntnisse des Alphabets erfordert, doch sei auf 70 Millionen (hoffentlich beschriebene) Papierseiten verwiesen, die ebenfalls die Bibliothek bevölkern.

 

Schon vor einiger Zeit hatte der 43. Präsident der Vereinigten Staaten seine Befähigung zu Kulturtechniken eindrucksvoll nachgewiesen: Auf die Frage eines Reporters, welches Buch der kleine Bush denn am liebsten gelesen hätte, nannte er den Titel eines bekannten Kinderbuches. Der Journalist wies Mr. President ein wenig impertinent darauf hin, dass jenes Werk erst erschienen sei, als Bush bereits 35 Jahre alt war. Gut, ein bisschen spät, aber immerhin...

 

Es ist zu vermuten, dass George W. Bush, der sich im Amt acht Jahre lang mit dem Lesen dicker Akten und komplizierter Memoranden schwertat, für die Ausstattung seines Kulturzentrums eher auf kurzweilige und lehrreiche Literatur zurückgriff: die gesammelten Werke des Wildwest-Schriftstellers Zane Grey etwa, patriotische Comicstrips mit inhaltsschweren Sprechblasen à la „Captain America“ oder – eingedenk seiner eifrigen, aber erfolglosen Vernichtungswaffen-Suche im Irak – Karl Mays unvergessenes „Von Bagdad nach Stambul“.  

 

 

Fifa-Sepp, Licht-Franz


Zwei Figuren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, prägen das Image der Schweiz in aller Welt: Da ist einmal die fröhliche, unverbrauchte Nachwuchs-Sennerin Heidi; ihr gegenüber steht der stets etwas zwielichtig wirkende Fifa-Pate Sepp Blatter, dem kein Geschäft zu sinister schien, den Reichtum seiner Organisation zu mehren, und kein Schachzug zu kriminell, die eigene Macht zu stärken. Gekontert wird diese Gestalt in Deutschland von einem stets wohlgelaunten Grandseigneur der gehobenen Belanglosigkeit, einem braun gebrannten Bonvivant, der die inhaltsleere Phrase zur Kunstform erhoben hat und uns mit seinem kultischen Schaumermal alle Fragen nach der Zukunft umfassend beantwortet: Franz Beckenbauer. Doch nun scheinen die beiden Fußball-Strippenzieher die Rollen getauscht zu haben.

 

Der Pate packt aus

 

Was haben die Medien in Deutschland gehöhnt und gespottet: Eine Fußballweltmeisterschaft im Wüstenstaat Qatar bei Sommertemperaturen um 50 Grad und über den Gräbern von bis zu 4000 (Expertenschätzung) an Erschöpfung gestorbenen südasiatischen Wanderarbeitern – das geht ja nun gar nicht! Schuld an allem trügen die Geisteszwerge der Fifa, allen voran ihr korrupter Chef, der Schweizer Sepp Blatter.

 

Eines ist richtig: Blatter ist der Prototyp des rücksichtslosen, über Leichen gehenden Managers und Kapitaleigners. Einst teilte der Zögling des deutschen Unternehmers Horst Dassler (Adidas) über seine Vermarktungsagentur ISL rund 160 Millionen Schweizer Franken an korrupte Fifa-Funktionäre aus. Als diese „Stiftung“ in Konkurs ging, ließ er sich die Stimmen für die Wiederwahl von dem steinreichen qatarischen Mitglied des Fifa-Exekutivkomitees, Mohamed Bin Hammam, besorgen. Der bestach die Delegierten aus Afrika, Asien und der Karibik en gros und forderte im Gegenzug die Vergabe der WM 2022 an seine Wüstenei.

 

Wie der Mammon befahl, so geschah es. Kurze Zeit später aber entzweite sich das feine Duo, und Blatter warf Bin Hammam, der nun selbst Boss werden wollte, aus der Fifa. Plötzlich erkannte der flexible Schweizer, dass eine WM unter der arabischen Sonne Unsinn sei, zumal sich sein neuer Konkurrent, der französische UEFA-Präsident Michel Platini, aus welchen Gründen auch immer, vehement dafür eingesetzt hatte. Bei der Vergabe sei es zu Unregelmäßigkeiten gekommen, sprach Blatter nach, was die Spatzen von den Dächern pfiffen, und beauftragte einen unabhängigen Ermittler, den US-Juristen Michael J. Garcia, mit der Aufklärung. Zudem nannte er erstmals Ross und Reiter: „Es gab politischen Druck aus europäischen Ländern, die WM nach Qatar zu bringen. Zwei der Länder, die Druck auf die Wahlmänner in der Fifa machten, waren Frankreich und Deutschland.“

 

Da blieb der moralische Geifer den bundesrepublikanischen Journalisten in der Kehle stecken, denn in den Blickpunkt geriet nun die Lichtgestalt, die das faire Deutschland damals im Exekutivkomitee der Fifa als Wahlmann vertrat: Franz Beckenbauer.

 

Im Schatten der Lichtgestalt

 

US-Ermittler Garcia scheint ein harter Knochen zu sein. Wer den New Yorker Gouverneur Spitzer zur Strecke brachte, sich mit der Mafia duellierte und während der Finanzkrise betrügerischen Bankern das Handwerk legte, fürchtet sich wohl auch nicht vor dem Sumpf organisierter Fifa-Kriminalität. Und so wagte er es auch, vom Kaiser die Beantwortung einiger Fragen zu den Vorgängen um den 2. Dezember 2010, als Qatar sich gegen die USA durchsetzte und zum temporären Fußball-Mekka gekürt wurde, zu fordern. Beckenbauer spielte zunächst auf Zeit. Er habe Probleme mit dem „Juristen-Englisch“ beklagte er und schwieg, was ihm eine provisorische 90-Tage-Sperre für alle Stadien dieser Welt eintrug. Nun ist durchaus glaubhaft, dass der charmante Blender nicht alle komplizierten Formulierungenin einer fremden Sprache versteht; allerdings kann der 150 Millionen Euro schwere Dampfplauderer in allen Gassen auf eine Berater-Entourage zurückgreifen, die ihm jede Frage der Welt häppchenweise übersetzt und die Replik gleich mit serviert.


Mittlerweile hat der Münchner eingelenkt und die Fragen unter Ausschluss der Öffentlichkeit beantwortet. Wie Beckenbauer abstimmte, wissen wir nicht. Dass die Lichtgestalt jedoch eine bemerkenswerte Nähe zur arabischen Diktatur und zur interessierten deutschen Wirtschaft pflegte, die ihn dazu bewogen haben könnte, bei der Wahl nicht unbedingt dem Gewissen zu folgen, belegen Recherchen der kritischen Online-Dienste German-Foreign-Policy und NachDenkSeiten: Vor und nach der WM-Vergabe hielt sich Beckenbauer mehrfach als Gast des skrupellosen Urhebers der Bewerbung, Bin Hammam, im Emirat auf. Für die deutsche Wirtschaft, die befürchtet hatte, bei einer Ausrichtung in den USA nicht zum Zuge zu kommen, fungierte der Kaiser als effizienter Türöffner. So begleitete er im Juni 2011 den Hamburger Reeder Erck Rickmer in die Hauptstadt Doha und stellte für ihn Kontakte her, die Geschäfte in der Schifffahrtsbranche ermöglichten. Rickmer soll vorher 250.000 Dollar an die Franz-Beckenbauer-Stiftung gespendet haben.

 

Einige deutsche Unternehmen witterten bald hervorragende Profitmöglichkeiten bei der Auftragsvergabe durch die arabischen WM-Organisatoren, darunter Hochtief (an dem Baukonzern ist Qatar mit 11,1 Prozent beteiligt), Volkswagen, an dem das Emirat 15,6 Prozent hält, und die Deutsche Bahn, die am Ausbau des Schienennetzes im Wüstenstaat mitwirkt. Die Aufsicht über das 45-Milliarden-Euro-Projekt Lusail (eine komplett neue Stadt, in der das WM-Finale stattfinden soll) wurde der deutschen Dorsch-Gruppe zugeschanzt, für die Entwürfe von acht Stadien zeichnete das Frankfurter Architektenbüro Albert Speer & Partner verantwortlich. Für so viel Großzügigkeit durften die Araber auf etwas Entgegenkommen bei der Stimmabgabe hoffen.

 

Es war der ehemalige DFB-Präsident und jetzige Fifa-Funktionär Theo Zwanziger, der seit seinem Abschied als Verbandschef zunehmend redseliger wird, dem wir einen Einblick in die geheimsten Überlegungen des Franz Beckenbauer kurz vor dem 2. Dezember verdanken: „Da hat er mir gesagt, man müsse wohl auch die Option Qatar ins Blickfeld nehmen." Einmal in Fahrt, erzählte Zwanziger auch gleich, wer sich noch für die Entscheidung interessiert hatte: Christian Wulff, mittlerweile aus dem Amt gejagter Bundespräsident, habe ihn „nach den Chancen für Qatar gefragt“.           

