Inhalt

(Bitte scrollen: Texte folgen nach der Übersicht.)


2024


- Kaiser und Streich (Der bessere Kicker, aber kein besserer Mensch)

- Blender an die Spitze (Wird 2024 zum Jahr der Polit-Windbeutel?)



2023


- Berliner Trickbetrüger (Regierungspfusch von Richtern kassiert)

- Ampelfalken (Die Bundesregierung gibt sich kriegerisch)

- Schuld und Rache (Zivilisten büßen für die Hamas-Verbrechen)

- Die NGO des Kobolds (Ryanair will das EU-Streikrecht aushebeln)

- Eine neue Macht (Schwellenländer gegen westliche Dominanz)

- Verfemte der Wüste (Afrika mag keine Bundeswehrsoldaten)

- Land der AfD (Wie weit rechts geht es noch in der BRD?)

- Ehrengast mit Blutspur (Henry Kissinger in Fürth gefeiert)

- Erdogans langer Arm (Warum so viele Stimmen aus Deutschland?)

- Hofberichterstattung (Peinliche SPIEGEL-Eloge auf Pistorius)

- Der Vollblutpolitiker (FDP-Chef Lindner pflegt seine Interessen)

- Wunsch wird Vater (Die wunderbare Welt der deutschen Presse)

- Prinzipien abgetaucht (Tugendwächter verkaufen U-Boote)

- Gas- und Waffenmakler (Kanzler Scholz als umtriebiger Dealer)

- Wer straft Exxon? (Öl-Dino streute Fakes über den Klimawandel)

- Schauriger Erfolg (Die EU zielt auf Putin und trifft Afrika) 


2022


- Ein Weihnachtsmärchen (Biblische Schauergeschichten)

- Kein Maskenzwang mehr (Musk zeigt sein wahres Gesicht)

- Wirklich überfüllt? (Wenige verbrauchen zu viele Ressourchen) 

- Des Verlegers Lied (Wer seinen Chef kritisiert, wird delegiert)

- Kriegsblinde Presse (Wenn Journalisten als Kriegspartei agieren...)

- Seltsame Wohltäter (Korn aus der Ukraine für Arme? Von wegen!)

- Universal Soldiers (Das dubiose Afrika-Abenteuer der Bundeswehr)

- Ziege gegen Russland (Das wirklich Wahre über den Krieg)

- Saubere Regierung (Das Kabinett der übel Beleumundeten)

- Welt im Zerrspiegel (G7 und EU ignorieren globale Verschiebung)

- Kriminell ohne Ende (Brasilien: Neue Anschuldigungen gegen VW)

- Die Motten von Davos (Nach den TBC-Kranken nun die Reichen) 

- CSU fast ganz die alte (Auch unter Söder häufen sich Skandale)

- Eine gewisse Freiheit (Springer, Musk, Bezos: Meinungsmacher)  

- Wissen an die Macht? (Lauterbach fordert die Gelehrtenrepublik)

- Unterbliebene Fragen (Die Medien versagen als Kontrollinstanz) 

- Amnesty am Pranger? (Absurder Antisemitismus-Vorwurf)

- Dirk macht sich schlau (Lobbyist Niebel möchte doch nur lernen)

- Letzte Bescherung (Zum Abschied trickst Jens Spahn nochmal)


2021


- Spreader in Uniform? (Ungeimpfte Polizisten gegen Impfgegner?)  

- Von Schurken umzingelt (Geflohene zwischen Belarus und Polen)

- Unmoralische Instanz (Der Springer-Verlag in Querdenker-Pose) 

- Ein Rechtsrutsch (Für die Linken war die Wahl ein Debakel)

- Warum denn wählen? (Eine Prognose, die leider zutraf)

- SCHWARZROTBLECH (Die Regierung erklärt uns die Demokratie)

- Afghanisches Roulette (Tödliche Lotterie dank Abschiebung)

- Ciceros Feindbild (Neoliberale Zeitschrift gegen Greenpeace)

- Verblödungstheorien (Die Realität ist schon schlimm genug)

- Patent vor Leben (Corona: Das Wohl der Konzerne geht vor)

- Zwischen den Stühlen (Alternativen, aber keine Lösung)

- Habe die Ehre! (Die Union will nach Maskendeals offen werden)

- Fußball über Gräbern (Tausende toter Bauarbeiter in Qatar)

- Zeit der Peinlichkeit (Corona dient Profilierung von Politikern)

- Museum für Markus (CSU-Gönner profitiert von Söder-Plan)

  

2020


- Die Macht will Assange (Ein Verfolgter, kein Krimineller)

- Triple-Moral (Corona entlarvt die Verlogenheit der EU)

- Zwei Seiten der AfD? (Gibt es gemäßigte Rechtsradikale?)

- Wiedersehen im TV (Gedanken und Daten in eigener Sache)

- This will be the last (Vor fünfzig Jahren starb Jimi Hendrix)

- Käufliche Republik (Geldwäsche als deutscher Lieblingssport)

- Abhängig unabhängig? (Diverse Gefahren für freie Medien)

- Unfairer Vermittler (Deutsche "Friedensstifter" diskreditiert)

- Verfolgte Unschuld (Dieter Nuhr phantasiert von Inquisition)

- Auf Trumps Spuren (Sanktionen als Wundermittel der Politik)

- Teuer macht gut (Wie man die Fleischbarone bessern will)

- In Ungnade bei Wiki (Auf der Seite Trumps gegen die WHO)

- Söders Faktenleck (In Bayern leben Corona-Kranke gefährlich)

- Das Orwell-Virus (Wie viel Kontrolle darf`s denn sein?)

- Der Narr der Ringe (IOK-Chef Bach ignoriert Corona)

- Der Corona-Bär (Die Seuche setzt den Markt matt)

- Back dir ein Gesetz (Wie man Umweltschutz kastriert)

- Die Anachronisten (In Krisenzeiten lenken die Royals ab)

- Flugverbot für Blätter (Papierflieger bedrohen das BAMF)


2019


- Der Oberzensor (Nürnbergs OB lässt ein Foto abhängen)

- Amerikanische Märchen (Was wir über Bolivien & Co erfahren)

- Spätes APO-Glück? (Das Springer-Imperium zerlegt sich selbst)

- Irrsinn  als Methode (Die Fab Four des Rechtspopulismus)

- Bürger zu den Waffen (Die AfD will die Deutschen aufrüsten) 

- Themaverfehlung (Ist Kritik an Israels Politik "antisemitisch?")

- Die AfD dankt (Tat eines psychisch Kranken instrumentalisiert)

- Die Unterweltreporter (Schwere Zeiten für Sportjournalisten)

- Goldenes Schweigen (Masochistische Milliardäre?)

- Die EU lässt sterben (Tatbestand: Unterlassene Hilfeleistung)

- Göttlicher Gottfried (Austria: FPÖ-Gebote für Flüchtlinge)

- Wo bitte ist die Mitte? (In Deutschland ganz weit rechts)

- Reif für den Krieg (Die Bundeswehr wirbt um Minderjährige)

- Unerwünschte Themen (Was die Presse 2018 verschwieg)

- Tierischer Todernst (Die Opfer der Ex-Weinkönigin)

- Lob des Papiers (Sterben die Printmedien aus?)


2018


- Leben gegen die Macht (Zum Tod des Autors Osvaldo Bayer)

- Roter Fleck in Afrika (Schweigen über die größte Katastrophe)

- Abstinenz der Elite (Im Silicon Valley hält man Kinder kurz)

- Antisocial Media (Putschisten-Wahlsieg dank Facebook & Co)

- Schaut auf Österreich (Wien gegen kritischen Journalismus)

- Im Zweifel rechts (Polizei-Vorlieben nicht nur in Chemnitz)

- Etwas bleibt hängen (Die AfD hat ihre eigene Lügenpresse)

- Retten verboten! (ZEIT-Kolumnistin gegen See- und Menschenrecht)

- Sisyphos hat Ruhe (Gedanken zum Tod Hermann Glasers)

- Hire a Staatsdiener (Hohe Beamte als Konzernsöldner)

- Überwachungsfreistaat (Die CSU ist für absolute Kontrolle)

- Österliche Leidkultur (Folter gehört zur bayerischen Tradition)

- Armutsexperten (Jens Spahn glaubt das Elend zu kennen)

- Öffentliches Ärgernis (Rechtsextreme gegen den Rundfunk)

- Üble Deals mit Kalkül (Waffenexport als Berliner Strategie)

- Die Königslegende (Spaniens Juan Carlos und die Demokratie)


2017


- Easy way out... (Der Kabarettist Martin Buchholz hört auf)

- Schöne neue Kindheit (Gefahren der digitalisierten Schule)

- Lechts und rinks (Journalisten verwechseln gern die Richtung)

- Fake im Walzerland (Fiese SPÖ-Tricks in Österreich)

- Die halbe Wahrheit (Myanmars Militär hat deutsche Freunde)

- Fälschung des Nichts (Ein Bankenindex als Luftnummer) 

- Endlos wegsperren (In Bayern kann man schnell verschwinden)

- "Reichsbürger" (Die Exoten der rechtsradikalen Szene)

- Wiederholungstäter (JEFTA heißt die neueste EU-Kungelei)

- Hacker und Ölprinzen (Schurkenduell zwischen Saudis und Qatar)

- Der Quertreiber (Kritische Satire ausgerechnet im bayerischen TV)

- Waschende Hände (Die gesponserte "Unabhängigkeit" der Presse)

- Sieg? Welcher Sieg? (Wilders gestoppt. Aber um welchen Preis?) 

- Justiz, die gefällt... (Niedrige Beweggründe haben nur Idioten)

- Fata Morgana Libyen (Ein Staat, den es nicht gibt, als EU-Partner)

- NPD zu niedlich? (Verfassungsrichter gegen ein Verbot der Partei)

- Das wirklich Wichtige (Die Presse sorgt sich um die Queen)


2016


- Die Welt ist sicher... (Mit Ignoranz gegen Asylbewerber)

- Sozis im Angebot (Miet dir einen Genossen!)

- The Bad and the Ugly (Grausige Alternativen bei US-Wahl)

- VW noch ehrlicher! (Der Volkswagen-Konzern gesteht ein bisschen)

- Die stillen Deutschen (Die diskrete Art der Kriegsbeteiligung)

- Schweigen der Blätter (Rehabilitation eines Verleumdeten)

- Sport, Mord, Schnulze (Seltsamer Bildungsauftrag für ARD und ZDF)

- Schweinehund-Theorien (Nicht wählerisch bei Verbündeten)

- Türkische Ratespiele (Wer hat geputscht? Wer profitiert?)

- Trumps America (Ein Kandidat, der sich alles erlauben kann)

- Böses Volk! (Brexit zeigt: Die Wähler ticken nicht so, wie sie sollen)

- Hässlich vergesslich (Bayer, Monsanto, die Fusion und der gute Ruf)

- Scheinheilige Damen (Politikerinnen ohne jede Glaubwürdigkeit) 

- Die Paten der AFD (Politiker der "rechten Mitte" als Wegbereiter)

- Trüber SPIEGEL (Kolumnist Fleischhauer als rechte Speerspitze)

- Menschenkenner (Der rechte Bürger weiß, wie Flüchtlinge aussehen)

- Nazi und Gendarm (... und die Neonazis lässt man laufen!)


2015 


- Gesellschaftsfähig (Im fränkischen Pottenstein ehrt man einen Nazi)

- Das sagt man nicht! (Asyl: Wortklauberei statt Lösungen)

- Fürsorgliche Zensur (Schulbücher im Sinne der Writschaft) 

- Die Ratte im Sack (TTIP-Gegner im Visier bürgerlicher Medien)

- Tödliche Trickserei (Die VW-Manipulation ist kein Kavaliersdelikt)

- "Deutscher Sang" (Die absurde Genese unserer Nationalhymne)

- Die Kindle-Falle (Der literarische Weg in die Total-Kontrolle)

- Nicht auf der Liste (Kuba ist für die USA nicht mehr terroristisch)

- Finstere Hellenen (Die Griechen wählen nicht so, wie die EU es will)

- Das Wintermärchen (Glasers neues Buch über Nazi-Mentalität) 

- Wessen Geiseln? (Medien-Märchen vom bösen Streikführer) 

- U-Bahn-Wahnsinn (Milliarden für Prestigeprojekte verbuddelt) 

- Neue Alte Kameraden (Bundeswehr stramm auf Kriegskurs) 

- Verbrechen der Armut (von skrupellosen Flaschensammlern) 

- Rauch der Unschuld? (Cannabis wird legal - und entmystifiziert) 

- Totschlag verbannt? (Kein Boxen mehr in der ARD - oder doch?)


2014

 

- Deutsch muss gutt! (Migranten sollen tun, was die CSU nicht kann) 

- Den Arm abhacken (von braven und bösen Gewerkschaften) 

- Comeback der Narren (Endlich wieder Kabarett mit Tiefenschärfe) 

- Ehrung des Pfennigs (Mio für die Zocker, Cents von den Armen) 

- Pressefreiheit??? (Wer definiert sie nach welchen Kriterien?) 

- Doofe Spione? (Brauchen wir die deutschen Geheimdienste?)

- Glaubt ihnen nicht! (Öffentlich-rechtliche und andere Medienlügen)  

- Die Macht des Autors (García Márquez - der letzte Weltschriftsteller) 

- Reiche sind gut! (Warum und wofür spenden Milliardäre?) 

- Dem Vieh verboten (Tun zwei das Gleiche, entscheidet die NATO) 

- Entlassen ist sexy (Middelhoffs hartes Schicksal)  

- Qualitätsente (Schludriger Journalismus schwächt Print-Medien) 

- Markt-Frank, Kriegs-Niko (Wie der Außenminister wirklich tickt) 

- Eine ehrenwerte Frau (Kanzlerin Merkel stranguliert Südeuropa) 

- Vernunft à la Rio (Brasilianer gegen eine gigantomanische WM) 

- Freund mit Bombe (Klammheimlich wird Japan Atommacht) 

- Irre Helden (Traumatisierte Soldaten, willfährige Therapeuten) 

- Blind mit System? (Die Polizei "entdeckt" plötzlich Neonazi-Morde)  

- Wer kommt nach? (Der große Folk-Sänger Pete Seeger ist tot)


2013 


- Unser täglich Müll (Nahrung als Spekulations- und Abfallprodukt) 

- Von China lernen? (Was die KP vergisst, sollen Journalisten büffeln) 

- Richtig wichtig? (Weltnachricht Nummer 1: Schumachers Koma)   

- Wen der Geier lobt... (Gedanken zum Tod Dieter Hildebrands) 

- Endlich Mord in Franken! (Region freut sich über TV-Verbrechen) 

- Die Niederlage (Diskret geht in Afghanistan ein Krieg verloren) 

- Gold für NOlympia (Bayerischer Eigensinn kann auch positiv sein)

- Armutsfalle Sport (Wie Familien unter "Fankultur" leiden) 

- Schweden-Flop (Miese TV-Krimis allzu frei nach Sjöwall/Wahlöö) 

- Der Kritiker-Mime (Reich-Ranicki kein Glücksfall für die Literatur)

- Hehre Heuchler (Nicht nur in der DDR wurde systematisch gedopt) 

- Die Scheinheiligen (Snowden und die Feiglinge der EU)

- Armer Mann Mollath (Das Opfer leidet, die Justiz ist beleidigt.)

- Ois Rosenheim (Selbe Stadt: idyllische TV-Serie, prügelnde Cops)

- Die Dschungel-Dokters (Vorschläge zur Hebung des TV-Niveaus)

- Habemus Franz (Neuer Papst - die Medien drehen durch) 

- Krokodilstränen (Klammheimliche Freude über den Tod von Chávez)


2012


- Börsenlyrik (Wie uns die Medien Idiotien als Analysen verkaufen)

- Gewogen und zu schwer befunden (Zweierlei Maß bei Assange)

- Kahlschlag (Wichtigen Zeitungen geht`s an den Kragen)

- Nur 25 Prozent? (Eine Studie warnt vor Neo-Nazis und untertreibt)

- Abendzeitung verblichen (Schäbiges Ende eines Boulevard-Blattes)

- Kultur(Hohl)Spiegel (Das dumme Balg eines Nachrichtenmagazins)


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2024


Kaiser und Streich


Die Volkstrauer kannte keine Grenzen mehr: Aus den Radios und TV-Geräten erschollen vielstimmige Elogen, die Printmedien quollen über von sentimentalen Nachrufen, bewegten Berichten über persönliche Begegnungen, und selbst hohe Politiker rangen sich die eine oder andere Krokodilsträne ab. Kein Zweifel, ein ganz Großer war gestorben, denn das Land zeigte sich im Schmerz vereint wie schon lange nicht mehr. Es schien sich mindestens um eine Persönlichkeit vom Format Nelson Mandelas oder Albert Einsteins gehandelt zu haben! Doch nein, der Vielgepriesene, der das Zeitliche gesegnet hatte, war nur ein sehr guter Fußballspieler gewesen. Aus derselben Branche stammt ein anderer Mann, der zur gleichen Zeit einige bemerkenswerte Sätze äußerte, aber etwas weniger Aufmerksamkeit erfuhr.


Großer Kicker!!! Großer Mensch???


Zweifellos war Franz Beckenbauer, der vor einigen Tagen im Alter von 78 Jahren verstarb, ein herausragender und eleganter Techniker auf dem grünen Rasen gewesen. Er konnte eine Partie „lesen“, also antizipieren, schlug geniale Pässe, war dazu torgefährlich und interpretierte die Rolle als „freier Mann“ in der Abwehr neu. Auch wenn er nicht die oft spielentscheidende Wucht eines Pelé, Maradonna oder Messi besaß, galt er als einer der besten Akteure seiner Zeit. Als Mannschaftskapitän wurde er 1974 Weltmeister, als Trainer führte er 1990 das deutsche Team zum Titel.


Ein großer Fußballspieler war Beckenbauer fürwahr; wie aber sah es mit dem Menschen Franz aus? Nun, man liebte den charmanten Plauderer, goutierte seinen leichtfüßigen Humor, die sonore Stimme und einen dezenten Anflug von warmem Münchner Dialekt; wirklich Erhellendes oder Profundes ist allerdings aus seinen Äußerungen in rund sechzig Jahren kaum jemandem erinnerlich.


Aber da war auch der clevere Beckenbauer, der seinen Wohnsitz nach Österreich verlegte, weil er nach seinem Dafürhalten in der geliebten bayerischen Heimat zu viel Steuern zahlen musste, der ein auf 160 Millionen Euro geschätztes Vermögen ansammelte – offenbar nicht nur auf lautere Weise. Und da waren auch einige Skandale im Dunstkreis des mafiösen Weltfußballverbands FIFA sowie Äußerungen, die zwischen leichtfertig und zynisch changierten.


Schon in den 1970er Jahren musste Beckenbauer Steuern in Höhe von 1,8 Milllionen DM nachzahlen, die er mithilfe einer illegalen Steuerspar-Konstruktion am deutschen Finanzamt vorbei hatte schmuggeln wollen. Zu einer Buße und Nachzahlungen in gleicher Höhe wurde er 1986 verurteilt, als er versuchte, 1,2 Millionen DM dem Schweizer Fiskus vorzuenthalten. Als wiederum die eidgenössische Bundesanwaltschaft 2015 ein Verfahren, u. a. wegen des Verdachts auf Betrug und Geldwäsche einleitete, wurde so lange verschleppt und taktiert, bis der Beschuldigte 2019 leider per Attest seiner Ärzte für verhandlungsunfähig erklärt werden musste.


Endgültig zur „Lichtgestalt“ war Beckenbauer verklärt worden, als es ihm gelang, die WM 2006, das „Sommermärchen“, nach Deutschland zu holen. Dass er dabei Schmiergelder in Höhe von mindestens zehn Millionen Schweizer Franken auf Unternehmenskonten des mächtigen katarischen FIFA-Funktionärs Mohamed bin Hammam verschob, der für die nötigen Stimmen gegen den Mitbewerber Südafrika sorgte, tat seiner Popularität ebenso wenig Abbruch wie die Enthüllung, dass der Münchner, nach eigener Legende ehrenamtlich für den DFB tätig, tatsächlich 5,5 Millionen Euro von Wettanbietern kassiert hatte. Die katarische Connection erwies sich als stabil: Jahre später wurde Beckenbauer beschuldigt, bei der Vergabe der WM 2022 zugunsten des Wüstenemirats getrickst zu haben.


Berichte von Menschenrechtsorganisationen über die sklavenähnliche Situation der Arbeitsimmigranten in der arabischen Diktatur konterte der
als Menschenfreund verkannte Franz B. mit launiger Ignoranz: „Ich habe noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen, also die laufen alle frei rum, weder in Ketten gefesselt und auch mit irgendwelcher Büßerkappe am Kopf, also das habe ich noch nicht gesehen.“ Tausende Arbeiter aus armen Ländern des globalen Südens starben beim Bau der WM-Stadien und Gastunterkünfte.


Außenseiter im Fußballgeschäft


Und jetzt war der Unsterbliche doch gestorben und nahm wie durch Magie die dunklen Flecken auf seiner strahlend weißen Weste mit ins Grab. Der FC Bayern richtete in der Allianz-Arena eine Trauerfeier aus, die eines Kaisers (so der ehrfürchtige Spitzname) würdig war. Und alle kamen, neben der Sportprominenz, darunter die vorbestraften Vereinskollegen Rummenigge (Uhrenschmuggel) und Hoeneß (Steuerbetrug), natürlich vor allem die Spitzen der Politik, die zu allem ziemlich wenig zu sagen hatten, von diesem Vorrecht dafür aber ausgiebig Gebrauch machten: Bundeskanzler Olaf Scholz, Präsident Frank Walter Steinmeier und vor allem der Landesvater Markus Söder, der Beckenbauer als einen „der allergrößten Bayern und Deutschen“ pries. Armes Bayern, armes Deutschland!


Wetten, dass Christian Streich dereinst nach seinem Ableben keine solche Lobhudelei erfahren wird, obwohl er doch sehr viel mehr Bedenkenswertes und Analytisches in der Öffentlichkeit gesagt hat als der Kaiser (wie die nach höchstem Pomp süchtigen Verehrer Beckenbauer titulierten).
Seit zwölf Jahren ist Christian Streich Cheftrainer des SC Freiburg, eine Zeitspanne, die im Profi-Fußball wie eine Ewigkeit anmutet. Als Mittelfeldspieler hatte der Südbadener zuvor für die Stuttgarter Kickers, für Freiburg und den FC Homburg in der ersten und zweiten Bundesliga eher überschaubares Talent gezeigt, als Coach eines der ärmeren Bundesligavereine aber bewies er so viel taktisches Geschick und Einfühlungsvermögen, dass er mit seiner eher bescheidenen Truppe meist die Klasse hielt und sie sogar in die lukrativen internationalen Cup-Wettbewerbe führte.


Zwar genießt Freiburg, darin Union Berlin, dem FC St. Pauli oder dem FC Heidenheim ähnlich, bundesweite Sympathien ob seines Underdog-Status, doch sollte man nicht vergessen, dass auch dort der Verein in erster Linie ein Wirtschaftsunternehmen ist, das Millionen umsetzt und mit sportlichem Erfolg Mehrwert generieren soll. Aber offensichtlich gibt man in diesen kleineren Klubs humanitäre Einstellung und Kritikfähigkeit nicht in der Garderobe ab, wie es bei den Showgiganten Bayern und Dortmund oder dem Retortenteam RB Leipzig üblich zu sein scheint.


Schon seit Jahren warnt Streich vor der Gefahr von rechts, ruft dazu auf, die AfD zu stoppen und nimmt an Demos teil. Schon 2015 kritisierte er die irrationalen Befürchtungen angesichts der „Flüchtlingswelle“: „Jetzt geht es darum, dass man sich den Menschen öffnet, dass man sie empfängt, dass man Ängste abbaut.“ Ein Jahr später verurteilte er den Versuch der Rechtsradikalen, den Mord an einer Studentin für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: „Mir wurde mitgeteilt, dass ein Mensch aus der AfD den Vater von der Maria, der dieses Furchtbare erleben musste, als pathologisch bezeichnet hat, weil er vor dieser Tat Flüchtlinge unterstützt hat. Dass in diesem Land jemand einer als demokratisch eingeordneten Partei zugehören darf, und jemand noch verhöhnen darf, der so etwas erleben musste, da sehen Sie, was los ist.“


Im vergangenen Jahr charakterisierte er in seinem knorrigen Badener Zungenschlag den Zustand des Fußballs und des Landes kurz und treffend. Ein zerstörerischer „Neokapitalismus“ erzeuge in Sport und Gesellschaft immensen Druck. Großkonzerne seien in der Lage, Staaten zu erpressen.“


Seine Aufforderung, an den Massendemos gegen die AfD vor wenigen Tagen teilzunehmen, klang ganz anders als die routinierten Appelle diverser Politiker: „Es kann mir keiner kommen und sich als Protestwähler bezeichnen. Es soll mir keiner rumjammern, wenn er hinterher von einer rechtsnationalen Partei autokratisch regiert wird.“


Wert in den Zeiten der Gleichgültigkeit


Solche Statements hätte man von der ätherisch lavierenden, klare Aussagen stets geschickt umschiffenden Kultfigur Beckenbauer sicherlich nie gehört. Tatsächlich erregte Streich mit seinen für einen Vertreter des Showbusiness (denn hierzu gehört der Profi-Fußball) unkonventionellen Einlassungen einiges mediales Aufsehen, das aber wohl nicht allzu lange vorhalten wird.


Die Unterhaltungsindustrie im Kapitalismus arbeitet vornehmlich mit Stars, die aufgrund körperlicher Vorzüge, motorischer Geschicklichkeit oder musischer Talente ein Publikum ablenken und anturnen können.

Stellungnahmen zur realen Welt oder gar eigene Meinungen werden von ihnen nicht erwartet, sie sollen lieber Bikini-Fotos, Glamour-Klatsch aus der In-Szene oder die Einnahme vergoldeter Steaks an Arabiens Küsten posten. Redet dann aber wirklich mal Eine/r Sinnvolles oder fordert Mitdenken von den Fans/Ultras/Hooligans, dann hofft die Führungsetage bang, er werde doch nicht Teile der Klientel, zu der natürlich auch AfD-Anhänger zählen, verprellen – das Geld der letzteren riecht schließlich auch nicht.


Christian Streich aber hat es inzwischen geschafft, sich als enfant terrible im glatten Kommerzbetrieb zu etablieren, sein Klartext genießt derzeit weithin Respekt. Zu längerem Nachruhm wird das aber nicht reichen, hat er doch nie so gut Fußball gespielt wie Franz Beckenbauer.
01/2024
Dazu auch:
Fußball über Gräbern im Archiv der Rubrik Medien (2021)
Bayern schämt sich im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2014)








Blender an die Spitze


Am Ende eines Jahres wird gewöhnlich durch Umfragen geklärt, welche heimischen PolitikerInnen in der Gunst der Deutschen gestiegen bzw. gefallen sind. Dieser Brauch wurde auch kurz vor dem Hinscheiden des grauenerregenden 2023 n. Chr. wieder gepflegt, und die Ergebnisse verstärken die in den letzten zwölf Monaten gewachsenen Zweifel daran, ob unsere Spezies in ihrer Mehrheit noch die Bezeichnung homo sapiens (etwa „verstehender, gescheiter, vernünftiger Mensch“) beanspruchen darf.


Ampel-Heroen im Sinkflug


Zwar erhielten die mit Vorschusslorbeeren angetretenen Ampel-Männchen und -Weiblein überwiegend ihre Quittung für kopfloses, schlampiges und zunehmend unsoziales Regieren, doch werden ihnen nun einige Alternativen vorgezogen, die einem den Angstschweiß auf die Stirn treten lassen – und da bleibt das Votum für AfD-Hooligans noch unberücksichtigt. Doch sehen wir uns die Ergebnisse der wirkmächtigsten (da im bevorzugten Verlautbarungsblatt hiesiger Parteigrößen, der Bild am Sonntag) veröffentlichten Erhebung näher an.


Das Meinungsforschungsinstitut Insa hatte im Auftrag der Springer-Postille BamS gefragt, für welche Politiker die Bürger sich möglichst viel Einfluss im neuen Jahr wünschten. Wie nicht anders zu erwarten, landete Olaf Scholz als hilfloser Moderator einer wirren Regierungsrunde weit hinten: Ganze 26 Prozent der Interviewten wollten ihn noch in einer tragenden Rolle sehen. Vermutlich setzte sich diese Gruppe zu gleichen Teilen aus Sozialdemokraten mit masochistischen Neigungen und schwer Valium-Abhängigen zusammen.


Auch anderen Ampelgrößen trauten die befragten Bürger kaum mehr Handlungskompetenz zu; so kam Robert Habeck gerade noch auf 27 Prozent, während sich Porsche-Propagandist Christian Lindner mit 28 und Annalena Baerbock als unermüdlich plappernde Inge Meysel der deutschen Außenpolitik mit 29 Prozent begnügen mussten.



Über diesen thront Sahra  Wagenknecht, Shooting Star des Neo-Populismus und Scharfrichterin der Linken in Personalunion, mit 30 Prozent. Noch mehr Fans wollen das rechtskonservative Fallbeil der Union, Friedrich Merz, mit einer möglichst ungerechten Ausgestaltung der bundesdeutschen Gesellschaft beauftragen. Wer aber denkt, die künftigen Wähler hätten Inhalte und Intentionen der möglichen ChefInnen damit gebührend vernachlässigt, sollte sich erst mal das Spitzenduo der Umfrage ansehen.


Ein Phönix namens Boris


Tatsächlich scheint der vielbeschworene mündige Bürger Politiker zu bevorzugen, die viel versprechen, sich in ungezügeltem Eigenlob ergehen oder Ressentiments gegen Migranten, sozial Schwache und LGBTQ-Orientierte schüren. Nicht nur die Hetzredner der AfD finden so ihr geneigtes Publikum, auch Maulhelden und Tatsachenverdreher aus den staatstragenden Parteien dürfen in der Öffentlichkeit allerlei Ungereimtes von sich geben, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Zuhörer zum Faktencheck schreiten. Zwar sind durch das Internet der Zugang zu Hintergrundinformation und seriöser Recherche wesentlich erleichtert worden, doch verlassen sich die Adressaten der Propaganda lieber auf die Bestätigung eigener Vorurteile und den Glamour reißerischer Halb- und Viertelwahrheiten.


Wie lässt sich sonst erklären, dass Boris Pistorius, der wie ein Phönix aus der Urnenasche der daniederliegenden SPD jäh in der Gunst von Medien und Polit-Konsumenten stieg, nun die Person ist, die mit 42 Prozent Zustimmung die Wunschliste der von Insa Befragten anführt. Gut, der Mann hat bislang nichts Gravierendes falsch gemacht, erreicht hat er aber auch nichts, und einige seiner Äußerungen klingen grenzwertig bis realitätsfremd.


Dass ein Verteidigungsminister Waffen, Geld und noch mehr Geld von seiner Regierung fordert, gehört zu den stets wiederkehrenden Übungen im Kriegsressort. Scheinbar drangen aber die zarten Damenstimmen seiner drei Vorgängerinnen, die dasselbe taten, beim Volk nicht durch, für solche Plattitüden braucht es schon das kernige Organ eines sich zunehmend militaristisch aufführenden ganzen Kerls. Weil er sich dennoch wegen des Verbots der Verfassungsrichter, die Bundesschulden nach Gusto zu erhöhen, nicht durchsetzen wird, hat Pistorius einen neuen Kriegsschauplatz eingeweiht (während er das Ende der peinlichen deutschen Westafrika-Mission eher wortkarg begleitet): Es sei ein Fehler gewesen, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen.


Allerdings folgten ihm nur wenige Kollegen bei der Einschätzung, die deutsche Jugend solle wieder zu den Waffen eingezogen werden und in einer Zeit, in der es für Schulabgänger ohnehin wenig finanziellen Spielraum gibt, eine Familie zu gründen und sich eine angemessene Wohnung leisten zu können, wertvolle Monate bei Kriegsspielen verlieren. Also ruderte Pistorius wacker zurück und brachte das schwedische Musterungsmodell ins Spiel: Alle werden registriert und auf Tauglichkeit geprüft, zum Barras gehen müssen sie aber nicht – eine Dating-Kür ohne Verpflichtungen.


Kaum etwas hat man vom neuen SPD-Star über die Gefahren gehört, die von der aktenkundig gewordenen Unterwanderung der Spezialeinheiten und des Offizierskorps der Bundeswehr durch Rechtsextremisten ausgehen. Es ist aber nicht anzunehmen, dass all die Identitären, Prepper und „Reichsbürger“ in deutschem Waffenkleid bei seinem Amtsantritt die Truppe fluchtartig verlassen haben.
Im Grunde ist Boris Pistorius lediglich durch kantige Bestandsaufnahmen und bellizistische Forderungen, die etwa die Kriegsertüchtigung des Landes beinhalteten, aufgefallen. Wirklich geleistet hat er bislang wenig. Das lässt sich von seinem schärfsten Verfolger auf der Beliebtheitsskala, dem 41 Prozent das Schicksal des Landes anvertrauen wollen, nicht behaupten: Markus Söder hat sich im Verlauf der Jahre einiges geleistet.


Der Verwandlungskünstler


Wenn man den bayerischen Ministerpräsidenten für etwas loben muss, dann für seine Fähigkeiten, blitzschnell die Meinung zu wechseln, grobe Fehler zu strahlendenden Erfolgen umzuwidmen, sein „Geschwätz von gestern“ zugunsten frischer Kurzzeit-Erkenntnisse zu vergessen, eigene Ankündigungen (denen selten Taten folgen) prominent zu platzieren und stets mit verdeckten Karten (im Freistaat nennt man das „hinterfotzig“) zu spielen. Einige Beispiele gefällig?


Als sein damaliger Chef Seehofer den Umbau des Allgäuer Naturschutzgebietes am Riedberger Horn zur Skischaukel für Massentourismus forcierte, sprang ihm der damalige Wirtschaftsminister Söder bei: „Der Alpenraum ist kein Denkmal, ist keine Verbotszone für Bürger.“ So begründete der Wandelbare den Verstoß gegen Landes- und EU-Recht, demzufolge das Habitat zur Kategorie der am striktesten geschützten Biotope zählt. Erst als der Widerstand gegen das Projekt wuchs und Söder, jetzt als Ministerpräsident, seine ökologische Phase durchlief und sich sogar den Grünen (die jetzt wieder seine Erzfeinde sind) andiente, liquidierte er das Vorhaben.


Mittlerweile ist er zum strengen Rechtskurs zurückgekehrt. Dass Bayern bundesweit bei der Bodenversiegelung führt, ficht ihn nicht an, wie ihn auch seine argumentative Achterbahnfahrt, den Windkraft-Ausbau betreffend, längst nicht mehr stört. Als die 10H-Regelung die Errichtung neuer Anlagen im Freistaat praktisch verhinderte, argumentierte Söder bei Anne Will, seine Landesregierung bevorzuge Photovoltaik, weil es im Süden der Republik zu wenig Wind gebe, dafür die Sonne oft scheine. Während seiner Tändelei mit den Grünen protzte er dann damit, dass Bayern nun auch bei der Windkraft bald die Nummer Eins in der Republik sein werde. 


Seltsamerweise belegt es aber auch heute noch – gemessen an der Bevölkerungszahl – den letzten Platz in Deutschland.
Nach dem AKW-GAU von Fukushima spürte Söder instinktiv die zunehmende (und heute wieder vergessene) Furcht der Bevölkerung vor einer unbeherrschbaren und teuren Technologie und forderte als erster C-Politiker den Ausstieg aus der Atomenergie. Jetzt will er die Kernkraftwerke wieder anwerfen. Als es um die Stromversorgung Bayerns aus niedersächsischen Windkraftanlagen ging, wetterte er gegen „Monstertrassen“ und verzögerte den Bau von Hochspannungsleitungen nach Kräften. Inzwischen jammert er, dass sein Bundesland von den Nordlichtern im Stich gelassen werde.


Von dem einstigen Hitler-Fan Aiwanger distanzierte er sich mannhaft – aber erst, nachdem er gemeinsam mit diesem auf der Kundgebung in Erding vor AfD-Anhängern Hasstiraden gegen die Ampel und ihre Politik („Zwangsgendern“, „Heizungsideologie“) zum Besten gegeben hatte. Aber manchmal kann Markus Söder auch ganz leise sein, etwa wenn man ihn auf sein Versprechen von 2018, 10.000 neue Wohnungen bis Anfang 2025 zu bauen, anspricht. Dann verzichtet er darauf zu erklären, warum nächstes Jahr nur etwa 7 Prozent davon bezugsfertig sein werden. Und er äußert sich auch nicht dazu, dass er Jahre zuvor als Finanzminister nach der Hypo Alpe Adria-Pleite seiner Landesbank 32.000 Wohnungen im Staatsbesitz an Investoren verscherbelt hat. Aber, wird er sagen, das Versprechen hat doch gut geklungen.


Auch zu der Mega-Panne beim Bau der S-Bahn-Stammstrecke in München schweigt er eisern. Hauptverantwortlich für das Desaster, dessen Milliardenkosten sich vervielfacht haben und das wohl erst gegen Ende der 2030er Jahre freie Fahrt für ÖNPV-Kunden zulässt, waren die bayerische Staatsregierung und die Stadt München. Als bei der Staatskanzlei 2021 ein Brandbrief deswegen einging, empfahl diese, das Thema einstweilen wegen seiner Brisanz ruhen zu lassen. Söder wollte nämlich gerade Bundeskanzlerkandidat der Union werden.


Alles vergeben und vergessen? Es scheint so, zumal es zur Historie Deutschlands gehört, dass hier (aber nicht nur hier) die Erinnerungen an (Un)Taten und Versäumnisse recht schnell verblassen. Wenn aber die Wähler aufgrund ihres kurzen Gedächtnisses keine rationalen Gründe für ihre Entscheidung haben, verlassen sie sich gern auf den schönen Schein, eine dumpfe Kumpelhaftigkeit und/oder einen gewissen Unterhaltungswert. Unsere beiden Spitzenreiter sammeln in diesen Disziplinen offensichtlich Pluspunkte. Und zumindest einer von ihnen könnte das Kanzleramt anstreben. Nochmals, auch wenn er wieder einmal erklärt hat, dass er seine Zukunft in Bayern sieht. Aber das mit dem Geschwätz von gestern kennt man/frau ja allmählich…
01/2024
Dazu auch:
Hofberichterstattung im Archiv der Rubrik Medien (2023)
Milliardengrab Süd (2023) und Die rechte Haltung (2019) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Lumpaci & Vagabundus im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2016)




2023


Berliner Trickbetrüger


Binnen weniger Tage bescheinigten zwei Gerichte der Ampel-Regierung in Berlin, rechtswidrig gehandelt zu haben. Was beide Fälle kennzeichnete, ist der Umstand, dass jedes Mal das Kabinett gegen von ihm selbst implementierte oder novellierte Gesetze verstoßen hat. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts untersagte das geräuschlose Verschieben von 60 Milliarden Euro, die ursprünglich Corona-Folgen abmildern sollten, unter andere Hütchen; das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg wiederum stellte fest, dass die Bundesregierung unzulässig die Versäumnisse zweier Ministerien beim Klimaschutz unter den Teppich gekehrt hatte, statt sie zu korrigieren. Mag die Umwidmung der Milliarden in den Medien auch umfangreicher abgehandelt worden sein, das Versagen im Kampf gegen die Erderwärmung belegt die Prinzipienlosigkeit der Ampel noch treffender.


Pannen? Tricks? Rechtsbruch?


Weder Entschuldigungen noch Erklärungen zum Scheitern des Versuchs, ein stattliches Sondervermögen ohne ausreichend stichhaltige Begründung für völlig andere Zwecke auszugeben, waren aus dem Kabinett oder vom Kanzler zu hören. War halt eine handwerkliche Panne, verantwortet von irgendwelchen Ministerialbeamten. Außerdem hätte man auch Glück haben können, dann wäre die Finanz-Rochade höchstrichterlich durchgewunken worden.


Tatsächlich haben in der Vergangenheit Bundes- und Landesregierungen erhebliche Mittel stillschweigend in nicht vorgesehene Projekte gesteckt oder Lücken damit gefüllt, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Unionsfraktion im Bundestag, die in Karlsruhe geklagt hatte und nun triumphiert, sollte sich aber daran erinnern, wie geräuschlos der Fünf-Milliarden-Verlust der bayerischen Staatsbank (und damit des Freistaats) nach dem tölpelhaften Kauf der österreichischen Hypo Alpe Adria unter einem Finanzminister Söder irgendwie ausgeglichen wurde…


Nun haben sich die Richter des Zweiten Senats vor allem auf die formaljuristischen Vorgänge konzentriert und haarsträubende Fehler gefunden, aber die inhaltliche Notwendigkeit, Maßnahmen gegen die Klimakrise zu unternehmen und deren Folgen durch eine teilweise Aufhebung der Schuldenbremse abzufedern, nicht weiter geprüft. Dabei hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts 2021 festgestellt: „Ein unbegrenztes Fortschreiten von Erderwärmung und Klimawandel stünde nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.“ In der Süddeutschen Zeitung kommentierte Heribert Prantl das jetzige Urteil, das quasi den Schutz der Umwelt von finanziellen Ressourcen abschneidet, so: „Die Zukunftsvorsorge, der Zukünftigenschutz, wird auf diese Weise reduziert auf die Stabilisierung des Schuldenstands der öffentlichen Hand … Der Zweite Senat konterkariert den Ersten Senat.“


Vielleicht hätten die Richter es ja bei der Verpflichtung zu Modifikationen und Nachbesserungen belassen können, statt das ganze Vorhaben zu canceln und so de facto Mittel – etwa für den Klimaschutz – zu sperren, aber möglicherweise trauten sie den Ampelkoalitionären keine ehrliche Reue sowie ordentliche Nachbesserung zu. Und angesichts des Urteils im zweiten Fall muss man diesen Bedenken eine gewisse Berechtigung einräumen.


Die Ampel verspielt Optionen


Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) hatten geklagt, weil die jetzige Regierung das Bundes-Klimagesetz, 2019 noch unter Angela Merkel beschlossen und in den folgenden Jahren mehrmals novelliert, nicht korrekt umsetzte. Beide Verbände forderten Sofortmaßnahmen in den Bereichen Verkehr und Gebäude, wo die Einsparungsvorgaben für Emissionen nonchalant missachtet worden waren.


Die einzelnen Bundesministerien wurden im Gesetz nämlich verpflichtet, in ihrem jeweiligen Sektor Einsparungsmaßnahmen durchzusetzen, damit die nationale Vorgabe, bis 2030 die Emissionen um mindestens 65 Prozent zu reduzieren, eingehalten werden könne. Vor allem dem FDP-Verkehrsminister Volker Wissmann, dessen Ressort für ein Gutteil des Schadstoffausstoßes zuständig ist, waren solche Gebote ziemlich egal. Wie auch SPD-Bauministerin Klara Geywitz legte er 2021 einen windelweichen Entwurf für ein Sofortprogramm vor, den der vom Bund beauftragte Expertenrat für Klimafragen als „unzureichend“ in der Luft zerriss. Daraufhin geschah – gar nichts!


Die Gesetzgeber hatten es nämlich versäumt, Konsequenzen für den Fall ministeriellen Versagens zu beschließen, also blieben die Übeltäter durch Unterlassung unbehelligt. Nun aber folgte das Berlin-Brandenburger Gericht der Argumentation der Kläger, dass die Bundesregierung sofort nachsteuern müsse. „Klimaziele sind nicht verhandelbar, sie sind einzuhalten“, hatte BUND-Chefin Antje von Broock nach der Urteilsverkündung kategorisch festgestellt.


Tödliche Stümpereien


Was für eine Blamage für eine Koalition, in der mit den Grünen laut Eigeneinschätzung die politische Umweltschutz-Avantgarde sitzt und die vom selbsternannten „Klimakanzler“ Scholz angeführt wird, der aber inzwischen ins Meer der Unverbindlichkeit abgetaucht ist. Da hat der FDP-Minister Volker Wissing Kabinettsvereinbarungen unterlaufen, den Eid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, gebrochen und einiges dafür getan, dass die Klimaziele verfehlt werden – und seine RegierungskollegInnen müssen von Richtern auf die Verfehlungen, die im Fall der Klimaerwärmung mittelfristig Menschenleben kosten werden, hingewiesen und zur schnellen Abhilfe verurteilt werden.


DUH-Chef Jürgen Resch frohlockte bereits, nun werde endlich ein Tempolimit möglich, mit dem sich jährlich 11 Millionen Tonnen CO2 einsparen ließe. Außerdem müssten klimaschädliche Subventionen wie die Diesel- und Kerosinförderung sowie das Dienstwagenprivileg abgeschafft werden. Tatsächlich könnte Minister Wissing so seine miese Bilanz, die vor allem durch Landschaftsbetonierung für weitere Autobahnkilometer und seinen Einsatz für nutzlose E-Fuels gekennzeichnet ist, aufbessern. Aber die FDP als Partei der frei rasenden SUVs wird sich wehren, und Resch hat sich womöglich zu früh gefreut.


Denn die Ampel bevorzugt vermutlich trotz der gerichtlichen Mahnung zur Eile die Verzögerungstaktik, indem sie Revision einlegen wird.

Außerdem bereitet die Koalition eine Korrektur des Klimaschutzgesetzes vor, durch die Umwelt-Delinquenten wie Wissing und Geywitz quasi rückwirkend amnestiert würden: Die Sektorziele sollen wegfallen, nur noch das Gesamtergebnis zählt. Damit wäre kein Minister mehr für (fehlende) Einsparungen an Emissionen in seinem Zuständigkeitsbereich verantwortlich, die Kontrollen in den einzelnen Bereichen entfielen, und – wie praktisch! – Sofortprogramme müssten nicht mehr aufgelegt werden.


Früher trugen die Grünen Kröten über die Straße, jetzt schlucken sie gigantische Exemplare dieser Spezies um des liebgewonnenen Machterhalts willen. Die Ampel gleicht in ihrem Vorgehen mittlerweile einer skrupellosen Gang: FDP und SPD berauben die Klimapolitik per Trickbetrug jeglicher Substanz, und die Grünen stehen dabei Schmiere.
12/2023

Dazu auch:

Braver Trotzkopf (2023) und Artenschutz à la FDP (2022) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Gas- und Waffenmakler im Archiv der Rubrik Medien (2023)







Ampelfalken


Als die elegantesten Raubvögel gelten seit jeher Falken. Schon im Mittelalter wurden sie vom Ritteradel zur Beizjagd abgerichtet, noch heutzutage zahlen arabische Emire Unsummen für ein schönes Exemplar, und der Wanderfalke ist das schnellste gefiederte Wesen auf (oder besser: über) der Erde. In seiner Unfähigkeit, der Fauna treffende Synonyme für humane Charaktere zu entlehnen, benennt der Mensch nach den edlen Greifen ausgerechnet PolitikerInnen, die sich durch besonders martialisches Gehabe und die dazu gehörigen Scheuklappen auszeichnen. Diese sind zwar nicht so effektiv und nützlich wie Falken, aber sie können mittels ihrer Zungen ziemlich viel Unheil anrichten, wie die kurze Geschichte der Ampelkoalition belegt.


Der Habeck des Alten Testaments


Kein Zweifel, die globale Balance zwischen Krieg und Frieden, deren Erhalt eigentlich immer und fast überall eine heikle Angelegenheit ist, stellt sich derzeit als besonders gefährdet dar: Putins Aggression gegen die Ukraine, die Massaker der Hamas-Terroristen und Israels Militärschläge, die weder Zivilisten noch soziale Infrastruktur im Gazastreifen verschonen, lassen allerorten Wut, Verzweiflung und Rachegefühle hochkochen. Und wenn sich Politiker hierzulande nach Action sehnen, aber nur verbal aus der dritten Reihe reagieren können, demonstrieren sie wenigstens ihre Wortgewalt vor jedem greifbaren Micro.


Als entschlossene Falken mit erstaunlich detaillierten Waffenkenntnissen outeten sich so in der Berliner Etappe Anton Hofreiter (Grüne) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). Von ganz anderem Kaliber aber sind – schon qua Amt - Verteidigungsminister Boris Pistorius, letzte sozialdemokratische Hoffnung vor dem Highway to Hell, und der Chef des Wirtschaftsressorts, Robert Habeck, der sich mit kriegerischen Sprüchen aus dem von ihm mitverantworteten Wirrwarr des  kaum praktikablen Heizungsaustauschs und des weltweiten Ankaufs dreckiger Energien in die Heldensaga flüchtet.


Vor allem der Grüne zeigte unlängst, dass ihn das große Wort wichtiger dünkt als die nüchterne Vernunft, die zu Verhandlungen rät. In der normalerweise redundanten und eitlen Talkrunde des österreichischen Entertainers Markus Lanz hörte man von der deutsch-amerikanischen Jüdin Deborah Feldman erstaunlich reflektierte und verantwortungsbewusste Ansichten. So machte sie sich die Forderung von israelischen Geiselangehörigen nach einem Ende der Gewalt im Gazastreifen zu eigen. Die ignorante Argumentation, mit der die Netanjahu-Regierung in Jerusalem den Feldzug gegen die Hamas ohne Rücksicht auf Verluste fortsetzt, konterte sie mit dialektischem Scharfsinn: „Es wurde immer wieder gesagt, es gäbe keinen Kontext, keine Rechtfertigung, keine Erklärung für diese Gewalt gegen Israel. Im selben Atemzug wird gesagt, es gibt einen Kontext für die Gewalt gegen Palästinenser. Aber wir können nicht auf beiden Hochzeiten tanzen. Entweder gibt es keine Rechtfertigung der Gewalt gegenüber Zivilisten, oder wir müssen immer über den Kontext reden".


Ungerührt beschied der deutsche Falke Habeck den Denkanstoß von Feldman, der eine Erweiterung des eingeengten deutschen Blickfelds bedeutet hätte, abschlägig: „Ich glaube, es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden." Da scheint der Grüne geistige Anleihen bei großen Vorbildern genommen zu haben, dem Buch Prediger im Alten Testament oder dem Songwriter Pete Seeger, der 1959 aus den Bibelversen das Lied Turn! Turn! Turn! machte, oder bei den Byrds, die damit 1965 die Spitze der US-Charts erklommen. In dem Stück heißt es: To everything there is a season/ A time to kill, a time to heal ... Wann die Zeit für Krieg und Töten gekommen ist, bestimmen demnach allein Jehova oder seine Prediger – oder eben Robert Habeck.


Womöglich möchte der Kinderbuchautor Habeck ins schwere Fach wechseln und plant nach der Bibel und Tolkiens „Herrn der Ringe“ ein weiteres mythologisches Universalepos. Aber wenn er schon beim AT abkupfert und kategorisch erklärt, dass gerade keine Zeit für Friedensverhandlungen sei (obwohl man doch eigentlich ständig über Frieden reden und ihn durchsetzen müsste), sollte er sich wenigstens die letzten Worte von Turn! Turn! Turn! näher anschauen, denn dort heißt es – auch zu seiner Läuterung: A time for peace, I swear it's not too late.


Strammstehen vor Pistorius


In solch lichten Höhen metaphysischer Sinnsuche bewegt sich Habecks Kabinettskollege Boris Pistorius nicht gerade. In der TV-Sendung Berlin Direkt erklärte er in typischem, aber leider missverständlichem Kommiss-Deutsch, Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ werden, mental und materiell. Ein Versehen? Keineswegs, denn der wehrhafte Sozialdemokrat wiederholte die Forderung bei der Vorstellung der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, ersetzte nur ab und zu das fragwürdige Adjektiv durch das nicht minder anrüchige „kriegsfähig“.


Früher waren deutsche MinisterInnen, denen die Aufsicht über die Bundeswehr oblag, wesentlich vorsichtiger in ihrer Wortwahl gewesen und hatten stets angemerkt, dass es um die Stärkung der Verteidigungsbereitschaft gehe. Pistorius ist aber offenbar aufgefallen, dass sich die in Afrika und Afghanistan eingesetzten deutschen Soldaten als nicht so recht tauglich für den bewaffneten Konflikt erwiesen hatten. Folglich interpretiert er nach der Parole „Angriff ist die beste Verteidigung“ die eigene Rolle nun offensiv und möchte wohl das ganze Land zur geistigen wie waffentechnischen Generalmobilisierung aufrufen.