 

Deutsche Politik auf Betteltour

 

Schon im März 2010 war Wulff, damals noch Ministerpräsident in Niedersachsen, zusammen mit der VW-Führungsspitze nach Doha geflogen, um die künftige Zusammenarbeit mit dem Emirat, das in so ziemlich jedem Konflikt im Nahen Osten mitmischt, zu erörtern (im Mai folgte ihm übrigens die Kanzlerin auf dem Fuße). Am 29. September empfing Wulff, mittlerweile als Bundespräsident, den Emir im Schloss Bellevue. Da klingt es durchaus glaubwürdig, wenn der ansonsten dubiose Sepp Blatter sich gegenüber einem Schweizer Nationalrat erinnert, das Berliner Staatsoberhaupt habe ihn unter Hinweis auf die enormen Aufträge für die deutsche Wirtschaft gebeten, für Qatar zu stimmen. Schon im Februar 2011 machte sich Wulff, wieder in Begleitung von Unternehmern, erneut nach Doha auf – die WM war schließlich gesichert und damit auch ein erkleckliches Auftragsvolumen für die bundesrepublikanischen Konzerne. Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt!

 

Dass Politiker hierzulande mehr und mehr zu Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft verkommen, ist nicht neu, lässt sich aber am Beispiel Qatar besonders lückenlos belegen. So wollte auch Außenminister Frank Walter Steinmeier nicht abseits stehen. Am 1. Juni dieses Jahres erfasste er in Doha mit Adlerblick die kritische Situation auf den Baustellen, erklärte alle Probleme mittlerweile für gelöst (Hätte ihm Beckenbauer auch sagen können: „Ich habe keinen Sklaven in Qatar gesehen.“) und begann mit dem Wirtschaftsminister des Emirats über das wirklich Wesentliche, nämlich „die Vorbereitungen für die von Qatar auszurichtende Fußballweltmeisterschaft“, zu verhandeln.

 

Ein schmieriger Aufklärer

 

Nur zögerlich wagen die deutschen Medien über die hausgemachten Verwerfungen in Sachen WM-Vergabe, die sich zuvor trefflich anderen anlasten ließen, zu berichten. Doch selbst die zarteste Kritik an Beckenbauer klingt in den Ohren des neuen Bayern-Präsidenten Karl Hopfner wie Majestätsbeleidigung: „Die Sperre … können wir als FC Bayern nicht akzeptieren“, sagte Hopfner der Bild-Zeitung. Sein Verein stütze Beckenbauer voll. Hinter diesen trotzigen Worten erahnt man die Sorge, dass, nachdem der Vorgänger Hoeneß im Knast sitzt und das Vorstandsmitglied Rummenigge wegen Uhrenschmuggels vorbestraft ist, mit dem Kaiser die letzte Galionsfigur des Vereins über Bord geht.

 

Wenn der Bericht des Ermittlers Garcia veröffentlicht wird, wäre es durchaus möglich, dass die Lichtgestalt Beckenbauer jäh ausgeknipst wird und der Mann, der den Profi-Fußball wie kein anderer zum schmutzigen Geschäft umfunktioniert hat, plötzlich mit sauberen Händen dasteht. In den NachDenkSeiten schwante dem Publizisten Jens Berger jedenfalls Übles: „Es könnte sein, dass sich im Herbst der Pate Blatter zum Kämpfer gegen die Korruption aufschwingt…“

 

06/2014

 

Dazu auch:

Vernunft à la Rio im Archiv der Rubrik Medien

   

 

 

 

 

Neue Armleuchter (I) 

Spezialdemokratische Jungstars

 

Es ist an der Zeit, das Bundeskabinett, das uns voraussichtlich vier Jahre lang tagtäglich daran erinnern wird, dass die hohe Politik in diesem Land nicht das Eigenschaftspaar Sachkenntnis und Erfahrungshintergrund, sondern die Qualitätsdoubletten Geschlecht und Landsmannschaft sowie Opportunismus und Inkompetenz favorisiert, auch auf dieser Website vorzustellen. Kürze ist geboten, folglich verzichten wir auf redundante Würdigungen altbekannter Knallchargen wie de Maiziere (aus Kostengründen wieder ins Innenministerium entsorgt), Friedrich (aus dem Inneren auf den Acker geschickt) oder von der Leyen (einst Heldin der Arbeit, jetzt Mutter der Truppe). Nein, wir widmen uns den neuen Gesichtern in der Regierung, zumindest einigen von ihnen (Alexander Dobrindt wurde bereits als „Wadenbeißerchen“ in dieser Rubrik abgehandelt), der personifizierten Blutauffrischung sozusagen, die allerdings eher einer gescheiterten Embolie-Behandlung ähnelt. Wenden wir uns zunächst den Hoffnungsträgern der Spezialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) zu:

 

Die ewigen Nervensägen

 

Um die in diesem Beitrag zu bewältigende Trauerarbeit nicht in eine Endlos-Depression einmünden zu lassen, musste der Personenkreis noch weiter eingeschränkt werden: Andrea Nahles und Sigmar Gabriel, obschon neu im Kabinett, erfuhren auf dieser Homepage bereits ausreichende Würdigung als unvermeidliche Nervensägen auf der Berliner Polit-Bühne. Und Frank-Walter Steinmeier, der ministrabel Hartz IV, die Abschaffung der Vermögenssteuer sowie dieAusspäh-Absichten der USA absegnete und jetzt nichts mehr von allem wissen will, ist auch wieder da – aber nicht hier (für das folgende Panoptikum ist er mir einfach zu langweilig).

 

Beschäftigen wir uns also mit den wirklich Neuen im Kabinett. Da sie bislang für die gesamte Bundesrepublik nichts leisten konnten, nicht einmal Schlechtes, sich also auch noch nichts geleistet haben, wollen wir sie fairerweise an ihren Worten, vorzugsweise den Netzauftritten entnommen, messen.

 

Die Naive

 

Manuela Schwesig, ein Rauschgoldengel als Gegenentwurf zu Ursula v. d. L., ist Spätstarterin: Erst mit 29 Jahren trat sie in die SPD ein, mit 36 schloss sie sich der evangelischen Kirche an. Nach anscheinend vernünftig verbrachter Jugend verschrieb sie also in ihrem frühen Mittelalter die Seele zwei Institutionen, die viel Heil versprechen, aber keins bringen. Recht schnell machte Schwesig Karriere, wurde zuerst Gesundheits-, dann Arbeitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Dort verfügte sie die Überprüfung der Verfassungstreue von Kita-Mitarbeitern per Radikalenerlass. Älteren Linken im Westteil unseres Landes mögen bei der bloßen Erwähnung des Wortes die Haare zu Berge stehen, doch sollte sich die Maßnahme zur Abwechslung einmal gegen Neonazis richten. Als das sächsische Kultusministerium das Thema aufgriff, klang es schon wieder ganz anders: Extreme, ob aus dem linken oder aus dem rechten Spektrum (in dieser Reihenfolge!), hätten in Kitas nichts zu suchen. Als wären es die im Beitrittsgebiet so zahlreichen Linksradikalen und Autonomen gewesen, die in der Sächsischen Schweiz rein-deutsche Gaue einrichteten und Andersfarbige durch die Straßen hetzten.

 

Als brandneue Bundesfamilienministerin offenbarte Manuela Scheswig ein gerüttelt Maß an gutem Willen und eine noch größere Portion Naivität. Frischgebackenen Eltern sollte das Recht auf eine 32-Stunden-Woche bei weitgehendem Lohnausgleich zugestanden werden. Nichts gegen zu sagen, nur hatte das Minister-Küken, das übrigens auf seiner Homepage mit tagespolitischen Absichtserklärungen und Interview-Fetzen um sich wirft, aber auf jede programmatische Aussage verzichtet, vergessen, wo der traumhafte Entwurf verhandelt wurde: Ihr gegenüber am Kabinettstisch saßen die inkarnierten langen Arme und Interessen-Klone der Arbeitgeberverbände, die Unionschristen, und neben ihr die Genossen, die für ein bisschen Sozialpolitik doch niemals die schöne Koalition mit ihren gutdotierten Posten aufs Spiel setzen würden. Arme Manuela, noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, und schon eins in der Fresse...

 

Die Margarine-Expertin

 

Neue Bundesumweltmininisterin und somit Nachfolgerin des Chaos-Aktionisten Altmaier ist Spezialdemokratin Barbara Hendricks, nach eigenem (leisht exotisch klingendem) Bekenntnis „von ganzem Herzen Niederrheinerin“. Sie hat eine stromlinienförmige Parteikarriere hinter sich: ein wenig AWO, ein bisschen Schatzmeisterin, dann wieder Finanz-Staatssekretärin unter drei SPD-Ministern. Mal war sie im Kulturforum der Partei (dort mit der Mittelbeschaffung als Aufgabe) aktiv, mal fungierte sie bei der Mitgliederbefragung (SPD – Merkel-Steigbügel oder renitentes Rotkäppchen?) als Vorsitzende der Zählkommission – irgendwie schien sie immer mit Kassen oder Rechenschieberei zu tun zu haben. Und nun soll gerade sie als Ressortleiterin die Umwelt retten, den Naturschutz vorantreiben und die Reaktorsicherheit gewährleisten? Wie denn das?

 

Ihren Dr. phil. hat sie jedenfalls nicht unter fortwährender  Auseinandersetzung mit diesen Sujets gemacht. Sie promovierte nämlich über „Die Entwicklung der Margarineindustrie am unteren Niederrhein“. Wer hätte gedacht, dass die Philosophie als ätherisch abgehobene Geisteswissenschaft Raum für derart hand- und streichfeste Themen bietet? Da anzunehmen ist, dass nur wenige Gelehrte sich jemals mit diesen profunden Grundlagen unseres Seins beschäftigt haben, könnten Plagiatsvorwürfe, wie sie heute üblich sind, allenfalls aus der Buchhaltung der Pflanzenfettproduktion kommen.

 

Doch nach langer Suche stößt man auf ein Indiz für die fachliche Eignung der Ministerin: Sie hat einmal den Adam-Smith-Preis für marktpolitische Umweltpolitik des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft gewonnen. Der schottische Nationalökonom Adam Smith gilt heute noch vielen als Urvater des Kapitalismus, weil er bereits im 18. Jahrhundert den freien Markt propagierte, solange der den imperialen Interessen Britanniens nicht in die Quere kam. Gut, er war gegen die Sklaverei und die Auswüchse des Kolonialismus, doch höchste Priorität hatte für ihn der Schutz des Eigentums der Fabrikbesitzer, die in der gesellschaftlichen Hierarchie ebenso oben bleiben sollten wie die Proleten unten – ein würdiger Namenspatron des Preises an eine Spezialdemokratin. Von der richtig freien Marktwirtschaft hatte Smith übrigens keinen blassen Schimmer, verachtete er doch Aktien und Börsen und war der Meinung, eine Ware werde im Handel nach ihren Produktionskosten bewertet. Viel wird er wohl auch von Ökologie nicht verstanden haben.

 

Ein erstaunliche Gerücht über die Niederrheinerin kolportiertWikipedia: Sie soll Ende der 80er Jahre in Unionskreisen den Spitznamen Burning Barbara bekommen haben, weil sie angeblich eine brennende Zigarette auf dem Handrücken des CDU-Politikers Hartmut Schauerte ausgedrückt hatte. Eine Zigarette? Das kann doch nicht gesund sein!

 

Der Vorzeige-Malocher

 

Für Justiz und Verbraucherschutz ist im neuen Kabinett Heiko Maas (immerhin ein Jurist) zuständig, der nicht mehr im Saarland, wo die Bürger ihn als Spitzenkandidaten dreimal die Landtagswahlen schnöde verlieren ließen, sein Talent unter den Provinz-Scheffel stellen mochte. Einst war er als Ziehsohn von Oskar Lafontain verhätschelt worden, doch als dieser von Schröders langem Marsch in den Rechtsopportunismus genug hatte, nabelte sich Maas flugs vom Übervater ab und begab sich an die Futterkrippen der guten Tante SPD. Binnen zehn Jahren gelang es ihm, als Spitzenkandidat die Partei von 44,4 Prozent unter Vorgänger Klimmt auf 24,5 Prozent zu verschlanken, ehe ihm allgemeines Mitleid 2012 einen Achtungserfolg mit 30 Prozent und die Juniorpartnerschaft in einer Großen Koalition, wie er sie jetzt auch wieder in Berlin vorfindet, bescherte.

 

Auf einer locker-legeren Homepage rühmt er sich seiner sportlichen Ader, „egal ob beim Triathlon oder beim Fußball mit den Roten Hosen“. Als die SPD einst – gänzlich unberechtigt – unter Links-Verdacht stand, hieß das noch Rote Socken. Und er quält sich, der Heiko! O-Ton: „Beim Triathlon gilt es immer weiterstrampeln...“ Ein typischer SPD-Radfahrer, immer im Kampf um den Goldenen Lenker.

 

Aber es kommt noch schlimmer: „Nach der Bundeswehr arbeitete ich ein Jahr am Band bei den Fordwerken in Saarlouis. Dort war Früh- und Mittagsschicht angesagt – und das war eine echte Erfahrung.“ Allein beim Lesen dieser Zeilen wird manchem User der Schweiß der Erschöpfung die Stirn hinab rinnen: Ein ganzes Jahr! Und gleich zwei Schichten! Diese echte Erfahrung, die andere mehr als drei Dekaden lang unter Hinzufügung von Nachtarbeit machen durften, befähigt in der Tat zu jedem Regierungsamt in Deutschland.

    

 

Neue Armleuchter (II) 

Die Unionszwerge

  

Wurde im ersten Teil unserer kleinen Enzyklopädie des vorprogrammierten Versagens der SPD-Nachwuchs im Merkel-Kabinett gewürdigt, so widmen wir die Fortsetzung zwei Neo-Ministern aus der Union (deren Kollegen Dobrindt hatten wir unlängst bereits als Wadenbeißerchen porträtiert): Hermann Gröhe (CDU) und Gerd Müller (CSU) stehen für Weltbürgertum im Zwergschulformat, für omnipotente Inkompetenz und – in erster Linie – für sich selbst.

 

Hüter der Schöpfung

 

Fröhlich lächelt uns Hermann Gröhe von jedem Pressefoto entgegen, eine rheinische Frohnatur, die alle Augenblicke in Schunkeln auszubrechen droht, tatsächlich aber den Weltgeist in seiner flüchtigsten Form konsumiert, analysiert und dingfest gemacht  hat. Der Mann ist nämlich Generalist in der Tradition des großen (und breiten) Helmut Kohl oder – wie man vielleicht noch treffender formulieren könnte – Universaldilettant, was wiederum bedeutet, dass er sich zu allem äußert, auch wenn er noch nicht darüber nachgedacht oder überhaupt keine Ahnung davon hat.

 

Gute Laune, intellektuelle Bescheidenheit und überschaubarer geistiger Tiefgang prädestinierten Hermann Gröhe förmlich dazu, in der Kohl-Ära fünf Jahre lang der Jungen Union vorzusitzen. Ganze zwölf Monate hielt er es als Staatsminister bei Angie im Kanzleramt aus, ehe er einen so markanten CDU-Generalsekretär gab, dass bei seiner kürzlichen Ernennung zum Bundesgesundheitsminister viele Beobachter fragten: Hermann Who? Dabei hat der Rheinländer (fast) alles im Blick.

 

Auf seiner Homepage handelt Gröhe in einem Rundumschlag fast alle nationalen und globalen Themen mit religiösem Eifer ab, nicht ohne die maßlosen Verdienste seiner Partei und die eigenen tollen Connections ausreichend zu betonen. Anderen Ländernvdroht er: „Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns erneut gezeigt, wie wichtig es ist, die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft weltweit durchzusetzen.“ Die Eingeborenen in Afrika oder Asien müssen endlich akzeptieren, dass ein mafiöses Geflecht aus Spekulanten, Lobbyisten und demokratischen Politikern (als Handlangern) mittlerweile die sozialen Regeln für die Märkte aufstellt. Und sind sie nicht willig, hätten wird ja noch die Bundeswehr, die derzeit in den verschiedensten Regionen der Erde ein wenig übt.

 

Unter der Überschrift „Wirtschaftliche Vernunft“ singt der Rheinländer das Hohelied der Einflussnahme von Arbeitgeberverbänden und milliardenschweren Nachlass-Empfängern auf die eigene Partei: „Deshalb haben wir in der christlich-liberalen Koalition mit Verbesserungen bei der Unternehmen- und Erbschaftssteuer berechtigten Anliegen gerade des Mittelstandes Rechnung getragen.“ Denn das Kapital am Rhein sagt ihm ja auch, wie man „Arbeit schaffen“ (Zwischentitel) könne und empfängt ihn als gehorsamen Klinkenputzer. „Im Rahmen meiner Wahlkreisarbeit halte ich engen Kontakt zur heimischen Wirtschaft...“, damit die ihm die Befehle für den Bundestag erteilt. „Wichtige Anregungen für meine Arbeit in Berlin ... erhalte ich in diesen Kontakten“.