Ausnahmsweise muss man dem konservativen Journalisten Christoph Schwennicke (einst CICERO-Chef, jetzt für t-online-news verantwortlich) stellenweise beipflichten, wenn er die Diktion von Pistorius seziert: „Kriegstüchtig zu sein impliziert aber auch, einen Angriffskrieg führen zu können und zu wollen. Pistorius hat mit diesem Begriff die ganze Tradition der Bundeswehr über den Haufen geredet.“ Sich für etwas zu ertüchtigen, heißt, sich fit zu machen für eine Tätigkeit oder eine Aufgabe. Die Zusammenführung von Übung und Ziel suggeriert etwas Positives, so wie Leibesertüchtigung die Gesundheit stärken soll.


Man könnte meinen, wir würden dazu aufgefordert, uns frohgemut auf den nächsten Krieg vorzubereiten, um im Angriff auf fremdem Boden wie in der Vaterlandsverteidigung unsere gute Form zu beweisen. Andere Länder haben diese Art deutscher Kriegstüchtigkeit in der Vergangenheit zur Genüge kennengelernt…


Rhetorisches Trommelfeuer


Als wolle eine heillos zerstrittene und erfolglose Regierung durch bellizistisches Getöse von ihrer alltäglichen Malaise ablenken, ergehen sich die letztgenannten Minister und einige KollegInnen in Durchhalteparolen und Anfeuerungsappellen für alliierte Kriegsparteien. Wer die Notwendigkeit von Verhandlungen, Feuerpausen oder gar Friedensinitiativen auch nur zu erwähnen wagt, macht sich der Fahnenflucht aus dem westlichen Lager verdächtig. Dabei wird hierzulande glatt übersehen, dass der große Verbündete in Washington seit einiger Zeit selbst zu Mäßigung und Gesprächen aufruft.


Dem militaristischen Rigorismus, der im Parlament und in weiten Teilen der Presse vorherrscht, verleiht der salbadernde Bundespräsident die offiziellen Weihen der höheren Einsicht. Wer allerdings die erstaunlich gleich klingenden Reden und Statements von Ampel und Union auf den Sinngehalt hin überprüft, wird feststellen, dass in den staatsmännisch verbrämten Verlautbarungen, etwa zum Gaza-Krieg, die Essenz jeglicher Abwägung, also das Pro und Kontra oder der Abgleich von These und Antithese verlorengegangen sind.


Das Bildungsbürgertum beklagt oft und gern die Verrohung der Sprache und macht diesen Qualitätsverlust vor allem an grammatikalischer und syntaktischer Willkür sowie am eigenwilligen Import neuer Modewörter durch Jugendliche fest. Den Sprachschützern sei geraten, sich weniger um „Migranten-Deutsch“, „Kiezsprache“, "Denglisch" oder „Ghetto-Slang“ zu sorgen als vielmehr um die unzulässige Simplifizierung komplexer Inhalte und gleichzeitige Diffamierung besonnener Gegenmeinungen durch Politiker und Journalisten, wenn Deutschland verbal in den Krieg zieht.
11/2023
Dazu auch:
Schuld und Rache in der Rubrik Medien
Dabeisein ist alles im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2023)







Schuld und Rache


Lange Zeit habe ich gezögert, etwas zum Überfall der Hamas-Milizen auf israelisches Kernland und die sich daraus ergebenden unabsehbaren Konsequenzen zu schreiben. Zu schnell überschlagen sich die Ereignisse, zu groß schien mir die Gefahr, durch den Versuch einer differenzierten Einschätzung einen Shitstorm heraufzubeschwören, der unzulässigen Verkürzung historischer Ereignisse bezichtigt oder von der einen oder anderen Seite schlimmer Sym- bzw. Antipathien verdächtigt zu werden. Doch zu diesem menschengemachten Erdbeben, das nicht nur den Nahen Osten erschüttert, darf man nicht schweigen, will man/frau nicht den politischen Krisengewinnlern, den rechten Profiteuren und den furchtbaren Vereinfachern also, das Feld überlassen.


Die schrecklichen Fakten


Als die Kämpfer der Hamas in Israel eindrangen, taten sie es nicht, um bewaffneten Widerstand zu demonstrieren und die feindliche Armee zu beeindrucken, gar zu schwächen. Sie wollten größtmöglichen Schaden in der Zivilgesellschaft anrichten, der benachbarten Bevölkerung hohe Verluste an Menschenleben zufügen. Dies ist hemmungsloser Terror, der unterschiedslos Kinder wie auch alte Menschen opfert und die Überlebenden dauerhaft traumatisieren  soll. Alles an diesem Vorgehen ist grausam, nichts kann zur Entschuldigung akzeptiert werden. Dass der israelische Staat die fundamentalistischen Mörder bestrafen, am liebsten vernichten würde, ist angesichts von über 1400 getöteten und mehr als 200 entführten Bürgern nachvollziehbar.


Es steht allerdings zu befürchten, dass die Liquidierung der Islamisten, die sich im Gazastreifen wie der Fisch im Wasser bewegen (um einen Spruch von Mao abzuwandeln), nur gelingen kann, wenn man die zivile Infrastruktur eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde und damit die Lebensgrundlagen der dortigen Bevölkerung flächendeckend mit zerstört. Insofern sollte es nicht verwundern, dass immer mehr Staaten eine Kriegspause, einen Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen fordern. Als Hardliner erwiesen sich in den Debatten der UNO und der EU sowie in Regierungsstatements die Vertreter der Bundesrepublik, die Israel freie oder zumindest weitgehend freie Hand bei seinem Vergeltungsfeldzug lassen wollen.


Im Gazastreifen drängen sich auf 360 Quadratkilometern rund zwei Millionen Menschen, denen jegliche Fluchtmöglichkeit fehlt: Die Landgrenzen werden von Israel und Ägypten, das eine Infiltration des Sinai durch Kämpfer der Hamas, die der von Kairo verbotenen Muslimbruderschaft angehört, verhindern will, hermetisch abgeriegelt, vor den Küsten patrouilliert die Marine des jüdischen Staates. De facto gleicht der Gazastreifen einem überfüllten Freiluftgefängnis, aus dem es auch bei einem Brand kein Entkommen gibt. Selbst wenn die israelische Armee die Insassen dazu auffordert, in den „sichereren“ Süden des Gebiets zu fliehen, bedeutet dies nicht, dass dieses Terrain von Kämpfen ausgespart bleibt. Und es fragt sich, wie die Massen auf noch engerem Raum überleben sollen, wenn Energie für Krankenhäuser, Wasserwerke und Bäckereien fehlt, wenn Kommunikationsmittel und Transporte ausfallen.


Trotz der seit Generationen prekären Situation lag die Lebenserwartung der Gaza-Bewohner dreieinhalb Jahre über dem weltweiten Durchschnitt. Das dürfte sich nun bald ändern, ebenso wie die geringe Kindersterblichkeit (3,3 Prozent unter dem globalen Mittelwert). Die Bevölkerungszahl verdoppelt sich alle 15 bis 20 Jahre und das Durchschnittsalter liegt bei gut 17 Jahren. Man kann also annehmen, dass 2006, als die Hamas an die Macht gewählt wurde, eine deutliche Mehrheit der jetzigen Einwohner noch nicht geboren oder noch nicht wahlmündig war. 


Demoskopen sprechen mittlerweile von zwei Dritteln Unzufriedener, die den Islamisten Versagen in der Administration, der Sozialpolitik und der Justiz bescheinigen. Nichtsdestotrotz würden diese Menschen, die durch die Abriegelung von der Welt getrennt waren, nur die Herrschaft der Hamas, aber keine politischen Alternativen, keine sozialen Perspektiven  oder Auswege aus dem Reservat kennen, das Gros der Opfer stellen.


Und wer überlebt, wird den nächsten Generationen ohnmächtigen Hass vererben. In Israel warnen Intellektuelle, Linke, Friedensaktivisten und Kulturschaffende seit geraumer Zeit, dass die Weigerung der eigenen Regierungen, die Grundbedürfnisse und von den Vereinten Nationen garantierten Rechte der Palästinenser überhaupt wahrzunehmen, eine endlose Kette sinnloser Gewalttaten heraufbeschwört.


So ist auch die Äußerung des weltweit  als friedensbewegt anerkannten UN-Generalssekretärs Guterres zu verstehen, der eine Verurteilung des Hamas-Terrors mit dem Hinweis auf einen möglichen Grund ergänzte: Dieses Verbrechen habe „nicht im luftleeren Raum“ stattgefunden, sondern auch wegen der „erdrückenden Besetzung“ palästinensischer Gebiete. Dass jetzt ausgerechnet die Regierung Netanjahu den Rücktritt des Portugiesen von der UNO-Spitze fordert, hat einen seltsamen Beigeschmack: Wird das Kabinett doch im eigenen Land von Millionen der multiplen Rechtsbeugung und des Versuchs, die Justiz der Exekutive zu unterwerfen, bezichtigt. Auch ignorierte Israel zahllose Abstimmungen der Vollversammlung und Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (etwa die Resolution Nr. 2334 vor sieben Jahren) sowie Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs, denen zufolge der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten illegal sei.


Für die Ampel-Parteien und die Union hierzulande scheint indes die bloße Frage nach einer Ursache (nicht nach einer Entschuldigung) des hemmungslosen Hamas-Terrors schon auf Antisemitismus hinzudeuten, ein Vorwurf, der auch viele jüdische Bürger Israels, die der Siedlungspolitik äußerst kritisch gegenüberstehen, mit einbezieht.


Das kriegerische Berlin


Ob die gern bellizistisch auftretende Annalena Baerbock oder Bundeskanzler Olaf Scholz, ob Oppositionsführer Friedrich Merz oder diverse Wortführer der AfD – alle gestehen der israelischen Regierung in allen Belangen der Kriegsführung freie Hand zu; zumindest solange der Oberverbündete in Washington angesichts eines zu erwartenden Blutbades nicht zumindest teilweise zurückrudert. Das Wort „Frieden“, einst in Bonn und dann in Berlin der Dauerhit, wird gemieden, selbst dann, wenn die Staaten des globalen Südens oder EU-Partner wie Spanien, Irland oder Luxemburg es immer eifriger in den Mund nehmen.


Das hat natürlich auch historische Gründe: Ohne die Shoa, das fürchterlichste aller Menschheitsverbrechen, von Deutschen erdacht und ausgeführt, hätte sich die Situation in den 1930er und 1940er Jahren, als die verfolgten Juden in Palästina die einzige (und auch angestammte) Heimstatt sahen, wohl weniger explosiv entwickelt. So aber existierte durch den Migrationsdruck kaum Zeit, eine friedliche oder wenigstens distanzierte Koexistenz zu erreichen, und bald fanden sich viele Araber als späte Opfer des deutschen Nationalsozialismus auf der Flucht wieder.
In der jungen Bundesrepublik bekundeten die Regierungen unterdessen wortreich Reue wegen des Holocausts – und ließen heimlich Alt-Nazis, vom Gestapo-Bonzen bis zum Rassentheoretiker, in Ämtern, Ministerien der Justiz und in der Industrie an der deutschen Zukunft werkeln. Die Oberflächlichkeit, die Verharmlosung und Relativierung der nationalsozialistischen Vergangenheit verhinderten ein wirkliches Umdenken und machten Bekenntnisse zur nationalen Schuld oder Entschuldigungen bei den Opfern und Hinterbliebenen oft zu rhetorischen Pflichtübungen. Tatsächlich wurden viele Nachwachsende nie nachhaltig erreicht, was erklärt, dass sich – auch dank der mittlerweile so beliebten Verschwörungstheorien – ein latenter Judenhass auch in Teilen der jüngeren Generation halten konnte.


Um solche Versäumnisse zu kaschieren, stellen die Verantwortlichen sich heute besonders lautstark an die Seite Israels. Dass sie dessen Existenz garantieren wollen, ist zu begrüßen, dass aber die leiseste Kritik an der israelischen Politik oder Kriegsführung zu höchstoffiziellen Abmahnungen und Abstempelungen führt, darf nicht akzeptiert werden.


Die Fehler der Vergangenheit


Doch zurück zum Ort der aktuellen Ereignisse: Historisches Geschehen ist häufig ein von Irrungen, Fehlern, Versäumnissen und verpassten Chancen geprägtes Feld. Im Nahen Osten der jüngeren Vergangenheit finden sich davon besonders viele, so dass hier nur die eklatantesten erwähnt werden sollen.


Kaum hatte Israel 1948 nach der von der UN-Mehrheit beschlossenen Teilung Palästinas in dem ihm zustehenden Gebiet einen unabhängigen Staat ausgerufen, mobilisierten sechs Länder ihre Armeen, um „die Juden ins Meer zu treiben“. Auch mithilfe von Waffen aus den Staaten des Warschauer Paktes siegten die besser organisierten israelischen Truppen und erweiterten das im Plan der Vereinten Nationen vorgesehene Staatsgebiet um die Hälfte.


Nach ägyptischen Drohgebärden startete Israel 1967 einen militärischen „Präventivschlag" und eroberte im sogenannten Sechs-Tage-Krieg das Westjordanland und den Gazastreifen von Jordanien sowie den gesamten Sinai, der allerdings nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 an Ägypten zurückgegeben wurde. Die arabischen Staaten versäumten es damals, das Angebot Israels „Land gegen Frieden“ anzunehmen und das Existenzrecht des jüdischen Staates anzuerkennen. In den besetzten Gebiete begannen daraufhin jüdische Siedler Dörfer und Städte auf palästinensischem Boden zu errichten, ein Vorgehen, das vom UN-Sicherheitsrat, dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und sogar vom höchsten israelischen Gericht für illegal erklärt wurde.


Fatah-Chef Jassir Arafat erkannte, dass die Palästinenser nicht mehr auf viel Unterstützung durch die umliegenden (und zerstrittenen) arabischen Monarchien und Regimes zählen konnte, erklärte die PLO-Charta von 1964, in der zur Zerstörung des Staates Israel aufgerufen wurde, für obsolet und schrieb 1989 in einem historischen Brief an Ministerpräsident Jitzchak Rabin: „Die PLO erkennt das Recht des Staates Israel auf Existenz in Frieden und Sicherheit an.“ Sie werde „auf Terror und jede andere Art der Gewalt“ verzichten. Nach dem Palästinenser sprang auch Rabin über seinen durch die Wunden der Vergangenheit vertieften Schatten und erkannte „die PLO als die Vertretung des palästinensischen Volkes“ an. Der Weg in eine friedliche Koexistenz schien geebnet, es folgten einige wenige Jahre der Hoffnung.


Die Zweistaatenlösung schien plötzlich in greifbarer Nähe. Obwohl fundamentalistische Palästinensergruppen wie die Hamas und der Islamische Jihad sowie die fanatischen israelischen Siedler, die um das okkupierte Land fürchteten, die Einigung mit allen Mitteln bekämpften, gab es kontinuierliche Fortschritte: Arafat kehrte in seine Heimat zurück und gründete die Palästinensische Autonomiebehörde in Gaza, 1994 wurde ihm gemeinsam mit Rabin und dessen Außenminister Peres der Friedensnobelpreis verliehen.


Am 28. September unterzeichnete Rabin zusammen mit dem PLO-Führer und den Regierungschefs der USA, Ägyptens und Jordaniens das zweite Osloer Abkommen, das u. a. die palästinensische Autonomie auf das Westjordanland ausdehnte. Nur sechs Tage später wird der israelische Ministerpräsident nach der größten Friedenskundgebung, die das Land jemals erlebt hat, von dem rechtsradikalen orthodoxen Juden Jigal Amir erschossen. Als geistiger Brandstifter in jenen Tagen gilt bis heute vielen Israelis der aktuelle Regierungschef Netanjahu. In ihrer Biografie erinnert sich Rabins Witwe Leah: „Jitzchak und ich bekamen diese Schmähungen, diese Vergleiche mit faschistischen Unmenschen immer häufiger zu hören, je mehr der Friedensprozess an Dynamik gewann. Auf einer Demonstration in Jerusalem einen Monat zuvor hielt Benjamin Netanjahu am Zionsplatz eine Rede, während irgendjemand ganz in seiner Nähe ein Bild, das Jitzchak in Naziuniform zeigte, vor einer laufenden Fernsehkamera hin- und herschwenkte.“


Damit endete de facto der Friedensprozess. Keine israelische Regierung danach nahm die Zweistaatenlösung noch ernst. Der Siedlungsbau in den 1967 besetzten Gebieten gedieh, zerschnitt das Westjordanland mittels Enteignungen der ursprünglichen Bewohner, willkürlich gezogenen Sicherheitsgrenzen und Zugangskorridore in unzusammenhängende Parzellen. Mittlerweile besiedeln rund 700.000 Israelis Land, auf das sie weder nach internationalem noch nationalem Recht Anspruch haben. Die Palästinensische Autonomiebehörde verkam nach Arafats Tod zu einer ineffektiven und als korrupt verschrienen Bürokraten-Clique, während die Hamas aufgrund ihrer brutalen Kompromisslosigkeit, die von desillusionierten und fanatisierten Habenichtsen gefeiert wurde, an Macht gewann.


Service für die Rechten


Vor Arafats Schwenk zum Frieden hin hatten israelische Regierungen die Anfänge der Hamas wohlwollend begleitet, um die PLO zu schwächen. Peter Philipp, der 23 Jahre lang aus Israel für den Deutschlandfunk berichtet hatte, ehe er Chefkorrespondent für die Deutsche Welle wurde, resümierte 2016:  „Ironischerweise wurden sie dabei von Israel nicht nur geduldet, sondern auch indirekt unterstützt. Denn Israel sah in den Islamisten damals ein populäres Gegengewicht zur seinerzeit noch auf offenen Kampf gegen Israel eingeschworenen PLO. Eine Einschätzung, die Israel später bitter bereuen sollte.“


Was immer die Hamas mit den Massakern am 7. Oktober perspektivisch bezweckt hat, eines hat sie mit Sicherheit erreicht: Weltweit verschafft sie den Rechten, die sich ohnehin mit ihrer xenophoben Propaganda auf dem Vormarsch befinden, weiteren Aufwind und viel Stoff für krude Scheinargumente. Wie viel Mut ist heute erforderlich, sich in Israel weiter für die Zweistaatenlösung einzusetzen? Welcher amerikanische Politiker könnte es sich in der jetzigen Situation noch leisten, die völkerrechtswidrige Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch Trump zu kritisieren (außer vielleicht Bernie Sanders, der sich als Antisemit diffamieren lassen muss, obwohl er mehrere Angehörige im Holocaust verloren hat)? Welchen Shitstorm würde ein EU-Parlamentarier ernten, der im Augenblick eine faire Behandlung islamischer Asylbewerber aufs Tapet bringen würde?


Wieder einmal stehen deutsche Verantwortliche mit an der Spitze der Bewegung. In geradezu 150-prozentiger Pflichterfüllung halten Regierung und Union ihre Erklärungen frei von friedensbewegten Äußerungen und schießen sich auf alle ein, die zwar nicht am Recht Israels auf einen Militärschlag gegen die Hamas, aber an der Sinnhaftigkeit des Vorgehens gegen eine hilflose Bevölkerung leise Zweifel anmelden. Der Hinweis, man solle auch die Vorgeschichte des Konflikts berücksichtigen (nicht zur Entschuldigung des Terrors, sondern zum Verstehen seiner Genese), trägt unweigerlich den Vorwurf des Antisemitismus ein. Auf der Strecke bleibt jegliche Differenzierung. Die 1400 von der Hamas Ermordeten beherrschen zurecht die TV-Nachrichten und Presse-Schlagzeilen; warum aber werden die zumeist zivilen Menschenverluste der israelischen Luftschläge im Gazastreifen (vermutlich ein Vielfaches der Hamas-Opfer) nur so selten und dann ziemlich verschämt erwähnt?


Dass Juden in Deutschland sich wieder unsicher fühlen müssen, ist eine Schande. Doch es greift zu kurz, alle Übergriffe Islamisten oder arabischen Israel-Hassern anzulasten. Der Antisemitismus ist in großen Teilen des deutschen Rechtsextremismus noch immer virulent. Und dass manche AfD-Anhänger oder Reichsbürger, die ansonsten in ihren Zirkeln über globale Verschwörungen jüdischer Milliardäre unken und den Holocaust leugnen oder zumindest bagatellisieren, derzeit die Effektivität der israelischen Armee bewundern, ist ein vorübergehendes Phänomen: Auf der Hitliste der Fremdenfeindlichkeit stehen eben seit einiger Zeit Moslems und Dunkelhäutige ganz oben. In einschlägigen Milieus erinnern Kommentare zum massenhaften Sterben in Gaza fast an Statements zur „Vernichtung unwerten Lebens“ in fürchterlichen Jahren. Wenn der Krieg vorbei ist, werden sich die gar nicht so raren Rechtsextremisten auch wieder dem alltäglichen Judenhass zuwenden.


Nahe an Denkverboten


Regelrecht furchterregend ist die verbindliche Übertragung offizieller Deutung der Geschehnisse in Israel und dem Gazastreifen auf den Kulturbereich, seine Verantwortlichen und sein Publikum: Bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse verurteilte der recht eigenwillige, aber stets originelle slowenische Philosoph Slavoj Žižek in seiner Rede den Terror der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung scharf. Als er aber anfügte, man müsse auch den Palästinensern zuhören und deren Hintergrund beachten, wenn man den Konflikt verstehen wolle, verließen etliche Zuhörer aus dem Kulturestablishment den Saal.


Zwei Tage später hätte die palästinensische Autorin Adania Shibli auf der Buchmesse für ihren Roman „Eine Nebensache“ mit dem Liberaturpreis des Vereins Litprom ausgezeichnet werden sollen. In dem Buch, das immerhin auch für den Booker Price, die wichtigste literarische Trophäe in der anglophonen Welt außerhalb der USA, nominiert war, wird die Vergewaltigung einer Palästinenserin durch israelische Soldaten, die tatsächlich stattgefunden hat, beschrieben. Aus Pietät, Rücksicht auf Gefühle der Regierung in Jerusalem oder vorauseilendem Gehorsam den deutschen Autoritäten gegenüber wurde die Ehrung für einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Im Einvernehmen mit der Schriftstellerin, hieß es – was eine glatte Lüge war.


Wer die israelische Literatur liebt, wird oft auf Schilderungen von Unrecht, das Palästinensern angetan wurde, stoßen. Ob Amos Oz in „Ein Lied von Liebe und Tod“ von den Massakern israelischer Milizen an islamischen Dorfbewohnern im Kriegsjahr 1948 schreibt, in Jehoshua Kenaz' Roman "Nach den Feiertagen" die Vergewaltigung einer palästinensischen Hirtin durch den jüdischen Aufseher thematisiert wird oder David Grossmann schildert, wie sehr sich arabische Israelis häufig als rechtlose Bürger zweiter Klasse fühlen müssen („Eine Frau flieht vor einer Nachricht“). Der englisch-jüdische Schriftsteller Arthur Koestler, Kibbuz-Aktivist der ersten Stunde, erwähnt blutige Racheakte der Zionisten an Unschuldigen und das Faible etlicher Pioniere für den Faschismus italienischer Spielart („Diebe in der Nacht“). Wären die Auftritte dieser Autoren von Weltruf in Frankfurt auch verschoben worden?


In einem offenen Brief haben mehr als 350 bekannte AutorInnen aus aller Welt, darunter drei Literatur-NobelpreisträgerInnen, den Veranstaltern der Frankfurter Messe vorgeworfen, die Stimmen der Palästinenser totzuschweigen. Auch Ehrengast Salman Rushdie äußerte Unverständnis für die Absage.


Der Berliner Journalist Hanno Hauenstein kritisierte in einem Artikel für den britischen Guardian, dass in Deutschland „Palästinenser, Künstler und Kuratoren aus dem sogenannten globalen Süden und linke Israelis wegen ihrer als unbequem empfundenen Sichtweise auf israelische Politik regelmäßig gerügt oder ausgeladen werden“. So habe die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken sogar ein Treffen mit dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders wegen seiner Haltung zum derzeitigen Krieg im Gazastreifen abgesagt.


Wenn die Suche nach einem Erklärungsansatz, differenzierte historische Einschätzungen, alternative Lösungsansätze kategorisch verpönt sind, weil sich die politische Elite bedingungslos hinter eine Partei stellt und dieser jegliche Handlungsfreiheit ohne Rücksicht auf Verluste zubilligt, zieht ein Hauch von Selbstzensur durchs Land. Oder riecht es schon nach Denkverboten? Dass es bei den unbotmäßigen Analysen nicht um die Relativierung der Hamas-Verbrechen geht, sondern um Ursachenforschung und Entwicklung neuer Friedensperspektiven, auch wenn diese noch so weit entfernt scheinen, wird einfach negiert.


Auf der linken Plattform ak (analyse und kritik) hat Hanno Hauenstein, der sich oft in Israel aufhält, fließend Hebräisch spricht und als Interviewpartner für dortige TV-Nachrichtenkanäle fungiert, einen Essay mit dem Titel „Am Abgrund“ veröffentlicht, der seine Trauer, aber auch die Entschlossenheit, eine Friedensperspektive zu entwickeln, widerspiegelt. Er ordnet die Massaker der Hamas klar ein:
„Was außer Zweifel steht: Das Massaker, das Hamas letzten Samstag verübte, ist ein schwer in Worte zu fassendes Kriegsverbrechen. Die Ermordung von Zivilisten*innen, die Tötung und Entführung von Neugeborenen und Kindern, die psychische Folter ganzer Freundeskreise und Familien, die nicht wissen, ob Seelenverwandte oder Angehörige tot sind, wird über Jahrzehnte nachwirken und tiefe Spuren hinterlassen. Schmerz wird zu Trauma wird zu Angst werden – zumal unter dem Einfluss weltweit anwachsender rechter Demagogie, die das Trauma schon jetzt für eine Politik der Abschottung und bedingungslosen Militarismus instrumentalisiert. Diese Angst nicht zu Hass werden zu lassen und bestehende, fragile Bündnisse nicht an ihr zerbrechen zu lassen, ist eine vorhersehbare Herausforderung, die linke Gruppen und ganze Gesellschaften auf die Probe stellen wird. Dieser Herausforderung gebührt Solidarität.“


Hauenstein, der seit dem 7. Oktober mit jüdischen Friedensaktivisten und auch Angehörigen von Hamas-Opfern in ständigem Kontakt steht, charakterisiert den jede dialektische Betrachtungsweise ignorierenden reaktionären Deutungsanspruch der Regierung in Jerusalem (und hierzulande) dezidiert:
„Die Versuche der israelischen Rechten, den historischen und politischen Kontext des Massakers im Süden Israels auszuklammern – Versuche, die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihrer politischen Repräsentation in diesen Tagen weitgehend unkritisch übernommen werden –, wirken bizarr reduktionistisch. Kontext ist nicht gleich Rechtfertigung. Kontext ist nicht gleich Verharmlosung. Kontext ist die Grundlage jeder ernstzunehmenden moralisch-politischen Bewertung.“


Während die Zahl der Opfer im Gazastreifen inzwischen in den fünfstelligen Bereich klettert, muss man sich mittlerweile rechtfertigen, wenn man die Wörter „Feuerpause“ oder „Waffenstillstand“ in den Mund nimmt. Was wird uns in einigen Jahrzehnten die nächste Generation fragen, wenn es plötzlich 50.000 oder 100.000 Tote sind (in der Mehrheit Zivilisten)? Etwa, konntet ihr nichts dagegen tun? Eine dürftige Antwort wäre: Nein, wir mussten uns damals gegen den Vorwurf des Antisemitismus zur Wehr setzen.


Eine befriedigende Lösung dieses mörderischen Konflikts ist im Augenblick nicht in Sicht. Die Hamas kann wegen ihres Judenhasses und ihrer exzessiven Brutalität als Verhandlungspart nicht mehr in Frage kommen, so sie denn überhaupt den Krieg physisch übersteht. Die Autonomiebehörde der Fatah wurde durch den illegalen Siedlungsbau nachhaltig geschwächt, wäre aber dennoch der legitime Ansprechpartner. Auf der anderen Seite aber steht ein rechtsradikales Kabinett in Jerusalem mit stattlicher Vorstrafenliste und archaischen Rachevorstellungen, wie unsägliche Äußerungen der Mitglieder belegen.


Vielleicht bleibt uns derzeit als einzige Möglichkeit, die Israelis, die sich weiter gegen den Abbau demokratischer Rechte durch Netanjahu & Co und für eine friedliche Koexistenz engagieren, zu unterstützen. Dazu müssen wir die eigene Position klar definieren. Dazu nochmals Hauenstein: „Die Linke muss Widerstand leisten gegen Antisemitismus im Namen des antikolonialen Kampfes genauso wie gegen Rassismus im Namen der sogenannten Israelsolidarität.“ Dies wäre ein Statement gegen die permanente Diffamierung der Nachdenklichen in Deutschland, aber auch gegen die Beschimpfung von Oppositionellen als „Nestbeschmutzer“ in Israel.
11/2023
Dazu auch:
Kritik erlaubt? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2023)
Amnesty am Pranger im Archiv der Rubrik Medien (2022)


 






Die NGO des Kobolds


Die Fluggesellschaft Ryanair war bislang nicht für den pfleglichen Umgang mit ihren Passagieren bekannt, zu forsch bat sie diese für kleine Leistungen zur Kasse und zu unverblümt spielt Chef Michael O‘Leary mit abwegigen Gedanken, Kunden noch ein wenig exzessiver zu melken. Umso mehr erstaunt jetzt, dass die irische Billigflieger-Company sich Sorgen um das Wohlergehen der Fluggäste macht und diese im Stil einer Nichtregierungsorganisation vor den Unbilden europäischer Arbeitskämpfe schützen möchte. Auf ihre Initiative hin soll die EU-Kommission den Mitgliedsländern ermöglichen, das Streikrecht ein wenig auszuhebeln.


Anspruch auf zügige Invasion


Was Millionen von Flüchtlingen in aller Welt verweigert wird, hat nach Ansicht von Ryanair für Bürger aus der Europäischen Union recht und billig zu werden: In der Vorgehensweise ähnlich den NGOs, die per Unterschriftenaktionen öffentlichen Druck auf Regierungen und Unternehmen aufbauen, um die Umwelt zu schützen, hat nun Europas zweitgrößte Fluggesellschaft, die eher mit Luftverschmutzung in Verbindung gebracht wird, eine Petition gestartet, die sich an die höchstmögliche Stelle richtet. Unter dem Motto „Protect Passengers: Keep EU Skies Open“ fordert Ryanair von der Brüsseler Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, sie möge künftig die „Bewegungsfreiheit der EU-Bürger“ schützen, indem sie Überflüge von Ländern, in denen die Flugsicherheit gerade streikt, garantiert.


Die sonnenhungrigen Massen, die via Luftfahrt die Strände des Mittelmeers und Metropolen des Kontinents heimsuchen, sollen dies ohne Verzögerung tun können – egal, ob es nun den Einheimischen passt oder den Klimawandel noch schneller anheizt. Nun könnte man es als Zeichen demokratischen Fortschritts werten, dass nicht nur Betuchte und Mittelständler in der Lage sind, sich den Flug in den Süden zu leisten, wie das einst der Fall war, sondern auch die Friseurin aus dem Ruhrgebiet oder der Industriearbeiter aus Yorkshire. Man könnte es aber auch als flächendeckendes Versagen innerhalb der EU ansehen, weil andere, wesentlich umweltfreundlichere öffentliche Verkehrsmittel, etwa die Bahnen, von den Regierungen sträflich vernachlässigt werden. Zwar gingen solche Personentransporte langsamer vor sich, aber es würde sich um tatsächliche Reisen handeln, nicht um zweistündige Hüpfer von Punkt zu Punkt, ohne Umweg über fremde Kultur und Landschaft.


Das Dilemma unserer bürgerlichen Demokratie ist, dass sie mit dem Kapital verflochten sind  – und das fordert unreguliertes und bedingungsloses Wachstum. Alles muss mehr und schneller werden, ohne Rücksicht auf nicht wiedergutzumachende Zerstörungen. In diesem Sinn karrt Ryanair Millionen in ökologisch gefährdete Regionen und ruft nach dem Staat, wenn ein Hindernis auftritt. Ein Streik wiederum ist nur dann sinnvoll und erfolgversprechend, wenn er der betroffenen Firma ökonomisch wehtut und/oder für deren Kunden spürbar ist.


Die Mitarbeiter der Flugsicherung wiederum treten nicht nur wegen höherer Löhne in den Ausstand, sondern auch wegen der Arbeitsüberlastung durch den Massenandrang in der Luft, die gefährliche Konsequenzen für die Passagiere und Crews haben kann. Die Forderung von Ryanair aber impliziert, dass betroffene Staaten entweder den Arbeitskampf verbieten oder rasch angelernte Streikbrecher und möglicherweise auch Angehörige der Luftwaffe an den Kontrollmonitoren einsetzen sollen. Die EU-Kommission hat nach dieser Lesart die Aufgabe, die landesstaatlichen Behörden zu animieren, das in der Demokratie vorgesehene Instrument der Interessendurchsetzung von Beschäftigten zu unterlaufen. Mehr als 1,5 Millionen Fluggäste, von denen sicherlich auch schon einige gestreikt haben, fanden das okay und haben die Petition bislang unterschrieben.


Der irische Kobold


Möglicherweise wird der Vorstoß folgenlos bleiben, weil sich selbst die wirtschaftsaffine Kommissionspräsidentin schwertun könnte, eine solche Rechtsbeugung anzuordnen, aber er offenbart wieder einmal die neoliberale Chuzpe, die auch einem Christian Lindner oder Volker Wissing zu eigen ist. Und es hält Ryanair in den Schlagzeilen.


In der irischen Märchen- und Sagenwelt treibt der Leprechaun, ein kleiner grüner Kobold, sein Unwesen und spielt den Menschen allerlei Streiche. Manche Konkurrenten vergleichen Michael O’Leary, der seit 1993 Vorsitzender von Ryanair ist, mit dem mythischen Gnom. Wie ein Irrwisch fegt der Mann aus dem Kaff Mullingar durch die Medien, inszeniert provokative Werbekampagnen, schockiert die eigenen Kunden mit absurden Erwägungen und gibt gern den Staatsverächter. Doch der hyperaktive O’Leary, ein hundertfünzigprozentiger Marktfetischist verschweigt dabei so einiges: Die einst marode Regionalfluggesellschaft Ryanair konnte anfangs nur durch Intervention der Regierung in Dublin gerettet werden. Und auch jetzt ruft sie wieder nach dem Beistand staatlicher Stellen gegen Arbeitskämpfe.


Mit radikalen Maßnahmen gelang es dem cleveren CEO, das kränkelnde Unternehmen zum größten Billig-Carrier in Europa zu machen. Flug- und Bodenpersonal wurden finanziell äußerst knapp gehalten und mussten sich jeden zusätzlichen Cent mühsam erstreiken. Zwar sind die Tickets billig, doch die Passagiere haben mit allen möglichen Zusatzgebühren zu rechnen, etwa für Gepäckstücke, mehr Beinfreiheit oder Beratung. Wer die Buchung nicht übers Internet vornehmen möchte, sondern einen Ansprechpartner bevorzugt, zahlt dafür 50 Euro. Schlappe 55 Euro werden fällig, wenn der Check-In am Flughafen erfolgt und nicht vorab online. Wer den Boarding Pass nicht ausdrucken kann oder es vergessen hat, berappt weitere 25 Euro. Kulanz sieht anders aus.


In regelmäßigen Abständen gelangt Michael O’Leary mit bizarren Gedankenspielen auf die internationalen Titelseiten. Mal sinniert er darüber nach, mehr Geld von übergewichtigen Fluggästen zu kassieren. Dann wieder möchte er sich die Toilettenbenutzung bezahlen lassen oder äußert die Schnapsidee, dass Passagiere auf kurzen Flügen auch stehen könnten. Das ist der Mann, der sich jetzt so rührend um seine Kunden kümmert und sie vor bösen Streikenden schützen will. Aufmerksamkeit ist ihm in der Boulevardpresse und den sozialen Medien jedenfalls stets gewiss.


Freier Flug für freie Bürger!


Es ist sicherlich kein unverzeihlich schweres Umweltvergehen, eine Reise mit einem Billigflieger von Ryanair anzutreten – zumindest nicht verglichen mit dem gigantischen ökologischen Fußabdruck, den die wohlhabendsten fünf Prozent der Bevölkerung oder die deutsche Automobilindustrie hinterlassen. Aber man sollte sich doch überlegen, ob es zwei oder drei Touren im Jahr oder Kurzflüge zu Städtebesichtigungen sein müssen. Man hört im Hintergrund schon wieder Lindner und Konsorten, die ohne den satten Sound ihres Porsche-Cabrios keinen Lebenssinn mehr entdecken können, von „Verbotskultur“ faseln.


Die technologischen Revolutionen eröffnen vielen Menschen ungeahnte Möglichkeiten. Nutzen diese alles zur Verfügung Stehende, um ihren Luxusbedarf zu befriedigen oder eine ominöse Selbstverwirklichung anzugehen, ohne potenzielle Folgen für die Gesellschaft, die Umwelt oder das Klima zu berücksichtigen, ist das Ausdruck einer radikal-defätistischen Spielart von Freiheit, nämlich der Freiheit von jeglicher Verantwortung.


Ryanair hat im Vor-Corona-Jahr 2019 mehr als 150 Millionen Passagiere befördert und dürfte diese Zahlen auch heuer wieder erreichen. Für den bislang unfallfreien Transport war nicht nur die Low-Budget-Linie zuständig, Verantwortung hierfür trugen auch die Lotsen und andere Mitarbeiter der Flugsicherung, denen Michael O’Leary am liebsten das Streikrecht absprechen würde.
10/2023






Eine neue Macht


Wie fühlen sich die Staats- und Handelslenker des globalen Westens, wenn sie registrieren müssen, dass sie nicht mehr allein am Steuer sitzen, dass eine neue Crew mit erheblichem Wirtschaftspotential, immensen Ressourcen und anderem  geopolitischen Anspruch die Bühne betreten hat? Es sind die sog. BRICS-Staaten, die sich anschicken, die Ökonomie der Zukunft mitzugestalten, womöglich im Widerspruch zu den reichen G7-Ländern. Sie haben als Quintett begonnen, werden aber bereits im Januar 2024 sechs neue Mitglieder aufnehmen und dann fast die Hälfte der Menschheit repräsentieren. Doch die Union der elf mächtigen Schwellenländer ist sehr heterogen zusammengesetzt, politische Binnenkonflikte sind nicht ausgeschlossen.


Globale Schwergewichte


Dass es den fünf derzeitigen Mitgliedern nicht an Selbstbewusstsein fehlt, machte Südafrikas Präsident Ramaphosa im Vorfeld des BRICS-Gipfels deutlich. Er lud 30 interessierte Staaten, dazu UN-Vertreter und hochrangige afrikanische Politiker ein, nicht aber die G7-Protagonisten – auch nicht Emanuel Macron, der Interesse an einer Teilnahme bekundet hatte. Die Begleitmusik zu diesem Affront lieferte Russland. Man wolle dem „Diktat“ des Westens unter Führung der USA ein Ende setzen, eine Intention, mit der die Präsidenten Brasiliens, Indiens, Chinas und Südafrikas (gemeinsam mit Russland bilden die Anfangsbuchstaben ihrer Ländernamen die Abkürzung BRICS) vollauf einverstanden waren, auch wenn der eine oder andere seine Probleme mit Putins Überfall auf die Ukraine hat.


In der Tat sind es Schwergewichte, die sich bislang schon zu BRICS zusammengeschlossen haben: Mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung leben in den fünf Staaten, ihr Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt 25 Prozent. Wird das Bündnis Anfang 2024 um die sechs Länder Äthiopien, Ägypten, Argentinien, Iran, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate (VAE) zu BRICS plus erweitert, steigt der globale BIP-Anteil auf 37 Prozent.


Die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde, Indien und China, sind hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft mittlerweile die Nummer 3 und die Nummer 1 der Welt (wenn auch das Pro-Kopf-BIP in beiden Ländern noch weit unter dem der USA oder der EU liegt). Wenn Saudi-Arabien, der Iran und die VAE im Januar zur Organisation stoßen, erlangt diese ein Übergewicht bei den fossilen Rohstoffvorkommen, zumal auch Gründungsmitglied Russland über riesige Gas-und Erdölressourcen verfügt. Südafrika fördert Diamanten und Edelmetalle, Mangan, Nickel, Eisen und Kohle in rauen Mengen, und China ist der drittgrößte Lithium-Produzent weltweit, vor allem aber baut es fast 100 Prozent der so begehrten  Seltenen Erden ab.


Dazu gesellen sich die Landwirtschaftsgiganten Brasilien und demnächst Argentinien (auch wenn das Land derzeit unter der Dürre leidet). Vor allem China und Indien haben enorme Produktionskapazitäten aufgebaut und weisen beeindruckendes technologisches Know-how auf: Die Programmierer von Bangalore machten den Erfolg des Silicon Valley erst möglich, und China reicht heute mehr als doppelt so viele Patente ein wie die gesamte EU. Die VAE holen sich gerade die besten Wissenschaftler und Ingenieure, die Geld kaufen kann, ins kleine Wüstenland. Sollten sich die in wirtschaftlichen wie politischen Interessen und kulturellem Hintergrund reichlich divergierenden Mitgliedsnationen von BRICS plus  zusammenraufen, könnte eine neue ökonomische Supermacht entstehen.


Gegenpol zur G7-Dominanz


Bei allen inhaltlichen Differenzen werden sich die aufstrebenden Schwellenländer, deren Wachstumstempo insgesamt das des Westens bei weitem übertrifft, auf einen gemeinsamen Nenner einigen: Sie wollen sich gemeinsam gegen die Diktate der Ersten Welt wehren, die den „Freihandel“ stets im Sinn der reichen Staaten regeln, durch die Zölle nach Gusto eingeführt oder abgeschafft, minderwertiges Fleisch sowie Industrieschrott mit Gewinn in die Dritte Welt exportiert und wertvolle Rohstoffe dort in Fremdregie ausgebeutet oder billig erworben werden. Die BRICS-Staaten stimmen darin überein, ihre Betriebe und Volkswirtschaften effektiver gegen feindliche Übernahmen und Zerstörung zu schützen, den Status des Dollar als Weltwährung nicht länger zu akzeptieren und sich politisch gängeln zu lassen von Regierungen, deren Moral ihnen zumindest fragwürdig erscheint.


Künftig sollen Zahlungsverkehr und Kreditaufnahmen in den jeweiligen Landeswährungen abgewickelt werden, um Verluste durch oft willkürlich festgesetzte Wechselkurse zu vermeiden. Selbst eine eigene BRICS-Währung (ähnlich dem Euro) ist angedacht, die auf Gold-Standard festgeschrieben sein soll. Auch ist die Gründung einer Entwicklungsbank als Gegengewicht zum Internationalen Währungsfond, die beide von den G7-Staaten und zur Weltbank gegründet werden, beschlossene Sache. In jedem Fall könnte das Bündnis dominiert werden, wenn es denn funktioniert, als potenter Verhandlungspartner gegenüber den europäischen und nordamerikanischen Wirtschaftsassoziationen EU und NAFTA auftreten.


Natürlich haben Russland und der Iran auch das partikuläre Interesse, durch die neue Partnerschaft den Wirtschaftssanktionen durch den Westen begegnen zu können. Eine gewisse Effizienz zeichnet sich hier bereits ab: Die Volkswirtschaften beider Länder wachsen inzwischen wieder – trotz der vermeintlich gravierenden Bestrafung.


Feindliche Brüder


Eins muss man BILD lassen: Das Massenmedium befleißigt sich konsequent stets der gleichen rhetorisch aggressiven Panikmache, ob es nun den Untergang des Abendlandes in einem schmählichen Betrug durch einen Sozialhilfe-Empfänger oder im Aufstieg eines potentiellen politischen Gegners verortet. „BRICS-Erweiterung: Wie gefährlich wird dieser Tyrannen-Block für uns?“ titelten die Chef-Hysteriker des deutschen Pressewesens in ihrer Online-Ausgabe.


Und wie immer bei BILD findet sich ein Körnchen Wahrheit im Brei der rechten Denkungsart. Tatsächlich werden die meisten BRICS plus-Staaten keineswegs von leuchtenden Vorbildern für Demokratie und humane Gesellschaftsform regiert. Da tummeln sich mit Saudi-Arabien und dem Iran zwei höchst intolerante „Gottesstaaten“ neben Putins Russland, das einen Krieg in Europa begann, der Militärdiktatur Ägypten oder der VR China, die Minderheiten drangsaliert und die eigenen Bürger minutiös überwacht.


Bevor sich aber die europäischen Hüter internationaler Moral angewidert abwenden, sollten sie sich selbst fragen, mit welchen Bluthunden und Autokraten – von Kaiser Bokassa über das südafrikanische Apartheidregime bis hin zu den putschenden Massenmördern in Chile, Argentinien und Brasilien – sie schon gern zusammengearbeitet haben, weil es ihren nationalen (oder den ureigensten) Interessen und Profiten diente.


Wichtiger scheint es aber, die Bevölkerungen dieser Länder nicht zu vergessen. Ihre (Über)Lebenssituation könnte sich spürbar verbessern, wenn es gelänge, einen fairen Handel mit korrekt bewerteten Waren zu installieren. Möglich kann so etwas nur werden, wenn nicht mehr einzelne isolierte Länder den allmächtigen Wirtschaftsorganisationen unter westlicher Aufsicht als Bittsteller gegenüberstehen, sondern im ökonomisch relevanten Verbund eigene Forderungen präsentieren und durchsetzen können.


Möglicherweise könnte BRICS plus sogar eine friedenstiftende und –erhaltende Funktion zumindest innerhalb Mitgliedschaft einnehmen (was übrigens auch der positivste Grund für die Existenz der EU ist). Die feindlichen Glaubensbrüder Iran und Saudi-Arabien würden sich dann im Jemen auf einen dauerhaften Waffenstillstand einigen. Und Ägypten müsste sich mit Äthiopien verständigen, statt wegen der Aufstauung des Nils mit Krieg zu drohen. Vielleicht ließe sich dann sogar Putin – welch vage Hoffnung! – seine Großrussland-Pläne ausreden.


Das Pfeifen im Wald


Washington zeigte sich offiziell ziemlich unbeeindruckt vom BRICS-Gipfel. Das sei eigentlich nichts Neues, und natürlich dürfe sich jeder souveräne Staat seine Bündnispartner selbst aussuchen. Seltsam nur, dass die US-Administration im Vorfeld versucht hatte, die südafrikanische Regierung als Gastgeber unter Druck zu setzen, damit sie auf Distanz zu Moskau gehe…
In der deutschen Presse wurde Skepsis u. a. von der TAZ gesät, deren Co-Leiter des Auslandressorts, Dominic Johnson, zunächst ganz im Sinn der EU-Granden argumentierte: „Linke Träumer in Brasilien oder Südafrika oder demnächst Argentinien sind nur dabei, weil ihnen der Anti-US-Reflex den Blick auf die Realitäten verstellt. Sie reduzieren den Globalen Süden auf ein Feigenblatt für den autoritären Osten im neuen Ost-West-Konflikt.“


Johnson lässt dabei außer Acht, dass die „linken Träumer“ den Ost-West-Konflikt einfach satt haben und die ökonomische Eigenverantwortung des Südens ohne väterlichen Rat aus den USA oder Europa durchsetzen wollen. Immerhin erwähnt er zumindest die Inkonsequenz der EU- und US-Politiker: „Denn ansonsten gelten globale Regeln oft plötzlich nicht mehr, wenn westliche Länder sie brechen.“


Regelrecht Kreide gefressen scheint die oft so vorlaute doppelmoralische Instanz Annalena Baerbock zu haben: „Wir wollen gemeinsam mit den Ländern auf der Welt kooperieren, natürlich auch mit denen, die andere Ansichten haben.“


Baerbock könnte auf die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gehört haben, die vorschlug, gegenüber den BRICS-Ländern auf „eine Art Einbindungsstrategie“ zu setzen. Die SWP berät die Berliner Politiker und wird vom Bundeskanzleramt finanziert. Gegründet wurde die Stiftung übrigens vom Alt-Nazi Klaus Ritter, der auch schon als Geburtshelfer für die Organisation Gehlen und den daraus hervorgegangenen BND tätig war. Wollen wir hoffen, dass sich die BRICS-Regierungen nicht allzu sehr einbinden lassen.
09/2023.
Dazu auch:
Ende der Allmacht im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)





 


Verfemte der Wüste


Man könnte meinen, die Bundeswehr sei einem windigen Reiseveranstalter aufgesessen. Kaum bezieht sie ein Quartier und versucht, sich dort gemütlich einzurichten, muss sie Unterkunft und Land auch schon wieder wechseln. Zwar sollen die Soldaten Präsenz zeigen und den Anspruch Berlins untermauern, überall auf der Welt auch militärisch im Kreis der Großen mitreden zu können, doch bleibt am Ende nur festzustellen: Außer Spesen nichts gewesen. Und diese Reisekosten summieren sich auf etliche Milliarden Euro, die Toten und traumatisierten Opfer wollen wir da gar nicht erst anführen.


Reisewarnung für Niger


Am blutigsten verlief die zwanzig Jahre dauernde „Mission“ in Afghanistan: Die Bundeswehr verlor 59 Mann, mehr Opfer hatte allerdings die einheimische Bevölkerung zu beklagen, weil Oberst Klein 2009 bei Kunduz Bombenangriffe auf Bauern, die illegal Benzin abzapfen wollten, anordnete: Mehr als hundert Zivilisten kamen ums Leben. Der Einsatz der Deutschen und ihrer NATO-Verbündeten erwies sich am Ende als vergeblich. Als die Taliban 2021 auf Kabul vorrückten, flohen die westlichen Alliierten Hals über Kopf. Die Bundesregierung ließ es sich  je nach Quelle zwischen 17,3 Milliarden (ZEIT) und 47 Milliarden Euro (ZDF) kosten, um „die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch zu verteidigen“ (Ex-Verteidigungsminister Struck) und um „unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege…“ (Ex-Bundespräsident Köhler).


Die meisten anderen Reiseziele deutscher Truppenkontingente lagen in Afrika, doch auch hier lässt sich mittlerweile resümieren: Misserfolge pflasterten ihren Weg. Während der 1990er Jahre sollten Bundeswehrsoldaten helfen, in Somalia die Macht der Warlords und den Terror der Islamisten einzudämmen – heute gilt das Land als failed state. Dann kam die Beteiligung an der von Frankreich initiierten UN-Mission MINUSMA in Mali (rund 3,5 Milliarden Kosten für den Bundeshaushalt), die damit endete, dass die deutschen Einheiten derzeit das Feld räumen müssen, weil die nach einem Putsch an die Macht gekommenen Militärs im Kampf gegen Islamisten und Tuareg-Rebellen lieber mit russischen Wagner-Söldnern kooperieren.


Kurz vorher war Reiseleiter Frankreich – um bei der Tourismus-Begrifflichkeit zu bleiben – schon nach Niger ausgewichen. Als aber die Bundeswehr folgen wollte, wiederholte sich das Desaster von Mali: Auch in Niamey, der Hauptstadt Nigers, putschte das Militär, sagte sich von den westlichen Verbündeten los und wird wohl jetzt russische Söldner ins Land lassen.


So weit und so karg waren die Fakten in den deutschen Medien zu lesen oder zu hören. Doch unterblieben Analysen und Hintergrundberichte, die deutlich gemacht hätten, warum sich die zentrale Sahelzone derzeit beinahe geschlossen gegen die EU wendet und warum sich diese wiederum so intensiv in einer der ärmsten Regionen der Erde engagiert hatte.


Interessen statt Moral


Den Takt in der westlichen Sahel-Politik gab stets Frankreich vor, aus historischen Gründen, vor allem aber zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen. Als einstige Kolonialherren fühlten sich die Regierungen in Paris weiterhin verantwortlich für das Gebiet, mischten beim Aufstieg und Fall dortiger Regierungen mit und verbündeten sich – ja nach Opportunität – mit Schlächtern wie Kaiser Bokassa in der benachbarten Zentralafrikanischen Republik oder forderten demokratischen Wandel ein. Zugleich aber griffen die Franzosen nach den riesigen Uranvorkommen in Mali sowie Niger und wollen zudem vom Bau einer Pipeline profitieren, die Erdgas aus Nigeria durch die Sahara bis an die nordafrikanische Küste transportieren wird, von wo es in die EU weitergeleitet werden soll.