 

In der Rubrik „Industriestandort mit ökologischer Verantwortung“ deliriert Gröhe gar salbungsvoll. „Zugleich hat unser technisch hochentwickeltes Land eine besondere Verantwortung, wenn es um die Bewahrung der Schöpfung, nicht zuletzt um Schutz des Weltklimas geht.“ Schade, dass der Hermann gerade austreten war, als seine Kanzlerin die strengeren Schadstoff-Vorgaben der EU für PKWs sabotierte. Wenn sein Werk solcher Hüter bedarf, hat sich Gott womöglich ganz schön verschöpft.

 

Ansonsten ergeht sich Hermann Gröhe in CSU-Wertvorstellungen, „die im christlichen Glauben wurzeln“ und Grundüberzeugungen, die „der christlichen Tradition entstammen“. Wer bis jetzt noch nicht aus der Kirche ausgetreten ist, kann sich nach solchen Plattitüden eigentlich nur für die ewige Verdammnis entscheiden. Die Hölle kann nicht schlimmer sein als solches Geschwätz, jedenfalls mit Sicherheit nicht dümmer.

 

Einen hat er noch, der Jeck aus NRW, und zwar zur Familienpolitik, wie es sich für einen Zeugungstäter (vier Kinder) gehört: „Als überzeugter Familienmensch setze ich mich mit Nachdruck dafür ein, unsere Familien nach Kräften zu unterstützen. “Damit die Allgemeinplätze dieses Landes mit genügend Sprösslingen bepflanzt werden...

 

Gröhe hat seinen Meinungsbrei über fast alle Domänen großer Staatkunst abgesondert, nur ein Bereich fehlte bislang: die Gesundheitspolitik. Gerade deshalb hat Angela Merkel ihn zum Minister für das leibliche Wohl ernannt. Schließlich wollen wir alle noch wissen, welchen Quark er in dieser Funktion breittritt.

 

Todesstrafe im Auenland

 

Gerd Müller sollte die CSU umgehend verlassen und in die FDP eintreten. Er wird sich als neuer Entwicklungshilfe-Minister nämlich von einer Heerschar liberaler Parteigänger, die sein Vorgänger Dirk Niebel zwecks Altersversorgung von der Straße geholt hat, umzingelt sehen. Der Bayern-Schwabe, der einst als Vorsitzender der Jungen Union im Freistaat die Todesstrafe für Drogenhändler gefordert hatte (Bier gilt in den Bergen nicht als Rauschmittel!), ist ein bodenständiger Mann, der in seinen Ergüssen immer wieder auf die Heimatgenossen („Wir im Allgäu und Lindau“) zurückkommt.

 

Im seinem Homepage-Kapitelchen „Moderne Infrastruktur für ein modernes Deutschland“ heißt es etwa: „Im Allgäu und Lindau ist uns die Fertigstellung großer Projekte gelungen: A7, A96, B19 u. a.“ Zudem droht er eine weitere Betonierung der Landschaft durch den künftigen Ausbau der B12 und B31 an. Nicht zu vergessen, der „erfolgreiche Start Flughafen Memminger Berg“. Die ersten zehn Jahre der Provinzpiste, die übrigens inzwichen Flughafen Memmingen heißt, von Ryan Air aber rosstäuscherisch als Airport Memmingen-München beworben wird, waren in der Tat so erfolgreich, dass an die 14 Millionen € Schulden angehäuft wurden, während sich die Passagierzahlen im Sinkflug befanden.

 

Wie konnte es einen Politiker, der so stark im Allgäu verwurzelt ist, ins Europa-Parlament verschlagen? Binnen einer Legislaturperiode erkannte Müller, dass Brüssel und Straßburg nicht seine Welt sind, und ließ sich anschließend nach Berlin entsenden. Man kann es sich bildlich vorstellen, wie der aufrechte Christsoziale sein Auenland zwischen den Bergen verlässt, mit dem Intercity die feindliche Mittelerde durchquert, ohne nach links oder rechts zu schauen, nur um in Berlin für die Belange seiner Hobbits zu kämpfen. Und er räumt dort auch wacker mit den Ork-Legenden auf: „Hartnäckig hält sich die Vorstellung, die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer.“ Und was kann man gegen solche Schauermärchen tun? „Der Staat muss sich mehr beschränken und dem Einzelnen mehr Freiraum und Gestaltungsmöglichkeiten lassen.“ Also bitte keine sozialen Interventionen mehr, die Armen möchten kreativ zugrunde gehen.

 

Und nun muss sich der Vater des poetischen Regionalismus mit dem Elend der Völker in der Dritten Welt, in den Ländern also, die weitab vom bayerischen Schwabenland liegen, befassen! Da hat Müller bei der Ministerien-Lotterie wohl das seinem Gemüt am fernsten liegende Los gezogen. Aber vielleicht fiel die Wahl ja auf ihn, weil er einmal ein von Schneemassen eingeschlossenes Inzuchtdorf an dernösterreichischen Grenze mit Hilfe von Planierraupen befreite, also sehr wohl die Ärmsten der Armen unterstützte. Wissen wir es?

 

Der Gerd Müller hilft ja jedem, vorausgesetzt, der Bittsteller hat das richtige Parteibuch und ist Allgäuer. Weil er aber nicht immer Zeit hat, merkt er vorsichtshalber an,dass er kein Prophet sei und nebenher noch arbeite (und wie!): „Am Montag schon zu wissen, was am Freitag passieren wird, ist sehr unwahrscheinlich. Häufig werden Termine verlegt oder auch abgesagt. Meine Arbeitswochen sind geprägt vonTelefonaten, der Teilnahme an Sitzungen, dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen und Schreibtischarbeit.“

 

Kabinett der Doppelzüngigen

 

Neben den begnadeten Fehlbesetzungen, die sich nun vier Jahre lang fragen werden, warum ausgerechnet sie zu Ministern berufen wurden, regieren uns in nächster Zeit die sattsam bekannten Schlangenzungen. Es ist eine feine Gilde grauer Gestalten,von denen weder klare inhaltliche Standpunkte noch perspektivisches Denken in der Sozialpolitik oder das ehrliche Bekenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts der Dominanz der Finanzmärkte und des Informationsmonopols der US-Regierung zu erwarten sind und die von einer Kanzlerin, die das begrenzte Stück Macht, das man ihr lässt, mit aller Skrupellosigkeit verteidigt und dabei ungerührt über die (politischen) Leichen einstiger Verbündeter wie über die Ruinen früherer Lieblingsprojekte schreitet, diszipliniert werden.

 

Dass ein Gabriel, der Öko-Strom propagierte, solange es opportun erschien, sich jetzt wieder der Kohle zuwendet und die Subventionen für die erneuerbaren Energien kürzt, um nicht die umschmeichelten Unternehmen gerecht an der Sonderumlage beteiligen zu müssen, ist nur ein Beispiel für den geschmeidigen Kriechgang dieser Regierung. Dass ein Steinmeier, der einst Hartz IV mit beschlossen hatte, dann – als der Wind sich drehte – davon abrückte, jetzt wieder den französischen Staatspräsidenten Hollande dafür lobt, dass der eine ähnliche Volksfolter ankündigt, hat dieselbe Qualität wie die doppelte Pirouette Angela Merkels, die erst den allmählichen Atomausstieg mittrug, dann mit Hilfe der Lobbyisten-Bande FDP aus dem Ausstieg ausstieg, um ihn nach Fukushima aus Angst vor der Angst der Bevölkerung wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

 

Eine gerechtere  Besteuerung, eine anständige Entlohnung von Arbeit,  Mindestabsicherung für die Mittellosen, eine Umgestaltung der Sozialversicherung, bei der im Augenblick Rentner wie Einzahlende gleichermaßen betrogen werden, die Bändigung der Börsen- und Banken-Hasardeure, Rückzug der Bundeswehr aus den Konflikten, die sie durch ihre Präsenz nur verschärft – all diesen entscheidenden Aufgaben darf sich dieses Gruselkabinett nicht stellen. Man sollte nicht vergessen: Der Speiseplan wird anderswo geschrieben, das Kochen erledigen andere im Hintergrund, diesen Ministern obliegt es nur, als Kellner den Menschen die Rechnung zu präsentieren.

 

In diesem Sinne: Herzlich willkommen in der Bundesregierung, liebe Neulinge. Ihr passt als frische Armleuchter bestens zum bereits länger herumscharwenzelnden Personal.

 

01/2014





2013     




Wadenbeißerchen

Wahrlich, die neue Riege der Bundesminister beinhaltet so viele Überraschungen, dass man fast meinen könnte, die Ressorts seien als Tombola-Lose gezogen oder schlicht ausgewürfelt worden. Da übernimmt die siebenfache Mutter Ursula von der Leyen, militärtechnisch bislang nur durch Helmfrisur aufgefallen, das „Verteidigungsministerium“ und wird möglicherweise demnächst die Bundeswehr aussenden, um das Familienwachstum in der Dritten Welt zu begrenzen - wie vor ihrer Ägide in Afghanistan bereits geschehen. Da darf CSU-Friedrich sich nun als Bundesbauernchef um die größten Erdäpfel sorgen, während er früher als Innenminister nicht einmal die dreistesten Schädlingsangriffe auf die Datensicherheit registrierte und Wanzen vermutlich heute noch mit Kartoffelkäfern verwechselt. Ein wirkliches Highlight aber ist die Ernennung von Alexander Dobrindt zum ... egal was; Hauptsache, er ist im Kabinett!

Als der kleine Dobrindt vor gut 43 Jahren das Licht der Welt erblickte, wollten seine Eltern etwas ganz Großes aus ihm machen und tauften ihn auf den Namen Alexander, heraus kam etwas ganz Lautes. Irgendwie wirkt der neue Minister aus Oberbayern wie ein (verdrießlicheres) Abziehbild des fränkischen Synonyms für Peinlichkeit, Marcus Söder. Galt letzterer als „Hackebeilchen Stoibers“ (Der SPIEGEL), so darf man Dobrindt ehrfurchtsvoll als „Wadenbeißerchen Seehofers“ apostrophieren. Nicht nur, dass beiden CSU-Größen die intellektuellen Untiefen förmlich aus den Gesichtern schwappen, dass sie gleichermaßen launigen Populismus zur Unzeit in markige Worte (Wörter) kleiden, nein, sie reiften auch in gewissem zeitlichen Abstand zueinander in der Lakaien-Rolle des CSU-Generalsekretärs heran. Was nach der Position des Partei-Bosses klingt, ist in Wirklichkeit das Pöstchen eines Befehlsempfängers, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die vom allmächtigen Ministerpräsidenten erhaltenen Weisungen, wie das Fußvolk ruhig zu stellen sei, schleunigst umzusetzen. Der Große Wankelmütige auf dem Bayernthron amüsiert sich eben gern über das Hauen und Stechen beim Männlein- und Weibleinlaufen um seine Nachfolge, das er anheizt, indem er neue Namen, wie eben den von A. Dobrindt, ins Spiel bringt.

Der Tatsache, dass es einen Alexander Dobrindt gibt, so richtig gewahr wurde Deutschland erst, als der ihm direkt unterstellte Pressesprecher Michael Strepp den linksradikalen Sender ZDF frontal anging. Zwar leugnete Dobrindt, über seinen Hiwi Strepp das „Zweite“ abgemahnt zu haben, weil es zu viel über die SPD berichte (eine Ansicht, der man sich angesichts der in dieser Partei vorherrschenden Gedankenleere durchaus anschließen kann), erklärte gar in bester CSU-Tradition, er habe „von nichts gewusst“ – doch glauben wollte ihm landauf, landab niemand.

Manchmal tritt AlexanderDobrindt wie ein Mann von Gestern auf, der Ränke und Wandlungen der neuen Zeit noch nicht so recht begriffen hat, etwa wenn er auf die Opposition losgeht: „Die Grünen sind keine Partei, sondern der politische Arm von Krawallmachern, Steinwerfern und Brandstiftern.“ Die Grünen, lieber Alex, sind eine Partei, mit der du vielleicht auch bald koalieren darfst, denn sie haben sich zur FDP des dritten Jahrtausends gemausert. Und die Rabauken von früher, etwa Joschka F., werfen keine Steine mehr, sie sind längst zu Darlings der Konzerne und Bellizisten aufgestiegen.

Zu großer Form aber läuft Dobrindtauf, wenn er in sozusagen globaler Erleuchtung den trandzendenten Bogen von den Ressourcen der Menschheit über deren Mobilität und Architektur bis hin zur Religionsgeschichte in einem einzigen Satz mit eigenwilliger Zeitenfolge spannt: „Diejenigen, die gestern gegen Kernenergie, heute gegen Stuttgart 21 demonstrieren, agitieren, die müssen sich auch nicht wundern, wenn sie übermorgen irgendwann ein Minarett im Garten stehen haben.“ Mein Versuch, es dem Weltendenker gleichzutun, endete mit dem vergleichsweise mickrigen „Wenn du noch einmal SPD wählst, steht der Dobrindt vor der Haustür“.

Warm ums Herz wird einem, wenn man das politische Programm des Alexander Dobrindt auf seiner eigenen Website nachschlägt. Unter „Bayern“ liest der erstaunte Fan und User: „Bayern ist unsere Heimat. Bayern ist das Land, in dem wir leben...“ So profund, analytisch scharf und richtungsweisend geht es noch sieben Zeilen weiter. Programmpunkt „Lebensgefühl“ ist dem Mann, der unseren Verkehr überwachen soll, nur sechs Zeilen wert. Die haben es allerdings in sich: „Leben und leben lassen – das ist ein urbayerisches Motto. Wir in Bayern haben Freude an der Vielfalt...“

   Na also, geht doch; her mit den Minaretten!

12/2013

             

 

 


      

Die Horror-Kandidaten

  

Vorbemerkung: Natürlich müsste ich korrekterweise von KandidatInnen, Kandidat/innen oder der Kandidatin und dem Kandidaten schreiben. Da aber Angela Merkel so mannhaft gegen jede Art von Frauenquote kämpft, fühle ich mich genötigt, auf die feminine Form im sprachlichen Duktus zu verzichten.

 

Politisches Gruselkabinett

  

Was dem Land im September anlässlich der Bundestagswahlen bevorsteht, lässt jeden aufrechten Bürger mit zumindest durchschnittlichem Intellekt erbleichen: Zwei Kandidaten, die schwungvoll ihre Konturen verwischen, keinerlei inhaltliche Alternative zueinander aufweisen und nur in der Irreführung der Wähler zur Höchstform auflaufen, die dem Gruselkabinett politischer Beliebigkeit entsprungen zu sein scheinen, wollen Bundeskanzler werden. Zwar gilt immer noch die Kernaussage des pfälzischen Kolosses Kohl, der zufolge entscheidend sei, „was hinten rauskommt“ (Unansehnliches allzumal), doch wollen wir die paar Unterschiede, die im trüben Mief der beiden Karrieren auszumachen sind, gewissenhaft herausarbeiten.

  

Peer Steinbrück, die Inkarnation des hanseatischen Herrenwitzes, gehört zur Generation der polternden Rambos, die unter Gerhard Schröder ihren Zenit erreicht und hurtig übersprungen hat, und steht in der Tradition der raunzenden Besserwisser à la Helmut Schmidt. Immerhin hat der Kandidat von der traurigen Gestalt im Gegensatz zu seiner Rivalin Überzeugungen – gegen die er allerdings aus Gründen der Opportunität inzwischen tapfer eintritt. So möchte der Genosse der Bosse, der sich als hochbezahlter Sonntagsredner im Kreise von Managern und Bankern besonders wohlfühlte, plötzlich die Folgen von Hartz IV, die asoziale SGB-II-Regelung, die er früher vehement verteidigte, mildern. Anscheinend hat ihm seine Partei bedeutet, dass auch Arme über Wählerstimmen verfügen. Mit den Grünen, die er in gemeinsamer Koalition als NRW-Ministerpräsident noch nach Kräften drangsalierte, verbindet ihn heute innige Freundschaft. Peer-ohne-Land mutiert gerade vom Umwelt-Ignoranten zum Öko-Freak. Und während er früher dem Ausland mit berittener Intervention drohte, sorgt er sich jetzt um die arbeitslosen Jugendlichen in ganz Europa. Aus dem „Macher“ wurde ein „Kümmerer“. Der Kandidat hat in Sachen Glaubwürdigkeit seine Partei eingeholt.

  

Königin der Kehrtwende

  

So kann man gegen Angie natürlich nicht gewinnen. Als Physikerin ist es Frau Merkel gewohnt, die Welt mit Formeln zu erklären. Für ihr Wahlvolk entkleidet sie diese sorgfältig jeglichen Inhalts, sodass Leerformeln entstehen, an deren Grund und Bedeutung sich später niemand mehr erinnert, die folglich auch dem politischen Gegner keine Angriffsfläche bieten.