Auch um die Routen des Drogenschmuggels nach Europa, die hauptsächlich durch Niger und Mali führen, zu unterbinden und den islamistischen Terror zu bekämpfen, entsandte Frankreich Truppen und suchte sich Alliierte. Und so trotteten bald deutsche Militärs den Postkolonialisten hinterher, ohne klar definiertes Ziel und ohne strategische Vorgaben. Als einzige Begründung fiel den Verantwortlichen ein, man wolle die „Flüchtlingswellen“ nach Europa stoppen. Zu diesem Zweck verbündet sich die EU im Augenblick mit Diktatoren wie Ägyptens as-Sisi und Autokraten wie Erdoğan, alimentiert die libysche Küstenwache, die Geflohene in die Sklaverei verkauft, oder schiebt dem rassistischen tunesischen Präsidenten Sayed, der Schwarzafrikaner in der Wüste verdursten lässt, damit die EU sie nicht im Mittelmeer ertrinken lassen muss, hundert Millionen Euro zu.


Die Bundeswehr aber hat in Mali weder Fluchtrouten verlegt noch Jihadisten gejagt, sie hat schlicht nichts getan (auch nicht, als in der unmittelbaren Nachbarschaft „ethnische Säuberungen“ stattfanden), und nun wird ihr verwehrt, ihr löbliches Werk in Niger fortzusetzen…


Abschied von den alten Herren


Natürlich ist ein Militärputsch per se nichts Erfreuliches, hohe Offiziere streben nach der Macht, wollen sich bereichern,  oder – wie jetzt in Niamey – ihrer Degradierung zuvorkommen. Doch im Niger steht nach übereinstimmenden Medienberichten die Bevölkerungsmehrheit hinter der Revolte. Zu unfähig hatte sich die Regierung unter Präsident Mohamed Bazoum beim Kampf gegen die Islamisten gezeigt, zu brutal hatte sie Sozialproteste unterdrückt und zu korrupt hatte sie im Sinn von Reichen und ausländischen Prospektoren agiert.


Doch nun mobilisiert Frankreich seine Hilfstruppen: Die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS hat in der  nigerianischen Hauptstadt Abuja den Putschisten mit militärischer Intervention für den Fall gedroht, dass sie nicht Bazoum und seine Regierung bis zum 6. August wieder ins Amt brächten (was nicht geschah). Paris hatte „fest und entschlossen“ Unterstützung zugesagt. Die neuen Machthaber in Niamey erwägen im Gegenzug, die Wagner-Truppe zu Hilfe zu holen, ungeachtet der Rolle, die Russlands Söldner derzeit bei der brutalen Ausplünderung der Zentralafrikanischen Republik spielen.


Schon haben Burkina Faso und Mali angekündigt, die Junta im Niger militärisch zu unterstützen – ein multinationaler Krieg im Armenhaus der Erde droht, eine chaotische Gemengelage, die von den jihadistischen Milizen ausgenützt würde und zugleich zu einer weiteren West-Ost-Konfrontation führen könnte. Die Katastrophen in Syrien und im Jemen sollten Mahnung genug sein. Die Staaten der zentralen Sahelzone von Mauretanien bis zum Tschad warnen vor einem Angriff auf den Niger, der nigerianische Senat desgleichen, und Abdelmadjid Tebboune, Präsident Algeriens und damit ein politisches Schwergewicht in der Region, erklärte laut der Zeitschrift Jeune Afrique, Algier lehne „jede Militärintervention kategorisch ab“, weil sie „den gesamten Sahel in Brand stecken würde“, und warnte vor Folgen, wie man sie heute in Libyen sehe.


Die offensichtlich breite Zustimmung für die neue Junta im Niger erklärt sich auch daraus, dass Bazoum als Mann Frankreichs und der EU galt. Die Menschen sind der alten Herren müde, sie wollen nicht mehr vom Westen bevormundet werden. Ob sie mit den neuen Partnern aus Russland und demnächst wohl auch China besser fahren, sei dahingestellt, zu rigoros setzen auch diese ihre ökonomischen und strategischen Interessen durch. Aber der düpierte Westen hat eigentlich kein Recht, den Sahel-Staaten zu verbieten, andere Erfahrungen zu machen.


Annalena Baerbock wird sich als Befürworterin der globalen Vorwärtsverteidigung sicherlich bald wieder an „demokratische Werte“ und „Menschenrechte“ entsinnen, die ihr in der Flüchtlingsfernhaltepolitik kurz entfallen waren, jetzt aber prächtige Interventionsgründe darstellen könnten, und Herrn Pistorius mehr militärisches Engagement im Sahel dringend anraten. Mithilfe eines weiteren Sondervermögens ließe sich dann die Truppe auf weitere Reisen in Weltgegenden, wo sie unerwünscht ist, entsenden.


So könnten sich die Soldaten plötzlich auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz wiederfinden, ohne klare Aufgaben, sinn- und erfolglos wie gehabt.
08/2023
Dazu auch:
Dabeisein ist alles  im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2023)








2023



Land der AfD


Die letzten Meinungsumfragen in den einzelnen Bundesländern lassen Schlimmes befürchten. Eine Partei, deren Mandatsträger vor allem durch Pöbeleien auffallen, die öffentlich als rechtsextrem und rassistisch eingestuft werden darf und keinerlei konstruktive Programmatik vorweist, schickt sich an, zur zweitstärksten parlamentarischen Kraft in den Parlamenten der Republik aufzusteigen, was die Medien ratlos macht, obwohl die Erklärung recht simpel ist: Die AfD kann weitgehend auf geistige Eigenleistung verzichten, die Ampel-Koalition und die unionschristliche Opposition bereiten den Boden für einen beispiellosen nationalistischen Coup schon selbst vor.


Partei in erbärmlichem Zustand


Auf den ersten Blick lassen sich die jüngsten AfD-Erfolge angesichts des Erscheinungsbildes der Partei kaum erklären: Das Personal, vor allem im Westen, ist heillos zerstritten, von Bremen, wo die Querelen die Aufstellung einer Landesliste für die Bürgerschaftswahlen verhinderten, bis nach Bayern, wo immer wieder Abgeordnete die eigene Fraktion verließen. Seit 2013 hat die AfD mit Jörg Meuthen, Frauke Petry und ihrem Gründer Bernd Lucke bereits drei Bundesvorsitzende in die Wüste geschickt, und das von Alice Weidel und Tino Chrupalla gebildete derzeitige Führungsduo strahlt nicht gerade intellektuelle Souveränität, geschweige denn Charisma aus.


Die Strippen in der Partei zieht aber ein anderer, der Thüringer Landtagsabgeordnete Björn Höcke, den man nach Einschätzung der Frankfurter Staatsanwaltschaft ungestraft als Nazi bezeichnen darf. Der Mann ist tatsächlich eine Integrationsfigur – vor allem für Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen, sog. Wutbürger und militante Rassisten. Dass er eine solche Rolle im Machtgefüge der AfD spielen kann, sollte eigentlich abschrecken, imponiert jedoch, ganz im Gegenteil, offensichtlich vielen Wählern, vor allem im Osten der Republik.


Wenn eine Partei über so wenige Sympathieträger verfügt und eine so geringe personelle Kontinuität aufweist, müsste sie wenigstens mit Inhalten überzeugen können – sollte man meinen. Doch die AfD-Wahlprogramme fallen eher durch Kuriositäten und eine (bedrohlich wirkende) Ignoranz als durch ernstzunehmende Vorschläge und Ziele auf. So soll die Rentenversicherung weitgehend privatisiert bzw. mit den Beiträgen an internationalen Börsen spekuliert werden; eine Idee, mit der bereits Diktator Pinochet eine neue Dimension der Altersarmut in Chile herbeiführte. Mit erneuerbaren Energien hat die Partei wenig am Hut, verweist sie doch Klimawandel und Erderwärmung ins Reich der Phantasie.


Zudem scheint die AfD sich weite Teile des Wirtschaftsprogramms von der neoliberalen Sturmspitze FDP geborgt zu haben – nur dass sie nicht bloß Steuererhöhungen für Selbständige und Besserverdiener ablehnt wie Lindner & Co, sondern die fraglichen Steuern gleich ganz abschaffen möchte, weil ihr die Sozialsysteme oder die Finanzierung der Kommunen völlig egal sind. Und dass alle deutschen Männer und Frauen ein Anrecht auf den Besitz einer Schusswaffe haben sollen, speist sich vermutlich aus Vorstellungen von arischer Überlegenheit, die hierzulande bis vor Kurzem schamhaft verdrängt wurden.


Neonazis ante portas


Im Grunde ist für die Linie der Partei eher wesentlich, wo die  Aversionen angesiedelt sind: Ausländer insgesamt, besonders aber Flüchtlinge, sind unerwünscht. Ökos sowie die manchmal etwas übereifrigen Befürworter des Genderns in der hehren deutschen Sprache gelten als ebenso degeneriert wie die Regenbogen-Orientierten. Auf die drängenden Zukunftsfragen, den Umweltschutz, den Pflegenotstand, den Ausbau des ÖPNV oder das Armutsrisiko weiter Teile der Bevölkerung betreffend, hat und sucht die AfD keine ernsthaften Antworten. Konsequent zeigt sie sich nur bei zwei komplexen Problemstellungen: Ihre xenophoben Parteigänger lehnen jede Art von Migration ab und sie goutieren Putins autoritäre Herrschaft, billigen sogar seine großrussischen Rückeroberungspläne, ganz so, als feiere das Prinzip „Ein Volk, ein Führer!“  fröhlich Wiederauferstehung.


Eine Partei, die solche Inkompetenz und Intoleranz offenbart, ist doch nicht wählbar, hätten noch vor wenigen Jahren bedächtige Beobachter abgewiegelt und dabei vergessen, dass ab den 1960er Jahren phasenweise und in bestimmten Regionen auch schon andere rechtsradikale Organisationen wie die NPD, die DVU und die Republikaner an der Zehn-Prozent-Marke geschnüffelt hatten. Die AfD aber erreicht noch ganz andere Ergebnisse, und sie ist kein kurzlebiges Phänomen, was beweist, dass Hass, Rassismus und Sozialdarwinismus, immer schon latent vorhanden, inzwischen offen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind.


Am 8. Oktober dieses Jahres werden in Bayern und Hessen die Landtage gewählt. Laut aktuellen Meinungsumfragen kommt die AfD im Freistaat auf 13,8 Prozent, liegt damit vor den Freien Wählern sowie der SPD und nur noch knapp hinter den zweitplatzierten Grünen. In Hessen, wo einst auch die NPD besonders stark war, könnten es sogar 17 Prozent werden (Spitzenergebnis im Westen).


Noch erheblich schlimmer dürfte es 2024 werden, denn im Herbst des nächsten Jahres wird in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt. In allen drei Bundesländern ist derzeit die AfD stärkste Partei mit jeweils 29, 32,5 und 34 Prozent Zustimmung. Ob dann die von CDU-Chef Merz beschworene Abgrenzung der Union von den Rechtsextremen noch funktioniert oder einzelne Landesverbände – wie auf kommunaler Ebene schon hie und da praktiziert – ein wenig kooperieren und damit zu Steigbügelhaltern apokalyptischer Reiter werden, steht noch in den Sternen.


Inzwischen liegt die AfD nur noch in drei Bundesländern (Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin) unter zehn Prozent, auch in Mecklenburg-Vorpommern hat sie mittlerweile die SPD an der Spitze der Wählergunst abgelöst, im südthüringischen Sonneberg stellt sie ihren ersten Landrat in Deutschland, und in Raguhn-Jeßnitz, Sachsen-Anhalt, gewann erstmals einer ihrer Kandidaten die Wahl zum hauptamtlichen Bürgermeister. Für diese Erfolge gibt es mehrere Gründe. Nicht der unwichtigste dürfte sein, dass der evidente inhaltliche Dilettantismus der Rechtsextremen von der Unfähigkeit der etablierten Parteien, verantwortlich zu agieren, verständlich zu kommunizieren und sich argumentativ von menschenfeindlicher Propaganda zu distanzieren, überdeckt wird.


Wacklige Phalanx


Die Unionsfürsten Merz und Söder machen die erratische Politik der Ampel-Regierung für den Aufstieg der AfD verantwortlich, während die Koalitionäre die schwarze Opposition beschuldigen, den rechtsradikalen Bestrebungen durch üble Rhetorik und destruktives Handeln Vorschub zu leisten. In diesem Streit lässt sich etwas sehr Seltenes konstatieren: Beide Seiten haben recht.


Wenn die AfD-Vorsitzende Alice Weidel im Bundestag AusländerInnen als „Kopftuchmädchen“ und „Taugenichtse“ diffamiert, ist sie damit ganz in der Nähe von Friedrich Merz, der über „kleine Paschas“ schwadroniert. Markus Söder wiederum unterstellt seinen neuen Lieblingsfeinden, den Grünen, eine Verbots- und Reglementierungssucht, die er unter dem Poster-Slogan „Gegen die Heizungsideologie!“ mit frei erfundenen Beispielen zu belegen sucht. Das freut die Chauvinisten vom rechtesten Rand, ist solcher Unsinn doch dem AfD-Fundus entlehnt.


Die Grünen sorgen aber auch tatsächlich für Verunsicherung in der Bevölkerung, etwa wenn sie die durchaus löbliche Absicht, so schnell wie möglich aus der fossilen Energieversorgung auszusteigen, mit handwerklich schlecht gemachten Gesetzesentwürfen und unrealistischen Vorgaben selbst desavouieren. Und dann haben sie auch noch mit einer neoliberalen Fundamentalopposition im eigenen Kabinett zu kämpfen: Die FDP sabotiert Klimaschutzmaßnahmen nach Herzenslust und kann dabei auf den Bundeskanzler als klammheimlichen Sympathisanten zählen. Was allerdings die Flüchtlingspolitik angeht, sind sich die drei Regierungsparteien weitgehend darin einig, die AfD-Forderungen umzusetzen, um so den Ultra-Nationalisten ihr liebstes Wahlkampfthema zu nehmen. Die bürgerliche Phalanx gegen die rechte Front stützt sich auf ziemlich morsche Krücken.


Natürlich sind das miserable Bild, das die Ampel abgibt, und der unverhohlene Populismus der Union nicht die einzigen Gründe für das Erstarken des Chauvinismus. In den Frühzeiten der Bundesrepublik saßen Altnazis in den Ministerien, Behörden und Geheimdiensten, lehrten an den Universitäten und in den Schulen, infiltrierten die Parteien. Ein konsequenter Bruch mit der braunen Vergangenheit war so nicht möglich, und auch die spätere Aufarbeitung des NS-Regimes blieb oberflächlich; jedenfalls scheint sie die Hirne und Herzen vieler Bürger nie erreicht zu haben. Die heutige Fremdenfeindlichkeit speist sich auch aus diesem nicht bewältigten Erbe.


Das Land, wo Hass und Unmut fließen
Dass der deutsche Osten (mit Ausnahme Berlins) zum gelobten Land für die AfD wurde, hat zwei weitere historische Ursachen. Da war einmal ein pedantischer Staatsbürokratismus, der die Denk- und Bewegungsfreiheit seiner Bürger einschränkte, ihnen aber hehre Ziele wie Solidarität, Antifaschismus oder Internationalismus aufoktroyierte. Viele Menschen empfanden die staatlichen Parolen als Leerformeln, ihrer Führung glaubten sie ohnehin nichts. Also wurden auch an sich sinnvolle und humane Ansätze trotzig abgelehnt.


Die SED verstärkte diesen Widerstand noch, indem sie Arbeitskräfte aus Vietnam oder Mozambique in Wohnghettos unterbrachte und so allzu enge Kontakte der exotischen Brüder und Schwestern mit der deutschen Bevölkerung erschwerte. Lange vor der Wiedervereinigung gab es bereits Rassismus im Osten. Was den Westdeutschen die „Kanaken“, waren den DDR-Bürgern die „Fidschis“.


Übervorteilung, partielle Entmündigung der „Befreiten“ nach dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten (der eher eine nur mäßig freundliche Übernahme der DDR durch die BRD war) und die Treuhand, die für die Raubzüge westlicher Manager und Rechtsanwälte und damit eine weitgehende Deindustrialisierung des Ostens zuständig war, schürten die ohnmächtige Wut vieler Menschen zwischen Mecklenburg und Thüringen weiter, eine Wut, die zu artikulieren sie nicht gelernt hatten. Dumpfer Groll, der im Verborgenen siedet, bahnt sich seinen Weg nach draußen, wenn ihn geschickte Demagogen legitimieren und ihm eine Richtung weisen: gegen Dunkelhäutige, Schwule, Linke, Schwache, anonyme „Eliten“ oder Feministinnen. Die mit dem Gift der Intoleranz gedüngte Saat ist aufgegangen, die AfD kann ernten.
07/2023
Dazu auch:
Björn und die Doofen im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2020)
Zwei Seiten der AfD im Archiv der Rubrik Medien (2020)





Ehrengast mit Blutspur


Fürth liegt seinem berühmtesten Sohn zu Füßen: In New York und London hatte Henry Kissinger bereits Tage zuvor den hundertsten Geburtstag gefeiert, eine dritte Party gönnte sich der Jubilar nun in seiner mittelfränkischen Heimatstadt. Alle prominenten Redner waren des Lobes voll, an die Leichen im Keller des ehemaligen US-Außenministers mochten sie dabei natürlich nicht erinnern.


Gilt das Völkerrecht für alle?


Etwa zur gleichen Zeit versuchte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brasilien, den dortigen Präsidenten Lula zu Sanktionen gegen Russland zu bewegen. Der aber blieb neutral, obwohl sein Land Putins Angriff auf die Ukraine missbillige. Er wandte sich generell gegen bewaffnete Interventionen, allerdings nicht nur in der Ukraine, sondern auch „in Palästina und im Jemen“. Man könne „die Schrecken und das Leid des Krieges nicht selektiv behandeln“, führte er aus und übte indirekt Kritik an der Doppelzüngigkeit des Westens: „Die Grundprinzipien des Völkerrechts gelten für alle.“


Lula weiß, wovon er spricht. In Lateinamerika erinnert man sich noch recht genau an die bleiernen Jahrzehnte der Militärregimes, die den USA und ihren NATO-Verbündeten als Bollwerke gegen den Kommunismus galten. Als in den 1970er Jahren der chilenische General Pinochet den wiedergewählten Präsidenten Allende beseitigte und eine blutige Diktatur installierte, als im Rahmen der Geheimdienstoperation Condor in Argentinien und Uruguay Militärputschisten die Macht ergriffen und Zehntausende von Gewerkschaftern, Studenten oder kritischen Journalisten massakrieren und „verschwinden“ ließen, hielt Washington die Fäden in der Hand, und als Architekt dieser brachialen neuen Ordnung fungierte Henry Kissinger, Sicherheitsberater und Außenminister unter dem berüchtigten und später davongejagten Präsidenten Richard Nixon.


Auch in Südostasien hat der Name Kissinger noch heute einen furchterregenden Klang. Er wird mit der US-Militärdoktrin, nach der Vietnam und Kambodscha „in die Steinzeit zurückgebombt“ werden sollten, in Verbindung gebracht, aber auch mit der Ausweitung des Krieges und der flächendeckenden Verminung von Laos aus der Luft, einem Land, dem die USA nie den Krieg erklärt hatten. Auf dem indochinesischen Subkontinent ging die Zahl der Opfer in die Millionen.


Kein Wunder, dass Henry Kissinger einige Länder der Erde nicht mehr besucht, weil er noch auf dem Rollfeld des Flughafens verhaftet würde, und dass selbst der spanische Staatsanwalt Garzón, der einst auch Pinochet in London festsetzen ließ, ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zerren wollte! Doch die USA halten diese höchste Jury ohnehin für nicht zuständig, wenn es um eigene Bürger geht…


Schelm und Fan des Zweitliga-Fußballs


In Fürth feierte man einen ganz anderen Henry Kissinger, einen hochintelligenten, humorvollen Mann, der den Einheimischen schon durch sein lustiges Englisch mit fränkischem Zungenschlag sympathisch ist. Man freut sich, dass der weltberühmte ehemalige Polit-Star erklärter Fan der Spielvereinigung Greuther Fürth, eines zumeist in der Zweiten Bundesliga kickenden Profi-Teams, ist und man goutiert seine von keinerlei Selbstzweifeln angekränkelte Schlagfertigkeit.


Kissinger wurde 1923 als Heinz Alfred K. in Fürth geboren. Seine Kindheit verlief harmonisch – bis zur Machtübernahme durch die Nazis, die dem jüdischen Vater die Ausübung seines Berufs als Gymnasiallehrer verboten. Die Mutter Paula erahnte die tödliche Gefahr, in der die Familie schwebte und organisierte 1938 gerade noch rechtzeitig die Ausreise. Trotz dieser traumatischen Erfahrung blieb der spätere Henry K. seiner Heimatstadt gewogen und nahm die Ernennung zum Ehrenbürger an. Leider machte ihn das Wissen um die Brutalität einer antisemitischen und auch sonst inhumanen Diktatur nicht zu einem Anwalt für Menschenrechte.


Dieser Gedanke ist in der eilig zusammengestellten Ausstellung „Die Kissingers – eine Familiengeschichte aus Fürth“ kein Thema. Die Schau wurde von Evi Kurz zusammengestellt, die als Leiterin des Ludwig-Erhard-Zentrums prädestiniert für die Idolisierung großer Fürther Politiker zu sein scheint. Das ging selbst dem zögerlichen Chefreporter der Nürnberger Nachrichten (NN), Alexander Jungkunz, ein wenig gegen den Strich: „Von den Zigtausenden Toten, die US-Präsident Richard Nixon und auch Kissinger etwa in Vietnam, Kambodscha und Chile zu verantworten hatten, ist nicht die Rede.“ Dafür wurde dem Hundertjährigen während des Festakts nach Leibeskräften geschmeichelt.


Eine Lehrstunde in Euphemismus


Bundespräsident Steinmeier gratulierte per Video-Schalte und flötete, er habe – wie viele andere – oft Kissingers Rat gesucht. So erklärt sich wohl auch die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens durch die Bundeswehr. Da ließen sich auch die physisch Anwesenden nicht lumpen: Fürths OB Jung schwärmte vom Besuch in Kissingers New Yorker Büro, der bayerische Ministerpräsident Söder zeigte sich „total stolz“, dass das berühmte Geburtstagskind ein Franke sei, und Springer-Vorstandschef Döpfner, der nicht gerade als Hüter der Pressefreiheit und Vorzeigedemokrat bekannt ist, würdigte „ein Leben, das herkömmliche Dimensionen sprengt“.


Lediglich der Unionsnestor Wolfgang Schäuble wagte einen Blick auf Kissingers fatale Außenpolitik – oder wie der Schwabe dies formulierte – auf das, „was Sie als Realpolitiker im amerikanischen Interesse entschieden“. Sogleich sprach Schäuble aber den greisen Fürther von jeglicher Verantwortung frei: „Den Vorwurf mangelnder Moral halte ich für unbegründet. Wer als Politiker handelt, wird schuldig, sagte Helmut Schmidt…“

Gemäß dieser Logik braucht sich also auch Wladimir Putin keine Sorgen zu machen, dereinst wegen eines Angriffskriegs oder der systematischen Zerstörung ziviler Infrastruktur vor Gericht zitiert zu werden.


NN-Kommentator Jungkunz trieb offenbar angesichts der unisono vorgenommenen Heiligsprechung des uralten Charmeurs das schlechte Gewissen um. Und so versuchte er sich in euphemistischer Schmalspur-Dialektik: „Man muss unbedingt beide, alle Seiten Kissingers in den Blick nehmen, um ihm gerecht zu werden. Bloße Verdammung nutzt ebenso wenig wie einseitige bis huldvolle Verehrung…“


Wäre der Brasilianer Lula ähnlich vage geblieben wie der Nürnberger Redakteur, hätte er Frau von der Leyen vielleicht in übervorsichtiger  Abwägung gesagt: „Die Grundprinzipien des Völkerrechts gelten für alle. Oder auch nicht.“
07/2023
Dazu auch:
Dossier Tatort Indochina (Vietnam I & II) unter Politik und Abgrund
Kissinger goes to Fuerth im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2012)








Erdoğans langer Arm


Nichts Neues in der Türkei: Recep Tayyip Erdoğan bleibt wohl Präsident, und seine AKP wird erneut mit Abstand stärkste Partei. Alle Prognosen und Analysen, die im Westen von der Abwahl des populistischen Autokraten ausgingen, erwiesen sich als haltloses Wunschdenken. Regelrecht empört zeigten sich Journalisten darüber, dass ausgerechnet die im „aufgeklärten“ Deutschland lebenden und arbeitenden Türken mit großer Mehrheit dem skrupellosen Chauvinisten ihre Stimmen gaben. Das hat mehrere Gründe, einige der wichtigsten aber sind im Verhalten hiesiger Behörden, Politiker und Meinungsmacher zu suchen.


Toxische Mixtur: Nationalismus und Religion


Dass Erdoğan vor zwanzig Jahren mit dem Versprechen antrat, aus einem (zumindest offiziell) säkularen Staat eine islamische Republik zu machen, rief im Westen zunächst viel Argwohn hervor, verdeckte jedoch die zweite tragende Säule seiner Macht, den rigiden türkischen Nationalismus. Und der ist nicht auf dem Mist der AKP gewachsen, sondern gehörte schon lange zum Selbstverständnis der Bevölkerungsmehrheit.


Nach der Zerschlagung des Osmanischen Reichs, nach dem Krieg gegen die griechischen Invasoren, den Massakern an den Armeniern und der Niederschlagung des kurdischen Aufstands baute Kemal Atatürk eine vergleichsweise moderne laizistische Nation auf den Trümmern der alten Großmacht auf. Er verschaffte seinen gedemütigten und erschöpften Landsleuten ein neues Selbstwertgefühl, teilweise allerdings auf Kosten der zahlreichen Minderheiten. Alle politischen Parteien, von den Sozialdemokraten bis zur faschistischen MHP, alle Regierungen und auch die zwischendurch immer mal wieder putschenden Militärs bekannten sich zur pseudo-historischen Überlegenheit des türkischen Volkes.


Erst Erdoğan aber fügte fundamentalistische Ideen zur nationalen Hybris und machte sie so zum toxischen Gebräu, als Doping geeignet dazu, Kurden auch außerhalb der eigenen Grenzen zu liquidieren, Journalisten und Autoren einzusperren oder mit Krieg um die Ölquellen in der Ägäis zu drohen. Gäbe es nicht Putin (und hätte es nicht den Irak-Krieg gegeben), man könnte denken, solch brachiale Machtdurchsetzung sei aus der Zeit gefallen. Und man sollte meinen, vor allem die Türken, die in Deutschland Zugang zu allen möglichen Medien haben, würden nicht auf diese archaische Kraftmeierei hereinfallen. Doch vergisst man dabei, dass viele von ihnen hierzulande Erfahrungen gemacht haben, die ihnen Separation und unbedingte Selbstbehauptung statt Integration nahelegen.


Arroganz statt Wertschätzung


Seit beinahe drei Generationen haben „Gastarbeiter“ wesentlich zum relativen Wohlstand der Bundesrepublik beigetragen. Schon die ersten Arbeitsmigranten aus Süditalien oder Portugal wurden häufig nicht etwa als Kollegen, sondern als Konkurrenten angesehen, mit Ressentiments empfangen und nicht selten wie potentielle Kriminelle behandelt. Bei den Türken kam noch die exotische Religion hinzu, mithilfe von unsäglichen Begriffen wie „Überfremdung“ oder „Umvolkung“ wurden sie zur Gefahr für das deutsche Spießbürgertum erklärt. Das macht etwas mit den derart Diffamierten.


Vor allem bei Jugendlichen führt das Bewusstsein, in einer Gesellschaft nicht als gleichwertig anerkannt zu werden, zu Minderwertigkeitsgefühlen, die sich in Aggressivität verwandeln können, aber auch zum Zusammenschluss in strikt landsmannschaftlichen Cliquen und damit zur partiellen Abkehr von der deutschen Realität. Natürlich existieren auch noch in „bildungsfernen“ Familien (welch blumige Umschreibung) überkommene Traditionen wie die Entmündigung von jungen Frauen, ihre Zukunft und Ehe betreffend, oder die bisweilen blutige Wahrung der „Ehre“ unter Männern. All diese Zukurzgekommenen und Ewiggestrigen fanden in Erdoğan, dessen langer Arm bis Deutschland reicht, einen eifrigen Kümmerer.


Doch auch junge Migranten, die den bundesdeutschen Lebensstil weitgehend verinnerlicht haben, votierten für den erzreaktionären Präsidenten, nicht zuletzt, weil der ihnen, die sich hier an den Rand gedrängt fühlen, einen fragwürdigen Nationalstolz als Surrogat bietet. Der aus der Türkei stammende Journalist Volkan Altunordu bringt deren Außenseiter-Position in den Nürnberger Nachrichten auf den Punkt: „Auch wenn ich in Deutschland aufgewachsen bin und lebe, deutsch spreche und mich vielleicht sogar als Deutscher fühle: solange mich mein Umfeld (egal ob deutsch oder nicht) nicht ebenso akzeptiert, gehöre ich eben nicht dazu.“


Die Türkei, wie wir sie wollen


Lange Zeit hat die EU die zunehmend autokratischen und aggressiven Machenschaften Erdoğans stillschweigend gebilligt, etwa als seine Armee in Syrien und im Irak Krieg gegen die Kurden führen ließ. Die auf ihre Menschenrechtsrhetorik so stolzen Westeuropäer haben ihm sogar viel Geld zukommen lassen, damit er den Transit der Flüchtlinge, die nach Großbritannien, Skandinavien oder Deutschland wollten, stoppte und in seinem Land internierte, sie haben sozusagen ihre humanitären Pflichten an einen brutalen Demagogen outgesourct.


Doch jetzt schien die Zeit gekommen, den peinlichen Verbündeten, der sogar mit Krieg innerhalb der NATO drohte, loszuwerden. Erstmals wurden einer Sechs-Parteien-Koalition, die angeblich mit dem Westen sympathisierte, realistische Chancen eingeräumt, die AKP/MHP-Regierung nach Wahlen abzulösen. Und dem Oppositionskandidaten Kilicdaroglu wurde der Sieg gegen den amtierenden Staatspräsidenten zugetraut – zumindest in der europäischen Presse. In Vorfreude auf den vermeintlichen Wechsel blickte man in den EU-Hauptstädten nicht so genau hin und übersah, dass sich auch unter den Herausforderern Rechtsradikale und Zeloten tummelten, dass Kilicdaroglu ankündigte, die syrischen und überhaupt alle Flüchtlinge binnen Kurzem aus dem Land zu jagen sowie Griechenland die Inseln in der Ägäis abzunehmen.


Es ging schief, auch wenn Erdoğan erstmals in die Stichwahl musste, weil er die absolute Mehrheit um 0,4 Prozent verfehlt hatte. Hierzulande aber kochte die Empörung hoch, hatten doch 65 Prozent der in Deutschland lebenden Wähler für den alternden Semi-Potentaten gestimmt. Die Gründe mögen in islamisch-nationalistischer Haltung oder in purem Trotz gegenüber einem System, das sie nicht als vollwertige Mitbürger anerkennt, liegen, doch sind die Zahlen – näher betrachtet – gar nicht so alarmierend: Von ca. 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland, hat nämlich nur die Hälfte ihre Stimme abgegeben. Möglicherweise fühlen sich die anderen 50 Prozent nicht mehr zuständig für türkische Politik, weil sie sich hier als gut integriert betrachten. Etwa 475.000 in der Bundesrepublik lebende Menschen haben Erdoğan gewählt, was bedeutet, dass nicht einmal ein Drittel der Wahlberechtigten für ihn gestimmt hat. Zum Vergleich: Ein Drittel der Urdeutschen offenbart in Wort und Tat ebenfalls bisweilen rechtsextreme Tendenzen…


Bildung und Sprache als Schlüssel


Um in einer Gesellschaft „anzukommen“, sind die einigermaßen fehlerfreie Beherrschung der Sprache und Kenntnisse über Kultur, Geschichte sowie die Rechtsordnung notwendig. Genau hier aber versagt das deutsche Bildungssystem, nicht nur bei Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch bei Kindern aus prekären sozialen Milieus. In zu großen Klassen versuchen zu wenige LehrerInnen, didaktisch unzureichend vorbereitet, das nachzuholen, was in Kinderkrippe, Vorschule und Elternhaus versäumt wurde.


Oft ist es weniger die Grammatik, die im täglichen Gespräch die geografische oder gesellschaftliche Herkunft eines Bürgers offenlegt (denn damit tun sich auch viele Deutsche schwer), sondern die Syntax, die fehlerhafte Wortstellung. Wenn einem jungen Türken etwa in wohlmeinendem Pidgin-Deutsch beigebracht wird, zu sagen: „Ich morgen gehe in Schule“, wird sich die Verdrehung möglicherweise ein ganzes Leben lang verfestigen. So etwas bringt um berufliche Chancen, beeinträchtigt das Selbstbewusstsein, stempelt ab und erschwert letztendlich die Integration.


Es wäre viel Geld nötig, um wenigstens für Kinder in etwa gleiche Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen. Doch wie in anderen Bereichen der Daseinsfürsorge (Gesundheitssektor, Pflege, Mobilität) fehlen die Mittel. Wäre dies nicht so, hätten die türkischstämmigen Wähler ein höheres Maß an Zufriedenheit erreicht und Erdoğans Avancen zurückgewiesen. Aber wir leben halt in einer Klassengesellschaft, die Wenigen hohe Qualität, Vielen mäßiges Niveau und Manchen gar nichts bietet.
05/2023
Dazu auch:
Wer darf? Wer nicht? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)







Hofberichterstattung


Zwar hat der SPIEGEL, von vereinzelten Gastbeiträgen abgesehen, nie ernsthaft systemische Kritik geübt, doch immerhin wahrte er meist eine gewisse Distanz zu den Protagonisten des Staates. Mit leichtem Spott wurden die Politiker auf ihren Irrwegen begleitet, wobei allerdings der süffisanten Pointe oder dem verkürzenden Clou manchmal wichtige Inhalte und die Tiefe der Betrachtung geopfert wurden. Nun aber hat sich das Hamburger Magazin mit einer oberflächlichen Eloge unter die erstaunlich große Menge der Pistorius-Fans gemischt.


Der nächste Hoffnungsträger


Die Ampel-Koalition hat ihre Stars schnell verschlissen: Robert Habeck musste sich für eine Handvoll Erdgas orientalischen Potentaten andienen und ist mit seinen Maßnahmen gegen die Erderwärmung über die lokalen Gegebenheiten gestolpert. Annalena Baerbock setzt sich überall dort für Menschenrechte ein, wo sie politische Gegner an der Macht sieht, zu Massakern in zeitweilig befreundeten Ländern wie Äthiopien oder Mali schweigt sie ebenso wie zur Rechtsbeugung durch die britische Regierung im Fall von Julian Assange. Und der blasse Wahlsieger Olaf Schulz, Lindners Co-Bremser im Kabinett, wird gerade von seiner skandalösen Cum-Ex-Vergangenheit eingeholt.


Da tut es gut, wenn ein neuer Hoffnungsträger die Regierungsbühne betritt und mit markigen Worten sowie martialischer Kostümierung die Sympathien des Volkes im Handumdrehen gewinnt. Sechzig Prozent der deutschen Bürger finden Boris Pistorius toll und küren ihn damit zum mit Abstand beliebtesten Politiker des Landes, obwohl er außer vollmundigen Ankündigungen à la Söder und geschickt arrangierten Fototerminen noch nicht viel vorzuweisen hat. Es sei denn, man hält es für eine Großtat, dass er mit Nils Hilmer und Christian-Hendrik Heusermann zwei SPD-Vertraute aus der niedersächsischen Heimat in die Leitung des Ministeriums holt, die von der Bundeswehr etwa ebenso wenig Ahnung haben wie er selbst und sein neuer Sprecher, der ihm gewogene ARD-Journalist Michael Stempfle. Dazu schart er immerhin noch zwei Generäle zwecks fachlicher Kompetenz um sich.


„Minister Perfect?“ fragte – rein rhetorisch – der SPIEGEL auf seiner Titelseite und ergänzte in der Unterzeile „Was Deutschlands beliebtester Politiker bei der Bundeswehr ausrichten kann“. Um es vorwegzunehmen: Die beiden Redakteure Matthias Gebauer (einst Polizeireporter bei BILD) und Konstantin von Hammerstein können die zweite Frage sachlich nicht beantworten, die erste aber bejahen sie mit einer Inbrunst, die ihre journalistische Sorgfalt in verzückter Emphase schlicht untergehen lässt.


Frauen können es halt nicht


Wie alle seine VorgängerInnen hat Pistorius gleich nach dem Amtsantritt die Bundeswehrmannschaft über den grünen Klee gelobt und viel mehr Geld gefordert. „In der Truppe kommt das an“, schreibt der SPIEGEL, als wäre das bei früheren KriegsministerInnen nicht goutiert worden. Doch das Blatt liefert eine Begründung für die plötzliche Begeisterung der SoldatInnen: „Da scheint seit Langem mal wieder ein Mann an der Spitze des Ministeriums zu stehen, der zu schätzen weiß, was die Männer und Frauen der Bundeswehr leisten.“


Nun waren Ursula von der Leyen, die ihr Amt zur lukrativen Spielwiese für Unternehmensberater machte, Annegret Kramp-Karrenbauer, die im Beschaffungsschlamassel unterging, und die chronisch überforderte Christine Lambrecht tatsächlich glatte Fehlbesetzungen, aber aus kompetenz- nicht aus geschlechtsbedingten Gründen (was der Artikel suggeriert). So wird geschildert, wie Pistorius nach Litauen fliegt, dort die Kompanie eines deutschen Jägerbataillons trifft, mit ihnen zwei Stunden durch den verschneiten Wald stapft und Krieg spielt. „So nah an den Soldaten waren seine Vorgängerinnen nie“, lautet der Kommentar zu dieser fürs heimische Publikum inszenierten Darbietung.


Als wolle man den großen kleinen Unterschied im militärischen Gehabe visualisieren, veröffentlicht der SPIEGEL auch noch ein Foto von Christine Lamprecht, wie sie ungeschickt auf hochhackigen Pumps aus der Militärmaschine in die malische Wüste stöckelt. Auf der Seite davor steht Pistorius, lässig mit Kampfstiefeln, Jeans und Khakihemd angetan, im Sahara-Sand desselben Landes. So passend gekleidet also, dass man ihn glatt für einen der berüchtigten Afrika-Söldner halten könnte, hätte er nicht das harmlose Gesicht seines physiognomischen Zwillingsbruders Armin Laschet auf…


Noch nicht geliefert…


Erstaunlich ist, mit welch rätselhaften Beispielen die SPIEGEL-Autoren die angebliche Entschlusskraft des neuen Superstars beschwören. Im Sudan tobt ein Krieg zwischen der Armee und brutalen Milizen (die früher von der BRD zur Flüchtlingsabwehr instrumentalisiert wurden), in der Falle sitzen Hunderte von Zivilisten aus Deutschland und anderen westlichen Staaten. Die Bundeswehr soll evakuieren. „Pistorius ist bereit. Das macht er schnell klar.“ Dann schieben Gebauer und Hammerstein ein abgedroschen klingendes, an Obama erinnerndes O-Zitat des Osnabrückers nach: „Wir können das.“


Andere konnten es aber schneller. Ehe die ersten Maschinen der Bundesluftwaffe starteten, flogen die Streitkräfte Frankreichs und der USA bereits Eingeschlossene aus. Und die Frage, ob die Bürger aus dem Westen zum Flughafen kommen oder auf einen geschützten Konvoi aus der Stadt hinaus warten sollten, beantwortete Pistorius wenig risikobereit: Sie sollten sich selbst zum Rollfeld durchschlagen. Im Sudan ging es gut, in einem anderen Bürgerkriegsland, in Afghanistan, hingegen erreichten viele Verzweifelte die rettende Oase nie.


In schütterem Deutsch prophezeien die beiden Hof-Journalisten Boris Pistorius auch künftiges Ungemach: „Es ist ein Mörderprogramm, das den Neuen erwartet.“ Ein mörderisches Programm hätte ich gerade noch durchgehen lassen, was aber ist bitte ein Mörderprogramm? Ein Konzept für Mörder, eins zur Rekrutierung oder eins zur Abwehr von Mördern?


Pistorius jedenfalls vertieft sich in den „Blankeneser Erlass“ von 1970 seines Vorgängers, des SPD-Rechtsaußen Helmut Schmidt, kommt aber nicht weit: „Der erste Satz gefällt ihm, er könnte von ihm sein. ´Die bisherige Organisation des Ministeriums hat sich als nicht klar und eindeutig genug herausgestellt`“. Dieser brillante Allgemeinplatz liest sich in etwa so tiefschürfend wie die ganze Hommage.


Dann steht doch noch etwas Positives über die Ministerinnen vor der Pistorius-Ära im Artikel, ist aber ganz anders gemeint. Die drei kriegerischen Damen hätten Armin Papperger, Boss des größten nationalen Rüstungskonzerns Rheinmetall, gemieden.


Boris Pistorius dagegen sucht ihn sogar auf, ein Vorgehen, das künftig die kostspielige Einschleusung von Lobbyisten in die Ministerien überflüssig machen könnte. Er möchte den Herrn der Vernichtungsproduktion zu erhöhtem Ausstoß animieren, ihn dazu überreden, die ohnehin gigantischen Profite noch ein wenig zu steigern. Vielleicht hat der Rettungsengel der Sozialdemokratie dem König der Todeslieferanten dafür auch das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik am Bande in Aussicht gestellt.
05/2023
Dazu auch:
Mutter der Beratung im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2019)






Der Vollblutpolitiker


Einem SPIEGEL-Artikel habe ich es zu verdanken, dass sich mein Blick auf Christian Lindner radikal verändert hat. War ich früher der Meinung gewesen, bei dem Wirtschaftsminister handle es sich um einen eitlen Karrieristen, der sich als personalisierte fünfte Kolonne der Konzerne in der Regierung versteht, so muss ich jetzt konstatieren, dass der FDP-Chef ein Mann ist, der seine Vorlieben pflegt und seine Leidenschaften auslebt wie ein ganz normaler Mensch, dass er sie sogar zur Richtschnur seines Handelns im Amt macht. Man muss auch mal loben können! Sollten Sie, liebe LeserInnen, allerdings der Meinung sein, mein Lob sei vergiftet, so ist das ausschließlich auf Ihre schmutzige Phantasie zurückzuführen.


Er hat sogar den Jagdschein


Was haben wir gelästert über den Liberalen, der nach eher ernüchternden Versuchen, in der Wirtschaft zu reüssieren, lieber in die Politik ging, um als Finanzminister von Grund auf zu lernen. Wir hielten ihn für den Chef-Lobbyisten der Automobilindustrie und den skrupellosen Fürsprecher der Schützenvereine sowie des Bundesverbands der Deutschen Büchsenmacher und Waffenfachhändler. Als nach dem Amoklauf von Hamburg Bundesinnenministerin Nancy Faeser eine Verschärfung des Waffenrechts ankündigte, legte er sich nämlich mit der Forderung quer, man müsse erst einmal die Resultate früherer Gesetzesänderungen evaluieren. Einfach nur die Toten zu zählen und daraus eine Pflicht zum Einschreiten abzuleiten, genügt dem differenziert denkenden Beau, der mit Robert Habeck um den Titel des „Mister German Policy“ buhlt, bei weitem nicht.


Doch kürzlich berichtete der SPIEGEL, dass Lindner passionierter Jäger ist und seine beiden teuren Gewehre ganz arg lieb hat. Deshalb also wirft er sich in die Bresche und verteidigt das freie Feuer für freie Schützen gegen den dumpfen Ruf des niederen Volkes nach mehr Sicherheit.


Lindner unterscheidet auch penibel zwischen guten und bösen Totmachern. Man müsse erst noch Statistiken erstellen, ob die eigentliche Gefahr von legalen oder illegalen Waffen ausgehe, gibt er zu bedenken. Eine Kurzerhebung könnte ihn schon mal darüber in Kenntnis setzen, dass bei den Massakern von Hanau (9 Tote) und Hamburg (7 Tote) die tödliche Gefahr aus den Läufen „legaler“ Schusswaffen kam, jedenfalls waren die Mordwerkzeuge ordnungsgemäß gekauft und angemeldet worden, denn weder die Psychosen noch die Nazi-Gesinnung der Täter stellten einen Hinderungsgrund für die Ausstellung eines Berechtigungsscheins dar.


Freiheitssymbol Porsche


Außerdem sollte sich der Christian bei all der glühenden Solidarität mit Schießprügelbesitzern im Klaren darüber sein, dass aus „legalen“ Waffen leicht „illegale“ werden, etwa wenn der Sohn des rechtmäßigen Besitzers einer Beretta 92 diese aus dem väterlichen Waffenschrank entwendet und 2009 in Winnenden 16 Menschen erschießt.


Wem würden solch lässliche Ungereimtheiten nicht unterlaufen, wenn er doch ein hohes Gut, nämlich die Freiheit im Allgemeinen gegen sozialdemokratische Regulierungssucht verteidigen muss, im Besonderen die Freiheit der Besserverdienenden, besser Bewaffneten – und der besser Berittenen. Denn wenn Lindner mit Hunderten von Pferdestärken über die als Autobahnen deklarierten Rennpisten der Republik braust, will er sich natürlich nicht zu kleinlichen 130-km/h oder gar zur 100-km/h-Zeitlupe nötigen lassen.


Fälschlicherweise haben wir geglaubt, der bekennende Porsche-Fan habe auf den Boss seines Lieblingskonzerns gehört, als er die EU-Klimabemühungen, Verbrennermotoren zu verbieten, so lange sabotierte, bis Stinker, die mit E-Fuels fahren, ausgenommen wurden. Zwar prahlte Porsche-Chef Oliver Blume damit, er habe dies durch ständigen Kontakt mit dem Wirtschaftsminister erreicht, doch hatte Lindners uneigennütziger Einsatz nichts damit zu tun, dass die Firma in die energieintensive Produktion des teuren und überflüssigen Kraftstoffs investiert hatte. Letztendlich war es Lindners ureigenste Liebe zu sattem Motorsound und irrer Beschleunigung, die ihn zum Verteidiger der Dino-Technik werden ließ – rein ehrenamtlich natürlich; er hat ja schon bei seinen Ausflügen in die Wirtschaft bewiesen, dass er von Geld wenig hält oder zumindest wenig versteht.


Geht er an die Front?


Doch zurück zum Freischützen Lindner, der unlängst bei dpa auftauchte: Während des Osterfestes hatten sich einige führende deutsche Politiker publikumswirksam in den Dienst (oder was sie als einen solchen ansahen) des Volkes gestellt. So leistete der jeden Mitgefühls unverdächtige CDU-Chef Merz eine Frühschicht auf der Intensivstation des Klinikums Hochsauerland ab, was uns in Sorge versetzt, dass bei einigen Patienten schwere Traumata zurückblieben, nachdem sie in das ungeschminkte Antlitz des Kapitalismus blicken mussten. Cem Özdemir hingegen, der grüne Landwirtschaftsminister, für wenig durchdachte Anregungen und gründliches Scheitern beim Einhegen der Agrar-Industrie bekannt, übte vier Tage mit der Bundeswehr und betätigte sich anschließend per Twitter als Barras-Werber.


Das mochten die FDP-Spitzen, allen voran die nur äußerst Gebildeten bekannte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, Justizminister Marco Buschmann und eben unser Christian Lindner, nicht auf sich sitzen lassen. Eifrig twitterten sie ihrerseits, dass sie Anno Dunnemals auch schon an Wehrübungen teilgenommen hätten.


Für die beiden anderen war das wohl eine PR-Pflichtübung, aber bei dem Vollblutpolitiker Lindner beschleichen mich Ängste, dass er sich in der ihm eigenen selbstlosen Aufopferung für die Sache seine beiden Büchsen über die Schulter hängt, gen Front in die Ukraine entschwindet und als Scharfschütze die Russen Mores lehrt. Nur haben die auf der anderen Seite auch Sniper, und wir sehen Christian vielleicht nie wieder…
04/2023
Dazu auch:
Artenschutz à la FDP im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)






Wunsch wird Vater


Nicht nur das fachliche Wissen potenziert sich in der Welt unablässig, auch die verfügbaren Informationen (oder oft nur Meinungen) vermehren sich exponentiell. Diese Nachrichten zu überprüfen, einzuordnen, zu gewichten und gegebenenfalls zu verbreiten,gehört eigentlich zum Metier der Journalisten. Natürlich kann diese Mega-Aufgabe nie völlig zufriedenstellend bewältigt werden, doch zeigt sich in der gegenwärtigen völlig unübersichtlichen Situation auf diesem Planeten, dass die schreibende und kommentierende Zunft zumindest hierzulande zu schlecht darauf vorbereitet ist, um eine wenigsten halbwegs plausible Berichterstattung zu garantieren.


Augen zu und rein in die Propaganda!


Dass Journalisten in Krisenzeiten klinisch neutral und unverrückbar objektiv bleiben, ist nicht zu erwarten, schließlich kann sich kein Mensch gegen emotional bedingte Parteinahme absichern, und ohne Engagement sowie Empathie würden Reporter als bloße Nachrichtenticker wahrgenommen. Im Ukraine-Krieg allerdings geht der Gaul der ausufernden Sympathie mit vielen deutschen Korrespondenten und Kommentatoren durch, lässt sie geifern oder phantasieren und schmälert so die Ernsthaftigkeit und nicht selten auch den Wahrheitsgehalt der Artikel.


Davon abgesehen, dass in der „Qualitätspresse“ etliche Politik-, Feuilleton- und sogar Sportredakteure über Nacht zu Experten in  militärischer Taktik und Strategie, darüber hinaus zu Kennern sämtlicher lieferbaren Rüstungsgüter, vom Schützenpanzer bis zur Haubitze, geworden sind, wird der endgültige Sieg des ukrainischen Volkes über die Invasoren rastlos herbei geschrieben. Als Speerspitze einer zur Kriegspropaganda mutierten Berichterstattung fungieren die t-online-news von Ströer, einer Reklamefirma, die mit der Unterrichtung des Volkes auf der Telekom-Website beauftragt wurde.


Selten vergehen mehr als zwei Tage, ohne dass von der unmittelbar bevorstehenden Niederlage der Russen, vom (sehr) heimlichen Aufstand gegen Putin und von dessen baldigem Ende als Feldherr, Staatschef oder Mensch die Rede ist. Moskau kann einem fast leidtun angesichts der NATO-Wunderwaffen, der permanenten ukrainischen Erfolge und der Unfähigkeit der eigenen Truppen. Wäre ja nichts gegen zu sagen, wenn es denn stimmte. Aber bei Ströer (wie in vielen anderen Publikationen) scheint der Wunsch zum omnipotenten Vater des Gedankens geworden zu sein – und das ist Fiktion, nicht Journalismus.


Die russischen Truppen sind trotz aller schönen Hoffnungen immer noch nicht geschlagen, und der wirtschaftliche Kollaps des Putin-Regimes lässt auch auf sich warten. Sollten sich die Medien nicht vielleicht etwas von der Kriegsbegeisterung weg und auf Friedensbemühungen zu bewegen? Aber damit wollen sie sich derzeit nicht beschäftigen, auch wenn sie so die Todsünde der Unterschlagung von Informationen begehen. So wurde der chinesische Zwölf-Punkte-Vorschlag pauschal verworfen – von der Politik und den Medien hierzulande, nicht aber von der ukrainischen Regierung. Deren Außenminister Dmytro Kuleba telefonierte mit seinem Kollegen in Peking und teilte ihm mit, Kiew lehne zwar eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland ab, stimme aber anderen Punkten zu und werde den Plan genau prüfen. Sein Regierungschef Selensky hatte bereits erklärt, an Verhandlungen mit Chinas Staatsoberhaupt Xi interessiert zu sein.


Und Präsident Luiz Ignácio Lula, der die Neutralität des einflussreichen Schwellenlandes Brasilien betont und ebenfalls zwischen den Kriegsgegnern vermitteln würde, nannte das Gespräch von Xi mit Putin „eine gute Nachricht“. Es handelt sich zwar nur um zarte Pflänzchen der Friedenshoffnung, um schüchterne Anbahnung von Kontakten, aber alles, was die Zerstörung der Ukraine stoppen könnte, ist medialer Aufmerksamkeit wert. Die deutschen Leser bekommen davon allerdings kaum etwas mit, weil ihre Zeitungen in Kriegsbesoffenheit schwelgen.


Die Nachricht hinter der Nachricht


Ganz anders geht es oft zu, wenn die Zeitungen der Republik über den ökonomischen und sozialen Status der Bevölkerungsmehrheit im eigenen Land schreiben. Dann verschanzen sie sich hinter nackten Zahlen und verzichten gern auf Interpretation sowie Relativierung. Fakt ist, dass die Altersrenten auch in diesem Jahr steigen werden, so wie sie bereits zum Juli 2022 bereits erhöht wurden.