  

Wollte man Kernsätze aus Merkels Reden memorieren, blieben allenfalls ein paar genuschelte Allgemeinplätze, etwa dass Europa sparen müsse und Deutschland gut dastehe, hängen, auf programmatische Aussagen wird man nicht stoßen. Das erleichtert es unserer Kanzlerin, immer wieder geschmeidige Kehrtwenden zu vollziehen: Zuerst wird ein bisschen auf Irland geschimpft, weil die leichtsinnigen Kelten als Erste ihre Banken retten wollen, nur Wochen später werden für Commerzbank, Geldinstitute der Länder und ihre Pleite-Ableger Milliarden lockergemacht. Furios geradezu Angies Desorientierungslauf durch die Umweltpolitik: Schon als zuständige Ministerin vor knapp 20 Jahren drängte sie in der EU auf Energie-Einsparung, auch und vor allem im Verkehr. Nun wollen die Schläfer in Brüssel und Straßburg endlich einmal ernst bei der Begrenzung von Schadstoff-Emission und Spritverbrauch machen, und schon bremst Angie sie aus. Sie kann doch nicht zulassen, dass die Nobel-Dreckschleudern von VW, BMW und Mercedes nur noch als Elektro-Schnecken über die Autobahnen schleichen.

  

Ihr Meisterstück als Wendehals aber legte Frau Merkel im Streit um die friedliche (aber gefährliche) Nutzung der Kernenergie ab: Als Umweltministerin unter Kohl war sie noch uneingeschränkt für die Atomkraft. In den ersten Jahren ihrer Kanzlerschaft stand sie zum Ausstieg, um den Koalitionspartner SPD bei der Stange zu halten. Mit den liberalen Wirtschaftsmaskottchen im Kabinett verkündete sie den Ausstieg aus dem Ausstieg, doch als die Nuklear-Lobby die Sektkorken knallen ließ, hielt sie ihr feines Näschen in den Ostwind und witterte die durch die Katastrophe von Fukushima geweckten Ängste ihrer Mitbürger. Die (für sie logische) Folge ihrer Politik war der Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg aus der Kernenergie. Auch wenn für einen solchen Kurs andernorts Regierende ins Irrenhaus eingeliefert worden wären, auch wenn sie derzeit bereits den zweiten Umweltminister verschleißt, weil die Energiewende völlig kopflos angegangen und die Rechnung dem Normalverbraucher präsentiert wird – das deutsche Wahlvolk vergisst gnädig und vergibt seiner Angela. Denn in Zeiten des ökonomischen Glückspiels und des Investoren-Amoklaufes zieht es eine graue Glucke einem schrillen Gockel vor.

  

Die Minister: Versagen als Prinzip

 

Und wie eine wachsame Henne beaufsichtigt Merkel tatsächlich die missratene Küken-Schar ihrer Unions-Ministerriege. Gnadenlos hackt sie alle vom Körnernapf weg, deren Dämlichkeit ein schlechtes Licht auf sie selbst werfen könnte: die Abschreiber Guttenberg und Schavan oder den NRW-Wahlversager Röttgen. Aber auch die Hinterbliebenen machen ihr nicht viel Freude. Innenminister Friedrich wird nach den Snowden-Enthüllungen als Aufklärer nach Washington geschickt und kehrt als Clown zurück. Verteidigungsminister de Maiziere ist ein skurriler Wiedergänger des antiken König Midas. Unter dessen Händen verwandelten sich alle Gegenstände in Gold, bei de Maiziere hingegen potenzieren sich wundersamerweise die Kosten aller (häufig unbrauchbaren) Anschaffungen ins Unendliche. Wäre Angela Merkel 2005 nicht Kanzlerin geworden, sondern Personalchefin eines Unternehmens, würde sie jetzt schon einige Jahre Hartz IV beziehen.

 

Das Volk verzeiht ihr aber auch das, denn sie nervt ihre Untertanen nicht mit schädlichen Meinungen oder gar Standpunkten, sie wiegt sie mit den süßen Weisen des nützlichen Opportunismus in die tiefste Bewusstlosigkeit. Fragte jemand Angela, warum sie sich den Tort mit ihrem unfähigen Federvieh und dem verbündeten FDP-Sauhaufen, aus dem Bahr als Darling der Versicherungs- und Pharmabranche und Niebel als Teppichhändler herausragen, überhaupt noch antut, würde sie energisch ihr einziges von Herzen kommendes Kredo äußern: „Ich möchte – ähem – an der Macht bleiben.“ Sie meint damit eigentlich, dass sie weiterhin den Statthalter-Posten für die Wirtschaft bekleiden will. Natürlich gilt das auch für Steinbrück, doch nimmt es mittlerweile keiner mehr ernst, wenn er trotzig auf seinem Anspruch, Kanzler zu werden, beharrt.

 

Gute Nacht, Peer!

 

Eine letzte kleine Chance, das Blatt doch noch zu wenden, offerierte kürzlich Edward Snowden der SPD, denn die Bundesregierung zeigte sich nach seinen Offenbarungen unsicher, unwissend und ungeschickt. Merkwürdigerweise blieben aber auch die Sozialdemokraten recht still. Wahrscheinlich wussten die Schröders, Steinmeiers und Strucks ebenso wie die Schwarzen über die Verwicklung der deutschen Geheimdienste Bescheid. Erinnern wir uns an den letzten SPD-Kanzler für lange Zeit, der in der Öffentlichkeit todesmutig den USA die Stirn bot und einen Irak-Einsatz der Bundeswehr ablehnte, heimlich aber den BND die Angriffsziele für die amerikanischen Truppen ausspionieren ließ...

 

Weil auch die FDP, jene Lobbyisten-Truppe, die auch der kleinste Kiosk-Besitzer (Hauptsache selbständig!) noch als Hüterin sozialer Ungerechtigkeit und gediegenen Lohn-Dumpings schätzt, wieder in den Bundestag einziehen dürfte, wird die SPD die Wahl wohl krachend verlieren. Dann kann Steinbrück wieder sein wahres Gesicht zeigen und sich schmollend in die rechte Ecke zu Clement und Sarrazin begeben, während Angie die Hackordnung weiter anführt.

 

Ein guter Christ könnte angesichts dieser politischen „Alternativen“ zu dem Schluss kommen, der Herr habe Deutschland mit Blindheit geschlagen. Vielleicht hofft und betet unser Rechtgläubiger aber auch, dass der Allmächtige jede Hand verdorren lassen möge, die ein Kreuz (sic!) auf die Wahlvereinsliste eines der beiden Kandidaten kritzelt.

 

 

07/2013

 

Siehe auch „Die Steinbrück“ unter „Helden unserer Zeit“  (Archiv) und „Parteiensumpf“ unter „Politik und Abgrund“ (Archiv) 

 

 

 

 

 

Wir waren Papst!

 

"Wir sind Papst!" (BILD, als aus Joseph Ratzinger Benedikt XVI. wurde)

 

Ein Papst erklärt sich für physisch zu marode und geistig nicht mehr potent genug, um weiter dem vatikanischen Konglomerat aus ehrgeizigen Klerikern, dubiosen Financiers und mafiösen Seilschaften auf heiligem Stuhle vorsitzen zu können Wenige kritische Stimmen werden lauf, ansonsten üben sich die Medien weitgehend in Demut: Eine weise Entscheidung habe Benedikt XVI. getroffen, ein großer papa sei er gewesen und so bescheiden, dass er eigentlich gar nicht Bischof von Rom habe werden wollen.

  

Soweit die moderne Märchenwelt, die Wahrheit sieht anders aus. Joseph Ratzinger wurde nicht durch Zufall der erste deutsche Heilige Vater seit Jahrhunderten. Als Vorsitzender der Glaubenskongregation baute er unter dem stockkonservativen polnischen Vorgänger seine Macht und Interpretationshoheit religiöser Dogmen ständig weiter aus. Zur Erinnerung: Die Glaubenskongregation ist das Nachfolge-Gremium der Heiligen Inquisition, jenes frommen Zirkels, der Ketzer, Abweichler oder Hexen, in Spanien auch Mauren und Juden, foltern ließ und sie dann auf den Scheiterhaufen schickte – um sie so von ihren Irrtümern zu heilen.

 

Zwar griff die Glaubenskongregation, eine Mischung aus vatikanischem Geheimdienst und verdeckter Exekutive unter Ratzinger nicht mehr zu solch groben Mitteln, doch entschied sie, wer den Weg des in jeder Hinsicht rechten Glaubens verlassen hatte und sorgte für Suspendierungen, die  etliche Priester und Professoren an katholischen Hochschulen – etwa in Lateinamerika die Anhänger der Theologie der Befreiung - zu Vogelfreien in den Augen der Machthaber abstempelten. Die Liste der von Todesschwadronen und Paramilitärs in Kolumbien, oder Guatemala getöteten Glaubensbrüder ist lang. Ob Ratzinger und Konsorten aus fahrlässiger Verkennung der Situation oder unter billigender Inkaufnahme handelten, ist unklar. Selbst aufmüpfige Oberhirten, die soziale Gerechtigkeit forderten, blieben nicht von der Kritik der römischen Rechtsausleger verschont. So erhielt der von Rom gescholtene Bischof Samuel Ruiz des mexikanischen San Christóbal de las Casas, der die Rechte der Mayas in Chíapas gegen den Landhunger der Großgrundbesitzer verteidigte, prompt Morddrohungen.