Rund 4,4 Prozent im Westen der Republik, knapp 5,9 im Osten heuer: Das deutet die gut- und großbürgerliche FAZ als „Ordentliches Plus“ für Rentner und Rentnerinnen, während Springers WELT bereits Ende 2022 angekündigt hatte: „Die Rentner in Deutschland können mit mehr Geld im kommenden Jahr rechnen.“ Können sie, nützt ihnen aber nichts.


Bereits im vorigen Jahr gab es 5,35 Prozent (Osten: 6,12) mehr Geld aufs Konto, zu gleichen Zeit stiegen aber die Lebenshaltungskosten um 7,9 Prozent, was unter dem Strich weniger Mittel für alle Ruheständler und zunehmende Bedürftigkeit für Millionen von Rentnerhaushalten bedeutete. In diesem Jahr lag die Inflationsrate im Februar bei 8,7 Prozent. Selbst wenn sie in den nächsten Monaten ein wenig zurückgehen sollte, verwandelt sich bei 4,4 Prozent Steigerung auch für 2023 das „ordentliche Plus“ in ein reales Minus. Die extreme Zuspitzung eines solchen Missverhältnisses gab es während der Hyperinflation 1923 in der Weimarer Republik: Plötzlich hatten die Menschen mehr Geld, sogar Banknoten im Wert von Millionen Reichsmark, nur konnten sie sich dafür nichts kaufen.


Es sei nicht verschwiegen, dass einige Journalisten die gegenwärtige Krise thematisierten und so die vielerorts irreführenden Schlagzeilen konterkarierten. So warnte etwa der Kölner Stadt-Anzeiger: „Trotz Erhöhung steigt also weiter die Gefahr, im Alter in die Armutsfalle zu geraten.“


Ein Hort der Toleranz?


Unsere Welt wird immer bunter, offener und diverser! Gut, vielleicht nicht in Qatar und anderen arabischen Wüsteneien, auch nicht in Russland, China, den meisten afrikanischen Staaten und bei BILD, aber doch bei uns, zumindest in der liberalen Presse.


Warmherzig wurde dort das Outing des tschechischen Fußball-Nationspielers Jakub Jankto gefeiert. Er ist weltweit der erste aktiv für sein Land spielende Kicker-Profi, der seine Homosexualität öffentlich gemacht hat. Vor ihm waren nur ein australischer und ein englischer Berufsspieler, jeweils ohne nationale Berufung, so frei; der Deutsche Thomas Hitzlsperger wagte den Schritt erst nach Ende seiner Karriere.


Überschwänglich reagierten die Bundesliga-Vereine, sonst eher als knallharte Konzerne der Unterhaltungsindustrie mit teils krawallbereiter Anhängerschaft bekannt, auf das Outing im fernen Prag: „Respekt und Dank“ zollte etwa Borussia Dortmund, der VfB Stuttgart übermittelte „Gratulation und Liebe“, desgleichen Mainz 05, und Eintracht Frankfurt kreuzte gar die Schwelle zum Kitsch („Liebe hat keine Grenzen“).


Wenn man den Kolportagen in den deutschen Blättern folgte, konnte man den (männlichen) Profi-Fußball in Deutschland für einen Hort der Toleranz halten. Schade nur, dass in den ersten drei Ligen, also unter knapp 1600 Spielern, die dem Ball berufsmäßig nachjagen, kein einziger Schwuler ist. Jedenfalls hat sich noch keiner gemeldet. Es wäre ein lohnendes Sujet der Recherche für Sportjournalisten, herauszufinden, warum dem so ist. Mögen Homosexuelle keinen Fußball, sind technisch zu schlecht und körperlich zu wenig fit – oder misstrauen sie vielleicht den Toleranz-Bekenntnissen einer als ziemlich skrupellos und reaktionär verschrienen Branche (St. Pauli sei ausgenommen)?


Die etwas andere KI


Wenn die Bundesregierung ein Gesetz, einen Personalwechsel oder einen neuen Etat ankündigt, wenn der Oppositionsführer dagegen wettert, hat die Presse dies als Faktum zu melden, danach kann sie es überprüfen und kommentieren. Und sie darf den Unsinn, der häufig in öffentlichen Statements abgesondert wird, gewichten und für zu leicht befinden.
Versagt ein Minister, hat ein Politiker den Bürgern geschadet oder fraternisiert er allzu deutlich mit den Wirtschaftslenkern (wie die Oligarchen bei uns heißen), sollten die Medien als Vierte Instanz wirken, Änderungen anregen oder anrüchige Vorhaben bloßstellen.


Wenn aber Leitartikler die grob fahrlässige Ignoranz des Dreigestirns Lindner, Wissing und Scholz gegenüber der Notwendigkeit, den Klimawandel durch schnelle, radikal durchgreifende Maßnahmen zu bremsen, behandeln, sind vornehme Zurückhaltung und laue Unparteilichkeit fehl am Platz.


Wenn betuchte Umweltsünder und schadstoffhaltigen Müll produzierende Betriebe geschont und gefördert, Rennstrecken für SUVs ausgebaut und die Schienennetze dem Verfall preisgegeben werden, wenn die Grundversorgung der Bevölkerung immer konsequenter eingeschränkt wird, sich die Kluft zwischen einer allgemeine Ressourcen verschwendenden Minderheit ganz oben und einem rasch anwachsenden Prekariat unten rapide erweitert, dann müssten die Edelfedern der Republik eigentlich öffentlich die Frage stellen, ob ein System des ungehemmten Marktes und des bedenkenlosen Wachstums die Zukunft aller garantieren kann.


Stattdessen liefern die Granden der gehobenen Publizistik meist fein ziselierte Essays über den Zustand der Gesellschaft, in denen man geistreiche Vignetten zum Status quo finden kann, aber keine profunde inhaltliche Auseinandersetzung. Die Sinnhaftigkeit der Politik und die Eignung unserer Wirtschaftsordnung für den globalen Überlebenskampf in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren wird nicht hinterfragt. Die jetzige Konstellation wird als gegeben akzeptiert, der gesellschaftliche Ist-Stand gilt als sakrosankt, allenfalls kosmetische Änderungen sind denkbar, die in eleganten Kommentaren mit spritzigen Sottisen für die Galerie beschrieben werden.


Das Sentiment, das viele Journalisten in ihre derzeitige Kriegsbegeisterung investieren, lassen sie vermissen, wenn es um unsere gesellschaftlichen Perspektiven geht. Dann wirken ihre Elaborate so routiniert und substanzlos, als stecke die vielbeschworene KI dahinter. Und irgendwie ist es ja auch so: Was da abgesondert wird, scheint künstlicher Intelligenz zu entstammen – „künstlich“ im Sinn von „unecht“ oder „nachgeahmt“.
04/2023
Dazu auch:
Unterbliebene Fragen im Archiv der Rubrik Medien (2022)








Prinzipien abgetaucht


Sind wir nicht die allgegenwärtigen Tugendhüter dieser Erde? Haben wir uns nicht vorbildlich geläutert und unsere Holocaust-Schuld ohne besonders viel Reflexion zu Lehrmaterial für andere Nationen recycelt? In der Tat, zumindest verbal machen wir die Welt besser – und bessern ganz nebenher unser Einkommen damit auf. Die Berliner Regierung hat es verstanden, Moralpredigten auf  Auslandsreisen zu Begleitprogrammen für Verkaufs- und Kaffeefahrten umzuwandeln. Nach dem Motto: Wir verscherbeln euch unsere Einsichten und legen noch Rüstungsgüter made in Germany obendrauf. Wie das geht, hat unlängst erst der Top-Vertreter der Republik, Bundeskanzler Olaf Scholz, auf seiner Animationstour durch Indien gezeigt. Die Medien begleiten alles, wundern sich vielleicht, fragen aber nicht weiter nach.


Waffen gehen gar nicht, außer…


Frieden und Nichteinmischung gelten der Bundesregierung als höchste Güter – zumindest, wenn Störungen und Interventionen auftreten, die in der westlichen Werteordnung nicht vorgesehen sind. Deswegen hat Kanzler Scholz im ZDF-Talk „Maybrit Illner“ China davor gewarnt, Russland mit Waffen zu unterstützen. Den Machthabern in Peking habe er klar gesagt, „dass das nicht akzeptiert werden kann“.


Davon abgesehen, dass ein Rüstungsexport per se die Wahrscheinlichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung bzw. deren Eskalation erhöht, lässt sich aus den mahnenden Worten des Staatsmannes der ethische Anspruch, zwischen guten und bösen Waffenlieferungen entscheiden zu können, heraushören, der durch das leuchtende Vorbild des eigenen Landes begründet zu sein scheint. Zu weit sollte man sich aber nicht in der Welt umschauen, auch sei nicht geraten, die Aktivitäten des Bundeskanzlers und seiner Regierung zu genau unter die Lupe nehmen, um nicht in schwere Zweifel bezüglich Scholz‘scher Prinzipientreue zu verfallen.


Wo immer auf der Erde derzeit gebombt und geschossen wird, ist deutsche Wertarbeit nicht weit. Raketen, Geschütze, Drohnen und Munition, die Jemeniten töteten oder verstümmelten, wurden zuvor aus der Bundesrepublik an die arabische Invasionsallianz geliefert. Im libyschen Machtkampf spielt Kriegsmaterial, das in den Waffenschmieden an Rhein und Neckar gefertigt wurde, eine ebenso große Rolle wie zuvor auch schon im Irak, und in Mexiko setzen die Drogenkartelle bevorzugt auf Schnellfeuergewehre aus Alemania, wobei die Polizeikräfte mit gleicher Münze (bzw. Patrone) heimzahlen. Und wenn dem ägyptischen Militärdiktator as-Sisi der Sinn nach U-Booten oder Panzern steht, knüpft die Berliner Politik gern die zarten Bande zur heimischen Todesindustrie.


So ist es nicht verwunderlich, dass der Wirtschaftsdelegation, die Olaf Scholz kürzlich nach Indien begleitete, auch ein Vertreter von ThyssenKrupp Marine Systems angehörte. Dort äußerte Premier Narendra Modi einen bescheidenen Wunsch und stieß sofort auf offene Ohren. Er würde nämlich gern sechs moderne U-Boote, wie sie Thyssen baut, erwerben, voraussichtlich zum Stückpreis von einer Milliarde Euro.
Eigentlich geht das nicht, denn seit 1961 leistet sich die Bundesrepublik eine Ergänzung zum Grundgesetzartikel 26, das sogenannte Kriegswaffenkontrollgesetz, das kategorisch Exporte an Empfänger untersagt, die Kriegswaffen bei „einer friedensstörenden Handlung“ insbesondere bei einem Angriffskrieg verwenden“. Außerdem darf eine solche Lieferung die völkerrechtlichen Verpflichtungen der BRD nicht verletzen. Allerdings hat bislang noch jede Regierung dieses Gesetz nach Herzenslust gebrochen.


Frieden? Bündnis? U-Boot-Deal!


Indien hat drei große Kriege gegen Pakistan geführt, mehrere blutige Grenzkonflikte mit China ausgetragen, und es unterdrückt in Kaschmir die dortige Bevölkerungsmehrheit blutig. Aber, so sagen die deutschen Politiker weise (aber vielleicht auch nur raffiniert), Indien sei eine Demokratie. Die sonst von bürgerlichen Gesellschaften bemühten Maßstäbe für ein vom Volkswillen gesteuertes, durch Gewaltenteilung gekennzeichnetes Staatswesen werden bei dieser Einschätzung großzügig außer Acht gelassen. Zwar finden Wahlen statt, doch längst nicht alle stimmen ab – weil sie daran gehindert werden, weil sie als Analphabeten (im kulturtechnischen, nicht digitalen Sinn) nicht von der Möglichkeit dazu erfahren haben, weil sie weggesperrt sind oder angesichts der Alternativen verzweifelt sind.


Die beinahe 200 Millionen Muslime werden von den Hindu-Nationalisten der regierenden Bharatiya Janata Party zu Menschen zweiter Klasse degradiert und indigene Völker aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben, wann immer eine korrupte Obrigkeit die mächtigen Kapitalinteressen bedienen möchte. Etliche Millionen Inder leben in Leibeigenschaft oder sogar Sklaverei, wie man u. a. Aravind Adigas mit dem Booker-Preis ausgezeichnetem Roman „The White Tiger“ entnehmen kann.


Seit Modis Regierung den eigentlich von der Verfassung garantierten Teilautonomie-Status für den indischen Teil Kaschmirs, ein umstrittenes Gebiet an den Grenzen zu Pakistan und China, gestrichen hat, herrschen dort Behördenwillkür und Repression gegen die moslemische Bevölkerungsmehrheit. Der Evangelische Pressedienst (epd) berichtet von Tausenden Aktivisten, Politikern und Geschäftsleuten, die verhaftet worden seien. Indiens bedeutendste Autorin Arundhati Roy klagt in ihrem Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“ die Regierung in Delhi brutaler Methoden in Kaschmir an, die von Verschleppung und Folter bis zur systematischen Liquidierung Oppositioneller reichen.


Selbst dem passionierten Ignoranten Olaf Scholz (siehe Cum-Ex) dürfte kaum entgangen sein, dass sich in Kaschmir ein latenter Aufstand gegen die „Hinduisierung“ abspielt, der angesichts der sich in den Bergen gegenüberstehenden Truppen Pakistans und Indiens jederzeit zu einem Krieg zweier Atommächte eskalieren könnte. Auch müsste ihm bewusst sein, dass Modi keineswegs einer klassischen Demokratie vorsteht und dass sein Nationalismus rassistische Züge aufweist, dass die demnächst bevölkerungsreichste Nation der Erde mitnichten ein sicherer Aufbewahrungsort für moderne Waffensysteme ist.


Aber die treue hanseatische Krämerseele ist bei ihrem Delhi-Trip damit gescheitert, den skrupellosen Hindu-Premier zum Alliierten im Ukraine-Konflikt zu machen und ihn aus der Wirtschaftsunion mit Russland und China in eines der im globalen Süden so gefürchteten Freihandelsabkommen mit der EU zu locken, also sollte doch wenigstens ein U-Boot-Deal bei der Visite herausspringen.


Scheinheiligkeit, bei der alle mitmachen


Aber eigentlich kann Scholz ganz froh sein, dass Delhi weiterhin gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau unterhält, denn so gelangt Deutschland weiterhin an russisches Erdöl, wenn auch auf dem indischen Umweg. Es ist eine Situation, in der Zwei mit Einbußen, aber relativ glimpflich davonkommen und Einer prächtig profitiert: Der clevere Modi nimmt Putin den Stoff unter Marktwert ab und verkauft ihn mit saftigem Aufschlag an Scholz.


Weil die durstige deutsche Industrie damit einigermaßen besänftigt werden kann, kommt die Berliner Regierung mit einem blauen Auge davon und zeigt sich dem Profiteur zur Freude der hiesigen Rüstungsbranche mit einer Kriegsschiff-Zugabe erkenntlich. Zwar befürchtet die Münchner Abendzeitung (AZ) noch Komplikationen bei der Abwicklung des Geschäfts, weil die Inder die Boote in ihrem Land bauen lassen wollen, doch da wird sich eine Lösung finden. Ein zweites Problemchen, das im Bericht angeführt wird, dürfte sich blitzschnell in Luft auflösen: „…und dann ist da auch noch die Koalition in Berlin. Die Grünen stehen Rüstungsexporten an Drittstaaten mindestens skeptisch gegenüber.“


Liebe AZ! Für eine Handvoll schmutziger Energie würde Robert Habeck noch ganz andere Kröten schlucken. Viel interessanter wäre es für die Medien hierzulande, die an allen Ecken und Enden eiernde Quadratur des Ampelkoalitionskreises zu untersuchen: Die deutsche Regierung belohnt einen Hindu-Chauvinisten mit kriegerischer Attitüde durch Aufrüstung dafür, dass er ihr fossile Brennstoffe aus den Beständen eines Neo-Imperialisten, die sie eigentlich zum Schutz des Weltklimas ächten  möchte, liefert – und sie dadurch den von ihr selbst implementierten Boykott Russlands umgehen kann. Eine Gemengelage wie in einem Münster-Tatort der ARD, aber weniger lustig…
03/2023
Dazu auch:
Modi räumt auf im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2020)








Ein Gas- und Waffenmakler


Spitzenpolitiker begeben sich gern auf ausgedehnte Auslandsreisen, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben und daheim nichts vorangeht. So konnten wir Olaf Scholz auf Tour durch Südamerika beobachten, wo er einerseits als selbsternannter EU-Emissär Waffen für die Ukraine anmahnte und zum andern versuchte, das deutsche Energieverlangen zu stillen,

indem er die Sünden wider Klima und Umwelt auf den fernen Subkontinent abwälzte. Doch ob er nun in Argentinien, Chile oder Brasilien vorsprach – er wurde von den dortigen Regierungen als ein heikler Gast empfangen, dem neben merkantilen Zugeständnissen auch geopolitische Ablehnung zuteilwurde.


Ausgebeutete wollen nicht mit ins Boot


In drei Tagen besuchte Scholz drei Länder und versuchte im Stil eines eiligen Handelsvertreters, den Regierungen dort drei Anliegen der EU-Wirtschaft und der NATO schmackhaft ans Herz zu legen: Waffen für die Ukraine, Wirtschaftssanktionen gegen Russland und Gas für das darbende Westeuropa.


Beim Versuch, die dem Westen so wichtige, aber faktisch nicht existente globale Einheitsfront der demokratischen Staaten gegen Russland im Ukraine-Krieg auszuweiten, blamierte sich der deutsche Kanzler gründlich.

Schon die Administration in Washington hatte vergeblich eine militärische Kooperation Argentiniens mit Kiew ins Spiel gebracht und Buenos Aires aufgefordert, einst gekauftes Kriegsgerät aus Russland bzw. der UDSSR ins

Kampfgebiet zu liefern, obwohl dafür modernerer Ersatz aus US-Produktion in Aussicht gestellt wurde (vermutlich zu kleinem Aufpreis). In seiner  Funktion als eifriger Sendbote Bidens hatte Scholz das Thema nochmals aufs Tapet gebracht und sich eine krachende Abfuhr durch den Gastgeber eingehandelt: Es sei notwendig, „so bald wie möglich wieder Frieden herzustellen“, erklärte Präsident Alberto Ángel Fernández, aber „Argentinien und Lateinamerika denken nicht daran, Waffen zu schicken, weder an die Ukraine noch an einen anderen Konfliktort“.


Die Bitte, der Ukraine Panzergeschosse zu liefern, wurde Scholz auch in Brasilien abgeschlagen. Präsident Lula stellte unmissverständlich klar, sein Land habe „kein Interesse, die Munition weiterzugeben, damit sie im Krieg zwischen der Ukraine und Russland eingesetzt wird“. Zumal für ihn die Kriegsschuld trotz der russischen Invasion nicht eindeutig geklärt ist: "Ich glaube, Russland hat den klassischen Fehler begangen, in das Territorium eines anderen Landes einzudringen. Aber ich denke immer noch: 'Wenn einer nicht will, streiten zwei nicht.'" Lula schloss jegliche Beteiligung am Krieg aus und erklärte seinem Staatsgast kategorisch: „Brasilien ist ein Land des Friedens“. Das hätte Scholz angesichts des martialischen Auftretens der Grünen, Liberalen und etlicher Genossen aus der eigenen Partei über Deutschland nicht ohne Weiteres sagen können.


Es sind die Scheinmoral und Doppelzüngigkeit, mit der die USA und die westeuropäischen Staaten seit jeher in Lateinamerika ihre Ziele ohne Rücksicht auf Menschenrechte, eine friedliche und soziale Entwicklung sowie die nur verbal beschworenen demokratischen Werte verfolgten, die fast alle Staaten der Weltregion davon abhalten, sich einer von der NATO dominierten Kriegskoalition anzuschließen.


Zu gut erinnert man sich auf dem Subkontinent an die postkoloniale Geschichte, als zunächst das britische Empire die Länder ausplünderte, ihnen eigene Produktion untersagte und blutige Konflikte wie den „Salpeterkrieg“ zwischen Chile, Peru und Bolivien anzettelte; als später die USA nach Gusto militärisch intervenierten, von Mexiko über Nicaragua bis Grenada, oder ihre Geheimdienste in Argentinien, Uruguay und Chile brutale Militärregimes an die Macht hievten; als deutsche Firmen wie Siemens, Daimler oder VW dort uniformierte Folterer auf ihr Firmengelände einluden, um sich unbequemer Gewerkschafter zu entledigen, oder Farmen in Amazonien von Zwangsarbeitern betreiben ließen.


Putins Überfall auf die Ukraine und seine auch Zivilisten nicht schonende Kriegsführung lehnen die Regierungen von Mexiko-Stadt bis Santiago unisono ab, aber deshalb wollen sie noch lange nicht gemeinsame Sache mit den skrupellosen Profiteuren der Vergangenheit machen, die auch jetzt wieder die interkontinentale Marktdominanz anstreben.


Deutschland vergibt Drecksarbeit


Auch das Ansinnen, die beiden Länder in den Sanktionskrieg gegen Russland einzubinden, scheiterte, ist doch Brasilien Moskaus Partner in der Wirtschaftsunion BRICS (Kürzel für Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), bei der nun auch Argentinien die Mitgliedschaft anstrebt. Ungeachtet der (egoistischen) strategischen Interessen der beiden Atommächte im Verbund, wird die Gemeinschaft als eine Art Gegengewicht für Schwellenländer zur ökonomischen Dominanz des Westens angesehen.


Seit mehr als zwei Jahrzehnten versucht die EU, ein Freihandelsabkommen mit der Wirtschaftsgemeinschaft MERCOSUR, der Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay angehören, in Gang zu bringen. Über 90 Prozent der Zölle würden dann für europäische Exporteure von Fertigprodukten wegfallen, und Investoren aus der Alten Welt könnten sich die Filetstücke der südamerikanischen Rohstoff- und Agrarpotentiale ohne gesetzliche Schranken sichern.


Doch die Regierungen in Buenos Aires und Brasilia fürchten ein ökonomisches Déjà-vu, ein Szenario, in dem die Industrie ihrer Länder vor den Importen aus Europa auf die Knie geht und sie ihre Mineralien und Ernten für geringen Erlös losschlagen müssen, um Fabrikate aus Übersee teuer ankaufen zu können. Das Freihandelsabkommen zwischen Chile und der EU ist ihnen Warnung genug: Auf Export spezialisierte Konzerne zahlen praktisch keine Zölle mehr, Bergbau-Giganten wie die deutsche Wintershall-Dea wiederum beuten die Lithium-Vorkommen aus und steuern die Weiterverarbeitung. Das Land aber darf den Europäern laut Abkommen keinen Rohstoff verweigern.


Angesichts der Windstille in den supranationalen Verhandlungen mit Mercosur und des militärpolitischen Misserfolgs hat Olaf Scholz seine kurze Reise zur Shopping-Tour umgestaltet, zum Wohle der deutschen Wirtschaft, aber nicht der Südamerikaner und des Weltklimas. So wird Chile grünen Wasserstoff liefern, wobei Siemens eine Hauptrolle übernehmen soll. Andere deutsche Unternehmen sind für die Ausbeutung der Kupfer- und  Lithiumvorkommen des Landes zuständig – und für die Weiterverarbeitung, was der Intention der Regierung in Santiago, die Industrialisierung mithilfe der Wertschöpfung aus dem Abbau und der Veredelung der Bodenschätze voranzutreiben, widerspricht.


Einen besonders perfiden Coup hat Scholz jedoch in Argentinien gelandet. Wie sein kongenialer Wirtschaftsminister Habeck versucht der Kanzler, verflüssigtes Fracking-Gas nach Deutschland zu holen. Nun wurde er am Fuß der Anden fündig: In der westargentinischen Region Vaca Muerta wird seit einigen Jahren Schiefergas mit der Fracking-Methode gefördert, beteiligt ist wieder einmal die deutsche Wintershall-Dea, deren Anteilsmehrheit übrigens BASF hält. Lecks an den Bohrstellen und andere Pannen beeinträchtigten die Gesundheit der Einheimischen und ihrer Nutztiere; die Gegend, die zuvor als erdbebensicher galt, verzeichnete seit 2018 rund 400 schwache Erdstöße, neunzig Prozent davon während größerer Fracking-Operationen. Die kritische Web-Plattform German-Foreign-Policy zitiert einen argentinischen Aktivisten zur Rolle von Wintershall-Dea: „Das Unternehmen begeht Umweltverbrechen mit Fracking, was es im eigenen Land nicht praktizieren darf.“ Scholz und sein Kabinett aber lassen sich feiern für einen Gas-Beutezug, der eine zerstörte Landschaft und Bewohner in permanenter Gefahrenlage hinterlässt.


Der Markt floriert, die Umwelt verkommt

Das ist eben das Fatale an der westlichen Marktideologie: Was den führenden Nationen nützt, darf anderswo unter umwelt- und klimaschädigenden Bedingungen gefördert, hergestellt oder verklappt werden. Grüne und SPD lehnen mit gutem Grund Fracking in Deutschland ab, kaufen das Endprodukt der riskanten Technologie aber in Argentinien ein, wo ein ganzer Landstrich durch die Gewinnung bedroht wird. Man kann hehre Klimaziele propagieren, aber zur Sicherung der eigenen Energieversorgung und zum Vorteil der heimischen Wirtschaftskonzerne in anderen Ländern die Zerstörung der Natur in Auftrag geben. Dem (rhetorisch) eindringlichen Bekenntnis der bundesdeutschen Regierung zur Verantwortung für das Weltklima spricht das allerdings hohn.


Das gilt auch für die angeblich symbiotischen Freihandelsabkommen der EU mit Entwicklungs- oder Schwellenländern. Diese Verträge werden vornehmlich geschlossen, um der Auto-, Pharma-, Agrar- oder Elektroindustrie günstige Absatzmöglichkeiten zu eröffnen, in deren Folge die Umweltbelastungen dramatisch ansteigen – und um Europas Bedarf an Viehfutter, Rindersteaks oder Bodenschätzen zu decken, auch wenn dafür die artenreichsten Waldgebiete der Erde unwiederbringlich verlorengehen. Die Deutsche Umwelthilfe warnt deshalb vor dem nächsten Teufelspakt:


„In dieser Woche ging es für Bundeskanzler Scholz nach Brasilien, um über einen Neustart des zwischenzeitlich auf Eis gelegten Handelsabkommens zwischen der EU und der lateinamerikanischen Freihandelszone Mercosur sprechen. Redebedarf gibt es da aus unserer Sicht eine Menge. Denn wenn die Zölle auf Importprodukte wie Fleisch, Soja sowie Autos aus der EU wie geplant gestrichen werden, rücken die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens und des Weltnaturschutzvertrags von Montreal in weite Ferne. Die Folgen für Natur und drohende Menschenrechtsverletzungen vor Ort wären hingegen verheerend.“


Die besonders in unserem Land weit verbreitete Scheinheiligkeit bezüglich der internationalen Verpflichtung, den Klimawandel zu bekämpfen und damit auch die Schadstoffemissionen durch Renaturierung signifikant zu verringern, entlarvt sich durch schlichte Versäumnisse: Während die Bundesregierung nicht müde wird, die Abholzung der ökologisch und klimaschutztechnisch essentiellen Regenwälder Amazoniens anzuprangern, schafft sie es nicht, den bescheidenen Vorgaben der EU nachzukommen, die sich verpflichtet hat, bis 2030 mindestens 30 Prozent ihrer Land- und Meeresflächen unter Naturschutz zu stellen. Deutschland weist derzeit

gerade einmal 3,6 Prozent seiner Flächen als Naturschutzgebiete aus.


Und das Ganze exemplarisch auf Bundesländerebene heruntergebrochen:

Der bayerische Ministerpräsident Söder, dem es einst opportun schien, Bäume zu umarmen, lässt weiter die höchst naturschädliche künstliche Beschneiung in der Alpenregion zu, weigert sich, den Steigerwald, das wohl wichtigste Buchenhabitat Mitteleuropas, zum Nationalpark zu erklären, und hat bislang noch kein wirksames Gesetz gegen den vehementen Fortschritt der Bodenversiegelung im Freistaat auf den Weg gebracht. Obwohl das alles leichter zu bewerkstelligen wäre, als den brasilianischen Urwald vor unserer Gier zu schützen…

02/2023
Dazu auch:
Ende der Allmacht (2022), Krieg gegen die Natur (2021) und Von Bayern lernen? (2020) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund







Wer straft Exxon?


Immer wenn bedrohliche Prognosen zur Erderwärmung und zum Treibhauseffekt durch fossile Emissionen die Runde machten, wiegelten die Öl- und Gaskonzerne als maßgebliche Verursacher souverän ab. Vor allem ExxonMobil, der wohl mächtigste Energie-Dinosaurier, ließ alarmierende Klimaberechnungen durch eigene Sprecher als krude Horrorvision abtun. Vertraut der Konzern nur ihm gewogenen Fachleuten oder er hat wirklich keine Ahnung von den fatalen Folgen seines Tuns, wurde allerorten gerätselt. Nun kam heraus, dass der Konzern durch eigene Forscher all die Jahre genau  darüber informiert war und die Öffentlichkeit permanent belog. Sehenden Auges beförderte er die Welt weiter in Richtung Katastrophe, und nun ist es fraglich, ob er irgendwelche Konsequenzen zu befürchten hat.


Auch die Wissenschaft dient


Globale Bedrohung durch die Erderwärmung? Nicht, wenn man den öffentlichen Verlautbarungen von ExxonMobil (EM), einem der weltweit größten Unternehmen, Glauben schenkte. Der Energiekonzern führte über Jahrzehnte hinweg einen regelrechten Propagandakrieg gegen die Klimaforscher, deren überwältigende Mehrheit wachsende Gefahren durch abschmelzende Polkappen und steigende Meeresspiegel, verursacht durch Treibhausgasemissionen, prognostizierte. Dabei wusste die EM-Führungsriege längst, dass die beunruhigenden Berechnungen korrekt waren, die eigenen Wissenschaftler kamen nämlich zu ähnlichen Ergebnissen. Der Ölkonzern täuschte also systematisch seine Kunden und Aktionäre, um ungestört weitere fossile Ressourcen erschließen zu können.


Die Nachrichtenagentur Reuters und die harscher Kapitalismuskritik unverdächtige Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zitieren aus der im renommierten Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichten Studie eines Forschertrios, die u. a. den Informationsstand von EM zum Sujet und den Umgang damit zum Thema hat: Geoffrey Supran und Naomi Oreskes von der Harvard-Universität sowie Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung haben zwölf Dokumente mit sechzehn Klimavorhersagen aus den Jahren 1977 bis 2003 untersucht, die der Konzern intern hatte erstellen lassen.


Immer wieder taucht in solchen Zusammenhängen die Frage auf, wie unabhängig die Wissenschaft sei, wie integer die Interpretation von Daten und Ergebnissen vorgenommen werde. Eine schlüssige Antwort fällt schwer, da die Hintergründe und Intentionen von Erhebungen und Untersuchungen oft nicht bekannt sind. Wenn aber ein Konzern Forscher, die in seinem Sold stehen, damit beauftragt, Klimamodelle durchzurechnen, dann sicherlich mit der Absicht, die ihn belastenden Aussagen anderer Wissenschaftler zu widerlegen. Es ist ein Unterschied, ob unterbelichtete AfD-Hanseln in Trump-Gefolgschaft die Erderwärmung aus purer Engstirnigkeit  leugnen, oder ob die Chefs eines Öl-Multis dies tun, um künftige Geschäfte zu legitimieren.


Die Wissenschaft dient also – im Glücksfall der Menschheit, weit häufiger jedoch den Marktmächten. In unserem Fall allerdings leisteten die von EM beauftragten Experten ihrem Brotgeber einen Bärendienst: Sie arbeiteten zu genau, lagen mit ihren Prognosen im Mittel zu 75 Prozent richtig und sagten völlig korrekt eine Erwärmung der Erdatmosphäre um 0,2 Grad Celsius pro Jahrzehnt voraus. So kamen sie zu ähnlichen Ergebnissen wie die autarken Fachinstitute, denen sie eigentlich Fehleinschätzungen nachweisen sollten.


Eigene Verbrechen analysiert


Trickserei, Täuschung und Übervorteilung im Kunden- und Medienverkehr gelten als gängige Kavaliersdelikte der „freien“ Marktwirtschaft (vergl. die Praktiken von Pharma-, Auto- oder Lebensmittelkonzernen), viel schwerer wiegt jedoch die Anschuldigung, die Perspektiven der Erdbevölkerung für den kurzfristigen Profit aufs Spiel zu setzen. Besonders peinlich für EM ist dabei, dass der Versuch, sich vom Verdacht der universalen Umweltzerstörung reinzuwaschen, in eine lückenlose Analyse der eigenen Verantwortlichkeit für das Desaster mündete.


Natürlich blieb der Konzern bei seiner Strategie der Desinformation, negierte die Erkenntnisse seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter und fährt bis heute damit fort, die Erde durch verstärkte Förderung fossiler Brennstoffe und Ausbeutung neu entdeckter Vorkommen (vorzugsweise in Naturschutzgebieten) unbewohnbarer zu machen. Dummerweise widerlegten seine Forscher auch das EM-Schutzargument, eine neue Eiszeit stehe unmittelbar bevor. Stattdessen prognostizierten sie, dass ein „Super-Interglazial“, eine durch die weltweiten CO2-Emissionen ausgelöste Warmzeit mit ungewöhnlich hohen Temperaturen, zu erwarten sei.


Selbstredend bleibt EM bis heute bei seiner „alternativen Wahrheit“ und profiliert sich als Umweltfake-Produzent ersten Ranges, richtet sich das Augenmerk des Managements doch auf die Quartalsberichte für die sowie die Erfolgsmeldungen von der Börse und nicht auf ein fernes (nicht kurzfristig zu kapitalisierendes) Überleben der Menschheit. Die NZZ zitiert in diesem Zusammenhang Nadine Strauß vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Uni Zürich, die den „Fall ExxonMobil“ als „Paradebeispiel“ sieht, und zwar für die Tatsache, dass sich die größten Emittenten unserer Welt ihrer Verantwortung in der Klimakrise entzögen – und das schon seit Jahren.


Seit etlichen Dekaden, möchte man hinzufügen, und dies auch noch in Dekaden tun werden – wenn man sie denn lässt.


Zur Verantwortung ziehen! Aber wie und wo?


Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (SZ) hat sich der Kulturjournalist und Schriftsteller Felix Stephan mit dem Mega-Skandal beschäftigt, vor allem aber mit der Frage, wie ein so offenkundiges Vergehen gegen die Bevölkerung und die künftigen Generationen geahndet werden könnte. Er erinnert an die Kriegsverbrecherprozesse nach 1945, die den Anfang der
Strafverfolgung staatlicher Verbrechen und einer in supranationalen Gerichtshöfen angesiedelten internationale Rechtsprechung markierten. Nun ist dem Autor aber zumindest ansatzweise bewusst, dass im Fall von Öko-Verbrechen der Nachweis der Täterschaft, das Ausmaß von Umweltschäden, die sich erst noch in ihrer Zerstörungskraft zeigen werden, das Strafmaß und die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten kaum im internationalen Konsens definiert werden können, wenn es sich um global agierende Konzerne handelt.


Tatsächlich stellt die Industrie lediglich das Equipment zur Verfügung, betätigt aber nicht selbst  den Auslöser. Schließlich sprüht kein Bayer-Angestellter das giftige Glyphosat auf die Felder, und die SUVs, die bei 200 Stundenkilometern neue Emissionsrekorde aufstellen, werden in der Regel von igns oranten und prestigesüchtigen Lindner-Avataren gesteuert, nicht von Porsche- oder Mercedes-Chefingenieuren. Noch dazu ist es vielen Durchschnittsbürgern aus finanziellen Gründen, vielleicht auch aufgrund des Mangels an Alternativen, kaum möglich, im Alltag auf umweltverträgliche Produkte auszuweichen, sie versündigen sich also ebenfalls an der Zukunft, wenn sie Fleisch aus Massentierhaltung kaufen oder wenn in ihrer näheren Umgebung nur Gemüse und Obst aus fernen Weltgegenden oder den Monokulturen von Lebensmittelgiganten für sie erschwinglich sind.


„Um aber zur Verantwortung gezogen werden zu können, muss man zumindest die Möglichkeit gehabt haben, sich anders zu verhalten“, schreibt Felix Stephan in der SZ. Davon abgesehen, dass den Produzenten heikler Ware ohnehin stets eine besondere Schuld an den negativen Entwicklungen trifft (ohne Rüstungsindustrie gäbe es weniger Opfer, ohne Heroinlabors der Mafia weniger Süchtige), liegt im Falle EM ein besonders klarer Schuldbeweis wegen Zerstörung von Lebensgrundlagen vor: Wenn ein Konzern, der von seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern schon 1977 informiert wird, dass seine Geschäfte die „potenziell katastrophalen Folgen“ des menschengemachten Klimawandels nach sich zögen und diese um das Jahr 2000 auch mess- und spürbar würden, muss er seine Strategien ändern. Tut er das nicht und lässt seine Propagandisten wider besseres Wissen noch 2004 verbreiten, dass die Rolle des Menschen „wissenschaftlich ungewiss“ sei, handelt er nicht fahrlässig, auch nicht grob fahrlässig, sondern vorsätzlich und kriminell.


Folglich müsste EM zur Rechenschaft gezogen werden, doch die internationale Justiz ist auch schon beim Versuch, staatlich in Auftrag gegebene Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen, weitgehend gescheitert. Zwar wurden ein paar afrikanische Warlords und Militärs des gescheiterten Jugoslawien abgeurteilt, aber die Massaker in Vietnam, im Irak, in Libyen, Lateinamerika oder auch im mehrfach besetzten Afghanistan blieben in Den Haag ungesühnt, weil die Großmächte die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs dort für ihre Delikte einfach nicht anerkennen. Wer sollte nun erst die ökonomischen Global Players an den Pranger stellen und ihnen das Handwerk legen? Und wo soll gegen sie verhandelt werden?


Seltsamerweise ist es manchmal die nationale Justiz, das Provinzgericht sozusagen, die den großen Umweltzerstörern oder der eigenen Regierung Einhalt gebietet und bei Zuwiderhandlung empfindliche Strafen auferlegt. So erst unlängst geschehen, in Mexiko, Kanada, Frankreich und den Niederlanden. In Deutschland wirkt die Justiz bei der Verfolgung von hochrangig verantworteten Versäumnissen allerdings ziemlich zahnlos: Als der bayerische Verwaltungsgerichtshof 2017 die Landesregierung dazu verpflichtete, Diesel-Fahrverbote in vom Smog besonders belasteten Stadtvierteln zu konzipieren, ignorierte diese das Dekret schlichtweg, vielleicht weil es sie bei der Ausübung ihrer Autolobby-Funktion störte. Und als Söder & Co dann nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe zu 4000 Euro Zwangsgeld verurteilt wurden, weil sie der Anordnung des Gerichtshofs nicht nachkamen, dann zahlten sie die paar Kröten aus der Portokasse. Wo Umweltdelikte wie Lappalien behandelt werden (und dies ist hierzulande häufig der Fall), verliert die Rechtsprechung jegliche korrigierende Wirkung.


Sollte aber EM vor den US-Gerichten einige der bereits wegen Umweltverschmutzung angestrengten Prozesse gegen bissige Star-Anwälte verlieren und zu Entschädigungen in Milliardenhöhe verurteilt werden (wie es etwa dem Exxon-Konkurrenten Shell nach der Ölpest im Golf von Mexiko widerfuhr), wird der Konzern vermutlich erst einmal auf seine (für diesen Fall weitsichtig) gebildeten Rückstellungen für Schadenersatzforderungen  zurückgreifen und anschließend die finanziellen Einbußen per Erhöhung der Produktpreise an die Kunden weiterleiten. Der Markt regelt schließlich alles…

01/2023
Dazu auch:

Verbieten verboten im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2020)






Schauriger Erfolg


Seit Putins Überfall auf die Ukraine versuchen NATO und EU, die russischen Aggressoren durch Sanktionen gegen Land und Leute zu schwächen – und richten dabei ein beträchtliches Chaos in den eigenen Reihen an. Geradezu verhängnisvoll wirken sich die selbstgerechten und oft vorteilsbedachten Markteingriffe des Westens aber auf die ärmsten Staaten der Dritten Welt aus, die weniger unter dem Krieg direkt leiden als unter dem Ausbleiben lebenswichtiger Importe aus Russland.


Auf Putin gezielt – Afrika getroffen


Kurz vor dem letzten Weihnachtsfest kamen sie wieder per E-Mail und Analogpost, die Unterstützungsappelle der Welthungerhilfe und des UN-Welternährungsprogramms. Global nehme die Zahl der unterernährten Menschen derzeit enorm zu, vor allem in der Sahelzone, im östlichen und südlichen Afrika drohten schwere und langandauernde Hungersnöte. Die weltweite Getreideernte sei um 2,4 Prozent zurückgegangen, weil nicht genügend Dünger zur Verfügung gestanden hätte. Dieser Umstand könnte nach UN-Schätzungen den Ertrag im laufenden Jahr um bis zu 20 Prozent mindern.


Etwa zur gleichen Zeit gestand die EU indirekt ein, dass ihre seit acht Monaten bestehenden Sanktionen den Export von Düngemitteln aus Russland, das zu den weltgrößten Produzenten zählt, nach Afrika verhindert hätten, und gelobte Besserung. Im Dezember kündigte Brüssel an, die Sanktionen gegen sechs Oligarchen (wie im Westen ist auch im Osten das Agrar-Business in wenigen Händen) zu lockern, damit die Kleinbauern im Süden den kargen Boden anreichern könnten. Geschehen ist seitdem fast nichts, die Katastrophe nimmt ihren Lauf.


Wir erinnern uns: Als sich unter Erdoğans Vermittlung Moskau und Kiew auf die Verschiffung ukrainischer Getreideexporte übers Schwarze Meer einigten, wurde das in Brüssel als längst fälliger humanitärer Akt eingestuft. Doch dann griffen zunächst einmal mehrere EU-Staaten, dazu die Türkei und Ägypten tüchtig zu und sicherten sich ein Großteil des Korns. In die besonders darbenden Südsahara-Staaten oder nach Somalia gelangte fast nichts.


Unter den westlichen Sanktionen leiden sicherlich auch die Russen, selbst wenn deren Wirtschaft längst Vertriebswege nach China und in andere Länder gefunden hat und übrigens auch Unmengen Erdöl an die Bundesrepublik verkauft (über Indien). Wegen jahrzehntelanger Versäumnisse in der Energiepolitik stöhnen auch die Deutschen, die einen aus Sorge um ihren Komfort, die anderen vor Zukunftsangst; den Löwenanteil der Zeche aber zahlen wieder einmal die unter Dürre, Bodenerosion, Viehsterben und zwangsläufig unter Hunger leidenden afrikanischen Kleinbauern.


Gute Röhre, schlechte Röhre


Lediglich 20.000 Tonnen Düngemittel sind zu Jahresbeginn im Hafen von Beira in Mosambik eingetroffen und werden von dort nach Malawi verfrachtet, ein Land im Süden des afrikanischen Kontinents, das mehr als dreißigmal so viel benötigt. Die Ladung entstammt einer Menge von insgesamt 360.000 Tonnen, die bei Beginn der Sanktionen in europäischen Häfen festgesetzt wurden und dort vor sich hin gammeln, während sie in den Tropen dringend benötigt würden.


Die EU boykottiert nämlich nicht nur ein paar Oligarchen (was ja ganz sympathisch daherkäme, würde es in diesem Falle nicht schlimme Folgen zeitigen), sie blockiert auch die russische Transportbranche. So müssen die Bauern halt warten, bis die nächste kleine Charge im Februar den schwarzen Kontinent erreicht. Aber auch die ukrainischen Behörden offenbaren ein recht eigenwilliges Rechtsverständnis, scheinbar unterscheiden sie zwischen guten und schlechten Pipelines.


Wie die kritische Net-Plattform German-Foreign-Policy berichtet, blockiert Kiew seit Beginn des Krieges eine Pipeline, durch die russisches Ammoniak  (essentiell für die Düngermittelproduktion) zur Verschiffung in den Hafen von Odessa geleitet wird. Dagegen strömt in anderen Röhren weiterhin Erdgas von gleicher Herkunft in die EU – und die Ukraine kassiert Transportgebühren dafür. Wie erklärt sich diese Handlungsdiskrepanz? Ganz einfach, was den westeuropäischen Ländern zum Erhalt ihres Lebensstandards nützt, wird von Sanktionen ausgenommen (siehe auch die einstigen Gasimporte über die Nord-Stream-Pipeline nach Deutschland), was dagegen die unterentwickelten Staaten des Südens dringend zur Sicherung ihrer Ernten benötigen, ist für die EU-Strategen Manövriermasse im Kampf gegen Putin. Sie scheren sich nicht um die existenziellen Nöte eines ganzen Kontinents, solange sie selbst die eigene Landwirtschaft mit Dünger versorgen können.


Hunger billigend in Kauf genommen


Versuche der Vereinten Nationen, die Ukraine zur Aufhebung der Blockade zu bewegen, wobei es um Ammoniak in der Größenordnung von 2,5 Millionen Tonnen geht, sind bislang gescheitert.


Aus den EU-Hauptstädten hört man nichts und in den westlichen Medien liest man wenig, was die Misserfolge der Sanktions- und Blockadepolitik angeht, doch kristallisieren sich allmählich schwere Verwerfungen heraus:

Russland ist nicht insolvent und kann weiter Krieg führen, gerät allerdings in die ökonomische Abhängigkeit von anderen Welt- und Mittelmächten, China und Indien zuallererst.


Eine Solidarität der Schwellenländer, Regionalmächte und an Rohstoffen reichen Staaten mit NATO und EU existiert nicht, schon gar nicht, wenn die Beteiligung an Sanktionen eingefordert wird.


Das Beispiel der Pipelines für Öl und Ammoniak belegt, dass die Abriegelung Russlands nur partiell funktioniert, und dann offenbar mit fürchterlichen Konsequenzen für am Krieg gänzlich unbeteiligte Drittstaaten. Statt die Bestrafung neutraler Länder für einen Krieg, den Putin vom Zaun gebrochen hat, in dessen Vorfeld die NATO aber auch recht dubios agiert hatte, zu thematisieren und nach Auswegen zu suchen, reist die unbedarfte Annalena Baerbock durch Sahara sowie Sahelzone und bietet failed states in Mali oder Niger sinnlose Bundeswehreinsätze wie Sauerbier an.


Sollte der Düngermangel das prognostizierte Elend auslösen, was sich nach der nächsten Erntesaison herausstellen wird, kann sich unsere kriegerische Außenministerin wieder auf den Weg machen, um Partner zu kaufen, die Hundertausende von Hungerflüchtlingen internieren, versklaven oder einfach verschwinden lassen, damit sie nicht an Europas Grenzen gelangen – wie es in der Vergangenheit ja schon prächtig mithilfe von Verbrechern und Autokraten wie den sudanesischen Milizen, der libyschen Küstenwache oder dem bisweilen recht nützlichen Recep Erdoğan gelungen ist.

01/2023
Dazu auch:
Seltsame Wohltäter im Archiv der Rubrik Medien (2022)
Charme der Ignoranz in der Rubrik Helden unserer Zeit



2022



Ein Weihnachtsmärchen
 


Das Internet und die sozialen Medien haben Verschwörungstheorien nicht in die Welt gesetzt, sie verhalfen diesen abwegigen Phantasmagorien aber zu  rasend schneller und flächendeckender Verbreitung. Tatsächlich dienten viele Legenden, Sagen und politische Erzählungen (heute ein wenig entlarvend als „Narrative“ bezeichnet) seit Menschengedenken der der Machtdurchsetzung, der Diskriminierung bis hin zur Eliminierung verhasster Nachbarn oder ganzer Völker. Auch die Vorgeschichte zu Weihnachten, aus unterschiedlichen Texten des Neuen Testaments (NT) zusammengeklaubt, lädt nicht nur zum „Fest der Liebe“, sondern brachte uns eine besonders böse Mär, wenn auch nicht unbedingt vom Himmel her…


Wenn aus Geschichten Geschichte wird


Mögen heutzutage die Social Media auch dafür sorgen, dass krude, als Fakten und Wahrheiten getarnte Meinungen raffinierter unters Volk gebracht werden können – etliche Fabeln, Märchen und Heldenepen der Vergangenheit besaßen ebenfalls eine immense Suggestivkraft und verstanden, die Absichten ihrer Erzähler und Initiatoren geschickt zu verschleiern. Zeitgenössische Abhandlungen stellten etwa im Mittelalter die

Raubzüge normannischer sowie bretonischer Barone, einer abendländischen Soldateska und landgieriger Ritterorden ins Heilige Land als frommes Werk zur Rückeroberung Jerusalems unter dem Zeichen des Kreuzes dar, trotz aller dabei begangenen Vertragsbrüche und Massaker.


Bis ins Unterbewusstsein können düstere Stereotypien einsickern und sich dort einnisten, wenn sie in der Kindheit verabreicht werden. Vielleicht hätte der Wolf heute einen besseren Ruf, wäre er nicht in „Rotkäppchen“ als Menschenfresser verleumdet worden. Auch physische Abweichungen von der Norm in Form einer Warze, eines Buckels oder einer Gehbehinderung treten in Volksmärchen häufig als Symptome charakterlicher Defizite und offen ersichtlicher Bösartigkeit auf. Die Hexe oder das Rumpelstilzchen mögen sich manchen Heranwachsenden so eingeprägt haben, dass sie Probleme haben, Körperbehinderten unvoreingenommen zu begegnen.


Besonders gefährlich aber wird historisierende Prosa, die schwere Anschuldigungen gegen Individuen und Ethnien verbreitet, immer dann, wenn sie im (himmlischen) Sold einer Religion, also eines Großgebäudes der Fiktion, als Stützpfeiler und gleichzeitig Dekor steht. Ein Beispiel für die verheerenden Weiterungen eines anrührend wirkenden Märchens liefert das NT mit der Story von Jesu Geburt in einem Stall zu Bethlehem.


Eine folgenschwere Fake-Botschaft


Warum mussten die platonisch gesinnten Eltern des Gottessohns überhaupt im Winter durchs Land wandern? Weil Kaiser Augustus seinem Landpfleger Cyrenius befohlen hatte, eine Volkszählung durchzuführen. (Adoptiv-)Vater Joseph, der mit der schwangeren Gattin Maria in Nazareth lebte, sollte dazu ordnungsgemäß mit seiner Familie in die Heimat zurückkehren. Auf dem Weg waren alle Herbergen gerammelt voll, so dass die Eheleute in einem Stall mit Ochs und Esel nächtigen mussten, wo Maria prompt einem Knaben im lockigen Haar das Leben schenkte. So weit, so harmlos, auch wenn als Anlass der Reise eine Fehlinformation kolportiert wird: Der erste von Rom angeordnete Provinzzensus fand erst im Jahr 6 n. Chr. statt, als Jesus schon im schulreifen Alter war.


Im Matthäusevangelium, einem von vier Legendenzyklen, die den von Jesus zu Aposteln bestimmten Lieblingsjüngern zugeschrieben werden (obgleich beispielsweise Matthäus wohl erst sechzig Jahre  nach dem Abendmahl zu fabulieren begann), ist nun die Rede von Sterndeutern aus dem Osten, die Herodes, einem Monarchen von Roms Gnaden, von der Geburt eines neuen Königs der Juden berichteten. Da er um die eigene Macht fürchtete, befahl der böse Herrscher seinen Soldaten, alle Säuglinge männlichen Geschlechts abzuschlachten. Das Bemerkenswerteste an dieser Schauergeschichte ist dabei, dass Herodes dieses Massaker offenbar nach seinem Tod anordnete, da er bereits im Jahr 4 v. Chr. verschieden war.


Über diese Ungereimtheiten könnte man schmunzeln, hätte der Fake-Report nicht das Zeug dazu gehabt, Vorurteile zu verstärken und unvorstellbare Grausamkeiten zu initiieren und zu rechtfertigen. Die Darstellung, der Pöbel von Jerusalem habe die Hinrichtung eines sanften Aufrührers, den die Christen posthum zum Sohn Gottes erkoren,
gefordert und durchgesetzt, machte die Juden in aller Welt zu Ausgestoßenen und Verfolgten; die unzutreffende Behauptung, ihr König habe alle Bübchen in Reichweite über die Klinge springen lassen, fachte das Feuer des Hasses weiter an.

 
In der griechischen Kirchenhistorie ist von 14.000 abgeschlachteten Knaben die Rede, im religionshysterischen Mittelalter wuchs die Zahl der Opfer auf 144.000 an. Seltsam nur, dass bis heute kein Historiker auch nur einen einzigen Beleg für den Massenmord aufspüren konnte. Die Weihnachtsgeschichte handelt also von einem bluttriefendem Spektakel, das realiter nie stattgefunden hat, aber frommen Christen die Rechtfertigung für grausame und gründliche Pogrome lieferte. Abgesehen von den maurisch besetzten Teilen Spaniens, waren die heimatlosen Juden bis zum Anbruch der Neuzeit nirgends in Europa sicher vor Vertreibung oder Ermordung. Schließlich warf man ihnen in effektivster Fake-Manier nicht nur vor, Brunnen zu vergiften und die Pest einzuschleppen, sondern auch, sich an rechtgläubigen Kindern zu vergreifen.


Oh, du fröhliche Ignoranz


Olle Kamellen aus dem finstersten Mittelalter, werden jetzt einige Leser denken. Doch die damals verbreiteten Verschwörungstheorien überstanden die Zeit der Aufklärung sowie den Aufstieg der Wissenschaften spielend und stärkten alte Vorurteile und verliehen ihnen in aktualisierter Form neuen Talmi-Glanz. So erschienen 1903 im russischen Zarenreich die Protokolle der Weisen von Zion, eine antisemitische Fälschung, die ein jüdisches Komplott zur Erringung der Weltherrschaft suggerierte. Trotz Holocaust und Hitler (der von solchen „Vorlagen“ profitierte) hält sich dieser Konspirationsunsinn bis heute – nicht zuletzt in deutschen Querdenkerkreisen.


Auch der „Kindermord von Bethlehem“ ist nicht in die Abstellkammer der Geschichtslügen verbannt worden. In den USA bilden die Evangelikalen mittlerweile vor den Katholiken und den (klassischen) protestantischen Kirchen die größte christliche Glaubensgemeinschaft. Für die meisten dieser frommen Eiferer ist die Bibel Wort für Wort wahr, folglich wird auch die frei erfundene Räuberpistole über die Untaten des Wiedergängers Herodes für bare Münze genommen.


Muss denn das alljährliche Fest des leichtsinnigen Konsumrauschs, des häuslichen Unfriedens und der unmäßigen Völlerei unbedingt von bluttriefendem Schmonzes aus dem NT garniert werden? Eine Geschichte aus der Feder von Charles Dickens oder Antoine de Saint-Exupéry hätte es doch auch getan – ein wenig sentimental vielleicht, aber ungefährlich.
12/2022
Dazu auch:
Die Christuskrieger im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2015)







Kein Maskenzwang mehr


Es begann mit Übernahmegerüchten, es endete vorerst mit personellem Kahlschlag und Wiederzulassung chauvinistischer Hasstiraden. Dass Tesla-Chef Elon Musk den Mikroblogging-Dienst Twitter gekauft und nun Verschwörungstheoretikern erneut Tür und Tor geöffnet hat, ist nur der mediale Teil der Nachricht. Im gesellschaftlichen Kontext signalisiert der Coup, dass die Herren der Cyberbranche künftig auf jeglichen Anschein der Ehrbarkeit verzichten können.


Superreiche Kümmerer


Seit den Urzeiten des US-Kapitalismus feierten Unternehmer wie Carnegie, Ford oder Rockefeller sich selbst als Mäzene und Philanthropen, während sie gleichzeitig Gewerkschafter und Streikende in und vor ihren Betrieben von der Polizei oder bewaffneten Schlägern verfolgen ließen. Den Hang, sich als Wohltäter der Menschheit zu gerieren, vererbten sie offenbar den Machern des Silicon Valley und anderen Emporkömmlingen der New Economy.


Die Vordenker des Internet, der Künstlichen Intelligenz (KI) und des digitalen Konsumrauschs verkürzten und vermieden Steuern, wo immer es ging, verbunkerten Teile ihrer Reichtums lieber in undurchsichtigen Stiftungen, erklärten, die Probleme der Erde lösen zu wollen, oder beschworen eine strahlende Zukunft im virtuellen Universum ohne hässliche Störungen durch die analoge Realität.


Microsoft-Chef Bill Gates etwa hetzte seine Stiftung in den Kampf gegen die Menschheitsgeißeln Seuchen und Hunger, wobei er die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Anwendung von Pharmaka drängte, an deren Herstellung er Anteile hielt, und auch vom Einsatz patentierten Saatgutes in armen Ländern tüchtig profitierte.


Mark Zuckerberg wiederum versprach seiner riesigen Community das Paradies auf Erden, wenn sie ihm nur alle Daten freiwillig ausliefere, d. h. zulasse, dass er auch ihre letzten Geheimnisse abgreife. Denn nur dem gläsernen Menschen ohne verborgene private Merkmale kann geholfen werden. Dass die Macher des Silicon Valley solche Verheißungen als Köder für ihren Datenfischzug begreifen, aber sich selbst und die Ihren vor dieser Bauernfängerei schützen, hat Jaron Lanier, einstiger Cheftechnologe von Microsoft, dem SPIEGEL verraten: Die Zuckerbergs (Facebook), Pages und Brins (Google) oder Bezos (Amazon) hielten ihre Kinder und Angehörigen kategorisch von den eigenen Diensten und anderen Verlockungen des Netzes fern.

 

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Immer wenn es um das Eigentum an Medien (auch analoger Art) geht, ist besondere Vorsicht angebracht, denn hier können die Bilder, Fakten und Meinungen je nach Besitzerintention gepusht oder aussortiert werden  Dass etwa Jeff Bezos die kriselnde Washington Post gekauft hat, weil er als Gutmensch die Pressevielfalt in den USA garantieren wollte, scheint angesichts der brutalen Effektivität, mit der er seinen Konzern führt, abwegig. Jedenfalls hat das frühere Flaggschiff des investigativen Journalismus bislang noch keine Enthüllungsstory über die entwürdigenden Arbeitsbedingungen bei Amazon veröffentlicht.


Ganz ohne sich um den den Glorienschein des medialen Mäzenatentums zu bemühen, greift allerdings der zurzeit erfolgreichste Egomane der New  Economy, Tesla-Eigner Elon Musk, gerade ins digitale Mediengeschäft ein.


Metamorphose eines Berserkers


Der in Pretoria geborene Multi-Unternehmer, der neben der US-Staatsbürgerschaft auch die südafrikanische und kanadische besitzt, gilt als derzeit reichster Mensch der Welt. Er war (Mit)Gründer des Online-Bezahldienstes PayPal, des Autokonzerns Tesla, der die E-Mobilität in Richtung fahrerlosen Individualverkehr entwickeln möchte, und des Raumfahrtprojekts SpaceX, das als eine Art kosmischer Paketdienst diverse Nutzlasten zu den staatlichen und privaten Außenposten im All transportiert.


Es war klar geworden, dass ein autark fahrender Wagen auf alle erhältlichen Daten zurückgreifen muss – und dabei zwangsläufig auch die Informationen über seinen Besitzer, dessen Wege, Ziele, Gewohnheiten etc. sammeln würde. Zahlungskräftige Interessenten für solches Wissen gibt es zuhauf, schließlich ermöglicht es ihnen, das Verhalten eines potentiellen Konsumenten zu beeinflussen und seine Bedürfnisse zu steuern.


Ein kapitalistischer Wunschtraum wird wahr, der breit gestreute und daher ungenaue Werbung sowie kostspielige Erhebungen überflüssig machen würde. Anders als mit Ausspähsoftware ausgestattete Küchengeräte ist das Auto stets mit seinem Eigner unterwegs, und anders als Smartphones oder digitale Blutdruckmesser kann das Auto kaum abgeschaltet werden, solange man mit ihm zusammen ist.


Bald erkannten Journalisten in den USA, dass es Musk nicht nur um die Aufhäufung von Reichtümern ging, sondern um die Herrschaft über ganze Hightech-Sparten, die alleinige Richtlinienkompetenz bezüglich des ökonomischen Kurses – und, wie man spätestens seit der Twitter-Übernahme vermuten darf – der gesellschaftlichen Entwicklung. Und nun ließ der ruhelose Visionär der totalen Kommerzialisierung die Larve wohlanständiger Seriosität fallen, denn sie hinderte ihn am Toben und Schäumen, wie man es von seinem politischen Bruder im Geiste gewohnt war.


Brave New World ungeschminkt


Bereits Donald Trump hatte die Regeln und Konventionen eines Systems gebrochen, das skrupellose Macht- und Geldvermehrung zwar begünstigte, aber den biederen, oft auch frömmelnden Fassadenanstrich des Gesellschaftsgebäudes zur Tarnung beibehalten wollte. Als Kandidat und Präsident bewies Trump aber, dass gewalttätiges, hasserfülltes, rachsüchtiges Gebaren und ungeschminkte Ressentiments sehr wohl von der Hälfte des Wahlvolkes goutiert werden.


Was einen großen Teil der (schwindenden) weißen US-Bevölkerungsmehrheit in ihrer sozialdarwinistischen Überzeugung bestärkte, war die offen verkündete Überlegenheit des Ariers gegenüber dunklen Ethnien, das Primat des Reichen, Starken, Waffenträgers gegenüber dem Armen, Schwachen und Unbewaffneten. Dazu noch ein wenig evangelikaler Fanatismus und eine Prise Verschwörungstheorie – und fertig war die Erfolgsstory für die Verbreitung via Twitter.


Als Twitter nach den US-Präsidentschaftswahlen immer mehr zum Forum für Möchtegern-Putschisten verkam, die rechten Fakes und Aufrufe zu Massakern überhandnahmen, als selbst die EU die Verbreitung von Nazi-Propaganda beanstandete, zog der damalige Firmenchef Parag Agrawal die Notbremse. Mitarbeiter wurden dazu abgestellt, die dreistesten Lügen und fanatischsten Hasstiraden von der Plattform zu nehmen, und sperrten schließlich der lautesten Schmutzposaune, Donald Trump, den Account.


Das ist jetzt Geschichte. Denn Agrawal und seine VorstandskollegInnen wurden entlassen und durch einen einzigen Medienjuror ersetzt, durch Elon Musk, der Twitter soeben für 44 Milliarden Dollar gekauft hatte. Die Hälfte der 7500 Mitarbeiter wurde per E-Mail gefeuert, von den anderen forderte der neue Chef, sie sollten Überstunden ohne Vergütung für ihn leisten, worauf eine neue Kündigungswelle, diesmal aus freien Stücken von Seiten der Belegschaft, losbrach. Auch in den anderen Unternehmen hatte Musk seine Angestellten stets wie Leibeigene behandelt und nach Belieben in Windeseile geschasst. Bei ihm gab es nie Erklärungen, Euphemismen oder gar Entschuldigungen. Als Twitter-Chef aber stilisierte er sich zum Retter der Meinungsfreiheit, die von der Linken (als gäbe es eine nennenswerte in den USA) unterdrückt werde. Also dürfen nun wieder alle Ultra-Nationalisten, Milizenführer und Jesus-Fundamentalisten das Internet mit ihrem Auswurf vergiften.


So bedenklich dies sein mag, es bleibt möglicherweise in einer Hinsicht ein erhellender Aspekt: Musk zeigt ohne Maske (die phonetische Ähnlichkeit, auch beim englischen mask, ist Zufall) das hässliche Antlitz des hemmungslosen Neoliberalismus, und zwar so brutal und ungeschminkt, dass selbst konservative Bürger nachdenklich werden müssten. Oder folgen ihm die anderen Oligarchen der New Economy auf den Kriegspfad und wir erleben den Anbruch einer „neuen schönen Welt“ – in den Medien und anderswo?

12/2022
Dazu auch:
Abstinenz der Elite und Antisocial Media (beides 2018) sowie Reiche sind gut! (2014) im Archiv der Rubrik Medien





Wirklich überfüllt?


Acht Milliarden! In Radio und Fernsehen, billigen Gazetten und gutbürgerlichen Magazinen wurde diese erkleckliche Menge als Horrorziffer serviert. Gemäß Statistikern leben nämlich so viele Menschen auf der Erde – und machen sie unbewohnbar, wie die vorherrschende Meinung suggeriert. Es las und hörte sich an, als würde unser Blauer Planet durch das Weltall irren wie ein Raumschiff, das hoffnungslos überfüllt ist, dem die Nahrungsmittel, die Antriebsenergie und die Atemluft ausgehen. Wenn man sich aber von der allgemeinen Panik den Blick nicht verstellen lässt, wenn man sich klarmacht, dass die blanke Zahl nichts darüber aussagt, welche Passagiere von den Ressourcen profitieren und hauptverantwortlich für deren Schwund sind, kommt man zu ganz anderen Schlüssen.


Milliarden Fußabdrücke gleich groß?


Natürlich würde es der Umwelt und dem Klima nicht gerade schaden, wenn ein paar Menschen weniger auf der Erde lebten, etlichen Ländern würde wohl auch ein Geburtenrückgang die Lösung gravierender sozialer Probleme erleichtern. Doch die Fixierung der um ihre Wohlstandssicherung fürchtenden Europäer und Nordamerikaner auf das Bevölkerungswachstum in Asien und vor allem Afrika lenkt von der eigenen Schuld am prekären Zustand des Planeten ab.


Um Statistiken richtig interpretieren und ihre Bedeutung für künftiges Handeln einschätzen zu können, sollte man sie mit den ökonomischen und soziologischen Fakten des Untersuchungsfeldes verknüpfen. Die Zahl 8 Milliarden klingt gigantisch und einschüchternd, sagt aber wenig darüber aus, ob die Erde mit einem solchen Andrang überfordert ist, wie die Medien mehrheitlich raunen.


Wird der für die Welternährung notwendige Boden knapp, wird die Natur geschändet, weil sich immer mehr  auf die wenigen fruchtbaren Parzellen stürzen oder sich neues Ackerland durch Wildniszerstörung erobern? Nun, die wohl folgenschwersten Brandrodungen weltweit finden im brasilianischen Teil Amazoniens statt. Auf den waldfreien Flächen siedeln sich aber nicht Landlose oder Kleinbauern an, vielmehr lassen Konzerne und Investoren dort Soja als Export-Viehfutter in Monokultur anpflanzen und Rinderherden weiden. Sie tun dies für ihren Profit und für uns, die wir die von dort stammenden Filetsteaks genießen und uns über gut (wenn auch einseitig ernährte) Schlachttiere aus heimischer Produktion freuen. In Südasien wiederum muss der Urwald den Ölpalmenplantagen weichen, deren Endprodukt die westliche Nahrungsmittel- und Pharmaproduktion benötigt wie Süchtige ihr tägliches Heroin. Das Bevölkerungswachstum hat dagegen relativ wenig Anteil am Schwund der Regenwälder, die so überlebenswichtig für unser Klima sind.


So viele Menschen kann die Erde nicht ernähren, unken die um den eigenen Besitzstand besorgten Skeptiker der Ersten Welt. Wissenschaftler halten dagegen, dass genügend Nahrung für noch viel mehr als die acht Milliarden Menschen vorhanden sei. Nur ist sie zur Ware, also zum Spekulationsobjekt verkommen, so dass immens viele Lebensmittel verrotten, weil Termingeschäfte an den Börsen platzten, dass sie künstlich verknappt wurden, um später höhere Preise zu erzielen. Und die Umstellung von heiklen Getreidesorten auf die Böden schonende Hülsenfrüchte in der Dritten Welt kommt kaum voran, weil für den Export in die westlichen Importnationen geerntet werden muss, dort jedoch ein anderer Geschmack vorherrscht.


Die globalen Energie-Ressourcen würden knapp, barmen die Auguren des westlichen Wirtschaftssystems, fürchten um das ungehemmte Wachstum der Industrie und den Lebensstandard in den reichen Ländern, der sich aus der erzwungenen Enthaltsamkeit der Habenichtse speist. Natürlich haben China und Indien, auf deren Staatsgebiet ein Drittel der Erdbevölkerung lebt, einen ungeheuren Energiebedarf, doch sind sie – auf den Pro-Kopf-Verbrauch heruntergerechnet – Waisenknaben gegenüber der Bundesrepublik: Deutschland (Platz 19 in der Bevölkerungsstatistik) liegt weltweit mit 2.1 Prozent auf Platz 7, vergeudet mehr Strom und Gas als riesige Länder wie Brasilien oder Indonesien, ruft aber gern die Dritte Welt zum sparsamen Umgang mit den Ressourcen auf.


Ein Reicher wiegt Hunderte Arme auf


Auch die Grünen, einst als unbestechliche Umweltschützer gestartet, fühlen sich mittlerweile vor allem dem Wohlbefinden der deutschen Konzerne verpflichtet und verlagern die Lösungsansätze gern in den unterentwickelten Süden. Dabei müsste es doch vor allem sie beunruhigen, dass Deutschland beim CO2-Ausstoß noch schlechter abschneidet als beim Energieverbrauch. Hier liegt die BRD gar auf Rang 6, und die Maßnahmen der Ampel-Koalition lassen vermuten, dass sie so schnell nicht auf einen umweltfreundlichen hinteren Platz zurückfallen wird.
Insgesamt wird deutlich, dass die Crux für Klima und Umwelt nicht in der Zahl 8 Milliarden  liegt, sondern im Kurs einer Minderheit wohlhabender Staaten und im kriminellen Konsumverhalten einer winzigen Gruppe von Luxusbürgern. Gemäß der internationalen Entwicklungsorganisation Oxfam war das reichste Prozent (63 Millionen Menschen) zwischen 1990 und 2015 für doppelt so viel CO2-Ausstoß wie die ärmere Hälfte (damals ca. 3,5 Milliarden) der Erdbevölkerung verantwortlich. Folglich pustet ein Millionär im Durchschnitt mehr Dreck in die Atmosphäre als über hundert Slumbewohner.


Oxfam fordert, dass die reichsten 10 Prozent der Menschheit (zu denen sich auch die meisten Deutschen zählen dürfen) ihre Pro-Kopf-Emissionen bis 2030 auf ein Zehntel des gegenwärtigen Wertes senken müssten, vor allem durch Verzicht auf häufige Flugreisen und Überlandfahrten mit SUVs, jenen tonnenschweren Statussymbolen, die als zweitgrößte Energietreiber weltweit gelten. Was die NGO durchsetzen will, fühlt sich nicht so angenehm für saturierte westliche Bürger an wie das komfortable Schaudern im heimischen Salon angesichts einer angeblich durch den Kinderreichtum armer Familien tief unten im Süden überbelegten Arche: „Wir müssen den exzessiven CO2-Ausstoß der Wohlhabenden einschränken und die Wirtschaft zum Wohle aller klimagerecht umbauen.“


Für eine derartige Unverschämtheit würde die FDP die Höchststrafe fordern, und auch Grüne und SPD zögen es offenbar vor, dass die Unterprivilegierten den Gürtel enger schnallen und ihren mickrigen Energieverbrauch weiter drosseln, damit es den Wohlhabenden dieser Welt an nichts mangle. Es erinnert an die Zeit des Kolonialismus: Beinahe väterlich werden die Unterentwickelten ermahnt, durch Bescheidenheit zum Wohle der restlichen Menschheit beizutragen.


Wer das Boot in Seenot bringt


In einem Newsweek-Beitrag zur Weltklimakonferenz geißelt Ugandas Präsident Yoweri Museveni die Scheinheiligkeit der EU, insbesondere auch Deutschlands, in polemischer Manier, aber mit wahren Worten: Es gehe nicht an, dass die Staaten Europas gegen die Öl- und Gasförderung, etwa im Kongo, die dem Eigenbedarf des schwarzen Kontinents dienen soll, protestieren, die gleiche Förderung aber bejubeln, wenn aus afrikanischen Quellen die ehemaligen Kolonialmächte beliefert würden.


Namentlich die Bundesrepublik posaunt gern das Ende der fossilen Brennstoffe aus, investiert aber etliche Millionen in die Erschließung neuer Gasfelder in einem Meeresschutzgebiet vor der Küste des Senegal. Museveni spottet auch über den Abriss von Windkrafträdern sowie des ganzen Ortes Lützerath in NRW, um den Abbau von Braunkohle voranzutreiben. Dies sei „der verwerfliche doppelte Standard, den zu erwarten wir in Afrika inzwischen gewohnt sind“.


Von solcher Art sind auch die rabulistischen Berechnungen, die viele „Experten“ des Westens in Bezug auf das Wachstum der Weltbevölkerung und dessen Begrenzung anstellen. Damit aus 8 nicht 12 Milliarden Menschen werden, müsse die Dritte Welt strenge Geburtenkontrolle einführen, damit die Durchschnittstemperatur nicht unzumutbar steigt, müssten sich die unterentwickelten Länder in Askese üben.


Kein Wort dazu, dass in den Slums die Pille zu teuer wäre und die Frauen wegen chaotischer Lebensumstände Probleme mit der regelmäßigen Einnahme hätten, dass es, wo das postkoloniale Elend gesellschaftliche Strukturen und die Aussicht auf eine sichere Existenz im Alter zerstört, das Zeugen von vielen Kindern als einzige Chance gilt, weil ja vielleicht eins davon reüssieren und seine Eltern später unterstützen könnte. Auch kein Wort dazu, dass die EU Drittweltländer durch Knebelverträge zwingt, ihre landwirtschaftlichen Produkte zollfrei einzuführen und damit das einheimische Kleinbauerntum zu zerstören, dass zumindest ein großer Teil der globalen Armut fremdgemacht ist. Und jetzt wird auch noch vorgeschrieben, wo welche Energie für wen erzeugt werden soll. Nutznießer wären immer die Staaten Europas, Japan, Nordamerika und mittlerweile auch China.


Die sattsam bekannte – und seit den Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer vor Hohn triefende – Metapher, das Boot sei voll, ließe in neuem Sinne deuten: Der Kutter Erde wäre auch mit 8 Milliarden Passagieren, die mehrheitlich leichtes Gepäck mit sich führen, noch nicht überlastet und in Gefahr, würden nicht einige wenige fette Fahrgäste mit schweren Geldsäcken an Bord, die auch noch den Kapitän bestochen haben, das Heck unter die Wasserlinie drücken.
11/2022
Dazu auch:
Hilfe durch Landraub und Krieg gegen die Natur im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)







Des Verlegers Lied
Cartoon: Rainer Hachfeld


Der Kulturchef der Berliner Zeitung (BLZ) wurde zum „einfachen“ Feuilletonredakteur degradiert. Drei Umstände machten diesen innerbetrieblichen Vorgang zu einer Nachricht, die hohe Wellen in Medienkreisen schlug: Einmal wurde die Umsetzung völlig überraschend vorgenommen und unverblümt in der Öffentlichkeit kommuniziert; dann wirkte die Begründung inhaltlich so dünn, dass sich anderweitige Mutmaßungen aufdrängten; drittens bleiben Fragen nach der arbeitsrechtlichen Validität des Schrittes und nach einer möglichen Kollision mit dem hohen Gut der Meinungsfreiheit offen.


Eine seltsame Koinzidenz


Das plötzliche Medieninteresse an den Geschehnissen um die BLZ  (nicht zu verwechseln mit Springers B.Z.), das sich vor allem im Netz manifestierte, hatte zwei kurz aufeinanderfolgende Anlässe:


- Der Verleger des Blattes, Holger Friedrich, hatte gemeinsam mit  Alexander Marguier, dem Herausgeber des rechtskonservativenPolit- Magazins Cicero, den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu einem einstündigen Podiumsgespräch eingeladen. Von seinen Gastgebern recht behutsam befragt, konnte der zunehmend autokratisch agierende Regierungschef, dem die ausufernde Korruption in seinem Land und offener Rassismus zur Last gelegt werden, seine Positionen zum Krieg in der Ukraine oder zur staatlichen Diskriminierung sexueller Minderheiten ausführlich darlegen. Orbán verstieg sich sogar zu einer abstrusen, von Teilen des Publikums gefeierten Behauptung: "Die Hoffnung für den   Frieden heißt Donald Trump".


- ZEIT ONLINE meldete, der Co-Kulturleiter der BLZ, Hanno Hauenstein, sei degradiert worden. Einen Tag nach dem Orbán-Gespräch hatte er ein Interview, das er mit Jelena Subotić geführt hatte und in dem die Osteuropa-Expertin den Umgang mit LGBTQ-Menschen, die Islamophobie und den Antisemitismus in Ungarn kritisiert hatte, geführt und im Feuilleton veröffentlicht. Kurz darauf schrieb dort die ungarische Publizistin Viktória Serdült über Repressionen gegen Journalisten in ihrem Land.


Das sah zunächst nach einem offenen Diskurs über die Causa Orbán in der BLZ aus, doch der Schein trog. Möglicherweise brachte ein Statement Hauensteins zum umstrittenen Podiumsgespräch auf Twitter seinen Verleger, dem gewisse Vorlieben für autoritäre Regimes nachgesagt werden, auf die Palme: "for the record: ich halte es nicht für sinnvoll, Viktor #Orbán zu Gesprächen einzuladen." Im Online-Magazin „Papierkorb“ des MDR kommentierte René Martens die Konsequenz folgendermaßen: „Diese äußerst zurückhaltend formulierte Kritik hat ihn nun seinen Posten als Leiter des Kulturressorts der Wochenendausgabe gekostet.“


Ungeschickt oder undemokratisch?


Etliche KollegInnen Hauensteins sahen das auf Twitter ähnlich, darunter auch SPIEGEL-Mann Felix Dachsel und Lorenz Maroldt vom Tagesspiegel, der den Vorgang mit bitterer Ironie einordnete: "Hinweis: Die Meldung 'Kulturchef nach Kritik am Verleger degradiert' kommt nicht aus Ungarn." „Kritik am Arbeitgeber ist ein Bürgerrecht“ überschrieb Martens seinen Kommentar für den MDR.


Kaum ein Beobachter nahm das abwiegelnde Statement des BLZ-Chefredakteurs Tomasz Kurianowicz, mit dem wohl sein Arbeitgeber Friedrich aus der Schusslinie gehalten werden sollte, ernst. "Generell habe (…) schon länger die Frage im Raum gestanden, ob das Ressort unter Hauenstein, den er als Stimme und Kollegen überaus schätze, bezüglich Genres, Thematiken und Standpunkten nicht zu einseitig geworden sei." So wurde Kurianowicz auf ZEIT ONLINE vom Autor Johannes Schneider in indirekter Rede zitiert. Nur wenige Beobachter nahmen diese Begründung für bare Münze. „Ach so! Wenn eine Chefredaktion einen Kollegen als Ressortleiter nicht (mehr) für geeignet hält, dann sollte sie das aber anders lösen können“, spottete Martens im MDR. „Besonders professionell wirkt ihr Agieren jedenfalls nicht.“


In der Tat werden solche Personalangelegenheiten gewöhnlich intern geklärt, bei einer Degradierung durch schriftliche Änderungskündigung und nach Abmahnung. Aber warum hätte die BLZ Hauenstein eigentlich gerade jetzt von seiner Leitungsfunktion abberufen sollen? Mit ihm erweiterte das Feuilleton der Zeitung im Netz die inhaltliche Bandbreite, indem er den sozialen, ethnischen, sexuell divers orientierten Randgruppen, den Menschen mit Migrationshintergrund und den Geflohenen, den Minderheiten also, die – zusammen genommen – fast schon die Mehrheit der Gesellschaft bilden, aber medial unterrepräsentiert sind, Platz für die Darstellung ihrer Kulturen bot.


Hauenstein, der sich häufig in Israel aufhält, fließend Hebräisch spricht und aus seiner Sympathie für das Land kein Hehl macht, griff gleichwohl die Siedlungs- und Palästinenserpolitik Jerusalems als inhumane Praxis an und distanzierte sich von der aus (historisch begründetem) schlechtem Gewissen und Ignoranz aktuellem Unrecht gegenüber gespeisten offiziösen deutschen Manie, alle Kritiker des Nahost-Staates gleich als Antisemiten abzutun. Für israelische Medien war dies kein Grund, ihn nicht als versierten News-Profi zu Entwicklungen in der Bundesrepublik zu befragen. Auf ZEIT ONLINE schreibt Schneider, dass Hauenstein „pointierte Meinungen speziell zur Politik Israels“ äußere und „auch sonst für Debatten gut“ sei. Das alles klingt eher nach Meinungsstärke und Expertise als nach Fehlbesetzung oder Führungsschwäche. Wenn Hauenstein in seiner Freizeit aber argumentiert, dass man ausgewiesenen Antisemiten wie Viktor Orbán keine Bühne bieten solle, stößt er an die (unsichtbaren) Grenzen deutscher Pressefreiheit.


Es wäre schon ein seltsamer Zufall, wenn ein Chefredakteur just in dem Augenblick, da sein Verleger indirekt von einem Ressortleiter kritisiert wird, dessen Eignung für seine derzeitige Position ohne sachfremde Hintergedanken in Zweifel zieht und ihn beruflich herabstuft. Dann wäre auch noch der Zeitpunkt sehr ungeschickt gewählt, denn allerorten vermutet man natürlich, dass hinter der Degradierung das Machtwort des omnipotenten Bosses steht, der sich wegen allzu jovialen Plauderns mit einem antisemitischen Rechtspopulisten gerügt fühlt und dies brachial ahndet. Träfe dies zu, müsste man freilich undemokratisches Handeln attestieren.


Pressefreiheit oder Freiheit des Verlegers?


Trotz beträchtlicher Auflagenverluste (wie bei fast allen Printmedien) konnte die BLZ den zweiten Rang unter den Berliner Abonnementszeitungen hinter dem Tagesspiegel, aber vor der Morgenpost halten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war sie die erste Zeitung, die in Deutschland wieder erscheinen durfte, in der damaligen DDR. Als wieder zusammenwuchs, was noch nicht recht zusammengehören wollte, ging die BLZ durch einige in der BRD zur Genüge bekannte Verlegerhände, von Gruner + Jahr über Holtzbrinck und DuMont Schauburg, bis 2009 Silke und Holger Friedrich sie übernahmen. Das Ehepaar, das u. a. mit dem Veranstaltungsbau E-Werk, der privaten Berlin Metropolitan School  und der Technologie-Beratung Core zu Millionen gekommen war, erklärte gegenüber dem SPIEGEL, für die BLZ plane es keinen Eingriff in das redaktionelle Tagesgeschäft, avisiere jedoch einen den Wettbewerb bejahenden, hierarchiefreien Führungsstil. Das klang gut, und die Friedrichs wurden als Quereinsteiger mit Vorschusslorbeeren bedacht, zumal die Zeitung tatsächlich etwas unkonventioneller daherkam als die Konkurrenzblätter.


Erste Zweifel an der hehren Zielsetzung kamen auf, als die Stasi-Vergangenheit von Holger Friedrich bekannt wurde und kurz darauf ein ostdeutsches Biotech-Unternehmen in der BLZ hochgejubelt wurde, an dem der Verleger Anteile hielt und in dessen Aufsichtsrat er saß. Der Fall Hauenstein scheint nun zu belegen, wie es faktisch um die lauthals verkündete redaktionelle Unabhängigkeit und die Hierarchiefreiheit in der BLZ bestellt ist.


Manche Zeitungen versuchen, die Aktivitäten ihrer Redakteure auf Internet-Plattformen mit sogenannten Social-Media-Guidelines einzuhegen. Nicht so die BLZ, Hanno Hauenstein konnte mit seinem Tweet also keine Regeln verletzen, weil es ganz einfach keine gab. Äußerst dubios ist auch die Art und Weise, wie seine Abstrafung verkündet wurde. Es sei eine Ausnahme in der deutschen Presselandschaft, eigentlich ein NoGo, einen Redakteur zu degradieren, nachdem der seinen Verleger „öffentlich kritisiert“ hat, ordnet Jörg Reichel, Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistenunion Berlin-Brandenburg, den Vorgang ein. Es sei „Solidarität mit Hauenstein“ angezeigt, „weil die öffentliche Kritik am Arbeitgeber ein Bürgerrecht“ ist.


Der Eklat offenbart ein Dilemma, in dem sich die Medien nicht nur hierzulande  befinden. Sie müssten Anspruch, Inhalt und Methode in Politik, Wirtschaft oder Kultur kontrollieren, quasi als „Vierte Gewalt“, als gesellschaftliches Korrektiv. Das geht nicht, wenn sie staatlich gelenkt und sanktioniert werden, das funktioniert aber oft auch nicht bei privaten Besitzverhältnissen. Dann ist nämlich die Pressefreiheit in erster Linie die Freiheit des Verlegers, ökonomischen Druck, etwa durch Personalabbau, auszuüben oder die inhaltliche Linie sowie Stil und Themenschwerpunkte vorzugeben. Letztendlich hat der Redakteur im Zweifelsfall das Lied dessen zu singen, dessen Brot er isst (und sichert). Tut er es nicht – siehe oben!

11/2022
Dazu auch:
Unterbliebene Fragen (2022) und Abhängig unabhängig? (2020) im Archiv der Rubrik Medien








Kriegsblinde Presse


Putins Überfall auf die Ukraine in Zeitungen als kriminell einzustufen, ist dem Völker- und Menschenrecht gemäß. Jedes Verbrechen und jeden Sabotage-Akt in Europa trotz ungeklärter Faktenlage Wladimir Putin zuzuschreiben, widerspricht indes journalistischer Sorgfaltspflicht. Mittlerweile scheinen aber hierzulande die Redaktionen zum Modus der Kampfpresse, die nur noch Freund oder Feind und keine Nuancen mehr kennt, übergegangen zu sein. Am Beispiel der SZ wird deutlich, wie fragwürdig Berichterstattung wird, die es an Abwägung, Distanz und Belegen fehlen lässt.

Ein Blatt riskiert seine Glaubwürdigkeit


Vor wenigen Tagen feierte die Süddeutsche Zeitung ihren 77. Geburtslag und ließ sich von so illustren Partygästen wie Markus Söder und Angela Merkel gebührend lobpreisen. Die SZ versteht sich in unterschiedlichen Öffentlichkeitsbereichen als Korrektiv des politischen Mainstreams sowie der allzu schnell (vor)gefassten Mehrheitsmeinung, und so wurde sie dank akribischer Recherchen, eigenwilliger Kommentare, eines unkonventionellen Feuilletons und eindringlicher Berichterstattung über soziale Ungerechtigkeit oder Flüchtlingselend zur auflagestärksten und im In- wie Ausland geachtetsten Qualitätszeitung der Bundesrepublik.


Aber auch die SZ entgeht nicht dem Einfluss intransparenter Foren, deren Mitglieder einer bestimmte Denk- und Sichtweise anhängen, die eigentlich schonungslos ehrlichen Journalismus ausschließt. So gilt ausgerechnet der Ressortleiter des Münchner Blattes, Stefan Kornelius, als einer der am besten vernetzten Publizisten im Land, verbandelt mit Gleichgesinnten in semi-klandestin tagenden Thinktanks, in denen Gleichgesinnte aus internationaler Politik, globaler Wirtschaft, dem NATO-Militär und den Medien erörtern, wie die ökonomische und strategische Überlegenheit des Westens am geschicktesten verteidigt und ausgebaut werden könnte. Kornelius gehört unter anderem der US-affinen Atlantik-Brücke und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik an.


Vielleicht ist dieser Konstellation die Veröffentlichung einer Räuberpistole in der letzten Wochenendausgabe, für die das Duo Constanze von Bullion und Paul-Anton Krüger namentlich verantwortlich zeichnete, zu verdanken. In der Ostsee hatte es gekracht, und vier Röhren der russischen Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 wiesen plötzlich große Lecks auf, wurden unbrauchbar. Klar ist nur, dass es sich um Sabotage handelte; wer sie begangen hat, wissen zweifelsfrei bislang nur die Täter und ihre Hintermänner selbst. Ganz stimmt das allerdings nicht, einige Bundespolitiker und unser SZ-Paar glaubten sofort, die Bösen ermittelt zu haben: Die Russen waren es.

Empathie darf sein, blinde Aversion nicht


Mit ihrer Ukraine-Invasion hat die russische Führung nicht nur widerrechtlich Grenzen verschoben, Leid über die Zivilgesellschaft gebracht und die sensible Sicherheitsbalance in Europa extrem gefährdet – sie hat offenbar auch die Urteilsfähigkeit und Faktenbasierung des deutschen Edeljournalismus schwer beschädigt. Unter der Titelzeile „Putins Krieg“ zitieren die beiden Schreibtisch-Detektive zunächst den Berliner Regierungssprecher Steffen Hebestreit, der auf die vom Chef des Auslandsgeheimdienstes SWR in Moskau erhobene (jedoch nicht belegte) Behauptung, er verfüge über Material, das auf eine „westliche Spur“ bei den „Terroranschlägen“ hinweise, entgegnete, zu solchen „Verschwörungstheorien“ äußere man sich in Berlin nicht.


Gleich darauf setzte Hebestreit eine neue Konspirationsmär in die Welt: Russland wolle offenbar bewusst falsche Fährten legen. Man kenne das ja, würde Sprengstoff aus westlicher Produktion gefunden, könnte Putin das als Vorwand nehmen für eine Ausweitung der Kriegszone. Das Ziel: „maximale Eskalation“. Zwar gibt es auch dafür keinerlei Beweise, für die SZ-AutorInnen handelt es sich aber um die „plausibelste Arbeitshypothese“. Und als Zeuge für diese Annahme wird wieder einmal der ewige, stets anonym bleibende „ehemalige US-Geheimdienstagent, der lange Jahre Erfahrung mit Russland hat“, aufgerufen, der nur ein Wort für die russischen Anwürfe, nämlich „lächerlich“, findet und stattdessen die „klassische hybride Kriegsführung“ für die Lecks verantwortlich macht. Auch hier kein Name und erst recht kein Beweis.


Natürlich ist es gegenwärtig nicht auszuschließen, dass es die Russen selbst waren, die ihre Pipelines zerdepperten, doch müsste es sich dann um sehr dumme Russen gehandelt haben, wie ein Kommentator im Deutschlandfunk spottete. Sie hätten nicht nur Gazprom-Eigentum zerstört und teures Erdgas in ungeheurer Menge nutzlos freigesetzt, sondern auch Putin um sein wichtigstes Erpressungspotenzial gebracht. Wie will er die westeuropäischen Staaten noch zum Einlenken bei deren militärischer Unterstützung der Ukraine „überreden“, wenn er ihnen nicht mehr – je nach Wohlverhalten oder Ungehorsam – den Gashahn auf- und abdrehen kann?


Eine wahrlich rabulistische Begründung für die russische Selbstbeschädigung fällt dem listigen Schreiberpaar aber doch noch ein: Putin könnte sich so vor späterem Schadenersatz wegen seiner Stop-and-Go-Taktik schützen und höhere Gewalt, bei der jede Haftung ausgeschlossen sei, geltend machen. Als würde sich der Kreml-Chef noch um Versicherungsansprüche oder Rückforderungen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch scheren, nachdem er bis auf eine schon alle roten Linien überschritten hat? Noch einmal  pulverisieren die ExpertInnen für russische Hinterlist die Gesetze der Logik: „Es könnte darum gehen, die Gaspreise hochzutreiben, wovon ja Moskau auch profitierte.“ Dies kann Putin locker erreichen, indem er die Zufuhr immer öfter abriegelt, dazu muss er nicht die eigenen Röhren demolieren. Ich hoffe doch zuversichtlich, dass die beiden InterpretInnen zu Hause nach dem Duschen stets das Wasser abdrehen und nicht die Brause zerstören.


Andere Täter, Methoden und Motive, etwa Versuche der USA oder der Ukraine, die europäischen Verbündeten vom russischen Rohstoff abzuschneiden, um ihnen die bedingungslose Entscheidung pro Kiew zu „erleichtern“, sowie Operationen im Interesse konkurrierender Gasexporteure sind zwar auch hypothetisch, aber bestimmt nicht unwahrscheinlicher als die Version der SZ, die sich zu alternativen Verdächten beharrlich ausschweigt.


Dass über den Ukraine-Krieg parteilich berichtet wird, ist nachvollziehbar, schließlich empfinden auch Journalisten Empathie für Kriegsopfer und argumentieren mit einer gewissen Berechtigung, dass, bei allem NATO-Fehlverhalten zuvor, der entscheidende Schritt ins Inferno von Putin unternommen wurde; doch sich bei der Beurteilung und Zuschreibung aller neuen Vorfälle und Schweinereien ausschließlich von den einmal erworbenen Aversionen leiten zu lassen, ist unprofessionell, gefährlich vereinfachend und schließt den leisesten Gedanken an Verhandlungsoptionen von vornherein aus.


Schreiben, was man weiß


Selbstredend haben auch Mutmaßungen ihre Daseinsberechtigung in den Medien, vorausgesetzt, sie fußen auf komplexen Überlegungen und räumen den bekannten Tatsachen genügend Raum darin ein. Wesentlich aber ist es in der gegenwärtigen Situation, die von den Politikern, Militärs und Geheimdiensten aller am Krieg beteiligten Staaten lancierten „Informationen“ mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Eine valide Plausibilitätsprüfung ist kaum möglich, denn Russland droht investigativen Korrespondenten aus dem Ausland mit Strafverfolgung, und die Ukraine lässt die embedded Reporter auch nur sehen, was sie sehen sollen.
Obwohl das angegriffene Land den „gerechteren“ Krieg führt, schenken sich doch die Kontrahenten in Sachen Propaganda nichts. Nicht zufällig bedienen sich sowohl Russland als auch die Ukraine dafür einer besonders übel beleumundeten Internet-Plattform, des Messenger-Dienstes Telegram mit Geschäftssitz in Dubai. Von Hype, Fake und Hate-Speech, wie sie in den „sozialen“ Medien üblich sind, distanzieren sich gutbürgerliche Zeitungen wie die SZ grundsätzlich selbstbewusst. Angesichts des in der Sprache gemäßigteren, in der Sache aber den wilden Spekulationen im Netz ähnlichen Beitrags von Bullion und Krüger muss man jedoch konstatieren, dass die Distanz manchmal nicht allzu groß ist.


Bei derart überbordender Manipulation und so wenig nachprüfbarer Information sollte man in einem Bericht, der nicht als Kommentar gekennzeichnet ist, Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Die beiden AutorInnen halten sich jedoch nicht an den Sokrates zugeschriebenen Sinnspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, sondern greifen zu einem raffinierten Stilmittel, um „ihre“ Wahrheit mit einer gewissen Rückversicherung im Falle des Irrtums unters Volk zu bringen: Der Konjunktiv 2 wird auch als Möglichkeitsform bezeichnet und beschreibt Vermutungen und irreale Dinge. Man verwendet ihn hauptsächlich, wenn man sich etwas vorstellt oder wünscht, was zurzeit nicht möglich ist (Schülerlexikon).


Also übt sich die SZ (wie übrigens andere „seriöse“ Blätter auch) geschickt im Irrealis (Unterstellungen, was sich Putin wohl Absurdes ausgedacht haben könnte) und manchmal auch im Optativ (Konjunktiv als Wunsch, es mögen doch die bösen Russen gewesen sein), und was auf der Strecke bleibt, sind akribische Recherche, Differenzierung abseits der individuellen Sympathie und eine gewisse Faktentreue.
10/2022
Dazu auch:
Putins „Erfolge“ im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund







Seltsame Wohltäter


Mit ein bisschen gutem Willen geht alles: Unter Vermittlung von Recep Erdoğan, dem Ehrenmann vom Bosporus, haben sich die beiden einsichtigen Kriegsparteien Ukraine und Russland darauf geeinigt, die darbenden Staaten der Dritten Welt weiter mit Weizen, Gerste, Mais und Hülsenfrüchten zu versorgen. So stand es wenigstens in der Presse. Merkwürdigerweise muss man nun jedoch konstatieren, dass – in entferntem Anklang an das Märchen vom Aschenputtel – die guten Körner zwar in gewisse Töpfchen gelangen, die Kröpfchen in etlichen armen Ländern aber leer bleiben werden.


Weihnachten mitten im Sommer


Die Nachricht las sich zu schön, um wahr zu sein: Ein Funken Vernunft (oder handelte es um einen Hauch von menschlicher Verantwortung?) schien sich in den Köpfen der Kriegsherren ausgebreitet zu haben. Nach Verhandlungen, die vom türkischen Präsidenten Erdoğan moderiert worden waren, hob Putin die Abriegelung von drei ukrainischen Schwarzmeerhäfen teilweise auf, und die Kornkammer Europas konnte fürderhin Getreide, Mischfutter oder Ölsamen, soweit die Bestände noch nicht von den Invasoren geklaut worden waren, ausführen. Um den Hunger in den Entwicklungsländern zu lindern, so glaubte man wenigstens.


Denn in zahllosen Kommentaren hatten die westlichen Medien auf einen besonders perversen Nebenaspekt der russischen Aggression hingewiesen. Arme Staaten, vor allem afrikanische südlich der Sahara, würden durch die Seeblockade von dringendst benötigten Nahrungsmittellieferungen aus der Ukraine abgeschnitten. Hungersnöte und chronische Unterernährung drohen, weil Putin skrupellos die Gebote der Menschlichkeit verletze, um seinen Krieg zu gewinnen. Aber nun war ja alles gut. Oder etwa nicht?
Manchmal lohnt es sich, in ein Branchenblatt wie agrarheute zu schauen.

Dr. Olaf Zinke ist als Crossmedia-Redakteur Betrieb und Markt für das Fachmagazin tätig und hat genauer nachgefragt, wohin die Schiffsladungen mit der lebensrettenden Fracht von den drei Häfen in und um Odessa geschippert wurden. Die Ergebnisse seiner Recherche dämpfen die allgemeine Euphorie beträchtlich.


Der eigennützige Altruist


Erster Nutznießer der Exporte über See war der unversehens zur Lichtgestalt avancierte Autokrat Erdoğan selbst: Als größte Abnehmerin der Lieferungen erwies sich nämlich die Türkei. Allein 16 von 36 Schiffsladungen, die im Juli und August die Ukraine verlassen durften, wurden in anatolischen Häfen gelöscht.


Weizen wurde nach Ägypten, Israel und Rumänien verkauft, Länder also, die nicht gerade unter einem akuten Hungerproblem leiden. Mais ging an den Iran, aber auch nach Italien, Irland und – Deutschland. Der Sudan war das einzige Land der Subsahara-Region, das auch einen kleinen Anteil erhielt.


Davon abgesehen, dass es der Ukraine zupass kommt, die Kriegskasse mit Devisen aus zahlungskräftigen Wirtschaften zu füllen, erschwert auch ein Mechanismus des „freien Marktes“ die Exporte in Gegenden, wo sie dringendst gebraucht würden: Die Schiffsrouten zwischen Jemen und Somalia sowie vor der westafrikanischen Küste sind gefährlich. Die großen Versicherungsunternehmen verlangen folglich hohe Risikoprämien von den Reedereien und Händlern, die deshalb wiederum weniger Gewinn einstreichen könnten. Fazit: Erst müssen die Säckel in der Ersten Welt gefüllt werden, bevor die Bäuche in der Dritten drankommen.


Laut geklagt, stillschweigend eingesackt


Es sei daran erinnert, mit welch selbstgerechter Empörung die Politik und Medien hierzulande die Verschlechterung der Ernährungslage vor allem in Afrika durch Putins Invasion anprangerten. Jetzt wäre zumindest ein Teil der Nahrungsmittel verfügbar, um die Situation in den ärmsten Ländern zu verbessern, doch nun zweigt man erst einmal Getreide für sich selbst und sein liebes Vieh ab.


Es war die EU, die mit Ausfuhren minderwertigen Fleisches die Hühner- und Viehzüchter in Westafrika ruiniert und Staaten im Osten des Kontinents „Freihandelsverträge“, die jeden Schutz für die dortige Wirtschaft aushebelten, aufgezwungen hat. Es waren die westlichen Getreidebörsen, die mittels Terminverträgen, Wetten und Spekulationen Nahrung verknappten oder verkommen ließen. Und das alles längst vor dem russischen Angriff auf die Ukraine!


So laut manche EU-Staaten, allen voran Deutschland, die zusätzlichen, durch den Krieg in der Ukraine bedingten Versorgungslücken beklagen, so diskret sichern sie sich nun Kontingente an Weizen und Mais, die anderswo menschliche Leben retten können, bei uns aber wohl teilweise an Rind und Schwein verfüttert werden, um den billigen und massenhaften Fleisch- und Milchkonsum, der den Klimawandel enorm beschleunigt, weiter garantieren zu können.
09/2022
Dazu auch:
Die Erpressung im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2015)







Universal Soldiers


Als typischer Failed State, der ohne Perspektive am Tropf ausländischer Mächte hängt, darf ein westafrikanisches Land in der Sahelzone gelten. Vorgeblich, um Jihadisten und Tuaregs zurückzudrängen, operieren westliche Staaten, insbesondere Frankreich und Deutschland, zur Wahrung eigener Interessen, aber mit dem Segen der UNO, in Mali. Mittlerweile sehen sie sich mit russischen Soldaten und Söldnern konfrontiert, die von der Militärjunta in Bamako zur Hilfe gerufen wurden. Die unklaren Ziele, die merkwürdigen Allianzen und Aktionen und die undurchsichtige Lage lassen immer häufiger die Frage aufkommen, was die Bundeswehr in der Region denn tatsächlich erreichen will.


Wozu 1400 deutsche Soldaten?


Über Mali berichten die hiesigen Medien meist nur, wenn dort wieder einmal geputscht wird, wenn Islamisten auf dem Vormarsch sind oder Berliner Politiker Markantes dazu äußern. Die Frage, warum die Bundeswehr dort ihre derzeit größte Auslandsmission bestreitet und 1400 Soldaten in den Sahelstaat entsandt hat, wird dabei selten gestellt und kaum jemals befriedigend beantwortet. So ist es ratsam, auf die Aktionen und Motive des französischen NATO-Partners zu schauen, denn der hat für sein Engagement in dem bettelarmen Land ökonomische Gründe und handfeste Interessen vorzuweisen.


Als 2012 ein Zweckbündnis aus islamistischen Terrorgruppen und den recht- sowie staatenlosen Tuareg-Nomaden aus dem Norden in die Mitte Malis vorstieß und u. a. die legendäre Weltkulturerbe-Stadt Timbuktu eroberte, griff die französische Armee ein und trieb die Angreifer zurück in die Wüste. Paris ging es in erster Linie um seinen strategischen Einfluss in der Sahelzone und um die Uranvorkommen im Norden des Landes, die für die heimischen Atomkonzerne von entscheidender Bedeutung sind. Da die Franzosen es leid waren, sich – von den unzuverlässigen Mali-Streitkräften kaum unterstützt – allein mit den Jihadisten herumzuschlagen, initiierten sie die mit UN-Mandat versehene Stabilisierungsmission MINUSMA, in der auch bis 1400 deutsche Soldaten afrikanische Luft schnuppern sollten, denn die BRD begreift sich mehr und mehr als Global Player, auch auf militärischem Gebiet und nun auch in Afrika.


Mittlerweile hat SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht gegenüber der dpa die Aussetzung der Aufklärungs- und Transportflüge durch die deutsche Luftwaffe angekündigt und sogar den gesamten Bundeswehreinsatz in Frage gestellt. Viel bewirkt haben die deutschen Soldaten ohnehin nicht, sieht man von bedenklichen Vorfällen bei der Ausbildung malischer Streitkräfte ab. Die Musik spielte längst woanders: Frankreich zog sich weitgehend aus der MINUSMA-Mission zurück und kocht militärisch nun sein eigenes Süppchen. In der Hauptstadt Bamako hatten im Vorjahr Militärs gegen die Übergangsregierung geputscht, die ihrerseits von der Armee eingesetzt worden war, nachdem diese den 2020 gewählten Präsidenten Keϊta gestürzt hatte. Die aktuelle Junta verweigerte aber MINUSMA und damit auch der Bundeswehr wegen fehlender Formulare Überflugrechte, sodass die Kontingente zeitweise nicht ausgetauscht werden konnten, und holte auch noch die Russen nach Mali.


Seltsame Verbündete, dubiose Gegner


Die Bevölkerung scheint die Option der von den Putschisten in Gang gebrachten Ablösung der NATO-Soldaten durch Militärberater und Söldner (vor allem von der berüchtigten Gruppe Wagner) aus Russland zu begrüßen; die Überheblichkeit und Ignoranz der westlichen Truppen kennt sie zur Genüge, die der neuen Interventionskräfte aus dem Osten (noch) nicht.


Die MINUSMA-Kräfte hatten sich im Luftverkehr über alle nationalen Formalitäten hinweggesetzt und auch intensiv Spionage aus der Luft betrieben. Die Junta in Bamako befürchtet wohl nicht ganz zu Unrecht, dass ein erneuter, diesmal pro-westlicher Umsturz vorbereitet werden soll. Französische Drohnen spähen malische und russische Militärlager aus, und auch die deutschen Soldaten scheinen mittelbar mehr mit Regime Change als mit dem Kampf gegen Jihadisten befasst zu sein, wie ein Bericht des kritischen Mediendienstes German-Foreign-Policy nahelegt: Derzeit stehen 49 Soldaten aus der von einem frankophilen Regime regierten Elfenbeinküste, die illegal ins Land gekommen waren, in Mali vor Gericht.