 

Der angebliche „Zufallspapst“ Ratzinger war in Wirklichkeit bereits Favorit als das Konklave nach dem Tod von Johannes Paul II. zusammentrat. Wie Vatikan-Beobachteraus der italienischen Presse nach Indiskretionen aus dem erlauchten Kreis der Kardinäle vor einigen Jahren enthüllten, musste er aber um den generalstabsmäßig vorbereiteten Triumph doch noch kämpfen (lassen). Als sich völlig überraschend der liberale Kardinal von Buenos Aires als starker Gegenkandidat erwies, trat Ratzingers Vertrauter López Trujillo, der inzwischen verstorbene Erzbischof von Medellín und spätere Kurienkardinal, auf den Plan. Der in Lateinamerika als Chefintrigant und Freund rechter Diktatoren wie dubioser Oligarchen bekannte Kolumbianer, der gern Unsinn zum Thema Aids („Kondome haben Löcher.“) von sich gab und Homosexuelle diskriminierte,  bearbeitete die Unentschlossenen, bis Ratzingers Wahl feststand - ob mit Versprechungen, sanftem oder massivem Zwang, weiß kein Mensch.   

 

Ratzinger war ein richtig deutscher Papst, knöchern, starr und unbeholfen bis völlig daneben, wenn es um Worte der Entschuldigung für Misshandlungen in kirchlichen Einrichtungen oder Toleranz gegenüber Andersgläubigen und abweichenden theologischen Ansätzen ging. Zum moralischen Beistand, den die argentinischen Bischöfe einer Militärjunta, die Zehntausende direkt umbrachte oder nach Folterungen im Rio de la Plata versenkte, gewährte, schwieg er völlig. Schließlich waren Schlächter wie die Generäle Videla und Viola gute Katholiken...

 

Wenn man antiker Philosophenweisheit glaubt, kommt nach dem Abtreten eines Autokraten nichts Besseres nach. Andererseits kann es viel schlechter kaum werden. Doch vielleicht hat der Herr im Himmel keine Lust mehr, sondern ein Einsehen, und verkündet demnächst: „Wenn sich schon mein Stellvertreter auf Erden einfach vom Acker macht, höre ich auch bald auf.“

 

 

 

     

 

Die Steinbrück`

 

Steinig ist der Weg zur Macht

Baut man nicht die gold`ne Brück

Froh der wack`re Lobbyist lacht

Kanzler zahlt gewiss zurück

 

Vor knapp hundert Jahren stimmte die Spezialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 1914 im Reichstag  für die Kriegskredite, die das Massenschlachten, euphemistisch  „Erster Weltkrieg“ genannt, möglich machten. Seitdem weiß man, dass viele Genossen tapfer jedes Prinzip aufgeben, wenn sie nur einen Zipfel Macht ergattern oder sich mit den wirklich Mächtigen gut stellen können.  

 

Die SPD hat sich im Laufe der Jahre so manch starkes Stück bei ihrem Eiertanz um die Pfründe geleistet, doch die Kür von Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten schlägt dem Fass des politischen Anstands den doppelten Boden aus. Nicht, dass die große alte Dame des Opportunismus eine Alternative gehabt hätte...

 

Denn die Anderen waren: 

 

Sigmar Gabriel, mit dem schmierigen Charme eines hyperaktiven Versicherungsvertreters ausgestattet, in Niedersachsen gescheitert , dann kurzfristig als Sozialfall auf den Posten des Bundes-Pop-Beauftragten (gab`s wirklich, aber nicht lange) abgeschoben, um dann zum SPD-Klassensprecher mit allerlei abgeschauten Rentenkonzepten aufzusteigen.

 

Walter Steinmeier, einst Lakai des Macho-Man Gerhard Schröder, super mit Hartz 4 und Erhöhung der Lebensarbeitszeit für Menschen, die froh sind, wenn sie ein knappes Drittel ihres Lebens Arbeit finden, einverstanden, dann unter Merkel der stille Rebell, der erst vor der Tür wieder bellte.

  

Und so ist er es geworden, der Peer Steinbrück, Wiedergänger eines Wolfgang Clement (mittlerweile ausgetreten und rechts von der CDU; doch, doch, das geht, warten wir doch mal ab, was Peer nach der verlorenen Wahl macht!), eines Gerhard Schröder, des Genossen der Bosse, und eines Helmut Schmidt, für den eigentlich nur spricht, dass er von Helmut Kohl abgelöst wurde (Philosophenmotto: Es kommt nichts Besseres nach!) . Ein Bewerber, der von den tödlichen Folgen deutscher Großmannssucht  gehört haben müsste und dennoch der Schweiz, einer frühen Demokratie, die erst langsam von Banken korrumpiert wurde, den Kavallerie-Einmarsch androht. Natürlich nur im Spaß! Der ganze Mann ist ein Witz und von sagenhafter sozialer Kälte.

 

Herrn Steinbrücks wieselige Reden vor Bankern, Lobbyisten, Juristen, die möglicherweise sein früheres Ministerium sehr gut von innen kennen, Industrievorständen des „Klassenfeindes“, die wissen wollen, wie man in Berlin an was kommt, sein Aufsichtsratssitz in einem umstrittenen Energie-Konzern, über eine halbe Million für 80 Vorträge, die natürlich mehr als die kärgliche Abgeordneten-Diät einbringen (weshalb er im Bundestag im gleichen Zeitraum auch nur dreimal geredet hat): Geschenkt! Es interessiert doch eigentlich nur noch, wie ich den Kandidaten der großen sozialen Partei von der Kandidatin der christlich-unsozialen Union unterscheiden kann.

 

Aussagen? Programm? Ist nicht! Höchstens durch die Halbglatze.

 

Vor Jahren sollen die letzten Linken der SPD die Partei verlassen und sich den Grünen angeschlossen haben. Na, da sind sie aber ganz schön vom Regen in die Traufe gekommen.

 

 

 

 

 Mutti quotiert

 

Bislang blieben feministische Empörungsstürme aus, obgleich der Titel dieser Rubrik nur die maskuline Form einer Berufsbezeichnung beinhaltet. Ich denke, dies ist nicht der Einsicht, dass „Heldinnen und Helden unserer Zeit“ zu lang wäre, geschuldet; vielmehr dürfte frau ganz froh sein, in dieser Galerie männlicher Witzfiguren nicht auftauchen zu müssen. Jetzt hat es aber doch eine erwischt, und die hat es sich selbst zuzuschreiben: Würde Ursula von der Leyen nicht eine paritätische Beteiligung ihrer Geschlechtsgenossinnenan allem und jedem fordern, hätte ich sie nicht als Quotenfrau unter diese Rubrik aufgenommen. 

 

Ursula von der Leyen, derzeit Arbeitsministerin in Berlin, fordert eine feste Frauenquote für die Vorstände der deutschen Wirtschafts-unternehmen. Zwar könnte es den Beschäftigten einigermaßen egal sein, ob sie von Fräulein Gierig oder von Herrn Geier ausgebeutet werden, doch hebt es sicherlich das Selbstbewusstsein der weiblichen Hälfte unseres Landes, wenn sie überall adäquat mitmischt. So wurde auch schon allerorten bemängelt, dass Frauen bei der Ausübung von Gewaltverbrechen sowie bei Delikten unter Alkoholeinfluss deutlich unterrepräsentiert seien.

 

Die Ministerin hat auch sonst ihre Qualitäten als dynamische Macherin nachgewiesen. Sie entließ in diese harte Welt fünf Mädchen und zwei Knaben (Wo bleibt denn da die gerechte Männerquote, Frau von der Leyen?) , die mit Sicherheit die Kindermädchen besser kennen als ihre ehrgeizige Mutti. Irgendwann schwante sogar ihr, dass unser Renten-system die bestraft, die zuvor schon das Leben mit Niedriglohn und Arbeitslosenzeiten bestraft hat. Eine Nachbesserung will sie jetzt durchsetzen, aber nur für solche, die 40 Jahre lang malocht haben. Liebe Uschi, kannst du dir nicht vorstellen, dass es ganze Generationen und Bevölkerungskreise gibt, die keinerlei Chance auf vier Jahrzehnte sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung haben? Nun denn, die sollen halt – wie bisher – zum Spießrutenlauf durch die Sozialämter mit ihren einfühlsamen Beamten antreten.

 

Für den Mindestlohn ist sie übrigens auch, unsere umtriebige Ursula. Ein bisschen zumindest. Und auch nur, wenn alle in der eigenen Koalition ganz arg dafür sind. Die bösen Feinde in der Opposition wollen eine zumindest ansatzweise menschenwürdige Bezahlung nämlich nur, weil sie immer gegen alles sind.

  

 

  

 

Tricky Dirk 

 

Richard Nixon, US-Präsident, Watergate-Lügner und Träger einer Entenschnabel-Nase, wurde einst „Tricky Dick“ genannt, weil er es verstand, sich mit kleinen fiesen Finten Vorteile zu verschaffen und seine politische Meinungen nach Wetterlage zu ändern. Nun hat auch Deutschland einen Vollblutpolitiker vorzuweisen, der zumindest in Sachen Wendigkeit dem großen amerikanischen Staatsmann in nichts nachsteht: Dirk Niebel, FDP-Minister in der Bundesregierung, dem wir wegen seiner Verdienste um charakterfreie Flexibilität den Ehrennamen „Tricky Dirk“ verleihen wollen.

 

Einst begann Tricky Dirk eine Karriere in der Bundeswehr. Als er nicht so recht vorankam, quittierte er den Dienst und forderte die Abschaffung der Armee. Der zweite  Start zu einer großen Laufbahn führte ihn in das Arbeitsamt (heute Agentur für Arbeit), wo er sich als Vermittler offenbar unterfordert fühlte und ebenfalls hinschmiss. Danach forderte er folgerichtig die Abschaffung der Bundesagentur für Arbeit. Nun profilierte er sich in der FDP, was anständige Menschen wie den Kabarettisten Georg Schramm darauf hoffen ließ, er werde nach einer angemessenen Zeit die längst überfällige Abschaffung der liberalen Partei anregen. Doch der Mann des verzweifelten Hohns täuschte sich gewaltig: Niebel machte endlich Karriere, und nun änderte sich einiges. 

  

Hatte Tricky Dirk früher die Liquidierung von Institutionen gefordert, nachdem er in ihnen nicht reüssieren konnte, so postulierte er nun die Abschaffung einer Behörde im Voraus: Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Entwicklungshilfeministerium) solle aufgelöst werden, die Aufgaben könne das Außenministerium übernehmen. Dann kamen die Bundestagswahlen 2009, und die FDP errang aufgrund einer vorübergehenden geistigen Insuffizienz von weiten Teilen der Bevölkerung einen überraschenden Wahlerfolg. Nun musste man natürlich auch den umtriebigen Dirk Niebel mit einem Ressort ausstatten – und so wurde er Entwicklungshilfeminister.

 

Aufgefallen ist Tricky Dirk auf dem Posten, den er eigentlich abschaffen will, seither vor allem durch zwei Dinge: Er fungiert als eine Art Jobmaschine für seine liberalen Parteifreunde; ohne FDP-Mitgliedsbuch dürfte man im Ministerium wohl nicht einmal mehr die Schreibtische abstauben. Und er bewies der staunenden Öffentlichkeit, die das Kabinett bislang für weltfremd hielt, dass er weiß, wo man schöne afghanische Teppiche erwerben und wie man sie anschließend billig am Zoll vorbei nach Deutschland einführen kann.




2012    

 

 

    

Der Saubermann

 

Joachim Herrmann, bayerischer Innenminister, ist ein betulicher Mann. Er spricht in wohlgesetzten Hohlformeln, und wenn er mitten im trägen Wortschwang eine Kunstpause einlegt, dann steckt weder Kunst noch Nachdenken dahinter, sondern eher die Freude, den vorangegangenen leeren Worten nachlauschen und sich auf ähnliche vorbereiten zu können.

 

Nun fällt allerdings auch wilde Ballerei in sein Ressort. In Memmingen und Bad Reichenhall griffen Sprösslinge in die Waffenschränke ihrer Väter und bemühten sich nach Kräften, in der Schule bzw. auf der Straße ein Blutbad anzurichten. Also begann Joachim Herrmann nachzudenken und kam nach geraumer Weile zu dem Schluss: Da müssen wir etwas tun! Folglich wies er die bei Kommunen oder Landkreisen angesiedelten Waffenkontrollbehörden an, mal nachzuschauen, wie denn das Kriegsgerät im trauten Heim so aufbewahrt sei, um Himmels Willen nicht oft, eher ganz selten, vielleicht auch gar nicht – und wenn überhaupt, dann ganz ordentlich angemeldet (wie der immer unbotmäßiger werdende Bayerische Rundfunk recherchierte).

 

Könnte es sein, dass der Herrmanns Joachim im Hinterkopf hatte, dass von den 300.000 Waffenbesitzern im Freistaat, in der Mehrzahl Sportschützen, freiberufliche Jäger und martialische Volkstümler, gefühlte 106 Prozent die CSU wählen? Eine solche Klientel vergrault man sich doch nicht ohne Not!

 

Ich glaube eher, dass Joachim Herrmann ein Kerl ist wie ich. Wenn sich bei mir – was zum Glück selten vorkommt – Besuch anmeldet, beginne ich die Wohnung in Ordnung zu bringen. Monate alte Flusen werden aus den Ecken gesaugt, ganze Wagenladungen alter Zeitungen verschwinden vom Boden, von den Tischen und aus der Toilette. Herrmann, wie ich auf den sauberen Schein bedacht, will einfach nicht, dass, seine Spezerln, die Waffennarren, in unordentlicher Umgebung angetroffen werden. Es sollte ihnen schon die Möglichkeit eingeräumt werden, die Dum-Dum-Geschosse aus dem Lego-Arsenal im Kinderzimmer zu entfernen, dem Hund die Pump-Gun, die er immer so drollig apportiert, wegzunehmen und die Uzi, mit der sich der Nachbarsgarten so bequem bestreichen ließ, in die verschließbare Glasvitrine zu stellen, wo sie sich wirklich dekorativ macht.

 

Diese Fairness verdient es, ausgeweitet zu werden. Sollte man nicht erwägen, die Neonazis vor Versammlungen zu unterrichten, dass vier bis fünf V-Leute des Verfassungsschutzes daran teilzunehmen gedächten (was sicherlich für Konfusion sorgen würde, da die Teilnehmer bislang davon ausgegangen waren, dass drei Viertel aller Anwesenden von der Schmiere seien)? Oder könnte man die Steuerflüchtlinge nicht vorwarnen, um Herzinfarkte in den Chefetagen und Luxusvillen zu vermeiden: Liebe Säumige, wir beabsichtigen, demnächst ein Steuerabkommen mit der Schweiz zu schließen. Haben Sie gehört? Mit der Schweiz! Nicht mit den Cayman-Inseln, mit Singapur, Liechtenstein, Andorra etc. Sorgen Sie umgehend dafür, dass wir Ihre Schweizer Konten in bester Ordnung vorfinden!

 

 

 

 

 

Das Söder

 

Man kann sich in einem Menschen täuschen: Markus Söder, eine Mischung aus großmäuliger Hybris und kleinbürgerlichem Opportunismus, der Eliminator Südeuropas und Terminator analytischen Denkens, der populistische Rambo, der dem Volk immer dann aufs Maul zu schauen scheint, wenn es gerade kotzt? Mitnichten. Immer wenn es brenzlig wird, zieht sich Söder, einst im „Spiegel“ als „Stoibers Hackebeilchen“ apostrophiert, eilig zurück, wie es bei anderen Männern in manchen Situationen die Vorhaut tut.

  

Wenn Ministerpräsident Seehofer ihn zurückpfeift oder über ihn spottet, macht er brav Männchen und wedelt mit dem – aber nein, das können wir nicht Bestimmtheit sagen. Als er einst gegen den beliebten Nürnberger SPD-Oberbürgermeister Maly antreten sollte, kniff er ebenso wie unlängst in der sonntäglichen Talgshow (pardon!) bei Günther Jauch. Der politisch eher überschaubar beschlagene, aber nach Publikumswirksamkeit gierende Moderator hat wenigstens ein ehrliches Seitchen: Wenn er jemanden nicht mag, zeigt er dies deutlich. Und er mochte das Schwarze Loch im bayerischen CSU-Kosmos einfach nicht. Er schnitt ihm das Wort ab, ließ ihn nicht reden, wies ihn zurecht und kommentierte die Plattitüden des neu entdeckten Finanzgenies hämisch. Und Markus Söder, dieser Brocken von Mann, diese in eine reiche Industriefamilie eingeheiratete Allzweckwaffe gegen intellektuelle Dekadenz? Er ließ sich alles gefallen, verstummte, zauberte ein selten dämliches demutsvolles Lächeln auf die Lippen. Wie soll er das den Stammtischen im Freistaat verklickern, er, der sich nicht ungern als kerniger Macho apostrophieren ließ?

 

Vielleicht erklärt ein Blick ins Wörterbuch die Sache: el macho kommt aus dem Spanischen und bedeutet das Männchen.