Sie hatten ein von der Bundeswehrtruppe genutztes Camp bewachen sollen, das von der privaten (!) Firma Sahel Aviation Services (SAS) betrieben wird. Das Unternehmen wurde von einem deutschen Hauptmann der Reserve gegründet. Zur Vorbereitung eines neuerlichen Staatsstreichs, mutmaßen die malischen Behörden – immerhin erinnert die Konstellation ein wenig an Söldnerunwesen und fremdgesteuerten Coup d‘etat…


Inzwischen soll MINUSMA ein mutmaßliches Massaker an 300 Zivilpersonen, das malische Streitkräfte gemeinsam mit russischen Söldnern Ende März in der Ortschaft Moura begangen haben sollen, untersuchen. Denkbar wären solche Grausamkeiten angesichts der Vergangenheit beider Alliierter durchaus, auch wenn die Junta in Bamako von 207 getöteten Terroristen spricht. Bemerkenswert ist der Aufklärungseifer der UN-Militärs dennoch, wurde über frühere dokumentierte Kriegsverbrechen durch malische Soldaten, die von der EU-Truppe EUTM ausgebildet worden waren, doch stets der Mantel des Schweigens gebreitet. Auch dem Vorwurf, Bundeswehrsoldaten hätten bei ethnischen Säuberungen in der Provinz Gao tatenlos zugesehen, war nie ernsthaft nachgegangen worden.


Präsenz in allen Ecken der Welt?


Was also rechtfertigt den Einsatz deutscher Truppen in Mali? Humanitäre Anliegen können es nicht sein. Der Kampf gegen islamistischen Terrorismus scheint auch eher lasch geführt zu werden. Ist es die neu erwachte nationale Hybris, die militärische Präsenz in allen Winkeln der Welt verlangt, weil ja „geostrategisch“ wichtig so ziemlich jede Ecke ist? Oder ist es der Versuch, unseren westafrikanischen „Hinterhof“ gegen russische und chinesische Begehrlichkeiten zu verteidigen. Vermutlich sind es die beiden zuletzt erwähnten Gründe.


Während Verteidigungsministerin Lambrecht zum Abzug des Bundeswehr-Kontingents tendiert, hält der CDU-Politiker Henning Otte, Vize des Verteidigungsausschusses, das Banner hoch. Es widerspreche den deutschen Sicherheitsinteressen, wenn Westafrika weiter in den Machtbereich offizieller und inoffizieller Truppen Russlands und vor allem islamistischer Terroristen falle. „Die Sicherheit Deutschlands endet eben nicht am Mittelmeer“, stellte er kategorisch in einem dpa-Interview fest. Wir entsinnen uns eines ähnlichen Merksatzes des einstigen SPD-Kriegsministers Peter Struck, dem zufolge die Sicherheit Deutschlands auch im Hindukusch verteidigt werde. Wenn die Gefahrenabwehr am Südrand der Sahara ebenso erfolgreich verläuft wie in Afghanistan, gnade uns Gott!


Gleichzeitig werden sechs Kampfflugzeuge (von denen nur fünf ankommen) und die Fregatte Bayern in den pazifischen Raum entsandt, um an der von den USA orchestrierten Einkreisung Chinas mitzuwirken, sollen Bundeswehrsoldaten die baltischen Grenzen gegen Russland schützen helfen. Offensichtlich reichen unseren Militärglobalisten solche Aufgaben noch nicht und sie schicken Truppen in die Wüste, wo sie genauso ineffektiv operieren wie in den afghanischen Bergen, gehören sie doch zu einer Armee, die schlecht ausgerüstet ist und die recht perspektivlos operiert. Zudem sind ihre Spezialeinheiten nachweislich von Neonazis infiltriert. In Mali zeichnet sich das nächste Debakel ab. Doch die Welt ist groß, es gibt also noch viele andere Länder.


Mitte der 1960er Jahre beschrieb der britische Folkrock-Barde Donovan in seinem Protestsong „The Universal Soldier“ den Prototyp des Soldaten ohne jedes Bewusstsein, der überall auf der Erde kämpft, ohne zu fragen, warum, wofür oder für wen, und ohne den kein Krieg geführt werden könnte. Mir scheint, maßgeblichen Politikern in Berlin schwebt ein großes omnipräsentes Heer von Universal Soldiers vor.
09/2022
Dazu auch:
Die Lehren von Kabul im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)








Ziege gegen Russland


„Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“ Dieser zutreffende Satz lässt sich auch auf die Berichterstattung über die russische Invasion in der Ukraine anwenden. Nur offenbart sich schon bei der Zuordnung des Sinnspruchs ein Dilemma der Recherche: Dass zahlreiche Medien den griechischen Tragödiendichter Aischylos (525 - 456 v.Chr.) als Urheber nennen, hält die Internet-Plattform falschzitate.blogspot.com nicht für korrekt und erklärt, eine unbekannte Person habe während des Ersten Weltkriegs, vermutlich in England, die Weisheit von sich gegeben. Bleibt die Feststellung, dass nicht nur, aber vor allem der Kriegsjournalismus Probleme mit der objektiven Bestandsaufnahme hat.


„Ausgewogene Distanz“


Im Medienmagazin der Deutschen Journalistenunion (Ver.di) wägt die Kölner Kommunikationswissenschaftlerin Marlis Prinzing zwischen „humanitärer Solidarität“ und „ausgewogener Distanz“ ab. So sei Empathie für die Überfallenen (die Ukrainer) durchaus angebracht, und man müsse der Definition „Angriffskrieg“ nicht ständig den russischen Euphemismus „Militäroperation“ gegenüberstellen. Andererseits müssten die Reporter aber auch über die ausufernde Korruption und die Verehrung einstiger Nazi-Kollaborateure in der Ukraine berichten.


Wenn Mathias Döpfner, der Rechtsaußen unter den deutschen Großverlegern, in BILD fordert, die Bundesrepublik solle gegen alle NATO-Regeln in den Krieg ziehen, oder im Redaktionsnetzwerk Deutschland ein Psychiater per Ferndiagnose eine Wahnkrankheit bei Putin diagnostiziert, fehle die gebotene „professionelle Distanz“, schreibt Prinzing.


Auch warnt sie in ihrem Beitrag für das Ver.di-Blatt vor dem „Embedding“, dem sich Journalisten freiwillig unterwerfen und sich so zum Sprachrohr der ukrainischen Politik machen lassen. Dieses „Einbetten“ oder intensive Betreuen von Reportern durch fürsorgliche Militärs oder Diplomaten war von den US-Streitkräften im Irak kreiert worden, um die Sichtweise der Berichterstatter positiv beeinflussen zu können. Es sollte nicht wieder eine so „schlechte Presse“ geben wie im Vietnamkrieg. Dass die Propaganda der ukrainischen Regierung im Westen oft ungefiltert als Wahrheit durchgeht, hat zum Teil aber auch Putins Regime selbst zu verantworten.


Die einen mauern, die anderen fluten


Per Gesetz hatte die russische Regierung allen Kriegskorrespondenten, die der Lüge überführt würden (also eine Nachricht verbreiten, die von der Einschätzung des Oberkommandos abweicht), mit schweren Strafen gedroht. Verständlich, dass sich die Reporter nicht unter ein solches Damoklesschwert begeben wollten und deshalb jetzt nur noch von der ukrainischen Seite aus berichtet wird…


Während Moskau somit mauert, flutet Kiew die Weltöffentlichkeit regelrecht mit Horror- und Siegesmeldungen sowie Schuldzuweisungen an die feindlichen Truppen. Mit ziemlicher Sicherheit hat es Kriegsverbrechen durch russische Soldaten gegeben, doch fehlen letzte Bestätigungen, weil die internationale Presse nicht vor Ort war und sich auf ukrainische Darstellungen verlassen muss. Umgekehrt beklagen sich Journalisten, sie würden auch von der Kiewer Regierung in ihren Recherchen behindert.


Immerhin ergänzen die öffentlich-rechtlichen Sender die Faktenbehauptungen bisweilen wenigstens mit dem Hinweis, eine unabhängige Überprüfung sei nicht möglich gewesen.
Wie undurchsichtig die Faktenlage an der Front geworden ist, belegt die beiderseitige Schuldzuweisung für den Beschuss des größten europäischen Atomkraftwerks Saporischschja in der Südukraine. Moskau macht Kiew für einen Raketenangriff mit Streumunition auf das von russischen Soldaten besetzte AKW verantwortlich. Kiew wiederum beschuldigt die feindlichen Truppen, den Atommeiler selbst beschossen zu haben. Wer lügt, wer ist verrückt geworden? Kann man glauben, dass Russland die eigenen Leute in den nuklearen Äther blasen will? Ist es denkbar, dass die Ukraine die atomare Verseuchung weiter Landstriche selbst herbeiführt? Wer wäre durchgeknallt genug, ein AKW in unmittelbarer Nähe zu beschießen? So viele Fragen – und kein Hauch von Antwort!


Eine Ziege riecht nach Ente


Da war vor wenigen Wochen eine Geschichte der t-online-news, die den Printmedien häufig buntes Material für den nächsten Tag liefern, doch von leichterer, wenn auch skurriler Art: Unter Berufung auf den nationalen Geheimdienst habe die „Ukrainiska pravda“ („Ukrainische Wahrheit“) berichtet, dass eine Ziege 40 russische Soldaten ins Krankenhaus gebracht hat. Das Tier habe sich in den Stolperdrähten, die zum Schutz um deren Lager gespannt waren, verheddert und dadurch etliche Granaten zur Explosion gebracht.


Klingt ein wenig märchenhaft und riecht nach Zeitungsente, lässt zumindest die Frage offen, wie die Ukrainer die feindlichen Opfer so genau zählen konnten, zumal diese mit Sicherheit nicht in ein ziviles Hospital im angegriffenen Land eingeliefert worden wären.


Doch t-online-news schiebt eine „wissenschaftliche“ Erklärung für den heldenhaften Einsatz der Geiß nach: „Auch wenn nicht anzunehmen ist, dass die Ziege die russische Stellung bewusst angegriffen hat – zuzutrauen wäre es ihr. Forscher fanden vor einigen Jahren heraus, dass die Tiere deutlich intelligenter sind als bis dahin angenommen. Die kognitiven Fähigkeiten von Ziegen ähneln eher denen von Elefanten und Delfinen als denen anderer Huftiere wie Schafen und Rindern. Allerdings dürfte die Ziege auf dem Weg vom Wild- zum Haustier einen Teil ihrer Intelligenz eingebüßt haben, berichteten die Biologen.“


Naja, für die Russen hat der Grips scheinbar noch gelangt, wenn man dieser Mär Glauben schenken will.
08/2022
Dazu auch:
Qualitätsente im Archiv der Rubrik Medien (2014)







Saubere Regierung


Noch bildet die Ampel-Koalition nicht allzu lange die Regierung, und doch zeigen sich bereits die typischen Merkmale einer gescheiterten Beziehung: Die FDP führt ihre beiden Partner am Nasenring durch die Manege, die Grünen geben in rasantem Tempo ihre ursprünglichen Werte und Überzeugungen auf, und die Sozialdemokraten verbergen sich im Schatten ihres Mannes ohne Eigenschaften, Olaf Scholz. Früher als sonst werden in dieser Legislaturperiode die ersten Flecken auf den vorgeblich weißen Westen der Hauptakteure sichtbar.


Befehl zur Zufriedenheit ausgeführt


Dass hierzulande die Automobilindustrie mit am Kabinettstisch der verschiedenen Bundesregierungen sitzt und die wichtigsten verkehrspolitischen Entscheidungen souffliert, wissen so ziemlich alle. Aber man/frau spricht nicht darüber, es sollte ja wenigstens ein Anschein von Demokratie (Volksherrschaft) gewahrt bleiben. Nun hat sich Wirtschaftminister Christian Lindner jedoch in schlechte Gesellschaft begeben und ist prompt als Erfüllungsgehilfe in die Schlagzeilen geraten.
Bei aller Liebe zu schnellen Sportwagen des Typs Porsche hätte der Marktliberale nicht vergessen dürfen, dass die Luxus-Marke mit dem Proll-Konzern VW liiert ist und allmählich dessen schlechte Umgangsformen angenommen hat. Wo die grauen Eminenzen von Daimler und BMW ihren Einfluss schweigend genießen, muss Porsche-Chef Oliver Blume natürlich lauthals prahlen, wie er das Ding mit den E-Fuels quasi im Alleingang gewuppt hat.


Diese synthetischen Treibstoffe werden von Umweltschützern als überflüssig wie ein Kropf gesehen, sind sie doch teuer und ineffizient, weil zu ihrer Herstellung Unmengen von Energie benötigt werden. Dummerweise hatte sich aber Porsche auf der Suche nach Alternativen zur Elektromobilität in die E-Fuel-Sackgasse begeben und errichtet derzeit in Chile eine Pilotanlage zur Produktion der Kraftstoffe.


Darf man Blume glauben, hat seine persönliche Intervention den umweltschädlichen Karren aus dem Dreck gezogen. Laut ZDF habe der designierte VW-Chef vor Mitarbeitern gesagt, dass Porsche „einen sehr großen Anteil“ an der Aufweichung des Verbots für Verbrennerautos ab 2035 durch die im Kabinett beschlossene Ausnahme für E-Fuel-Vehikel gehabt habe: „Da sind wir Haupttreiber gewesen, mit ganz engem Kontakt an die Koalitionsparteien. Der Christian Lindner hat mich in den letzten Tagen fast stündlich auf dem Laufenden gehalten.“


Der Wirtschaftsminister, der ohnehin gegen das Ende der Dreckschleudern gewesen war, konnte also dem Porsche-Boss gehorsam Rapport über seine erfolgreiche Bremsertätigkeit auf wenigstens einem Gebiet erstatten. Als dies aber Schlagzeilen machte und im Netz bereits von einem „Porsche-Gate“ Lindners geschrieben wurde, ruderte Blume ausgerechnet im Skandal-Blättchen „Bild am Sonntag“ zurück und entschuldigte sich, er habe „falsche Worte“ gewählt. Nun redete ein Konzernsprecher von „überspitzten“ Formulierungen bei der Betriebsversammlung, und die FDP ließ verlauten, es habe in der E-Fuel-Angelegenheit gerade mal ein klitzekleines Telefonat zwischen Lindner und Blume gegeben. Das scheint aber sehr zielführend gewesen zu sein…


Ein Asket greift tüchtig zu


Wenn man/frau einem Mitglied der gegenwärtigen Bundesregierung geradezu missionarischen Eifer und den Hang zu beinahe weltferner Askese zugebilligt hat, dann Karl Lauterbach, dem Heiligen Georg der Corona-Bekämpfung. Derzeit wirbt der Gesundheitsminister unermüdlich für die zweite Booster-Impfung, und zwar nicht mehr nur für die über 60- bzw. über 70-Jährigen, wie die EU oder die STIKO dies empfehlen, sondern praktisch von der späten Jugend an.


Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung, glaubt nun das Motiv für Lauterbachs Beflissenheit zu kennen. Der Minister habe angesichts von zu erwartenden 30 Millionen Impfungen im Herbst viel zu viele Serumdosen eingekauft, nämlich 200 Millionen, von denen ein Großteil weggeworfen werden müsse, behauptet der oberste Kassendoktor.

Der arme Karl, werden nun manche sagen, da ist er aus lauter Sorge wohl ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. Ein Blick in die Biografie Lauterbachs allerdings könnte Vermutungen aufkommen lassen, dass ihm auch das Wohl von Pharmakonzernen nicht völlig egal war, hatte er doch auch schon die großen Klinikbetreiber in sein Herz geschlossen.


In den Zeiten der Pandemie wurde vielen Menschen klar, dass ein Gesundheitswesen nicht Profit abwerfen, sondern die Versorgung und das Überleben der Bürger sichern soll. Einsparungen beim Personal, Schließung dezentraler Krankenhäuser oder die Übernahme von Arztpraxen durch Kapitalgesellschaften mögen private Investoren freuen, der vom Staat eigentlich garantierten Daseinsvorsorge werden solche gewinnorientierten Maßnahmen aber nicht gerecht.


Als Oppositionspolitiker hatte Karl Lauterbach lautstark die Überlastung des Gesundheitssystems beklagt, jetzt schweigt er als Minister zur Pleite des privatisierten Uniklinikums Gießen/Marburg (UKGM). Der börsennotierte Gesundheitskonzern Rhön AG hatte das Krankenhaus erworben, später beteiligte sich die Asklepios-Kette mit zehn Prozent an dem Objekt. Wie die Ver.di-Zeitung „Publik“ meldete, haben sich die Aktionäre allein zwischen 2015 und 2019  knapp 280 Millionen Euro an Gewinnen auszahlen lassen, während zu wenige Beschäftigte zu viele Überstunden machen mussten, veraltete medizinische Geräte im Einsatz blieben und Forschung sowie Ausbildung zurückgefahren wurden. Heute sagt die schwarz-grüne Landesregierung den fahrlässigen Betreibern eine halbe Milliarde Euro für die nächsten zehn Jahre zu, statt dem Wunsch der Belegschaft zu entsprechen und das UKGM wieder in die öffentliche Hand zu überführen.


Wie konnte es zu einer Konstellation kommen, bei der Aktionäre riesige Summen einstreichen, der Steuerzahler ohne Mitspracherecht für die Verluste aufkommt und das Wohl der Patienten gefährdet ist? Die Antwort ist im Programm „Weichenstellung für die Zukunft – Elemente einer neuen Gesundheitspolitik“ zu suchen, das der gerade erst von der CDU zur SPD gewechselte Lauterbach zusammen mit dem berüchtigten Renten-Privatisierer Bert Rürup verfasst hatte. Im Goldrausch des Wildwest-Kapitalismus brachte die Schröder-Regierung so das verhängnisvolle Gesetz zur Fallpauschale auf den Weg und forcierte den Verkauf öffentlicher Krankenhäuser. Noch 2019, also kurz vor der Corona-Krise, hielt Lauterbach am neo-liberalen Dogma fest: „Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite Klinik schließen sollten.“


Ein gewisses persönliches Interesse an der Privatisierung von Krankenhäusern und deren Umgestaltung zu Geldmaschinen darf man Karl Lauterbach nicht absprechen, saß er doch von 2001 bis 2013 als Abgeordneter im Aufsichtsrat des Asklepios-Konzerns und kassierte rund eine halbe Million an Tantiemen. Und dieser Mann soll nun das Gesundheitssystem reformieren und humaner für Patienten wie Mitarbeiter gestalten. Welcher Bock wurde da zum Gärtner gemacht!


Schluss mit lustig


Über allem aber thront wie Buddha nach erfolgreicher Fastenkur der empathielose Hanseat Olaf. Als jetzt Forderungen laut wurden, die einzige gelungene Maßnahme dieser Regierung zum Klimaschutz, das 9-Euro-Ticket, müsse verlängert werden, lehnte er dieses Ansinnen, übrigens ebenso wie Porsche-Lindner, kategorisch ab. In schlechtem Deutsch sprach er Klartext: „Das wird auslaufen, das war immer auf drei Monate konzentriert.“


FDP-Verkehrsminister Wissing sprang ihm bei und klagte, das günstige Abo belaste den Staatssäckel mit mehr als einer Milliarde Euro im Monat. Diese Mahnung kommt von einer Koalition, die gerade mal eben beschlossen hat, hundert Milliarden in der Bundeswehr versickern zu lassen.


Vielleicht wären dennoch jetzt genügend Mittel für die Aufwertung des ÖPNV vorhanden, wenn Olaf Scholz als Bundesfinanzminister von 2018 bis 2021 es nicht den Cum-Ex-Finanzjongleuren durch wohlwollendes Nichtstun ermöglicht hätte, den deutschen Staat um etliche Milliarden zu betrügen.

07/2022
Dazu auch:
Kassandra muss liefern im Archiv von Helden unserer Zeit (2022)





Welt im Zerrspiegel
Cartoon: Rainer Hachfeld


Die Vertreter der G7-Staaten trafen sich im oberbayerischen Elmau, die der NATO-Mitglieder in Madrid, und in Brüssel tagte die EU. Zwar wurde ein einheitliches Vorgehen gegen Russland beschlossen, doch blieb man beim Versuch, Putin zu isolieren, weitgehend allein. Vor allem ahnt man: Der Blick des Westens auf die Welt ist – zurückhaltend ausgedrückt – stark verkürzt; man könnte auch davon sprechen, dass der restliche Globus im Zerrspiegel wahrgenommen wird. Zudem beweist der Hang der Regierungen in Europa und Nordamerika zu luxuriöser Repräsentanz sowie Kaffeekränzchen-Nähe, dass sie noch nicht im oft beschworenen digitalen Zeitalter angekommen sind.


Schüler cleverer als Politiker?


Drei Konferenzen in zehn Tagen, ein Schaulaufen der wichtigsten westlichen Nationen von zweifelhaftem Wert, und das alles trotz der jüngsten Corona-Welle im Präsenzmodus: In Brüssel trafen sich die EU-Spitzen zum „Westbalkan-Gipfel“, um der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau den Status von Beitrittskandidaten, also Plätze im Langzeit-Wartezimmer, anzubieten. In Elmau kamen die gefühlt oder tatsächlich mächtigen G7-Länder zusammen, um ihre Front gegen Russland zu erweitern – und wurden am Ende alleingelassen. Beim NATO-Gipfel in Madrid kündigte Generalsekretär Stoltenberg an, die Allianz werde 300.000 ständig einsatzfähige Soldaten an den Grenzen von Putins Reich bereithalten. Viel Gedöns um fragwürdige Ergebnisse.


Vor allem in Elmau, wo u. a. über die bevorstehenden Hungersnöte in den ärmsten Ländern geredet wurde, durften die Organisatoren die Luxus-Präsentation eines „Arbeitstreffens“ in beinahe feudaler Pracht vorführen. Die Bundesrepublik inszenierte sich als ein einziges Voralpenland mit saftigen Almen und glücklichen Kühen, während die Einheimischen in Garmisch oder Mittenwald aus Gründen der Sicherheit (für die hochrangigen Gipfelteilnehmer) im Belagerungszustand zu leben hatten und den Bauern der Zutritt zu ihren eigenen Weiden und Wäldern verwehrt blieb. Das 170 Millionen teure Spektakel garantierte indes wenig Sicherheit vor Covid-Ansteckung. Angesichts der Tatsache, dass die sieben Delegationen nur wiederholten, was sie sich schon zuvor mehrmals versichert hatten und die Öffentlichkeit ihre Standpunkte auch schon längst kannte, hätte auch eine kostengünstige Video-Konferenz gereicht.


Als die Corona-Pandemie in Deutschland ihre diversen Höhepunkte erreichte, mussten Millionen von Schülern vor den Bildschirmen sitzen und ohne persönlichen Kontakt zu ihren Klassenkameraden, Freunden und Lehrern im digitalen Modus lernen. Politikern, die den Glamour-Effekt der Medienberichterstattung fürs eigene Image nutzen wollen, ist dies offenbar nicht zuzumuten.


Die Scheuklappen-Perspektive der G7


Aber natürlich ging es auf Schloss Elmau auch um die fünf Gäste, Schwergewichte aus dem Kreis der Schwellen- und Drittweltstaaten. Hoffnungsvoll tönte das ZDF: „Die Einladung der Südländer Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal und Argentinien soll die Geschlossenheit der Welt zeigen – und damit ein deutliches Signal an Putin senden.“ Tatsächlich wurde die Zusammenkunft ein Debakel für den Westen.


Indiens Präsident Modi, der gerade einen gigantischen Erdöl-Deal mit Putin vereinbart hatte, lehnte Sanktionen gegen Russland ebenso ab wie sein südafrikanischer Amtskollege Ramaphosa, der sich wohl noch daran erinnerte, wer seinen ANC im Kampf gegen das Apartheidregime unterstützt hatte, und wer nicht. Senegals Staatschef Sall, derzeit Präsident der Afrikanischen Union, gab sogar der EU und nicht Russland die Schuld an der derzeitigen Weizenkrise. Keines der fünf Gastländer ließ sich zu Strafmaßnahmen überreden, und das kennzeichnet einen Trend: Die meisten Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas lehnen es ab, in einem europäischen Konflikt aktiv Partei zu ergreifen, obwohl viele von ihnen den Überfall auf die Ukraine in der UN-Vollversammlung verurteilt hatten. Die kämpferische Titelzeile „Geschlossen gegen Putin“ der „Nürnberger Nachrichten“ zum G7-Gipfel erwies sich unter solchen Umständen als realitätsfernes Wunschdenken.


Natürlich hat die Haltung der meisten Drittwelt-Staaten auch wirtschaftliche Gründe, aber eben nicht ausschließlich. Der große deutsche Philosoph der bedeutungsschwangeren Beliebigkeit, Peter Sloterdijk, erklärte in der „Berliner Zeitung“ nicht ganz zu Unrecht: „Es spricht sich langsam herum, dass die Ächtung des Ukraine-Krieges von Putin bis auf weiteres eher eine westliche Spezialität darstellt.“ Den Grund hierfür sieht er in den undemokratischen Strukturen, wie sie in vielen Ländern der Erde herrschen.


Das ist zu einfach. In etlichen Ländern, auch in lateinamerikanischen Demokratien wie Chile, Argentinien oder Mexiko erinnert man sich noch an die Brutalität, mit der die USA durch direkte militärische Intervention, Geheimdienstoperationen oder Finanzierung uniformierter Mörderbanden ihre Vorstellung einer postkolonialen Ordnung durchsetzen wollten. Andere fragen, warum nie NATO-Staaten für die Invasionen und Menschenrechtsverletzungen in Vietnam, Kambodscha, Serbien oder im Irak mit Sanktionen belegt worden seien. Die Antwort, falls ehrlich, wäre einfach: Als Hüter internationaler Moral hat der Westen stets nur sich selbst akzeptiert, doch mit dieser Maxime bekommt er jetzt Schwierigkeiten.


Aufrüstung statt Verhandlungen


Wirklich folgenschwer dürfte allerdings die Ankündigung von Generalsekretär Jens Stoltenberg auf dem NATO-Gipfel in Madrid gewesen sein, die schnelle Eingreiftruppe der Allianz solle schon im kommenden Jahr auf „weit über 300.000 Soldaten“ aufgestockt werden. Das wäre in etwa das Achtfache des derzeitigen in ständig erhöhter Bereitschaft gehaltenen Kontingents.


Natürlich darf man Putin signalisieren, dass die Verwirklichung seiner Träume vom großrussischen Reich auf Widerstand stoßen würde. Aber ist es sinnvoll, ihm mit einem riesigen Heer in permanentem Kriegszustand zu drohen, oder erhöht dies nicht eher die Wahrscheinlichkeit einer direkten Konfrontation bis hin zum Atomwaffeneinsatz? Wären nicht Verhandlungen, in denen Russlands Ambitionen auf ein vernünftiges Maß rückgestutzt werden könnten und auch die Ukraine zur Erfüllung des Minsker Abkommens verpflichtet würde, eine intelligentere und weniger gefährlichere Lösung?


Offenbar hatten jedoch die Teilnehmer des NATO-Gipfels in Madrid trotz des persönlichen Kontakts erhebliche Verständigungsprobleme. Wie ein Journalist der „Financial Times“ berichtete, sollen mehrere Vertreter großer Mitgliedsstaaten Verwunderung über Stoltenbergs Ankündigung und ihre angebliche Zustimmung geäußert haben: „Sie wissen nichts von ihren Versprechungen und haben keine Ahnung, wie um alles in der Welt“ der Generalsekretär auf die Zahl 300.000 gekommen sei.


Trefflichere Missverständnisse hätte es bei einer der Pandemie angemessenen Video-Schalte auch nicht geben können.

07/2022
Dazu auch:
Wer darf, wer nicht? und Ende der Allmacht in der Rubrik Politik und Abgrund






Kriminell ohne Ende


Gäbe es eine Kriminalgeschichte der weltweiten Industrieproduktion, würden deutsche Unternehmen sicherlich an prominenter Stelle in ihr auftauchen. Ob Krupp, Bayer oder Diehl, ob es sich um Korruption, Kooperation mit Nazis oder illegale Waffendeals handelt – überall leuchtet die Qualitätsmarke „Made in Germany“ grell auf. In den letzten Jahrzehnten aber hat sich vor allem der Volkswagen-Konzern durch mannigfaltige Aktivitäten einen Namen im Unterweltsbezirk der globalen Wirtschaft gemacht. Jetzt wird er sogar der Sklavenhaltung verdächtigt.


Autobauer als Gefängnisrancher


Wie NDR und SWR berichten, musste sich VW vor wenigen Tagen einer ersten Anhörung durch die Justizbehörden stellen – schon wieder mal, jetzt in Brasilien. Die Vorwürfe gegen den Wolfsburger Konzern klingen ungeheuerlich, sind aber wohl zutreffend: Beim Versuch, ins Fleischgeschäft einzusteigen, hat der Autobauer zugelassen, dass Hunderte von Leiharbeitern zwischen 1974 und 1986 auf der ihm gehörigen Farm im Amazonasbecken zu Waldrodungen regelrecht versklavt wurden: Mit Wissen und Billigung von VW hatten Arbeitsvermittler die Männer, darunter auch Minderjährige, mit Gewalt an der Flucht gehindert, sie zur Arbeit und gleichzeitig in Schuldknechtschaft gezwungen.


Das Protokoll der Anhörung, die im Arbeitsministerium in Brasilia stattfand, enthüllt das Ausmaß des Skandals. Die Ermittler nannten die Lebensbedingungen auf der VW-Farm die "schlimmsten Umstände, die den Staatsanwälten im Bereich moderner Sklaverei je zur Kenntnis gelangt sind". Das Unternehmen hatte sich von Anwälten vertreten lassen, die in gewohnter Unverbindlichkeit aufsagten, „Volkswagen nehme den Fall aber sehr ernst und zeige sich einsatzbereit". Die brasilianische Justiz fordert jetzt die Herausgabe sämtlicher Unterlagen zur Farm vom Autohersteller, und da ist einiges vorhanden.


Schon vor fünf Jahren hatte nämlich der Bielefelder Historiker Christopher Kopper im Auftrag der Wolfsburger die damals bereits bekannten Anschuldigungen geprüft und bestätigt. Dennoch geschah nichts; weil man hoffte, dass unter der rechtsradikalen Bolsonaro-Regierung Gras über die Sache wachsen werde? Oder aus „Scham und Ratlosigkeit“, wie Kopper arg wohlwollend unterstellt. Das Fazit des Historikers: "VW sollte anerkennen, dass diese Arbeitskräfte misshandelt wurden und dass sie entschädigt werden sollten."


Nein, Skrupel haben die VW-Verantwortlichen sicherlich nicht empfunden, als sie sich wegduckten. Die Leiden ihrer „Mitarbeiter“ waren ihnen wohl ebenso egal wie der Schutz der für das Weltklima immens wichtigen Regenwälder Brasiliens. Seit einigen Jahrzehnten bereits ist bekannt, dass auch schon ein Verbrechen an der Menschheit begeht, wer – wie in diesem Fall – Bäume auf einer Fläche von 1400 Quadratkilometern (!) im Amazonasgebiet für die umweltschädliche Rindfleischproduktion roden lässt.


Lügen, Betrug und Gefährdung


Die Automobilindustrie hierzulande ist stets durch Trickserei, Lobbyismus an der Grenze zur Korruption sowie völlige Ignoranz hinsichtlich der körperlichen Unversehrtheit der Bevölkerung aufgefallen. Auch Daimler und BMW manipulierten bei den Abgaswerten nach Herzenslust, aber erst bei VW fanden US-Prüfer heraus, dass die Modelle im Straßenverkehr bis zu sechsunddreißigmal mehr Schadstoffe ausstießen als auf dem Teststand.


Aber in einem solchen Großkonzern existieren nur undurchsichtig verschachtelte Verantwortlichkeiten, tatsächliche Verantwortliche, zumindest solche, die etwas wissen und zur Rechenschaft gezogen werden könnten, gibt es meist nicht, und Subalterne, die als Sündenböcke herhalten müssen, sind beliebig austauschbar. Es erinnert ein wenig an den Kampf des griechischen Halbgottes Herakles gegen die Hydra: Immer, wenn er ihr einen Kopf abschlug, wuchsen ihr zwei neue nach.


Der frühere VW-Chef Martin Winterkorn wird von den USA per internationalen Haftbefehl gesucht, in Deutschland, wo auch gegen ihn ermittelt wurde, gilt er als verhandlungsunfähig. Wann gegen ihn hierzulande wegen Betrugs prozessiert wird, steht in den Sternen. Es scheint ohnehin, als habe der Konzern (wie auch seine Automobil-Konkurrenten) von den hiesigen Behörden wenig zu befürchten.


Die Gesundheit der Kunden und Passanten liegt den Kfz-Konstrukteuren sowieso nicht sonderlich am Herzen, sonst hätten sie nicht Dreckschleudern, getarnt als Öko-Softies, auf die Straßen geschickt und durch ihre Klinkenputzer in Brüssel die Verschärfung der Abgasnormen in der EU verhindert. Dass aber einer der Ihren Sklavenarbeit in Auftrag gibt, klingt selbst in diesem auf Gewinnmaximierung ohne Rücksichtnahme programmierten System erstaunlich. Doch dieser Konzern, an dem übrigens das Land Niedersachsen beteiligt ist, scheint noch zu ganz anderen Dingen fähig; da war doch noch etwas mit VW und Brasilien…


VW als Wiederholungstäter


Vor mehr als sieben Jahren wurden schon einmal VW-Vertreter in Brasilien zu einer Anhörung zitiert. Die Wahrheitskommission zur Aufklärung der während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) begangenen Verbrechen vernahm in Sao Paulo den Rechtsvertreter von Volkswagen, Rogerio Varga, und bezeichnete die Ergebnisse des Verhörs als „absolut unbefriedigend“, drohte ihm sogar mit der Staatsanwaltschaft.


Wie Journalisten der Presseagentur Reuter und staatliche Ermittler herausfanden, hatten bei VW do Brasil nämlich „schwarze Listen“ über bestimmte Mitarbeiter, vor allem Gewerkschaftsmitglieder, existiert, deren Namen an die Sicherheitskräfte der Diktatur weitergeleitet wurden, was Folter, Inhaftierung und anschließende Arbeitslosigkeit zur Folge hatte – wenn nicht Schlimmeres.


Einig war sich offenbar das Unternehmen mit der Militärjunta in einem Punkt: Am Arbeitsplatz haben Kadavergehorsam und Grabesruhe zu herrschen, um die hochgesteckten Profitziele zu erreichen. Das galt natürlich auch für Farmen im Amazonas-Urwald.

06/2022
Dazu auch:
VW noch ehrlicher (2016), Tödliche Trickserei (2015) im Archiv der Rubrik Medien
Service für Folterer im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2015)






Die Motten von Davos


Ein wenig Glamour wollten sich die Mächtigen und Reichen, die das Geschick unserer Welt so umsichtig, gleichzeitig aber so diskret lenken, indem sie jeden Fleck Erde und alle Völker gewissenhaft auf die Eignung zu grenzenloser Ausbeutung  abklopfen, ohne dies gleich an die große Glocke zu hängen, schon gönnen. Und so verabredeten sich die Investoren, Magnaten und ihre Politiker, denen die Definition der Freiheit des Marktes obliegt, alljährlich zu einer Kapitalsause in den Schweizer Bergen, um sich selbst zu feiern, aber auch um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass man sich den ein oder anderen Gedanken macht – um den internationalen Handel, um soziale Gerechtigkeit und andere volatile Dinge: Das Weltwirtschaftsforum von Davos war geboren.


In den Zauberbergen


Eigentlich hat es die Graubündner Gemeinde Davos dem Deutschen Alexander Spengler und dem Niederländer Willem Jan Holsboer zu verdanken, dass sie das triste Image des Bergbauerndorfes gegen das glänzende eines Treffpunkts der Kranken, Schönen und Reichen aus aller Herren Länder eintauschen konnte. Mitte des 19. Jahrhunderts glaubten die beiden Reha-Pioniere nämlich, im Höhenklima der Schweizer Zauberberge ein Heilmittel gegen Lungenerkrankungen, vor allem aber gegen die damals meist tödlich verlaufende Tuberkulose, entdeckt zu haben. Diese Annahme ist bis heute nicht wissenschaftlich belegt, doch sie reichte hin, den Prototyp aller Luftkurorte zu entwickeln.


Für die Grundlagen einer Erfolgsgeschichte sorgten die geschäftstüchtigen Eidgenossen, indem sie eifrig Villen und Sanatorien bauten, zum mondänen Ruf trugen Schriftsteller wie Robert Louis Stevenson oder später Thomas Mann bei, den Rubel rollen ließen schließlich reiche Geschäftsleute, Bühnen- wie Filmstars und natürlich russische Großfürsten, die auch das spektakuläre Nachtleben rege genossen – galt TBC schließlich bis ins vorige Jahrhundert hinein als Seuche der Bohemiens und  Vergnügungssüchtigen.


Die Kehrseite der Schwindsucht sind Auszehrung und Atemnot, ausgelöst durch Tuberkelbakterien, die sich am Lungengewebe gütlich tun und Löcher hinterlassen. In ihrem heiter-zynischen Kollegenjargon sprechen Ärzte daher gern von den „Motten“, was dem entgeisterten Ausruf „Ich krieg die Motten“ eine makabre Note verleiht.


Inzwischen wird die TBC durch Chemotherapie geheilt, niemand muss sich mehr einen teuren Aufenthalt in den Schweizer Alpen erkaufen. Davos tat gut daran, sich etwas Neues einfallen lassen, um an das Geld der Betuchten zu kommen, und die einstigen Dörfler zeigten sich kreativ: Sie riefen allerlei Sportevents ins Leben, lockten die Stars, Playboys und Gesellschaftslöwen mit dem Versprechen von Orgien in purer Exklusivität, lediglich ein klein wenig von Klatschreportern kolportiert. Und 1971 hatte wieder einmal ein Deutscher namens Klaus Schwab die Idee, neben den Musen- und Society-Idolen auch die Mächtigen und ihre „Interpreten“ aus der Politik, dazu genehme Wissenschaftler und – sozusagen als Farbtupfer – ein paar NGOs nach Graubünden zu bitten – so vor wenigen Tagen wieder geschehen.


Und wie die Motten umschwärmten nun die Entscheider und Marktbeherrscher die Spotlights der alljährlichen Veranstaltung. Wer genau zuhörte, konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass wie während des Kur-Booms in Davos auch jetzt Parasiten gefährlich viel Substanz raubten, nun aber dem globalen Organismus, nicht mehr dem einzelnen menschlichen Körper. Doch diese neuen Vertreter der Spezies verhandelten gesittet über ihre Anteile und fanden stets philanthropische Worte.


Der Hofpoet


Mittlerweile gehören der als gemeinnützig anerkannten Stiftung und Lobby-Organisation World Economic Forum (WEF) tausend Konzerne an, von denen alle über fünf Milliarden Dollar Jahresumsatz schwer sind. Sie finanzieren die jährlichen Zusammenkünfte, die Honorare für die Referenten und die Spesen für die Politiker; aber nicht allein: Man wäre ja nicht in den Olymp der Cleversten aufgestiegen, würde man sich nicht die Unkosten teilweise durch öffentliche Zuschüsse zurückerstatten lassen. Dazu kommen Hilfsleistungen, die ganz kulant von Staatskassen finanziert werden. So sichern Tausende von Schweizer Polizisten und Soldaten das Terrain, und im benachbarten Austria steht das Bundesheer Gewehr bei Fuß. Für rund fünfhundert  Journalisten aus aller Welt ist das Forum ein Muss, wobei grundsätzliche Kritik an der Veranstaltung aus ihren Reihen höchst selten vorkommt.


Dann reden sie miteinander, die deutschen KanzlerInnen, die US-Spitzenpolitiker, die OPEC-Dominatoren der Emirate und Saudi-Arabiens, Finanzinvestoren wie Soros, die neuen Götter aus dem Silicon Valley und die alten Heroen der Automobilindustrie, die Börsenjongleure oder die Vertreter des autoritären Staatskapitalismus aus China oder Russland, und sie machen sich gegenseitig vergiftete Zugeständnisse bei der Aufteilung der Welt, schließen neue Allianzen oder horchen sich gegenseitig aus, vergessen aber nie, ihr humanes Anliegen, die Erde zu einem besseren Ort zu machen, beiläufig kundzutun.


So war es jedenfalls, bis vor drei Jahren. Dann kam mit Corona eine Seuche, von der Davos ausnahmsweise nicht profitieren konnte, und zwei Meetings mussten abgesagt werden. Als danach alles wieder in trockenen Tüchern schien, marschierte Russland in die Ukraine ein, und Putin, der sich gern in der für einen Caudillo typischen Eitelkeit auf der Schweizer Weltbühne gezeigt hatte, wurde ausgeladen – und wäre wohl auch sonst nicht gekommen. Was soll unterkühlter Smalltalk, wenn die Waffen sprechen? Auch die Chinesen schickten diesmal nur ein paar unbedeutende Funktionäre. Überhaupt fehlen etliche Mächtige – und die russischen Oligarchen.


Aber hier hat der Wirtschaftsjournalist Florian Schmidt Trost parat, so ganz muss man auf die Magnaten östlicher Prägung doch nicht verzichten: Die Rettung kommt aus der Ukraine. Wiktor Pintschuk hatte nämlich ein Haus in Davos angemietet und zum Propaganda-Zentrum umgestaltet. Hier erklärte er der Weltpresse und den Forumsteilnehmern, er werde „die Wahrheit über Russland“ erzählen.


Die Wahrheit über sich selbst zu beichten, wäre sicherlich auch eine lohnende Aufgabe für den Mann aus Kiew gewesen, der durch einen betrügerischen Deal mit seinem Schwiegervater zum zweitreichsten Unternehmer der Ukraine aufstieg. Wie die SZ berichtete, wurde er vom selbsternannten Saubermann und Präsidenten Selenskyj (selbst politisches Ziehkind des Oligarchen Kolomoyskyj) ebenso wenig zur Verantwortung gezogen wie seine Milliardärskollegen Achmetow, Firtasch und Lewotschkin. Lediglich dem früheren Präsidenten Poroschenko wurde die Ausreise verboten, vielleicht weil sein Nachfolger noch eine persönliche Rechnung mit ihm offen hat. Nach wie vor kontrollieren diese Oligarchen große Teile der ukrainischen Wirtschaft und rund 70 Prozent der Medien.


Dass die steinreichen russischen Gangster der Putin-Fraktion in Davos nur gegen die Herren des ukrainischen Korruptionssumpfes ausgetauscht wurden, thematisiert Florian Schmidt nicht weiter, auch dass die westlichen Industriestaaten ein Embargo nur bis kurz vor die Schmerzgrenze der eigenen Konzerne mittragen, aber den globalen Habenichtsen forsch auferlegen, sie sollten ihre Bevölkerungen ohne Getreidelieferungen aus den kriegsführenden Ländern verhungern lassen, damit Putin keine Devisen einstreicht, ficht ihn nicht an.


Florian Schmidt schreibt für die Ströer Digital Publishing GmbH (SDP), die mit Stadtreklame und Werbung in U-Bahn-Stationen begann, mittlerweile aber über den Telekomdienst t-online-news Millionen im Netz erreicht und die Banalitäten vorab publik macht, die Zeitungen erst am nächsten Tag nachdrucken – also eine gewisse Gestaltungsmacht erreicht hat. Bei BILD und Welt hat er schlechten Journalismus von der Pike auf gelernt, dazu ein wenig als Unternehmensberater dilettiert, und das alles kommt ihm jetzt zugute, wenn er in rührseligen Worten die Solidarität des abgespeckten Davos-Gipfels mit der Ukraine beschwört, ohne Worte mit Taten abzugleichen. In einem Selbstporträt hat Schmidt geschrieben, er versuche, Wirtschaft, Konjunktur, Börse etc. „einfach verständlich näherzubringen – mit News, Analysen und hintergründigen Ratgeberbeiträgen“. Er meinte natürlich Beiträge, die den Hintergrund erhellen. „Hintergründig“ aber bedeutet undurchschaubar oder rätselhaft.


Ausgerechnet: Scholz als Muntermacher


Nur einem so einfach gestrickten Menschen mit neoliberalem Sendungsbewusstsein wie Schmidt konnte es gelingen, eine Lobeshymne auf Olaf Scholz, den ungekrönten Meister des drögen Allgemeinplatzes, für dessen Auftritt in Davos zu fabrizieren. So habe der Kanzler eine „maßgeschneiderte Rede“ für die Gäste gehalten. Was hat Schmidt da so gesagt und wie bringt das unser Hofberichterstatter rüber, fragen wir uns.


Zum Beispiel: „´Die 20er Jahre werden Jahre der Veränderung und des Umbaus`, so der Kanzler weiter. Die Wirtschaft müsse sich, beschleunigt durch den Ukraine-Krieg, neu aufstellen, noch schneller klimaneutral werden.“


Donnerwetter, noch schneller auf Öko-Produktion umsteigen? Noch weniger tricksen und bremsen? Dazu natürlich Veränderung und Umbau, zwei Vokabeln, die nach Ludwig Erhard jede/r Kanzler/in in jedem Halbsatz mindestens ein Mal bringen musste. Und so hat Scholz  die Davos-Teilnehmer aus dem Koma geweckt? Doch mehr von Schmidts froher Mär im O-Ton:
„Scholz rief zu mehr internationaler Zusammenarbeit auf, zu einer Stärkung des sogenannten Multilateralismus. Gemeint ist damit: ´Abkommen zwischen vielen Staaten, die sich verbünden, um gemeinsam an Lösungen für die Probleme der Welt zu arbeiten`.“


Als hätten die Motten in Davos noch nie von der UNO, der EU, der NATO, der WHO, von bi-, tri-, multilateralen Verträgen gehört. Natürlich bearbeiten sie gemeinsam mit allen anderen sämtliche Weltprobleme, wenn die von ihnen gewünschten Lösungen dabei herauskommen. Einen hat Scholz laut Schmidt noch in petto:


„Ziel sei, so der Kanzler, ´solidarische, kluge Globalisierung`, die anders aussehen werde als jene, die in den vergangenen 30 Jahren für Wohlstand auf der ganzen Welt gesorgt habe: Jetzt gehe es darum, dass alle vom internationalen Handel profitierten.“


Zuerst also haben nicht alle vom Welthandel profitiert, obwohl sie doch eigentlich schon in den letzten dreißig Jahren der Regenwaldzerstörung, Kriege und sozialen Ungleichheit durch die Globalisierung wohlhabend geworden seien. Was will uns unser Kanzler damit sagen? Sein Exeget Schmidt schweigt hintergründig dazu, aber ich muss ehrlich zugeben, dass ich den Forumsmotten in Davos einen solchen Redner in Hochform von Herzen gegönnt habe..
06/2022
Dazu auch:
Olaf der Schreckliche im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2019)








CSU fast ganz die alte


Es war ein wenig still geworden um die bayerische Staatspartei CSU. Wohl war Markus Söder, ihr Herr und Meister auf allen möglichen Kanälen zu allen denkbaren Themen zu hören, ohne dabei viel Sinn zu versprühen, aber es fehlte doch jene lautstarke, derbe und bisweilen ein wenig kriminelle Hybris, die seit Franz Josef Strauß den bajuwarischen Sonderweg so eindrücklich charakterisierte. Dann wurde Stephan Mayer aus dem oberbayerischen Burghausen christsozialer Generalsekretär und mit ihm schien die frühere Rotzigkeit erneut Einzug in die Partei zu halten. Jetzt ist er zwar wieder weg, aber wenigstens mit einem Skandal in guter alter Tradition.


Dem Falschen an die Gurgel


Seit Generationen ist es Sitte im Freistaat, dass der Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende einen jüngeren Rüden zum Wadenbeißer, vulgo: Generalsekretär, bestellt. Andreas Scheuer war schon so ein Mann fürs Grobe, Alexander Dobrindt auch, und Söder selbst diente einst als „Stoibers Hackebeilchen“ (SPIEGEL). Diese Leitkläffer haben dem Chef den Weg zu bahnen und seine Feinde frontal anzugehen.


Stephan Mayer, der eigentlich wie gemalt für diesen Job schien, hatte das Pech, nach dem Falschen zu schnappen. Die BUNTE, Glamour-Postille für Arme, hatte berichtet, dass der diskrete Burghausener die Existenz eines unehelichen achtjährigen Sohnes verschwiegen und Zahlung der fälligen Alimente dem Großvater überlassen hatte. Nichts Großartiges also in der üppigen Skandalchronik der CSU, doch Mayer drehte durch, drohte einen Tag vor der Veröffentlichung des Artikels dem Reporter Manfred Otzelberger mit „Vernichtung“ und forderte in bester Erpresser-Manier 200.000 Euro Schmerzensgeld, die stante pede zu überweisen seien.


Der Burda-Verlag leitete rechtliche Schritte ein, von BILD bis ARD stürzten sich die vom Ukraine-Krieg übersättigten Medien auf die boulevardeske Sottise, und Söder, der nächstes Jahr einen Wahlkampf zu verlieren hat, gab mit Krokodilstränen in den Augen bekannt, dass sein alter Kumpel aus der JU um seinen Rücktritt als Generalsekretär eingekommen sei. Aus gesundheitlichen Gründen, wie halt immer.


Chronisch schlechter Gesundheitszustand


Es gehe Mayer sehr schlecht, erklärte Söder kurze Zeit später, mit einem Anflug von Mitgefühl, das ihm nur niemand in Bayern abnimmt. Tatsächlich handelt es sich bei der Begründung um „the same procedure as every time“, sozusagen um das Entschuldigungsmantra der CSU, einer Partei, deren Mitglieder in notorisch schlechtem Gesundheitszustand sein müssen.
So wurde Friedrich Zimmermann 1960 wegen eines Meineids, durch den die Konkurrenten von der Bayernpartei desavouiert werden sollten, schuldig gesprochen. Doch in zweiter Instanz entschied das Gericht ein Jahr später, dass der Strauß-Spezi zum Zeitpunkt des Eides wegen „verminderter geistiger Leistungsfähigkeit aufgrund einer Unterzuckerung“ unzurechnungsfähig gewesen sei und sprach ihn frei. Einen mitfühlenden Beobachter wird es freuen, dass Zimmermann später wieder gesund genug für das Amt des Bundesinnenministers wurde.


CSU-Generalsekretär Otto Wiesheu musste 1983 zurücktreten, weil ihm etwas Dummes passiert war: Mit imposanten 1,99 Promille im Blut hatte er sich ans Steuer gesetzt und einen polnischen Kleinwagen von der Autobahn gefegt. Dass dabei dessen Fahrer ums Leben kam und ein Begleiter schwer verletzt wurde, sühnte das Gericht letztendlich mit gnädigen zwölf Monaten auf Bewährung. Offenbar war berücksichtigt worden, dass Wiesheu sich im Stress befand und an einer Alkoholvergiftung litt. Als es ihm wieder besser ging, wurde er zehn Jahre später zum bayerischen Staatsminister berufen, und zwar für Wirtschaft – und Verkehr.


Überhaupt scheint der Hang zu Hopfengetränken und Hochprozentigem eine ständige Bedrohung für Leib und Leben unzähliger CSU-Mandatsträger in den Kommunen und Bezirken dargestellt zu haben. Wie viele im Suff aus der Kurve getragene schwarze Bürgermeister oder Landräte mussten wir doch betrauern. Und auch FJS scheint sich seine endlosen Affären und Skandale gewissenhaft schöngetrunken zu haben.


Trübe Wasser, laut oder still


Markus Söder wollte alles besser machen: Modern hatte seine CSU zu werden, bürgernah und frei von Eklats. Die Hallodri-Zeiten eines Max Streibl („Saludos Amigos“), eines Gerold Tandler (Papa von Masken-Andrea) oder Alfred Sauter (Seuchengewinnler) sollten endgültig vorbei sein. Schwadronieren durfte nur noch einer, nämlich Söder selbst, dessen einziger Programmpunkt Söder heißt.


Aber es klappt nicht so recht. Mal versucht – reichlich instinktlos –Gattin Karin Baumüller-Söder den Einstieg in den Masken-Goldrush, dann wieder legt sich sein Generalsekretär ausgerechnet mit dem Burda-Verlag an, der sein Herz doch auf dem rechten Fleck hat. Es ist wieder ganz wie früher, nur ein paar Nummern kleiner. Deshalb hat Markus Söder seiner Partei jetzt ein stilles Wasser als General verordnet, den unauffälligen Martin Huber, der wie sein Vorgänger aus dem gottesfürchtigen Altöttinger Landkreis kommt.


Das Problem ist nur, dass die Wasser in der Union zwar mal stiller und mal lauter (akustisch, nicht ethisch!) sind, aber meistens ziemlich trübe. Söders neuem Herzbuben wird jedenfalls vom Plagiatsexperten Zenthöfer ausgerechnet gegenüber der „Bild am Sonntag“, die in ihrer brachial-rechten Ausrichtung eigentlich zur Lieblingslektüre der CSU zählen müsste, bescheinigt, dass sich allein auf den ersten 26 Seiten seiner Doktorarbeit 25 Zitate, deren Quellen nicht oder falsch ausgewiesen seien, fänden.
„Kopie, Imitat!“ schreien die Feinde einer urbairischen Partei, während alte CSU-Kameraden mit wissendem Lächeln abwiegeln: „So, abgeschrieben hat er, der Hubers Martin? Donnerwetter, a Hund is er schon!“

05/2022
Dazu auch:
System Bayern I und II im Archiv von Politik und Abgrund (2013) und Verlorene Tochter im Archiv von Helden unserer Zeit (2017)







Eine gewisse Freiheit


Sonntagsredner, Politiker, Verleger und Journalisten werden stets unisono betonen, dass die Pressefreiheit in unserer Gesellschaft ein „hohes Gut“ sei. Es handelt sich dabei um eine gutbürgerliche Pflichtübung und zugleich um ein vages Credo, das seine Bekenner nicht viel kostet. Wahre publizistische Unabhängigkeit ist nämlich nicht nur – wie hierzulande angenommen – von autoritären Regierungen bedroht, sondern vor allem auch durch Wirtschaftsoligopole, seien diese nun Verleger-Dynastien oder Konzernspitzen, die sich eine bestimmte Berichterstattung wünschen. Ein Coup des Tesla-Unternehmers Elon Musk hat die Mediendebatte gerade wieder angeheizt.


Man darf, aber man tut es besser nicht


Die Nachricht schockte auch die unbedarftesten Nutzer von Twitter, jener Meinungsplattform im Internet, auf der alle Vielplauderer, vom einfachen Wutbürger bis hin zu US-Präsidenten wie Barack Obama oder (zumindest bis vor Kurzem) Donald Trump ihr Weltbild in maximal 280 Zeichen zum Besten geben durften: Elon Musk, irrlichternder Autobauer und Weltall-Abenteurer, für den die in Elitekreisen früher befolgten Regeln medialer Zurückhaltung und politischer Diskretion nicht mehr zu gelten scheinen, übernimmt das Zentralorgan des fast zügellosen Digitaldiskurses.


Er sei mit der Darstellung der eigenen Person auf Twitter nicht zufrieden gewesen, raunen Nerds und sorgen sich zum ersten Mal in ihrem Leben um die Medienfreiheit. Die aber war immer schon vielfältig bedroht, auch wenn nun Gefahren, die an sich inhaltlich nicht neu sind, in neuem Gewand daherkommen. Musk jedoch kündigt an, dass künftig auf Twitter jeder äußern dürfen soll, was ihm gerade so an Derbem einfällt.


Das heißt nicht, dass die „traditionellen“ Behinderungen der professionellen Recherchen und der klassischen Pressearbeit vollständig von Irritationen in den New Media abgelöst worden wären. Die NGO „Reporter ohne Grenzen“ veröffentlicht jedes Jahr eine Rangliste von 180 Ländern in puncto Medienfreiheit, in der übrigens  Deutschland 2021 an 13. Stelle geführt wurde. Zwar fließen in den dazu erstellten Fragenkatalog Kriterien wie Vielfalt, Unabhängigkeit oder Selbstzensur ein, doch sind solche Merkmale schwer überprüfbar, so dass eher die harten Fakten wie Zensur oder Gefahr für Leib und Leben der Journalisten über den Platz eines Staates in der internationalen Hitparade des (un)beschränkten Informationszugangs entscheiden.


Und da finden sich natürlich Länder mit rigider Zensur oder Autokratien wie Putins Russland und Erdoğans Türkei, die per Gesetz regeln, wie ein Angriffskrieg auf die Ukraine oder auf die Kurden pressetechnisch zu umschreiben ist, auf den hinteren Rängen wieder. In ihrer Nachbarschaft platzieren sich Staaten, in denen Journalisten zwar de jure frei berichten können, dafür aber ins Visier von Gangstern und/oder Mächtigen geraten und für ihren Recherche-Eifer mit dem Leben bezahlen müssen, etwa Mexiko oder zeitweise auch die beiden EU-Mitglieder Slowakei und Malta.

Doch auch wo keine Brachialgewalt oder staatliche Verfolgung droht, üben sich viele Reporter in vorauseilendem Gehorsam, zunftwidriger Verschwiegenheit und methodischer Verharmlosung.


Wie Parlamentsabgeordnete sollten Journalisten eigentlich nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet sein, doch – so wie sich Erstere willig ihrer Fraktion und ihrem Karrieretrieb unterwerfen – kommen manche Medienschaffende allzu bereitwillig den Auflagen nach, die ihnen von Herausgebern oder direkt von Zeitungsbesitzern diktiert werden, um ihren Brotjob oder ihren Status zu behalten. Zu glauben, in den Kampfblättern „Bild“ und „Welt“ könnte ein Autor mit Berufsethos alles schreiben, was ihm seine Recherchen und sein (linkes?) Bewusstsein eingeben, wäre naiv. Meinungsfreiheit in den Medien ist relativ, selbst in Abwesenheit physischer Gewalt kann sie begrenzt werden, durch die Besitzverhältnisse an den Medien.


Die Überzeugungstäter


Ideologisch streng fixierte Großverleger gab es immer schon; als Vorbild für ganze Generationen von Zeitungstycoons bis in die Gegenwart hinein mag William Randolph Hearst gelten. Der Journalist startete in San Francisco mit einem Lokalblatt und besaß wenige Jahrzehnte später die größte Zeitungskette der USA. Hearst, der zu einem der reichsten Bürger der Vereinigten Staaten aufstieg, ließ seine Leitartikler im Jahr 1888 die US-Regierung in den Krieg gegen Spanien hetzen. Eine gewisse Sympathie für Kaiser Wilhelm II. und ein Faible für faschistische Bewegungen bewogen ihn, zunächst gegen den Eintritt der USA in die beiden Weltkriege zu agitieren. Hitler und Mussolini durften sogar in seinen Zeitungen schreiben, bis Hearst nach den Novemberpogromen von 1938 in Deutschland seine Meinung änderte. In einem der großen Klassiker der Filmgeschichte, „Citizen Kane“, charakterisierte Orson Welles den Zeitungszaren als bedenkenlosen, aber schließlich scheiternden Tyrannen.


Wenige Jahrzehnte, nachdem Hearst 1951 gestorben war, mischte der Australier Keith Rupert Murdoch zunächst den Pressemarkt seiner Heimat auf, übernahm dann in den USA die streng rechtslastige „Fox Corporation“, später Trumps treueste Verbündete im Medienspektrum, engagierte sich im Satelliten-TV und gründete in Großbritannien den Bezahlsender „Sky-Channel“. Im Königreich ermöglichte ihm die Konservative Partei per Gesetzesänderung die vollständige Übernahme des Edel-Journals „The Times“ und des Schmuddelblatts „Sun“, die er beide sogleich auf Linie brachte.


Murdoch revanchierte sich für die Tory-Gefälligkeit, indem er die Wahlsiege von Margaret Thatcher und John Major publizistisch vorbereiten ließ. Dann, 1997, änderte der Magnat seine Meinung plötzlich und unterstützte Tony Blair, den Neoliberalen im Labour-Pelz. Blairs und Bushs Lügenkampagne zu den angeblichen Vernichtungswaffen im Irak wurde von seinen Medien mit Getöse lanciert. Die Biographien von Hearst und Murdoch beinhalten genügend Belege dafür, dass in chauvinistische Richtung gebügeltes Veröffentlichungspotential durchaus Regierungen stürzen und Kriege zumindest wahrscheinlicher machen kann.


Ganz so weit hat es Deutschlands messianischer Großverleger Axel Cäsar Springer nicht gebracht. Durch seine journalistische Rolle im Dritten Reich vorbelastet, profilierte er sich in Westdeutschland als glühender Pazifisten- und Kommunistenhasser sowie USA-Fan, der die DDR wie das Land Mordor im „Herrn der Ringe“, das man ja auch besser nicht beim Namen nannte, ignorierte. Seine „Welt“ schwächelte im ziemlich überschaubaren Spektrum rechter Intellektueller vor sich hin, doch mit „Bild“ richtete er viel minderheitsfeindlichen, unsozialen und nationalistischen Unfug an.


Bei Springer mussten sich angehende Redakteure zu bedingungsloser NATO-Treue und US-Gefolgschaft verpflichten – so viel zu kritischer Distanz in der Berichterstattung und ergebnisoffener Recherche. Nachfolger Mathias Döpfner, der gerade erst wieder zum Kampf gegen Grüne, Sozialdemokraten und andere Nihilisten aufgerufen und die derzeitigen Verhältnisse in der Bundesrepublik mit denen in der „sogenannten DDR“ verglichen hat, will den Kampf gegen das Böse und Rote nun auch im Gelobten Land selbst führen; jedenfalls hat er die Info-Plattform „Politico“ in den USA erworben.


Kauf dir ein Medium!


Eins eint die rechten Meinungsbildner Hearst, Murdoch und Springer: Sie waren zeit ihres Lebens damit befasst, Zeitungen zu gründen, zu führen und sie ihren politischen Intentionen dienstbar zu machen. Mit Medien-, Meinungs- oder Pressefreiheit hat das nicht viel zu tun, aber die drei Genannten waren wenigstens Überzeugungstäter vom Fach.


Jetzt aber steigen Hightech-Emporkömmlinge ins Geschäft ein, für die große Teile der Medien nur Relikte aus dem frühen Analog-Anthropozän sind. Um ein Wunsch-Image von sich selbst global zu verbreiten oder die eigene Weltsicht zum Maßstab für politisches und ökonomisches Handeln zu machen, werden keine Zeitungen, keine öffentlich-rechtlichen Medien und vor allem keine kritischen Journalisten benötigt. Musk, der pseudo-religiöse Heilsbringer von eigenen Gnaden, will Twitter von einigen lästigen Anstandsregeln befreien, seine Version des Turbo-Kapitalismus als frohe Botschaft verbreiten und dabei auch noch Geld verdienen. Diese Optionen sind ihm rund 45 Milliarden Dollar wert.


Nicht ganz auf klassische Publikationen will ein anderer Hightech-Oligarch verzichten. Der eher zurückhaltende Amazon-Chef Jeff Bezos hat bereits 2013 die „Washington Post“ gekauft, die einst als Flaggschiff des investigativen Journalismus in den USA galt. Ihre Reporter deckten gemeinsam mit Kollegen der „New York Times“ 1973 den Watergate-Skandal auf und stoppten so den notorischen Lügner-Präsidenten Richard Nixon. Es ist kaum anzunehmen, dass die Rechercheure der „Washington Post“ heute mit ähnlichem Eifer ihre Spürnasen in die asozialen Arbeitsverhältnisse bei Amazon stecken dürften oder dass sie den irrwitzigen Machtzuwachs und den Absolutheitsanspruch der New-Economy-Parvenüs je ernsthaft in ihrer Zeitung hinterfragen könnten.


Immerhin gilt die zuvor finanziell schwächelnde „Washington Post“ inzwischen als saniert. Dass sich unter dem neuen Regime jedoch etwas am Anspruch und am Selbstverständnis des Blattes geändert haben muss, deutete sein ehemaliger Innovationschef Jarrod Dicker fünf Jahre nach der Übernahme durch Bezos an: „Ich möchte keinen in der Redaktion beleidigen. Unser Journalismus ist großartig. Aber wir sind inzwischen eine Technologiefirma.“
05/2022
Dazu auch:
Pressefreiheit??? im Archiv der Rubrik Medien (2014)







Wissen an die Macht?


Wie tickt ein Wissenschaftler, der unter die Politiker gefallen ist? Die SPIEGEL-Redakteure Markus Feldenkirchen und Martin Knobbe wollten das in einem Gespräch mit Karl Lauterbach herausfinden. Der Bundesgesundheitsminister forderte viel Verzicht vom Volk, etwa beim Fleischkonsum, zugleich aber eine enorme Aufstockung des Gelehrtenanteils in Parlament und Regierung. Dies impliziert die Frage, ob eine zahlenmäßig hohe Repräsentanz von Forschung und Lehre tatsächlich Lösungen für die gigantischen nationalen und globalen Probleme generieren könnte.


Fachidioten der Wissenschaft


In seinem Buch „Bevor es zu spät ist“ macht Lauterbach eine Reihe von Vorschlägen, um dem Klimawandel Einhalt zu gebieten. Auf sein Patentrezept, das der Minister immer wieder für ein effektiveres und umweltbewussteres Regieren angewendet sehen möchte, sprachen ihn die beiden Interviewer gezielt an: „Sie wollen den Anteil von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in der Politik erhöhen. Wie soll das gelingen?“ Lauterbach brachte daraufhin eine neue Art von Quote ins Gespräch, die Parteien sollten Listenplätze für Gelehrte freihalten.


Die SPIEGEL-Journalisten, die ansonsten nicht sehr tief schürften, stellten dazu immerhin fest, dass die Regierungszeit der promovierten Physikerin Angela Merkel, einer Naturwissenschaftlerin also, dem Klima und somit der Natur nicht viel geholfen habe – was der SPD-Gesundheitsguru auch zugab. Dennoch blieb er bei seiner Eingangsthese und bekräftigte diese auf leicht absurde Weise, als er gefragt wurde, ob er denn von einer „Expertokratie“ träume: „Ich würde es anders nennen, aber: Ja, wir brauchen viel klarere Verankerung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in den politischen Prozess. Und da muss man alles nutzen, was geht. Mehr Wissenschaftler in den Parlamenten.“


Benennen würde Lauterbach also eine „Gelehrtenrepublik“, wie sie Arno Schmidt ironisch in seinem gleichnamigen Roman beschrieb, nicht ganz so plakativ, aber haben möchte er sie schon. Nun wären mehr Sachverstand und Hintergrundwissen in der Politik durchaus wünschenswert, und der Austausch mit Forschern und Wissenschaftlern müsste dringend intensiviert werden. Auch ist es für einen Abgeordneten oder Minister legitim, Mitstreiter aus dem eigenen Metier als Weggenossen um sich zu scharen – ein in den Bundestag gewählter Agrarfunktionär würde sich sicherlich mehr Bauern im Parlament wünschen –, doch setzt die damit verbundene Beschränkung auf Personal mit gleicher Erfahrung und Perspektive dem geistigen Horizont enge Grenzen.


Im legendären Jahr 1968 schlugen sich in einem Streitgespräch der Studentenführer Rudi Dutschke und der FDP-Star sowie Soziologe Ralf Dahrendorf die Verbalinjurien „Fachidioten der Politik“ und „Fachidioten des Protests!“ um die Ohren. Beide meinten damit jeweils Spezialisten, die auf ihrem Gebiet versiert waren und dabei den Rest der Gesellschaft aus den Augen verloren hatten. Wäre letzteres nicht zu befürchten, wenn die akademischen Geister den Elfenbeinturm ihrer „reinen Lehre“ verließen und sich in die Niederungen praktischer Politik begäben?


Eine unglückliche Zwangsehe


Universalgelehrte wie Leonardo da Vinci oder Aristoteles kann es heute nicht mehr geben, zu viele neue Disziplinen und zu viele Verästelungen und Interdependenzen hat das exponentielle Wachstum unseres Wissens inzwischen bedingt. Und leider wohnen den Ergebnissen der modernen Forschung oft gleichzeitig das Potenzial der Lebensverbesserung und das der Lebensvernichtung inne. Wofür er gerade arbeitet, muss ein Naturwissenschaftler selbst entscheiden, wenn er denn die Konsequenzen seines Tuns überhaupt abschätzen kann.


Die einen feiern mittels agrarischer Diversifizierung kleine Siege gegen den Hunger in der Welt, die anderen schaffen in der Pharmaindustrie die Voraussetzungen für profitträchtige Monokulturen, die den Boden ausgelaugt und unkultivierbar hinterlassen. Konnten die Physiker, die 1942 in Los Alamos an der Atombombe arbeiteten, das Ausmaß des Schreckens, den sie auf die Menschheit losließen, richtig vorausahnen – und später ertragen? J. Robert Oppenheimer offenbar nicht. Sein Kollege Edward Teller hingegen machte sich 1950 ungerührt daran, die noch fürchterlichere Wasserstoffbombe zu erschaffen.


Nicht nur die Politik, auch die Naturwissenschaft benötigt also die Einsicht, dass man alles machen kann, aber nicht alles tun sollte. Leider können aber auch die Geisteswissenschaftler, Philosophen, Politologen oder Soziologen keine Hilfestellung liefern, zu verliebt sind sie in ihre bevorzugten Denkschulen – von jener Disziplin, die zu einem großen Teil aus Markt-Astrologie besteht und sich „Wirtschaftswissenschaften“ nennt, ganz abgesehen. Und wenn sich ein inzwischen emeritierter Historiker wie Gregor Schöllgen, der in seinen Unternehmerbiografien reihenweise Alt-Nazis gegen gutes Honorar reinwusch, hinstellt und öffentlich postuliert, Geschichtswissenschaft müsse „sich kapitalisieren“, dann zeigt dies nur, dass auch aus dieser Richtung wenig Erhellendes und Verantwortungsbewusstes zu erwarten ist.


Also bleibt nur, die validen Informationen aus Forschung und Lehre der taktischen Durchsetzungsfähigkeit der Politik zur Verfügung zu stellen und – meist vergeblich – darauf zu hoffen, dass letztere aus den Erkenntnissen die richtigen Schlüsse zieht und sie anschließend nicht dem üblichen Opportunismus opfert. Wenn aber Wissenschaft und Politik eine direkte Zwangsehe eingehen, sozusagen zur Personalunion verschmelzen, geht das oft recht unglücklich aus. Karl Lauterbach selbst mag als Beispiel für eine solche Mesalliance dienen: Als unbestechlicher und unermüdlicher Mahner agierte der SPD-Gesundheitsexperte vor der Wahl, als zögerlicher Minister, der wegen der Kabinettsdisziplin öffentlich Entscheidungen, die er für falsch hält, verteidigen muss, verspielt er gerade seine Glaubwürdigkeit. Vorher der Heilige Georg im Kampf gegen den Corona-Drachen, wird er jetzt eher als Marionette an den Fäden des Machtapparats wahrgenommen.


Im Netz der Wirtschaft


Dass im Kräftespiel der Verpflichtungen, Interessen und Absichten nichts ohne die Wirtschaftseliten geht, zeigte sich auch bei der Pandemie-Bekämpfung. Forscher entwickelten Vakzine, die eine gewisse Immunität gegen das Virus boten oder zumindest einen milden Krankheitsverlauf wahrscheinlich machten. Die Menschheit konnten sie damit dennoch nicht retten, sie haben vielmehr die Spaltung der Welt weiter vertieft. Hier die Bürger der ökonomisch potenten Nationen, die allenfalls Disco- oder Stadionbesuche vermissten und ein paar Tage Quarantäne fürchteten, dort die Menschen in den Slums von Afrika oder Südasien, denen Tod oder wenigstens Verlust der beruflichen Existenz drohten.


Denn Corona-Impfstoffe wurden sogleich als begehrte Ware vermarktet und mit Hilfe der Politik an die Meistbietenden losgeschlagen. Die Freigabe von Patenten, die einzige Chance zur globalen Ausrottung der Seuche, wurde verweigert, da sie die Profite gemindert und den Höhenflug von Aktienkursen gebremst hätte. Wissenschaftler durften zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr mitreden.


Der deutschstämmige US-Milliardär Peter Thiel, als Investor im Silicon Valley reich geworden, propagiert auf eine spezielle Weise formal etwas Ähnliches wie Lauterbach. Für ihn stehen „Firmen über Staaten“, deshalb sollten nach seinem Plan „kreative Monopole“ die Macht im Staat übernehmen. „Vor allem glaube ich nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie kompatibel sind“, erklärt der Trump-Unterstützer (der allerdings radikal über den Neoliberalismus des Ex-Präsidenten hinausgeht) und fordert de facto eine Herrschaft der Elite, allerdings nicht der Cracks aus der Wissenschaft, sondern der Entscheider aus den Technologiekonzernen. Oligarchitur statt Expertokratie? Die blanke Macht in den Händen auserlesener Grüppchen hat eben immer etwas Bedrohliches…


Um sich auf unterhaltsame Weise klarzumachen, wohin ein ungehemmtes Forschungsprimat auch führen kann, sollte Karl Lauterbach mal wieder in ein Programmkino gehen und sich Stanley Kubricks Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ anschauen.

04/2022
Dazu auch:
Kassandra muss liefern im Archiv von Helden unserer Zeit (2022)
Professor Persil im Dossier Coburger Schande unter Medien






Unterbliebene Fragen


Dass die Presse in der bürgerlichen Demokratie die Vierte Gewalt darstellt, sozusagen als Korrektiv, humanistische Instanz und inhaltliche Kontrolle für Regierung, Parlament und Judikative fungiert, ist ein frommer Wunsch geblieben – in zu große Nähe (inklusive Personalunion) zur eigentlich maßgeblichen Fünften Gewalt, der Wirtschaftselite, sind die Medien geraten. Nun scheinen auch die kritischen Geister in den Redaktionen zu Opfern von Putins Eroberungskrieg in der Ukraine geworden zu sein, jedenfalls unterbleiben aufgrund offenkundiger Orientierungslosigkeit wichtige Fragen zur Sinnhaftigkeit und Seriosität der Maßnahmen, die von der NATO und der Regierung in Berlin auf den Weg gebracht werden.


Aufrüstung: Wer bietet mehr?


Es ist noch nicht lange her, da waren sich etliche umsichtige Publizisten weitgehend einig in der Skepsis gegenüber dem erklärten NATO-Ziel, die Verteidigungsetats der Mitgliedsstaaten auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben. Von volkswirtschaftlichem Unsinn war die Rede, vom Abfluss der Mittel in einen unübersichtlichen und ineffektiven Apparat, wie ihn sich etwa die Bundeswehr zwecks Beschaffung und Wartung leistet, von einer Vergeudung, die den Frieden keinen Deut sicherer mache: einen Frieden, den Trumps USA durch die Kündigung des INF-Abkommens, das neue landgestützte Mittelstreckenraketen in Zentraleuropa verhindern sollte, und durch die Stationierung eines Radarsystems sowie von Marschflugkörpern in Bulgarien an Russlands Grenze (aber angeblich zum Schutz gegen den Iran!) ebenso gefährdeten wie die NATO durch den Aufmarsch in den Anrainerstaaten des Moskauer Hoheitsgebiets.


Nach dem Beginn von Putins völkerrechtswidriger Invasion aber gab es kein rüstungspolitisches Halten mehr, nicht in der Regierung und nicht in den Medien. Ein Sondervermögen von hundert Milliarden Euro als Zuckerl für die Bundeswehr, dazu eine Steigerung des Wehretats über die einst vereinbarten zwei Prozent hinaus – so lauteten die vollmundigen Ankündigungen des Duetts Scholz und Lindner, und die übertölpelten Grünen übten sich in nacheilendem Gehorsam. Von ein paar verstreuten Genossen und der Ökopartei-Jugend abgesehen, kam kein Widerspruch aus den Ampel-Parteien, die vorsichtigen und nachdenklichen Stimmen in den Leitmedien waren ohnehin schon verstummt. Dabei wäre es wichtig gewesen, auf der Beantwortung einiger drängender Fragen zu bestehen:
Was lässt sich mit 100 Milliarden, die in eine Armee gesteckt werden sollen, die ohnehin nicht in der Ukraine eingreifen darf, weil kein Bündnisfall eingetreten ist, in der gegenwärtigen Krise überhaupt anfangen?


Hat sich die Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten nicht als gigantische Geldvernichtungsmaschine erwiesen, an der sich Beratungsgesellschaften sowie Rüstungsproduzenten eine goldene Nase verdienen durften, während die sündhaft teuren Waffen verrotteten und jeder Auslandseinsatz bis dato in den Sand gesetzt wurde?


Wem werden da möglicherweise mehr Mittel und tödlichere Waffensysteme an die Hand gegeben? Der linker Unkerei sicherlich unverdächtige Militärische Abschirmdienst (MAD) ermittelte 2020 etwa 600 des Rechtsextremismus Verdächtige in der Truppe (vermutlich nur das Gipfelkreuz des Eisbergs). Für die Elite-Kämpfer des KSK bezifferte der MAD aber eine in der Relation fünfmal höhere Zahl von Neonazis und Reichsbürgern als in den normalen Einheiten. Sollte man nicht, bevor man die braunen Spezialkiller üppig bis an die Zähne bewaffnet, zunächst weiter nach entwendeter Munition und gehorteten Schusswaffen in ihren Mannschaftsquartieren und Prepper-Vorratshöhlen suchen?


Sollte es tatsächlich zu einem kriegerischen Konflikt zwischen Russland und der NATO kommen, würden auch eine Billion Euro für konventionelle Ausrüstung nicht vor den dann unvermeidlichen Nuklearschlägen schützen. Muss es nicht zuallererst um Friedenswahrung gehen? Machen waffenstarrende Krieger an den Grenzen nicht einen fatalen Zwischenfall, der zu endgültigen Konsequenzen führt, wahrscheinlicher?


Flüchtlinge: Weiße Christen bitte!


Einigen Publizisten, darunter dem Kabarettisten Christoph Süß, Moderator des BR-Magazins „Quer“, ist die Diskrepanz zwischen der derzeit zur Schau getragenen Menschenliebe und der Abscheu vor Flüchtlingen in jüngster Vergangenheit aufgefallen, die meisten seiner Kollegen aber feiern gerade die herzliche Solidarität gegenüber geflohenen Ukrainern.


Natürlich ist es schön, dass Polen die Menschen aus Kiew oder Charkiw mit offenen Armen aufnimmt, doch sollten darüber diejenigen aus Syrien oder Afghanistan, die zurzeit im vereisten Grenzgebiet des Landes zu Belarus vor die Hunde gehen, nicht vergessen werden. Auch andere ehemalige Ostblockstaaten wie die Slowakei, die baltischen Länder oder Bulgarien erweisen den ethnisch verwandten oder zumindest nahestehenden ukrainischen Flüchtlingen herzliche Gastfreundschaft, nachdem sie sich zuvor geweigert hatten, auch nur eine einzige dem Krieg oder Taliban-Terror entkommene Muslimin aufzunehmen.


Auch hierzulande sorgen sich die zuständigen Stellen um eine menschenwürdige Aufnahme und Unterkunft für Putins Opfer, was per se eine gute Sache ist. Aber wo bleibt die journalistische Gegenüberstellung der jetzigen Praxis mit der schäbigen Behandlung, die Afrikaner, Iraker oder Syrer erfahren mussten? Umgäbe das Mittelmeer die Ukraine, würde kaum ein Bootsflüchtling ertrinken oder zurück ins Elend gescheucht werden. Wäre es nicht Aufgabe der Medien, die (klammheimlich) rassistischen Auswahlkriterien, welche christliche weiße Asylsuchende, die noch dazu Feinde unseres Lieblingsfeindes sind, gegenüber dunklen Habenichtsen, die auch unter NATO-Einsätzen zu leiden hatten, begünstigen, zu hinterfragen und anzuprangern?


Atomstrom: Nur woanders gefährlich?


Im militaristischen Getöse der Ampelregierung und der Opposition mit dem großen C geht unter, dass mindestens zwei Jahrzehnte lang versäumt wurde, die Bundesrepublik vom russischen Erdgas unabhängig zu machen. Statt den Einpeitschern des rechten Kampfpressehauses Springer nachzueifern oder aktuelle Kriegsberichterstattung von der Schreibtischfront aus zu simulieren, könnten minutiös recherchierende Redakteure eruieren, warum zu geringe Speicherkapazitäten für Wind- und Sonnenkraft geschaffen wurden und Bund wie Länder – zum Wohle der Stromkonzerne – weitgehend auf Konzepte für dezentrale Energieversorgung verzichteten. Dann kämen sie möglicherweise auch darauf, wo die für Militaria abgezweigten BIP-Summen demnächst fehlen werden.


Und selbstverständlich hätten die Medien den neuesten Rohrkrepierer von ADHS-Söder gebührend würdigen und als ausgemachten Blödsinn entlarven können. Der bayerische Landesfürst und Windkraft-Verhinderer, für den jeder Tag, an dem kein zu Gott und der Welt abgesondertes Statement aus seinem Munde veröffentlicht wird, verlorene Zeit ist und der jede Woche eine neue Sau durchs Dorf treibt, ohne die vorherigen von der Straße zu sammeln, forderte, die drei verbliebenen Atomkraftwerke noch ein paar Jahre länger laufen zu lassen.


Zu teuer, zu wenig Leistung, monierte die Wirtschaft und ließ sich, ebenso wie die Presse, die krudeste Pointe entgehen: Während die Menschheit angstvoll auf die ukrainischen AKWs und den Nuklear-Kadaver Tschernobyl starrt, einen Brand durch russischen Beschuss registriert und hofft, dass keine kriegerische Handlung zu einem Super-GAU führt, wirbt Söder für mehr Kernkraft in Deutschland, als wünsche er, dass nach einem feindlichen Angriff auf seine Heimat alles ganz schnell und schmerzlos vorbei sein möge.


Die bundesdeutsche Nuklearindustrie wähnte sich in einer sicheren Position, da Naturkatastrophen oder Flugzeugabstürze in unseren Breiten so selten wie das Knacken des Checkpots seien (als gäbe es nicht dennoch Lottomillionäre). Dass aber ein Krieg, sozusagen die der menschlichen Natur entspringende Katastrophe, den GAU überall auf der Erde, selbst in Bayern, auslösen könnte wurde dabei ignoriert.


So wie es aussieht, werden wir weiterhin fossile Rohstoffe aus Russland beziehen, womit wir auch die Ukraine-Invasion kofinanzieren, und zusätzlich mehr extrem umweltschädliche Braunkohle und durch Naturzerstörung gewonnenes Fracking-Gas aus den USA zum Erhalt unseres verschwenderischen Verbrauchsstandards benötigen. Insofern hat Putin mit seinem Krieg wenigstens in einem Punkt Klarheit hergestellt: Deutsche Politiker genehmigen lieber Kriegskredite als effektiv die Klimakatastrophe zu bekämpfen und ihre umweltpolitischen Hausaufgaben zu machen.

03/2022
Dazu auch:
Putin und das Chaos in der Rubrik Politik und Abgrund








Amnesty am Pranger?

 
Mit einem Shitstorm der etwas anderen Art überzogen bürgerliche Publikationen, die Bundesregierung, Medien-Influencer und Politiker bis in die AfD hinein eine Institution, die über alle Kritik erhaben schien: Amnesty International (AI), letzter Rettungsanker aller wegen Widerstandes gegen Unrecht und Machtmissbrauch Eingekerkerten und deswegen 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, wird plötzlich die Glaubwürdigkeit abgesprochen, und – schlimmer noch – manche Autoren bezichtigen die Organisation des Antisemitismus. Auslöser war die Veröffentlichung eines 278-seitigen Berichts, in dem Israel Menschenrechtsverletzungen gegen die Palästinenser, die den Tatbestand „Apartheid“ erfüllen, vorgeworfen werden („Israel’s apartheid against Palestinians: a cruel system of domination and a crime against humanity“). Bleibt zu klären, ob sich AI tatsächlich der Hetze und Geschichtsklitterung schuldig gemacht hat – oder ob die empörten Reaktionen einem weit verbreiteten Konsens, dass der Staat Israel aufgrund seiner Entstehungsgeschichte grundsätzlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden darf, geschuldet sind.


Was kaum jemand leugnet



Wirklich erstaunlich ist, dass ein AI-Bericht, der eigentlich nichts völlig Neues enthält, allenfalls die Vielzahl von Rechtsbrüchen durch die israelische Obrigkeit oder durch die Siedler in den seit 1967 besetzten Territorien als Verdichtung zu einem Beherrschungsprinzip deutet, nun als unrichtig und fatal tendenziös abgetan wird. Jede/r weiß, dass der Staat Israel massenhaft UN-Resolutionen missachtet hat, Palästinensern häufig den Zugang zu überlebensnotwendigen Ressourcen verweigert, sie beinahe nach Belieben enteignet und andere Verstöße gegen internationale Normen begeht, wie AI präzisiert: „Massive Hauszerstörungen in den besetzten palästinensischen Gebieten, Gesetze, die palästinensische Staatsangehörige Israels in verarmte Enklaven zwingen und mit Blick auf das Eigentum von und den Zugang zu Land und Boden diskriminieren, die völkerrechtswidrige Blockade des Gazastreifens und die Weigerung, das Recht palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr anzuerkennen, sind alle Teil desselben Systems.“


Die ungeschminkte Wortwahl und der provokative Titel der AI-Studie verdanken sich vermutlich der Tatsache, dass es der Weltöffentlichkeit mittlerweile wohl egal zu sein scheint, was da im Nahen Osten passiert, dass eine menschliche Katastrophe „ausgesessen“ werden soll. Aufgerüttelt wurden zunächst aber die Verteidiger dieses politischen Status quo (quasi der Totenruhe der vereinbarten Zweistaatenlösung) und der uneingeschränkten israelischen Handlungsbefugnis: Auf Spiegel-online erklärte Star-Blogger Sascha Lobo, der sich als Vodafone-Reklamefigur und Werbetexter, aber nicht unbedingt als historisch-moralische Leuchte profiliert hat, wer jetzt noch für AI spende, unterstütze die „antisemitische Sache“ . Die Bundesregierung lehne den Begriff „Apartheid“ als wenig hilfreich für die „Lösung“ des Nahostkonflikts ab, erklärte ihr Sprecher Steffen Hebestreit. In der taz schrieb Judith Poppe, Amnesty habe „Glaubwürdigkeit verspielt“. Der Bayerische Rundfunk bemängelte, der Report werde als wissenschaftliche Darstellung präsentiert, was erstaune, „vor allem aber, da dieser Bericht nur eine Position wiedergibt, die der Palästinenser“.


Lobos Invektive, die einer Organisation, welche weltweit gegen Repression kämpft und der zahllose politische Gefangene jeglicher Haut- und Gesinnungsschattierung  ihre Freiheit und oft sogar ihr Leben verdanken, Rassismus in seiner schlimmsten Form andichtet, ist so abstrus, dass eine Richtigstellung sich erübrigt. Die Unterstellung des BR, die NGO fungiere als Sprachrohr der Palästinenser, kann durch die jahrzehntelange AI-Arbeit widerlegt werden: Die Hilfsorganisation bezieht stets Partei für die Opfer, die Verfolgten oder Diskriminierten, ungeachtet der politischen Ausrichtung, und im israelischen Alltag sind dies im Augenblick nun mal häufig die Araber in Israel und den besetzten Gebieten. Ob Amnesty Glaubwürdigkeit verspielt, wenn harte Fakten ohne Rücksicht auf diverse Befindlichkeiten aufgedeckt werden, oder dies eher ein Medium mit einer links-alternativen Vergangenheit wie die taz riskiert, wenn sie Vorwürfe gegen den Staat Israel, seine Behörden und Sicherheitskräfte (nicht pauschal gegen die Bevölkerung) semantisch verharmlost, sei dahingestellt. Sicher ist angesichts der offiziellen Berliner Stellungnahme jedoch, dass keine Bundesregierung bislang auch nur eine einzige „hilfreiche“ Idee zur Lösung der permanenten Humanitätskrise im Nahen Osten beigesteuert hat.


Heikler Titel, essentielle Inhalte


Die hierzulande übliche Beschwichtigungspraxis, wenn es um Repression in Israel geht, ist wegen der deutschen Täterrolle im fürchterlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verständlich. Ist sie aber auch akzeptabel angesichts neuen Unrechts, selbst wenn dessen Wurzeln bis in unsere nationale Vergangenheit zurückreichen? Ist es zulässig, jede Kritik an dem oft rücksichtslosen Vorgehen der Regierung in Jerusalem unter den Generalverdacht des Antisemitismus zu stellen?


Das Gros der deutschen Medien scheint dieser Ansicht zu sein, doch gibt es auch Stimmen, die zu einer differenzierteren Betrachtungsweise aufrufen. So warnt Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung davor,  die Inhalte des AI-Berichts zu negieren:


„Benannte Tendenzen zu leugnen, zu verschweigen oder sie kleinzureden wird nicht dazu führen, sie einzudämmen, sprich Menschenfeindlichkeit abzuwehren. Im Gegenteil: Es stützt eher, was Herbert Marcuse einst „repressive Toleranz“ nannte: eine Toleranz, die repressive Kräfte verdeckt – oder gar mit hervorbringt.“


Der Journalist Hauenstein hat sich längere Zeit in Tel Aviv aufgehalten, spricht fließend Hebräisch, steht in Kontakt mit jüdischen Intellektuellen und war zeitweise für die Presseabteilung der israelischen Botschaft in Berlin tätig. Wahrscheinlich ist er näher am Sujet als die meisten Publizisten, die AI jetzt in Grund und Boden verdammen. Er führt aus, dass der Begriff der „Apartheid“ nicht originär von Amnesty auf die Palästinenserpolitik Jerusalems angewendet wurde, dass vielmehr die israelische NGO B’tselem, die seit 1989 Menschenrechtsverletzungen untersucht, in einem Positionspapier dafür plädiert, das Repressionssystem so zu benennen. Zu einer ähnlichen Konsequenz sei im April 2021 auch Human Rights Watch gekommen, und dem Kolumnisten Gideon Levy (Mitherausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz) kann die Aufregung um die AI-Dokumente nicht verstehen. Er verweist auf den  Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, dessen palästinensische Bewohner, Nachfahren von 1948 Vertriebenen, nun von der Räumung bedroht sind: „Was ist Sheikh Jarrah – wenn nicht Apartheid?“


Ebenso wenig wie die oben zitierten Organisationen stellen solche regierungskritischen Intellektuellen das Existenzrecht Israels in Frage oder fordern einen Boykott des Landes. Wie viele jüdische Jugendliche finden sie sich nur nicht damit ab, dass ein sicheres Leben für die Mehrheit allein durch die partielle Repression der arabischen Minorität zu gewährleisten sein soll. Wenn der Terminus „Apartheid“ dennoch auch berechtigtes Unbehagen verursachen mag, so rührt das von den Unschärfen historischer Vergleichbarkeit her. Die Berichte der drei genannten NGOs beziehen sich aber immerhin auf das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, das Apartheid als „unmenschliche Handlungen“ definiert, die im Rahmen eines „Regimes systematischer Unterdrückung und Beherrschung durch eine ethnische Gruppe gegenüber einer oder mehreren ethnischen Gruppen“ begangen werden. Dies sei der Fall, argumentieren die Organisationen, gestützt auf eine Fülle von Fakten, auch wenn sie Israel ausdrücklich nicht mit dem früheren Südafrika gleichsetzen wollen.


Die Behauptung, dass es sich bei den Beispielen für Diskriminierung nur um einzelne Vorkommnisse, die sich in einer bestimmten Periode, der von Skandalen geprägten Regierungszeit Netanjahus ereigneten, handelt und nicht um systemische Verfehlungen, widerlegt Hauenstein, indem er darauf hinweist, dass sich unter dem gegenwärtigen Premier Bennett, einem früheren Anführer illegaler Siedler und Befürworter der Westbank-Annexion, die Situation für Palästinenser und linke jüdische Israelis eher noch verschlechtert hat.


In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau bezieht Michael Benyair klar Stellung zum rechtswidrigen Vorgehen der israelischen Behörden, zur Diffamierung und Bedrohung von Oppositionellen, und er nennt dieses repressive System Apartheid: „In den C-Gebieten der Westbank (wo sich die Siedlungen befinden, d. Red.) werden diskriminierende Planungsgesetze genutzt, um palästinensische Gemeinden zu verdrängen. Diese sind mit einer Flut von Siedler-Gewalt aus unautorisierten Außenposten (illegal selbst nach israelischem Gesetz) konfrontiert. Den Tätern drohen geringe oder keine Konsequenzen.


Jegliche Versuche, sich der Apartheid zu widersetzen, werden überwacht oder kriminalisiert, etwa mit der fälschlichen Kennzeichnung von Gruppen der palästinensischen Zivilgesellschaft als Terrorgehilfen seitens des israelischen Verteidigungsministeriums.“ Benyair war Richter am Obersten Gericht von Jerusalem und bis 1996 Generalstaatsanwalt in Israel, er ist des Antisemitismus also gänzlich unverdächtig.


Wir aber verbinden Apartheid mit dem südafrikanischen Rassisten-Regime, unter dem Polizisten mit der Hand prüften, ob die Bettdecke noch warm sei, um einen weißen Arzt der „Rassenschande“ mit einer indischen Ärztin überführen zu können, das schwarze Menschen zu rechtlosen Leibeigenen degradierte und ihnen nicht einmal pro forma Rechte zubilligte. So geht es in Israel natürlich nicht zu, und doch scheint das Herummäkeln an der Überschrift von den traurigen Fakten im Bericht selbst ablenken zu wollen, oder wie Hauenstein es kurz und bündig formuliert: „Apartheid nennen muss man das nicht. Ignorieren sollte man es aber genauso wenig.“

Wenn man einen Staat ernst nimmt…


Die besondere Verantwortung, die Deutschland aufgrund seiner braunen Vergangenheit gegenüber den Juden weltweit und dem Staat Israel hat, wird immer wieder beschworen – oft so, als handle es, sich um eine bloße Pflichtübung, manchmal auch, als verbiete sich dadurch jegliche Kritik an der Politik Jerusalems und seltener so, dass sich ein entschlossenes Handeln gegen tatsächlichen Antisemitismus und allgegenwärtigen Rassismus daraus ableiten lässt. Mit der offiziellen Politik des geflissentlichen Ignorierens fällt der Westen seit Jahrzehnten den gesellschaftlichen (jüdischen) Gruppen in den Rücken, die sich vor Ort für eine Aussöhnung mit den Palästinensern und eine gerechte Friedenslösung einsetzen.


Wir dürfen nicht vergessen, dass die international wohl bekanntesten Israelis (außerhalb der politisch-militärischen Nomenklatura), Künstler und Publizisten wie der Dirigent Daniel Barenboim, der Großschriftsteller David Grossmann, der verstorbene Autor Amos Oz oder der bis zu seinem Tod unermüdliche Friedensaktivist Uri Avnery den Umgang ihres Staates mit den arabischen Mitbürgern und Nachbarn in so harschen Worten gegeißelt haben (oder es noch tun), dass ihnen dies in manchen BRD-Kreisen irrwitzigerweise den Totschlagvorwurf des Antisemitismus hätte eintragen können. Viele jüdische Intellektuelle protestieren gegen ein Justizsystem, das einen palästinensischen Steinewerfer der drakonischen Militärgerichtsbarkeit unterwirft, während ein Siedler, der ähnlich aggressiv handelt, mit zivilgerichtlicher Milde rechnen darf. Es gefällt ihnen nicht, dass die internationale Kommission, die das Massaker an 29 Moslems in der Abrahamsmoschee in Hebron untersuchen sollte, genau drei Jahre vor dem Erscheinen des AI-Berichts von der Netanjahu-Regierung aufgelöst wurde und dass nur ein Mahnmal heute noch an das Verbrechen erinnert – und das ist dem Attentäter Baruch Goldstein gewidmet.


Eine unheilige Allianz aus Parlamentariern, darunter auch der AfD-Politiker Jürgen Braun, und Medienschaffenden gerieren sich als Moralwächter zum Schutze des Staates Israel und filtern dabei die Informationen, die uns über die gesellschaftliche Realität dort erreichen. Natürlich ist es bewundernswert, wie die Israelis der Wüste Ackerboden abgewannen, zur Hightech-Nation wurden, Covid-19 weit effizienter bekämpfen als unsere Vielsprecher. Wir erfahren, dass Tel Aviv ein Sehnsuchtsziel für Touristen ist, dass sich die einheimische Jeunesse dorée an Traumstränden sonnt und in den angesagtesten Discos verausgabt. Aber wir wissen wenig darüber, dass Arabisch, dem Mutteridiom von 25 Prozent der Bevölkerung, der Status der Amtssprache aberkannt wird, dass palästinensische Bauern zusehen müssen, wie ihre Felder verdorren, weil die Wassergräben umgeleitet wurden, dass nicht wenige ihr Land ohnehin kaum mehr betreten können, weil Grenzbarrieren die Zufahrtswege zu den Äckern abschneiden.


Wir werden zwar gründlich über die Unfähigkeit und Korruption der Palästinensischen Autonomiebehörde oder den fanatischen Hass der Hamas-Zeloten informiert, und das ist auch gut so; von den alltäglichen Benachteiligungen arabischer Bürger in Israel hören wir indes nur am Rande, als wären sie vorübergehende Störungen eines harmonischen Gesamtkunstwerks. So können wir uns aber der Realität im Nahen Osten nicht annähern, so bleibt unser Bild lückenhaft. Wagt es nun AI, die Kehrseite der Medaille zu beleuchten, die distanzierte Wohlfühlatmosphäre zu stören, wird gleich das schwerste rhetorische Geschütz, das des Antisemitismus, aufgefahren. Wer den Staat Israel und seine Politik ernst nehmen will, muss die Mythen von religiösem Auserwähltsein und göttlicher Bestimmung beiseite lassen und das gegenwärtige, zielgerichtete Regierungshandeln analysieren und gegebenenfalls kritisieren.


Ich kann die Doppelzüngigkeit deutscher Politiker, die Hegemonialansprüche der USA wie Chinas und das despotische Gebaren Putins anprangern, und niemand wird mich deswegen des Rassismus zeihen. Also muss es auch möglich sein, Israel den Bruch internationalen Rechts durch Siedlungsbau auf okkupiertem Land und krasse Benachteiligung eines beträchtlichen Bevölkerungsteils vorzuwerfen. Seltsamerweise bekommt die Regierung in Jerusalem für ihr brachiales Vorgehen Beifall von ganz Rechtsaußen: Trumps Anhänger und die Teile der extremen deutschen Rechten, die nicht antijüdisch eingestellt sind, weil sie in erster Linie Moslems hassen, applaudieren dem tödlichen Know-how der israelischen Militärs und Geheimdienste – das auch schon von sämtlichen lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den Dekaden vor der Jahrhundertwende bewundert und (in Segmenten) käuflich erworben wurde. Die israelische Bevölkerung hätte bessere und ehrlichere Freunde verdient.


Amnesty International muss nicht beschädigt aus der Angelegenheit hervorgehen. Die NGO hat bewiesen, dass sie sich mit allen anlegt, wo immer sie Inhumanität, Repression und Diskriminierung wittert. Diese konsequente Haltung bringt mit sich, dass AI in Berlin hofiert wird, wenn Moskaus oder Pekings Schweinereien, etwa willkürliche Festnahmen politischer Gegner, auf der Agenda stehen, dass die zuständigen Stellen hierzulande jedoch weghören, wenn die Organisation rassistische Übergriffe deutscher Polizisten moniert, und dass die Parlamentsparteien sich künstlich in Rage reden, wenn der sakrosankte Handels- und angebliche Herzenspartner in Nahost schäbigen Unrechts beschuldigt wird. Gerade solche Unverschämtheit spricht aber für die Glaubwürdigkeit von Amnesty.

02/2022
Dazu auch:
Themaverfehlung im Archiv der Rubrik Medien (2019)





Dirk macht sich schlau


Als Minister war er eine glatte Fehlbesetzung, seine Vita aber sorgte für anhaltendes Amüsement: Dirk Niebel, liberaler Hans Dampf in allen Gossen, blamierte sich in der Merkel- Regierung von 2009 und 2013 nach Kräften, nachdem er genau das Ressort, dessen Abschaffung stets von ihm gefordert worden war, übernommen hatte. Aber in der Rüstungsindustrie, die jeden trüben Tropf willkommen heißt, wenn er nur über die richtigen Bekanntschaften verfügt, hatte man Verwendung für ihn. Unlängst musste er sich ins neugeschaffene Berliner Lobbyregister eintragen und sorgte erneut für Heiterkeit, wie die kritische Internet-Plattform Abgeordnetenwatch vermeldete.


Eine Laufbahn wie ein Labyrinth


Als Dirk Niebel ins Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, vulgo: Entwicklungshilfeministerium, einzog, blickte er bereits auf eine illustre Karriere zurück. In der Bundeswehr hatte er sich bis zum Hauptmann der Reserve hochgedient. Als es irgendwann nicht weiter nach oben ging, kehrte er dem Militär schmollend den Rücken und versuchte, die Aufgaben der Agentur für Arbeit auf Statistik und Kassenführung zu reduzieren, an der Stellenvermittlung sollten nach seinem Gusto fürderhin die Freunde aus der Privatwirtschaft verdienen. Als dies misslang, forderte er die Abschaffung der Bundesagentur. Ein solch begnadeter Reformator konnte in der FDP-Spitze nicht unbemerkt bleiben, und so durfte er vier Jahre lang deren Generalsekretär geben.


Als von der Koalition aus Union und FDP so ziemlich jeder halbwegs bekannte Parteifreund mit einem Posten versorgt wurde, klopfte auch Niebel an die Regierungspforte. Unglücklicherweise war nur noch die Chefstelle im Entwicklungshilferessort unbesetzt, so dass der Umtriebige nun ein Ministerium leiten musste, dessen Einsparung er noch kurz vorher postuliert hatte. Unter seiner vierjährigen Ägide ging es den Partnern in der Dritten Welt und den bundeseigenen Hilfsorganisationen schlecht, dafür einigen seiner FDP-Kameraden umso besser.


So sabotierte er gegen den Willen des Bundestags erfolgreich die Initiative, mit internationalen Fördergeldern den ecuadorianischen Nationalpark Yasuni, eines der in seiner Biodiversität wertvollsten Gebiete der Erde, vor dem Zugriff der Ölkonzerne zu retten. Etwa 700 Planstellen für Entwicklungshelfer in armen Ländern strich er, schuf aber neue Leitungspositionen und Controlling-Jobs im eigenen Haus. Dass dabei mehr als vierzig Parteifreunde in Lohn und Brot kamen, wie das TV Magazin Monitor berichtete, dürfte entweder dem Zufall oder einer tiefen Loyalität seiner FDP gegenüber geschuldet sein. Zur Lachnummer aber geriet Niebels Versuch, einen Teppich aus Afghanistan in der Maschine des Bundespräsidenten am Zoll vorbei zu schmuggeln, den der SPIEGEL aufdeckte.


Nach vier erratischen Jahren wurde die Ministerkarriere jäh beendet, denn die FDP flog aus dem Bundestag. Kurz zuvor hatten ihn die liberalen Delegierten auf ihrem Bundesparteitag als Beisitzer des Präsidiums abgewählt. Nach so vielen Pleiten und Pannen beschloss Niebel, sein Heil in der Wirtschaft zu suchen und heuerte als Vorstandsberater bei der Rheinmetall AG an. Deutschlands größter Rüstungskonzern benötigte sicherlich nicht die Expertise des flippigen Ex-Politikers, sondern wollte seine engen Kontakte zu den nun regierenden Größen, allen voran SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, gewinnbringend nutzen. So kam es, dass sich jetzt Dirk Niebel pflichtgemäß ins Lobbyregister eintragen musste und einige erstaunliche, wenn nicht gar skurrile Einlassungen zu seinem Metier von sich gab.


Keine Interessen von niemand


Die Tätigkeit des selbstständigen Lobbyisten beschrieb Niebel als „Beratung“, und zwar „grundsätzlich zu politischen Themen im Ausland“. Dass es dabei nicht um schnöden Teppichhandel geht, legte die Auswahl seiner Adressatengruppen nahe, nämlich „ausländische Regierungen, Institutionen und Parlamente“. Es ist schon bemerkenswert, dass sich ein an allen Fronten gescheiterter deutscher Politiker als Mentor der halben Welt präsentieren darf.


Natürlich würde man nur zu gerne erfahren, wem der wuselige Allrounder im Einzelnen bei der Meinungsbildung zur Seite steht und welche Ratschläge er so erteilt, doch lässt die kastrierte Fassung des Lobbyregisters solche wichtigen Detailklärungen nicht zu. Die Lobbyisten müssen sich zwar namentlich eintragen, können aber die Namen der Politiker, die sie treffen, verschweigen und sind auch nicht auskunftspflichtig, was die Inhalte und Beschlüsse der Gespräche betrifft, wie Abgeordnetenwatch zurecht kritisiert. Im Klartext: Wir erfahren jetzt schwarz auf weiß, was wir zuvor schon wussten, die vollen Namen der Registrierten etwa, tappen aber weiterhin im Dunkeln darüber, was mit wem ausgemauschelt wurde.


Allerdings hebt Niebels Aussage zum Sinn und Zweck des großen Ganzen unsere Laune, auch wenn wir jetzt eigentlich die Geschichte des deutschen Lobbyismus umschreiben müssten: Kontakte zur Bundesregierung dienten „in der Regel keiner konkreten Interessenvertretung Dritter…“ Der Lobbyist als ein idealistisches Wesen ohne materielle Absichten, das sich Rheinmetall anscheinend zur intellektuellen Ergötzung hält!


Volkshochschule Bundesregierung


Wenn es also nicht um Einflussnahme, Aushorchen und Versprechungen, kurz: um Machenschaften zum wirtschaftlichen Vorteil von Rheinmetall ging, warum dann ständig im Parlament und in den Ministerien antichambrieren? Dirk Niebel klärt dankenswerterweise auf: Die Kontakte hätten lediglich „der eigenen Horizonterweiterung“ gedient.


Respekt! Der Mann wird im März 59 Jahre alt und ist dennoch bereit, noch Neues aufzunehmen, seine – bislang allerdings etwas dürftige – Gesamtleistung durch Bildung und Wissenshunger aufzupeppen. „Lebenslanges Lernen“ ist das Mantra aller wohlmeinenden Sozialanimateure, Niebel hat das begriffen. Und wo könnte man seinen Horizont gezielter erweitern als im Bundestag, dem Hort gelehrter Eloquenz, oder im Kabinettskreis, dieser wild entschlossenen und doch besonnenen Taskforce? Das ist wie in der Volkshochschule – weitgehend kostenlos und in diesem Fall völlig umsonst.


Etwas demokratischen Schliff könnte man dem wackeren Militaria-Freund Dirk aber doch noch beibringen. Im Mai 2017 postete er auf Facebook das Bild eines Fallschirmjägers, der einen Helm der Wehrmacht trägt. Der angefügte martialische Sinnspruch „Klagt nicht, kämpft!“ ist mehr als umstritten, wird er doch rechten Kameradschaften in der Bundeswehr zugeordnet. Niebel mochte nach harscher Kritik nicht Stellung dazu beziehen, obwohl selbst FDP-Kollegen not amused waren. Wir jedoch wollen hinter seinem Schweigen keinen bösen Willen vermuten, wahrscheinlich hat er sich nur für seinen neuerlichen Fehltritt geschämt.

01/2022
Dazu auch:
Tricky Dirk im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2013)





Letzte Bescherung


Bevor sich Jens Spahn in die lukrative Anonymität der Immobilien-Spekulation oder des Pharma-Lobbyismus zurückzieht, wollte er sich und seinen Kollegen im Bundestag noch einmal etwas Gutes tun. Und so ordnete der abgewählte Gesundheitsminister zwischen Pelzmärtel und Nikolaus die Bescherung der MdBs mit des Deutschen liebstem Corona-Vakzin von Biontech an, während er gleichzeitig dessen Knappheit beklagte und das Konkurrenz-Serum pries. „Eine Unverschämtheit!“ wetterte Florian Wichert in den t-online-news, wir hingegen werten die eigenwillige Vergabe als Zeichen von Spahns neuer Bescheidenheit.


Die Reste müssen weg


Der deutsche Konsument ist markenbewusst. Jahrzehntelang schnäuzte er sich nur in Tempo-Fahnen, und ließ ausschließlich Persil an seine Unterhosen, obwohl andere Papiertaschentücher auch saugfähig und wesentlich preiswerter waren und günstigere Waschmittel ebenso zuverlässig die Flecken beseitigten. Das wiederholt sich nun bei den Corona-Vakzinen, denn für die Booster-Impfung besteht der mündige Bürger auf Biontech (möglicherweise weil Wertarbeit made in Germany im Produkt steckt), während das ebenso effektive Moderna, das in Massen verfügbar wäre, aber in der PR schwächelt, verschmäht wird.


Am 19. November bremste dann der noch geschäftsführende Gesundheitsminister Spahn den Run auf Biontech und ordnete an, dass nur noch 30 Dosen des Edel-Serums pro Impfarzt und Woche angeliefert würden (was zum Rückzug heikler Klienten von der ganzen Immunisierung führte): „Unsere Biontech-Lager leeren sich so schnell, dass wir nicht mehr zur Verfügung stellen können.“  Vorsichtshalber lobte der pfiffige Westfale Moderna nun als Allzweck-Waffe gegen Covid-19 über den grünen Klee, obgleich er doch zuvor nur Menschen über dreißig damit impfen lassen wollte.


Eine Woche später aber wurden 10.000 Dosen des angeblich kaum mehr vorhandenen Biontech-Vakzins an die Bundestagsverwaltung, der nach eigenem Bekunden jedes mRNA-Serum recht gewesen wäre, geliefert, auf dass alle Abgeordneten, ihre Mitarbeiter und die Verwaltungsangestellten erstklassig geboostert werden konnten (obwohl die wenigsten unter ihnen Teens und Twens sein dürften und deshalb laut dem frühen Spahn prädestiniert für Moderna gewesen wären).


Von Vertrauensbruch schrieb der empörte t-online-Kommentator, von Politikern, die der Bevölkerung Wasser predigten, aber selber Wein tränken. Jetzt mal halblang, Spahns spendable Selektiv-Geste könnte doch auch hehre Motive gehabt haben, so dass er die böse Bescherung, die ihm der Info-Dienst (Ströer Media für die Telekom) ausgerechnet am Heiligen Abend bereitete, gar nicht verdient hätte.


Das Volk fährt Rolls-Royce


Als klar wurde, dass der gewöhnliche Deutsche nicht unbedingt in den Genuss der Biontech-Spritzung kommen würde, hatte der Ex-Gesundheitsminister nämlich noch etwas Bemerkenswertes gesagt:
„Moderna ist ein guter, sicherer und sehr wirksamer Impfstoff.“ Um noch dicker aufzutragen, zitierte er „manche Experten“ mit den bedeutungsschwangeren Worten „Biontech ist der Mercedes unter den Impfstoffen, Moderna ist der Rolls-Royce“.


Selbst dem misstrauischsten Journalisten hätten nun zwei Lichtlein aufgehen müssen, die seinen Argwohn grundlos erscheinen ließen: Wir leben in einer Demokratie, und in dieser Staatsform ist das Volk der Souverän, also so etwas wie Rio Reisers „König von Deutschland“ oder halt die Königin. Würde sich aber zum Beispiel die englische Queen mit einem Daimler durch die Gegend kutschieren lassen, wenn ein Rolls-Royce im Fuhrpark bereitstünde? Jedes kleine Kind weiß doch, dass ein Silver-Shadow mit der Emily als Galionsfigur am Kühler ein Mercedes-Coupé mit einem schlichten Stern vorn drauf um Längen schlägt.


Daraus folgt, dass Spahn für sich und seine parlamentarischen Kollegen die bescheidenere Variante gewählt hat. Während die gewählten Repräsentanten im moderaten Benz sitzen, fährt das Volk also Rolls-Royce, nachdem es sich kurz zuvor noch mit – um im Jargon zu bleiben – dem 2CV von Astrazeneca bzw. dem Fiat 500 von Johnson & Johnson hatte begnügen müssen.


Spitzenwerbung!


Spahn könnte noch einen triftigen Grund für die flächendeckende Immunisierung der deutschen Politiker-Crème mit einem schwer zugänglichen Vakzin anführen. Hoffnungsfrohe Wirtschaftsexperten in den großen Parteien glauben, mit der Firma Biontech könne die Bundesrepublik endlich einen Global Player in die Pharma-Zukunftsmärkte einschleusen.
Da darf aber nicht medial rüberkommen, dass es Produktions- oder Lieferschwierigkeiten gibt, dass nun auch die Deutschen nicht mehr flächendeckend mit dem Mercedes unter den Seren geimpft werden können, obwohl man die eigenen Bestände doch so gewissenhaft vor den Menschen in der Dritten Welt weggesperrt hatte. Gute Werbung für ein Markenprodukt muss aber durch ostentativen Konsum der eigenen Ware und durch positive Action suggeriert werden.


Was aber könnte weltweit besser ankommen als News von den wichtigsten Menschen Deutschlands, wie sie sich mutig die Ärmel aufkrempeln um sich hausgemachte Qualität in die Armmuskeln spritzen zu lassen. Wir sollten uns bei Jens Spahn für seine zukunftsweisende Entscheidung bedanken und uns mit frommen Wünschen von ihm verabschieden. Möge die Macht auf seinem Weg in die wohlverdiente Bedeutungslosigkeit mit ihm sein!

01/2022
Dazu auch:
Leuchtturm im Sumpf im Archiv von Helden unserer Zeit (2021)
Covid-Kolonialismus im Archiv von Politik und Abgrund (2021)



  


2021  



Spreader in Uniform?


Die Nachricht kam aus dem bayerischen Innenministerium und hätte eigentlich Besorgnis, Nachforschung und rasches Handeln initiieren müssen: Im Freistaat sind noch knapp 20 Prozent der Polizisten nicht gegen Covid-19 geimpft. Erstaunlicherweise blieb die relative Unwilligkeit einer relevanten Personengruppe unkommentiert, wurde die Information vom Dienstherrn nicht weiter präzisiert, fehlten Analysen und  Rückschlüsse auf dienstliches Gebaren. Anlass für uns, zumindest drei Aspekte, die sich aus der kargen Faktenlage ergeben, ein wenig näher zu beleuchten.


Wer sollte eigentlich müssen?


Während das künftige Bundeskabinett die obligatorische Immunisierung von Berufstätigen in sensiblen Bereichen, etwa in Altenheimen, im Gesundheitswesen oder in Schulen, ankündigt, die rechtlichen Voraussetzungen für eine allgemeine Impfpflicht prüfen will und bereits jetzt von schärferen G-2-Kontrollen spricht, scheint bislang eine Personengruppe, die für die Überprüfung dieser Maßnahmen zuständig wäre, nach dem Laissez-faire-Prinzip zwischen Virenschutz und Unversehrtheit des Oberarms wählen zu dürfen.


Der Presse erklärte jedenfalls das Münchner Innenministerium, eine „aktuelle Abfrage in Bezug auf die 3-G-Regelung am Arbeitsplatz vom 19. November 2021 hat ergeben, dass den Angaben nach eine 2-G-Quote von ca. 81 Prozent für die Bayerische Polizei vorliegt“. Jeder fünfte Beamte tut also ohne ausreichende Corona-Prävention Dienst. Ob draußen im Einsatz oder im Innendienst, wisse es nicht, teilte das Ressort mit. Nun könnte man die Zahl ja schönreden (höher als der Anteil Geimpfter und Genesener in der Gesamtbevölkerung), doch würde man dabei übersehen, dass es sich bei den Ordnungshütern um Arbeitnehmer in besonderer Verantwortung und mit zahlreichen, oft sehr intensiven Kontakten und mit der Lizenz zur Überprüfung anderer handelt.


Ob Beamte auf dem Revier Zeugen, Beschuldigte oder Opfer von Unfällen wie Straftaten verhören, ob sie sich auf der Straße als Freunde und Helfer „handgreiflich“ um Alte und Gebrechliche kümmern, als Rechtsschützer Verhaftungen in engem Clinch durchführen oder in Einsatzkommandos physisch mit Demonstranten aneinandergeraten – die Gefahr, sich durch intensiven Kontakt zu infizieren, oder (möglicherweise  im Fall der 20 Prozent Ungeimpften)  als Superspreader von Viren aufzutreten, ist latent vorhanden. Dieses Problem dürfte nicht auf die bayerische Polizei beschränkt sein, ist doch wohl kaum anzunehmen, dass die hessischen Kollegen mit ihren berüchtigten rechten Netzwerken oder die sächsischen Gendarmen in einer notorisch impfunwilligen Umgebung freudiger Schlange für den Pieks gestanden haben als ihre Kollegen im Freistaat.


Gedankengänge von Ungeimpften


Geht man also davon aus, dass Polizisten im Kontakt mit „Klienten“, aber auch im Umgang mit nicht immunisierten Kollegen einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, jedoch auch selbst als potentielle Gefährder dastehen, nimmt wunder, wie nonchalant von offizieller Seite über dieses spezielle Defizit der Impfkampagne hinweggegangen wird. Welche Motive aber könnte ein Beamter haben, der die Ansteckung riskiert und die Vakzine scheut?


Natürlich gibt es körperlich und psychisch labile Menschen, die sich aus purer Angst vor (weitestgehend auszuschließenden) Folgewirkungen einer Impfung drücken wollen, dazu kommen noch Sektenangehörige, Anthroposophen oder manche Homöopathen, die sich in einer Welt mit eigenartigen metaphysischen Regeln eingerichtet haben. Der Anteil von Polizeibeamten in diesen Gruppen dürfte aber verschwindend gering sein.


Eher ist eine gewisse Nähe zur Mehrheitsfraktion der Impfgegner, die sich vor allem aus Ultra-Nationalisten, sogenannten Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern rekrutiert, zu vermuten. In dieser Szene gelten wissenschaftliche Forschung, empirische Erhebungen, signifikante Statistikvergleiche (etwa zwischen Regionen und Nationen mit hoher bzw. geringer Impfquote) oder Appelle an die gesellschaftliche Verantwortung nichts mehr. Fakten werden zu Manipulationen umgedeutet, sobald sie von offizieller Stelle kommen, die Diktatur der Weißkittel, der „Eliten“ oder des Weltjudentums droht; ganz so, als bräuchte unser System, das auch schon ohne all dies intransparent genug ist, noch das Brimborium eines Schauermärchens in Fantasy-Kulisse. Seltsamerweise tauschen die Corona-Leugner ihre klandestinen Botschaften ganz offen in jenen sozialen Netzwerken aus, deren Betreiber mit ihren auf den gläsernen Bürger abzielenden Intentionen auch bei besonnenen Menschen Horrorvisionen hervorrufen.


Querdenker mit und ohne Uniform


In diesem Zusammenhang hätte die von vielen Fachleuten geforderte Studie zu rassistischen Strukturen im Polizeiapparat, die Horst Seehofer mit fadenscheiniger Begründung verhinderte, Hinweise liefern können. Offener Rassismus ist nämlich ein Privileg der extremen Rechten (wohingegen von weiten Kreisen der Bevölkerung die latente Spielart der Diskriminierung bevorzugt wird), und so wäre es interessant gewesen, ob sich zahlenmäßige Übereinstimmungen beim Abgleich von ungeimpften und chauvinistischen Beamten ergeben hätten. Denn dass deutsche Sicherheitskräfte die Welt häufig aus dem rechten Blickwinkel wahrnehmen, weiß man aus Hass-Mails, die aus Frankfurter Polizeiwachen zu stammen schienen, oder durch die permanenten „Irrtümer“ während der NSU-Fahndung.


Ungeimpfte Polizisten überprüfen derzeit die Einhaltung der 2G-Regeln in Bayern, und wenn sie diese Kontrollen gewissenhaft durchführen, mag sich der eine oder andere Ertappte fragen, wie es eigentlich um den Corona-Schutzstatus seines Häschers steht. Im „Streiflicht“ der SZ wurden die Seuchenleugner als „gedankliche Falschparker“ bezeichnet. Muss man nun befürchten, dass solche ideellen Verkehrssünder künftig von Ordnungshütern aufgeschrieben werden, die selbst nicht mehr genau wissen, wo man sein Geistesvehikel abzustellen hat, ohne dass es andere gefährdet?


Was aber wird erst geschehen, wenn sich auf einer gewalttätigen Kundgebung ein Polizist, der die „Corona-Lüge“ für sich selbst entlarvt hat, und ein Querdenker ohne offizielle Uniform (zu der ja ein Alu-Hütchen nicht gezählt werden darf) gegenüberstehen? Erkennt der/die eine den anderen als Bruder/Schwester in der Gesinnung? Und wenn ja, tauschen die beiden dann einvernehmlich ihre Ansichten aus – und vielleicht ein paar Viren dazu?
12/2021

Dazu auch:
Verblödungstheorien (2021) sowie Nazi und Gendarm (2016) im Archiv der Rubrik Medien







Von Schurken umzingelt


Tausende von Flüchtlingen, darunter Kleinkinder und Schwangere, campieren derzeit an der polnisch-belarussischen Grenze bei beißender Kälte unter freiem Himmel. Hinter ihnen verwehren Lukaschenkos Soldaten den Rückzug, vor ihnen versperrt Warschaus Armee den Weg in die EU mit Stacheldraht, Tränengas und Waffengewalt. Wie viele Tote es bisher gegeben hat, weiß man nicht genau, denn Helfer, Ärzte und Journalisten werden nicht zu den Eingekesselten vorgelassen. Es handelt sich um eine menschliche Tragödie, in der es nur rechtlose Opfer und rechthaberische Schurken gibt.


Polen als Büttel der EU


Neun Menschen sollen in den Wäldern an Polens Grenze bislang ums Leben gekommen sein, weitere werden womöglich sterben. Für europäische und vor allem deutsche Politiker aber sind Leiden und Tod eher die Nebeneffekte eines impertinenten Versuchs, Asyl und Aufenthaltsrecht in der EU zu erlangen. Brüssel fühlt sich zwar offiziell der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet, baut das eigene Territorium aber konsequent durch die Schließung von Häfen und Grenzen zu einem Hochsicherheitstrakt aus, den Hilfesuchende gar nicht erst erreichen können.


Und so kolportieren die maßgeblichen Medien pflichtschuldig, aber wenig engagiert Berichte von menschlichem Elend, die sie allerdings kaum verifizieren können, weil die Behörden in Polen ihnen ebenso die Recherche im fraglichen Gebiet verweigern wie die belarussischen Grenzschützer. Scheint die Berichterstatter aber ohnehin nur peripher zu tangieren, denn sie haben sich auf den – ihrer Ansicht nach – eigentlichen Skandal eingeschossen: Da lässt Lukaschenko, der Despot von Minsk, Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten freizügig in sein Land einreisen und gleich zur EU-Außengrenze weiter chauffieren, um sich für die westlichen Sanktionen zu rächen.


Schlimmer als die „Aussperrung“ der Presse trifft die hungrigen und erschöpften Menschen im frostigen Forst, dass Polen keine Hilfsorganisationen zu ihnen lässt. Wer die Frechheit besitzt, uneingeladen in die wohlhabende und ach so freiheitsliebende EU kommen zu wollen, soll dafür bezahlen – und wenn es sein muss, mit seiner Unversehrtheit oder sogar mit seinem Leben. Hilfesuchende, egal ob politisch Verfolgte, Kriegs- oder Armutsflüchtlinge, stellen eine Bedrohung für „das gute (sprich: saturierte) Europa“ dar, und das lässt seine Außengrenze von der polnischen Soldateska schützen, die sich offenbar mit völkerrechtswidrigen Pushbacks ebenso gut auskennt wie die Abfangflotte der EU-Agentur Frontex im Mittelmeer.


Jetzt produziert sie sich wieder auf allen Kanälen, die selbsternannte Wach- und Schließgesellschaft, der Politiker und Publizisten von Rechtsaußen bis in die Sozialdemokratie hinein, von Brüssel über Berlin bis Warschau angehören: Manfred Weber (CSU), Chef der konservativen EVP-Faktion im EU-Parlament, forderte die Kommission auf, die polnische Grenzbarriere (die jede nach internationalem Recht vorgeschriebene Einzelfallprüfung unmöglich macht) finanziell zu unterstützen. Sein Parteifreund Horst Seehofer, der als geschäftsführender Innenminister der argumentativen Altersschwäche entgegendämmert, sagte gegenüber der Funke-Mediengruppe: „Die Polen erfüllen hier für ganz Europa einen wichtigen Dienst.“ Offenbar indem sie die unangenehmen Aufgaben erledigen und jene Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, die von den EU-Granden stillschweigend gebilligt werden.  


Da darf natürlich der unvermeidliche Heiko Maas nicht fehlen, der befindet, Polen habe im Streit mit Belarus „europäische Solidarität verdient“. Da scheint fast vergessen, dass die EU-Kommission das klerikal-chauvinistische Regime in Warschau mit Verfahren überzieht, weil dieses die Gewaltenteilung abgeschafft und sich   damit de facto von der bürgerlichen Demokratie verabschiedet hat, aber auch weil es sich weigert, auch nur das kleinste Kontingent an Asylsuchenden aufzunehmen. Sozialdemokrat Maas fühlt sich offenbar seinem Vorvater-Genossen Gustav Noske verbunden, der 1919 als Reichswehrminister mit Unterstützung rechtsradikaler Freikorps Arbeiterunruhen niederschlagen ließ und mit seinem Spitznamen kokettierte: „Einer muss den Bluthund machen.“ Wie schön, dass diesmal polnische Schergen die Drecksarbeit für uns erledigen, mag sich der (hoffentlich) scheidende Außenminister-Darsteller gedacht haben.


Lukaschenko als Lieblingsgangster


Auf einen gemeinsamen und zugleich hundsgemeinen Nenner bringt die „Wiener Zeitung“ die derzeitigen Kumpanei-Beteuerungen: „Mit Warschau wollen derzeit in der EU die wenigsten auf der selben Seite stehen, doch im Konflikt mit Lukaschenko schützt Polen nicht nur seine nationale, sondern eben auch die EU-Grenze.“ Zur Verteidigung der „Festung Europa“ sind also auch Schurken willkommen, Menschen oder Opfer stören da nur.


Insofern nimmt die EU derzeit billigend die Misshandlung von Menschen in Kauf, macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, möglicherweise sogar der Beihilfe zur schweren Körperverletzung in zahllosen Fällen (von den gesundheitlichen Spätfolgen für die Kinder und tiefen Traumatisierungen ganz zu schweigen). Die Staatengemeinschaft darf offenbar, was dem einzelnen Bürger strengstens verboten ist.


Das Verdienst aber, die Flucht von Verzweifelten zum kriegerischen Akt umzudeuten, gebührt einem Berliner Regierungssprecher, der behauptete, wehrlose Menschen würden in einem „hybriden Angriff gegen die EU instrumentalisiert“, d. h. kombinierte konventionelle und irreguläre Attacken brandeten gegen das Bollwerk der Union. Der SZ-Kolumnist Heribert Prantl, einer der wenigen humanistisch gesinnten Star-Kommentatoren im Land, entlarvt diese perfide Terminologie: „Es ist der Versuch, aus der Zurückweisung der schutzsuchenden Menschen, also aus einem im Flüchtlingsrecht strikt verbotenem Akt, einen angeblich gebotenen Akt der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen – durch die Art und Weise, wie man das Problem beschreibt.“


Nun ist der Widerpart der EU, Alexander Lukaschenko, tatsächlich kein Sympathieträger. Er hat mutmaßlich Wahlergebnisse gefälscht, lässt Oppositionelle verfolgen und dürfte den Transfer der ahnungslosen Flüchtlinge, die er in sein Land einlud, an die polnischen und litauischen Grenzen tatsächlich als eine Art Retourkutsche für Brüssels Sanktionen instrumentalisieren. Allerdings gelingt es ihm damit, die Bigotterie der „wahren“ Demokraten und Menschenfreunde in der EU zu entlarven. Seht her, könnte er rufen, was eure Bekenntnisse zu Freiheit und Menschenrechten wert sind. Die Flüchtlinge indes werden kaum einen qualitativen Unterschied zwischen belarussischen und polnischen Schlägern in Uniform erkennen.


In einer Rede vor den Abgeordneten des Europaparlaments beschuldigte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, die EU diverser Rechtsbrüche im Umgang mit Asylsuchenden. Zwar nannte er es unter Hinweis auf Belarus auch „inakzeptabel“, dass Staaten die gefährliche Weiterreise von „verletzlichen Menschen“ förderten, doch verurteilte er vor allem das Vorgehen der Europäischen Union. Man habe an verschiedenen Orten „die gewalttätigen Pushbacks gesehen, die das Schlagen von Flüchtlingen und Migranten mit einschließen. Eine EU, die auf Rechtsstaatlichkeit basiere, „sollte und kann besser sein“, mahnte der oberste UN-Zuständige für die weltweiten Fluchtbewegungen. Es hörte sich an, als charakterisiere er höflich eine Union von Schurkenstaaten.


Der polnischen Vize-Kommissarin für Menschenrechte, Hanna Machińska, war es gelungen, zu den Flüchtlingen in den Wäldern vorzudringen. Was sie t-online-news berichtete, ist erschreckend: Junge Mütter stünden vor der Wahl, ob sie ihre Säuglinge verhungern ließen oder sie tödlichen Infektionen aussetzten, weil sie ihnen mit schmutzigem Wasser angerührte Trockenmilch zu trinken geben müssten. Die Flüchtlinge würden von belarussischen Soldaten gehetzt und von polnischen Grenzern zurückgeschlagen. Die Erinnerung an eine düstere Zeit wird wach: „Die Situation lässt sich nicht direkt mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen, aber: Menschen irren im Dunkeln herum, zwischen den Bäumen. Und wieder haben sie Angst vor dem Militär, das Jagd auf sie macht.“


Absoluter Vorrang für Heuchelei


Gerade in Deutschland müssten solche Vergleiche die Alarmglocken schrillen lassen, gingen doch vor wenigen Generationen von unserem Land Angriffskrieg und Massenmord aus. Und auch diesmal sind die primären Ursachen für das Trauerspiel an der polnischen Grenze in der Politik unseres Landes und seiner EU-Partner zu suchen, denn in Afghanistan, im Irak, im Jemen oder in Syrien wurden die materielle Basis und die gesellschaftlichen Strukturen mit deutschem Zutun im militärischen, logistischen oder nachrichtendienstlichen Bereich zerstört. Lukaschenko hat sich nur als Nutznießer des Desasters auf der sekundären Ebene versucht.


Der unendlich peinliche Heiko Maas aber konterkariert dreist den Verlust seines historischen Gedächtnisses, indem er kategorisch erklärt, Berlin werde keinen einzigen Flüchtling aus dem nordosteuropäischen Niemandsland aufnehmen. Jetzt ist ihm auch noch entfallen, dass er selbst einst (vergeblich) von Polen gefordert hatte, Kontingenten hilfesuchender Menschen aus den Erstaufnahmeländern Griechenland oder Italien Einlass zu gewähren. Überhaupt scheint sich die gesamte EU am Kernproblem vorbeimogeln zu wollen. Es werden weitere Sanktionen gegen Lukaschenko und seine Clique verhängt, Fluglinien, die glauben, der freie Ticket-Markt sei auch für Araber, Afghanen und Afrikaner da, mit dem Entzug von Landerechten gedroht, polnische Bestrebungen, an der Grenze eine Mauer à la Trump zu bauen, begrüßt – über die Menschen in den Wäldern aber redet niemand, oder fast niemand…


In dieses desaströse Bild eines „freien Europa“, in dem sich privilegierte Bürger ihre „Gäste“ und ihre Gesprächspartner höchst wählerisch aussuchen, passt die grüne Reaktion auf die Nachricht, dass die Bundeskanzlerin mit Lukaschenko telefoniert habe, um in der lebensgefährlichen Situation von Tausenden eine humanitäre Lösung zu finden: Das dürfe man/frau nicht, der belarussische Machthaber werde so anerkannt und aufgewertet. Die Partei, die an der Regierung Schröder partizipierte, damals alle Skrupel über Bord warf und die völkerrechtswidrige Bombardierung von Serbien mittrug, die sich unlängst in den „Sondierungen“ ihre hehrsten Prinzipien von der FDP wegkegeln ließ, nur um sich in eine künftige Regierung schlängeln zu können, spielt sich nun als ultimative Moralinstanz und Hüterin internationaler Etikette auf. Alles hat den westlich-korrekten Gang zu gehen, so viel Zeit muss sein. Die Kleinkinder und die Kranken in den Wäldern zwischen Belarus und Polen dürfen derweil verrecken.

11/2021

Dazu auch:

Die EU lässt sterben im Archiv der Rubrik Medien (2019)

Ware Mensch im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2016)







Unmoralische Instanz

Das Skandalhaus Springer


Dunkle Wolken der öffentlichen Empörung haben sich über dem Axel Springer Verlag und vor allem BILD, seiner Allzweckwaffe gegen Anstand, Toleranz und soziales Bewusstsein, zusammengezogen. Durch #MeToo-Enthüllungen wurden Machtmissbrauch und Chauvinismus innerhalb der Redaktion publik, und nun prangern diverse Journalisten auch die massive Desinformation sowie die Skrupellosigkeit an, mit der das Medienimperium seinen Einfluss auf Bevölkerung und Politik auszubauen sucht. Dabei hätten sie die Übergriffigkeit und die kontinuierliche Verbreitung von „alternativen Fakten“ schon seit Jahrzehnten kritisieren müssen.


Machismo, Machtspiele und Manipulation


Es mag sein, dass der kürzlich gefeuerte BILD-Chefredakteur Julian Reichelt der giftigste Pfeil im Köcher des Hauses Springer war, doch Deutschlands meinungsmächtigster Verlag verfügte schon etliche Jahrzehnte lang über genügend tödliche Geschosse in seinen Arsenalen, um humanitäre Gedanken zu unterdrücken, Linke und Humanisten zu diskreditieren und einfach denkende Menschen zum Hass anzustacheln. In die längst fällige Diskussion gerieten die internen Machtpraktiken, welche Rückschlüsse auf das vorherrschende Menschen- und Gesellschaftsbild und damit die Grundlage der publizistischen Kriegsführung der Zeitungsmacher zuließen, aber erst, nachdem sich Journalistinnen als abhängige Opfer Reichelts geoutet und sich im Frühling dieses Jahres an die Compliance-Abteilung des Verlags gewandt hatten.


Diesmal blieb der berechnende Machismo des Chefredakteurs, der offensichtlich die sexuelle Bereitschaft oder Ablehnung untergebener Mitarbeiterinnen ihm gegenüber mit Druck oder Beförderung sanktionierte, noch folgenlos, da die Betroffenen nicht wagten, gegen ihn auszusagen. Ein halbes Jahr später aber lagen der „New York Times“ (NYT) und der Ippen-Mediengruppe, die u. a. die Münchner Boulevardzeitung „tz“ herausgibt, schwer belastende Aussagen vor. Während aber Verleger Dirk Ippen, der an der Seite von BILD und „Welt“ gegen die öffentlich-rechtlichen Sender kämpft und Geschäftsbeziehungen zu Springer unterhält, seinen Redakteuren eine Veröffentlichung untersagte, berichtete die NYT in den USA, wo Springer gerade das Nachrichtenunternehmen „Politico“ übernommen hatte, ausführlich über Reichelts Verfehlungen.


Nun musste der Springer-Verlag reagieren und schasste den geilen Chefredakteur mit einer rigorosen Begründung: „Im Kontext jüngster Medienrecherchen sind dem Unternehmen seit einigen Tagen neue Anhaltspunkte für aktuelles Fehlverhalten von Julian Reichelt zur Kenntnis gelangt. Der Vorstand hat erfahren, dass Julian Reichelt auch aktuell noch Privates und Berufliches nicht klar trennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat. Deshalb hält der Vorstand jetzt eine Beendigung der Tätigkeit für unvermeidbar." Der SPIEGEL ergänzte die Liste von Reichelts Vergehen wenig später noch: Machtmissbrauch, Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen, Sex mit einer ihm unterstellten Mitarbeiterin, dazu mutmaßlich Urkundenfälschung.


Der Mann scheint erledigt, doch ein ganz Mächtiger im deutschen Medienolymp, Springers Vorstandsvorsitzender Mathias Döpfner, hielt ihm die Nibelungentreue und verstieg sich zu einer quasi posthumen Würdigung des Entlarvten: „Julian Reichelt hat BILD journalistisch hervorragend entwickelt und mit BILD LIVE die Marke zukunftsfähig gemacht.“ In einer WhatsApp-Nachricht an den Schriftsteller Stuckrad-Barre hatte Döpfner, der zu Deutschlands bestbezahlten Managern gehört, Julian Reichelt bereits als heroischen Kämpfer wider das Merkel-Regime gelobt: „Er ist halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland der noch mutig gegen [den] neuen DDR Obrigkeits Staat aufbegehrt.“ Döpfner offenbart hier ein dystopisch-wirres Weltbild, wie es das Berliner Medienimperium seit den Tagen seines irrlichternden Gründers Axel Cäsar Springer pflegt und aus dem es die Kraft zu immer neuen Attacken auf Logik, kritisches Bewusstsein und Humanität schöpft.  


BILD – analoge Mutter der Shitstorms


Mathias Döpfner (Günstling der Verlegerwitwe Friede S.), der fast 22 Prozent der Anteile am Konzern hält, bildete zusammen mit seinem BILD-Chefredakteur Reichelt ein duo infernale, das, aggressiv bis zur Tollwut, mit abseitigen journalistischen Mitteln alles bekämpfte, was die gesellschaftlichen Hierarchien, die nach Springer-Ideologie sakrosankt waren, in Frage zu stellen schien: den Virologen Drosten, den Kreml-Chef Putin (ein unangenehmer Zeitgenosse zwar, aber immer noch berechenbarer als Döpfner), die Chinesen oder angebliche sozialistische Tendenzen der Kanzlerin Merkel.


Der feingeistige Kunstkenner mit den düsteren Obsessionen verstieg sich nach den rechtsextremistischen Mordanschlägen von Halle sogar dazu, in einem Essay für die „Welt“ die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und die Realitätsferne der „Elite“ (der er selbst angehört) als „Hauptursachen für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ auszumachen. Die Verschwörungstheorien von Querdenkern und AfD-Anhängern sowie die Trump’schen Wahnvorstellungen lassen grüßen.


Solch starker Tobak ging sogar dem früheren BILD-Politikchef Georg Streiter zu weit. In der SZ fasste er das heutige Kredo des Krawallblatts kurz und bündig zusammen: „ARD, ZDF und die großen Zeitungen belügen uns. Die Meinungsfreiheit ist abgeschafft. Das ist die Welt, die BILD uns zeigt.“ Reiter, der nach seinem Abschied von Springer acht Jahre lang als stellvertretender Regierungssprecher dem Pressevolk die Kabinettsbeschlüsse schmackhaft machen durfte, trauert der Vergangenheit nach: „In besseren Zeiten hatten wir mit BILD viel zu lachen. In der Sommerpause haben wir durchgeknallte Krokodile oder Bären als Nachfolger des Ungeheuers von Loch Ness gejagt.“


Nein, so lustig war BILD selbst damals nicht. Auch wenn die Gazette unter Döpfners Regie in nie gekannter Konsequenz die Schimäre einer völkisch angehauchten Parallelwelt unter die Leser bringt – das Säen von Hass, die Stärkung von Ressentiments, die Denunziation aller möglichen Minderheiten waren immer schon Teile des Geschäfts. Kriminelle „Gastarbeiter“, sinistre Migranten, betrügerische Hartz IV-Empfänger und niederträchtige Feinde der NATO nahmen stets den beträchtlichen Platz ein, den der Klatsch aus der Film- und Adelswelt oder die Fotos kaum bekleideter Models, die früh schon das Frauenbild der Machos und Voyeure in der dem gepflegten Herrenwitz zuneigenden Redaktion dokumentierten, übrigließen.


Insofern war BILD so etwas wie das analoge Vorläufermodell der Social Media im Netz. Shitstorms wurden kreiert, die keiner medialen Interaktion bedurften, um zu Orkanen zu werden, so durchschlagend waren die einfachen Botschaften in riesigen Lettern auf buntem Papier. Tiefe Gräben in unserer Gesellschaft hat es immer schon gegeben, aber BILD verwischte die Konturen, zog die Linien anders, ignorierte etwa die berechtigte Empörung gegen soziale Ungleichheit und ersetzte sie durch dumpfe Wut auf Minderheitenangehörige oder Linke. Und das konnte durchaus lebensgefährlich werden, da die permanente Indoktrination bisweilen ebenso zu brutalen Aktionen anspornte wie heute Shitstorms auf Facebook.


Als im Juni 1967 der iranische Schah Reza Pahlavi, ein grausamer Despot, aber Liebling der deutschen Boulevardpresse, auf Staatsbesuch auch Westberlin besuchte, demonstrierten die Studenten auf den Straßen. Benno Ohnesorg, ein junger Mann, der sich keinerlei Gewaltanwendung schuldig gemacht hatte, wurde von der Polizei erschossen. „Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen“, kommentierte die B.Z., Schwesterzeitung von BILD, zynisch.


Die Springer-Blätter hatten den Tathergang verfälscht dargestellt und liefen in der Folge zu großer Form auf. Sie diskreditierten die Studentenbewegung als „rote SA“, und hetzten ihre oft mäßig gebildeten Leser gegen Demonstranten („Kein Geld für langbehaarte Affen“) auf. Zehn Monate nach Ohnesorgs Tod schoss der arbeitslose Hilfsarbeiter Kurt Bachmann den SDS-Führer Rudi Dutschke nieder. Ein gängiger Slogan lautete damals, BILD habe „mitgeschossen“. Mag sein, dass der Vorwurf der Mittäterschaft überzogen war, dass jedoch die Springerpresse den Boden für die Gewalttat mit vorbereitet hatte, wurde nur von wenigen kritischen Zeitzeugen damals bezweifelt. Niemand aber weiß oder kann jenseits dieser spektakulären Fälle belegen, wie viele dunkelhäutige Mitbürger oder Flüchtlinge bis heute unter einem „Volkszorn“ zu leiden hatten, den BILD zu befeuern half.  


Dass der Konzern ein beinahe missionarisches Selbstverständnis bezüglich der strikt rechten Ausrichtung und der manipulativ implementierten Feindbilder, linke und emanzipatorische Bewegungen betreffend, entwickelt hat, ist das „Verdienst“ von Axel Cäsar Springer. Und es drängt sich der Verdacht auf, auch der Gründervater habe bereits unter kruden Phantasmagorien gelitten.      


Devote Intendanten, Verleger und Politiker


Der Mann ist leuchtendes Vorbild in der Adenauer-Ära. Die unverbrüchliche Treue zu den USA und der NATO gehört zu Springers Maximen, die er selbst in Arbeitsverträge hineinschreiben lässt. Die braune Vergangenheit streift er ab wie einst Paulus seine christenfeindliche Gesinnung und propagiert die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen, wozu auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes gehört (was ja per se zu begrüßen ist). Nur fällt auf, dass die eigene Biografie und das Verhalten einiger Mitarbeiter im Dritten Reich nicht Gegenstand sachbezogener Nachforschungen werden sollten. So beschäftigt er ehemalige Nazi-Propagandisten in seinem Verlag und schweigt sich über seine früheren journalistischen Tätigkeiten aus.


Das Sendungsbewusstsein, das über Springer, der sich in den 1950er Jahren zeitweilig für eine Jesus-Inkarnation hält und an Horoskope glaubt, gekommen zu sein scheint, hat sich auch nach seinem Tod im Jahre 1985 im Unternehmen gehalten und sich wohl auf den geistigen Zieh-Enkel Döpfner vererbt. Über die Zeit festigte sich die publizistische Macht des Springer-Imperiums, vor der Kollegen, Konkurrenten und Politiker bis heute kuschen. So wie Verleger Dirk Ippen unlängst davor zurückschreckte, über den #MeToo-Skandal bei BILD berichten zu lassen, wagte es laut Jens Rosberg (Deutschlandfunk) selbst Rudolf Augstein 1979 nicht, im SPIEGEL Springers Beteiligung an antisemitischer Hetze in den „Altonaer Nachrichten“ während der Nazizeit aufzudecken.


Die Dogmen des charismatischen Axel Cäsar haben weiterhin Bestand, wurden fanatisch verteidigt und dabei derart übereifrig interpretiert, dass eine eigene Springer-Realität entstand. Den zweiten Staat auf deutschem Boden, die DDR, gab es schlichtweg nicht, Brandts Ostpolitik war des Teufels, und wer den internationalem Recht zuwiderlaufenden Siedlungsbau im Westjordanland kritisierte, musste ein Antisemit sein. Diese Schlussfolgerung führte zu dem Paradoxon, dass friedensbewegte Juden sich plötzlich in einem Topf mit Neonazis und arabischen Israelhassern wiederfanden.


In einem Artikel für die „Berliner Zeitung“ zeigt Hanno Hauenstein auf, wie souverän der Springer-Verlag mit seinem Sturmgeschütz BILD noch heute die Medienszene beherrscht: Das Blatt hatte dem Blog eines AfD-Sympathisanten entnommen, dass Nemi El-Hassan, mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Ärztin mit palästinensischen Wurzeln, vor sieben Jahren als Zwanzigjährige bei einer Al-Kuds-Demo mitgelaufen war, auf der von anderen Teilnehmern antisemitische Parolen skandiert wurden (was sie später ausdrücklich bedauerte). Nun hat sich El-Hassan stets für die Aussöhnung von Arabern und Juden eingesetzt, gegen Antisemitismus wie Rassismus Stellung bezogen und auch mit israelischen Künstlern und Organisationen zusammengearbeitet. BILD und „Welt am Sonntag“ aber bauschten den angeblichen Skandal so auf, dass der WDR, für den sie das Magazin „Quarks“ moderieren sollte, diese Entscheidung revidierte.


Intendant Tom Buhrow schob einen weiteren von BILD lancierten Grund nach: El-Hassan habe auf Instagram mehrere „Likes“ auf dem Account der Gruppe „Jewish Voice for Peace“, die Israel kritisiert, gleichzeitig aber zu den größten jüdischen Friedensorganisationen der USA zählt, platziert. „Ein Triumph der BILD-Zeitung“ betitelte Hauenstein seinen Kommentar zu dem devoten WDR-Verhalten und riet den Kollegen in der rechten Ecke: „Für Springer-Journalisten wäre es jetzt vielleicht auch ein sinnvoller Moment, sich mit der eigenen Betriebsgeschichte auseinanderzusetzen. Axel Cäsar Springer war in der NS-Zeit für antisemitische Propaganda

mitverantwortlich.“


Bleibt die Frage, wie ausgerechnet ein Schmuddelblatt die Deutungshoheit in komplizierten Angelegenheiten gewinnen, ja sogar zur scheinbar omnipotenten moralischen Instanz im Lande aufsteigen konnte. Ein Teil der Antwort ist sicherlich im berechnenden oder unterwürfigen Verhalten deutscher Spitzenpolitiker gegenüber dem Gossen-Boulevard zu sehen: Von Friedrich Merz über Olaf Scholz bis hin zu Jürgen Trittin und Sahra Wagenknecht, von der Kanzlerin bis zum Bundespräsidenten – alle drängen zum Exklusivinterview in die BILD-Redaktionsstuben, um dort ihre Pläne und Träume zu offenbaren (einzige Verweigerin kürzlich Annalena Baerbock). Sie machen so eine Zeitung, der kein denkender Mensch Seriosität unterstellen würde, zur meinungsbildenden Supermacht. Und das, obwohl die verkaufte Auflage von mehr als vier Millionen 2001 auf gut eine Million 2021 gefallen ist, der Internet-Auftritt nur weitere 500.000 User beisteuert und sich der neu gegründete Fernsehsender BILD TV als Rohrkrepierer erweist…


BILD dir meine Meinung!


Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) ist ein honoriger Club, der stets die verantwortungsvolle und verpflichtende Tätigkeit seiner Mitglieder betont. Warum war aus diesem erlesenen Kreis eine ganze Weile nichts zu den sexistischen Verfehlungen in der BILD-Redaktion und den abstrusen Kommentaren des Springer-Chefs zu vernehmen (ehe man geruhte, sich an dessen DDR-BRD-Vergleich zu stoßen)? Die Antwort ist so simpel wie schockierend: Der Präsident des BDVZ heißt Mathias Döpfner.


Es gab stets Bestrebungen, BILD & Co salonfähig bzw. die Grenzen zu noblerer Pressearbeit für bei Springer sozialisierte Journalisten durchlässig zu machen. So wechselte etwa Nikolaus Blome von der BILD-Chefredaktion in die des SPIEGEL, Georg Streiter wiederum verließ das Revolverblatt, um Vize-Regierungssprecher zu werden. Umgekehrt übernahm nun Johannes Boie, bislang Chefredakteur der „Welt am Sonntag“, die Springer vergeblich in die Premier League von SZ, FAZ und ZEIT führen wollte, den Posten des Sexisten Reichelt bei BILD. Qualifiziert dafür scheint er, sinnierte er doch unlängst in Döpfer’schem Tenor darüber, dass der Attentäter von Hanau möglicherweise kein Rechtsextremist, sondern ein verirrter Einzeltäter gewesen sei.


Vorgeblich glauben nicht einmal die Leser den BILD-Geschichten. Doch von den einfachen Wahrheiten mit den groben Rückschlüssen, vor allem aber von den raffinierten Fälschungen mit den subtilen Generalisierungen bleibt immer etwas hängen. Das Gift verflüchtigt sich nicht, macht blind oder fühllos für dialektisches Denken und differenzierende Kritikfähigkeit, es ist nur schwer abbaubar.


Die Journalisten in den BILD-Redaktionen verdienen gut und sind häufig gewiefte Stilisten, denn es ist nicht leicht, das eigene Sprachniveau  

gezielt so zu senken, dass jeder Satz dumpfe Emotionen auslösen kann. Einige scheitern an der geistfeindlichen Aufgabe, andere werden zu routinierten Zynikern. Vor langer Zeit arbeitete ich in Westberlin bei der linken Tageszeitung DIE NEUE, die sich in ständigen Geldnöten befand. Zu den (anonymen) privaten Spendern gehörte ein BILD-Redakteur, der so wohl sein Gewissen besänftigen wollte.

10/2021

Dazu auch:

Spätes APO-Glück? (2019) und Etwas bleibt hängen (2018) im Archiv der Rubrik Medien     






Ein Rechtsrutsch


Eine tolle Zeit für die Auguren, Spekulanten und Influencer in den Politik-Redaktionen der Print- und Funkmedien: Nach den Bundestagswahlen lässt sich gut munkeln, wer mit wem koaliert, wer wie viel für sich dabei herausschlägt, ob der Sieger leer ausgeht und der Verlierer Kanzler wird oder die Liberalen sich das größte Stück vom Kuchen sichern. Kaum zu hören oder lesen war indes, dass die Ergebnisse, nüchtern betrachtet, keinen Aufbruch, sondern eher einen Rechtsrutsch andeuten.


Verstoß gegen das elfte Gebot


Die einzige Partei, die im Vorfeld dafür warb, wenigstens ansatzweise lebensnotwendige Infrastruktur zu vergesellschaften und die Daseinsfürsorge der öffentlichen Hand anzuvertrauen, wurde gnadenlos abgestraft. Die Linkspartei halbierte sich nahezu und konnte nur aufgrund der Regelung mit den drei Direktmandaten in Fraktionsstärke wieder in den Bundestag einziehen. Dabei hatten die Bundesbürger in Umfragen doch der sozialen Problematik Vorrang eingeräumt.


Zwar haben die Linken im Wahlkampf nicht gerade geglänzt, aber im Gegensatz zu einigen Konkurrenten haben sie auch keine Fehler gemacht, und ihre Spitzenkandidatin Janine Wissler wirkte in den TV-Debatten nicht schlechter vorbereitet oder weniger eloquent als die Mitbewerber. Doch im Vorfeld wurde die Partei zum Paria, mit dem man nicht koalieren kann, abgestempelt, denn sie hat gegen das (ungeschriebene) elfte Gebot politischen Wohlverhaltens verstoßen, das da lautet: „Du sollst nicht an der NATO zweifeln!“


Gut, Frankreichs Präsident Macron durfte ungestraft den Nordatlantikpakt als „hirntot“ bezeichnen, und im Weißen Haus entscheidet Biden, dass für die USA die North Atlantic Treaty Organisation nicht mehr so relevant ist und stattdessen ein Pazifik-Bündnis (PATO?) mit Australien, Großbritannien und Japan beim Aufmarsch gegen China mehr Sinn macht; aber das sind ja geschätzte Partner und keine Wahlkampfgegner, mit denen man im schlechtesten Fall die Regierung bilden müsste, wird sich die rechtsbürgerliche Mitte unter Scholz und Baerbock gedacht haben. Und wer hat schon Muße, die verheerende Bilanz der letzten NATO-Interventionen in Krisengebieten, die Verluste an Menschenleben, Geld und Glaubwürdigkeit zu prüfen, die verlorenen Länder wie Libyen, den Irak oder Afghanistan zu zählen?


Es zeugt von undeutscher Skepsis, wenn man der NATO in den Rücken fällt, während verantwortungsbewusste Parteien, die SPD und die Grünen halt, überlegen, wie sie der Bevölkerung das Debakel von Kabul erklären und gleichzeitig die Aufstockung des Militärhaushaltes auf zwei Prozent aller in Deutschland erbrachten Leistungen schmackhaft machen sollen.

Die AfD geschwächt? Mitnichten!


Die AfD sei mit ihren 10,3 Prozent bundesweit hinter den Erwartungen zurückgeblieben, heißt es allerorten erleichtert. Man kann die Ergebnisse aber auch anders deuten: Die rechtsextreme Protestpartei ist keine Eintagsfliege, hat sich etabliert, im Westen zwar auf niedrigerem Niveau als 2017, aber sicher über der 5-Prozent-Hürde, im Osten dagegen triumphal. Zehn von sechzehn Direktmandaten in Sachsen, die Hälfte der Thüringer Sitze, mehr als zwanzig Prozent der Stimmen in vier der neuen Bundesländer sind eindeutige Belege für ihre Stärke.


Politologen sprechen bereits von einer „ostdeutschen Volkspartei“, und dabei hat die AfD ihr Potenzial noch nicht einmal voll ausgeschöpft. Etliche CDU-Kandidaten, etwa in Sachsen-Anhalt, hatten sich nämlich den Positionen der Nationalisten angenähert und ihnen so Wähler weggeschnappt. Für einige dieser schwarzen Wilderer im braunen Revier ging das Buhlen um den dumpfen Teil der Gesellschaft allerdings nicht gut aus: So wäre Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen wohl in den Bundestag eingezogen, hätte er sich gleich der AfD angeschlossen. Als CDU-Rechtsaußen aber wurde er nur abgeschlagener Dritter in seinem Wahlkreis.


Ein rechter Mann für die SPD


Ein paar Bekenntnisse zu einer Erhöhung des Mindestlohns, die nicht ausreichen wird, und zum sozialen Auftrag seiner Partei dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Olaf Scholz das rechte Establishment der SPD repräsentiert. Wie Schröder ist er ein „Genosse der Bosse“, nur weniger marktschreierisch, und er steht dem hanseatischen Geldadel und dem Neoliberalen Christian Lindner sicherlich näher als der Umweltbewegung oder kämpferischen Gewerkschaftern.


Nicht wenige einflussreiche Sozialdemokraten sehen in dem stets verbal vorpreschenden Kevin Kühnert, dessen Standhaftigkeit erst noch bewiesen werden muss, einen vorlauten Radikalen und in der Co-Vorsitzenden Saskia Esken einen linken Betriebsunfall. Scholz wurde im Wahlkampf nicht müde zu betonen, dass Wirtschaft und Industrie unter seiner Kanzlerschaft mit idealen Bedingungen und genügend Strom (egal, wofür) rechnen könnten. Wie die Ankündigung einer ökologischen Wende klingt das nicht gerade.


Die Frage ist, wie rasch und wie gründlich die Genossen ihre erklärten Ziele und Prinzipien den Forderungen der FDP, deren ökonomische und soziale Vorstellungen übrigens zumindest punktuell denen der AfD ähneln, opfern werden, um den Kanzler stellen zu können.


Kein Grund zur Euphorie


Ob diese Nachgiebigkeit sich auszahlt, ist noch nicht sicher, da die Grünen in einem Zustand der Amnesie verharren, den einstigen Pazifismus zugunsten einer machtwilligen Interventionspolitik „vergessen“ und den früheren Abscheu vor den Kapitaldienern der Union gegen einen Flirt mit vielen Protagonisten des herrschenden Systems eingetauscht haben.


Natürlich gab es auch ein paar erfreuliche Resultate einer oberflächlichen Wahlkampagne. Bereits im Vorfeld wurde verhindert, dass der Rechtspopulist Söder aus Bayern zur Eroberung Berlins aufbrechen durfte. Dubiose Gestalten wie Landwirtschaftsministerin Klöckner, Konzernfreund und Wirtschaftsressortchef Altmaier (der ausgerechnet gegen den SPD-Serienverlierer Maas unterging) oder der Zauberlehrling Amthor in seiner Doppelrolle als Lobbyist und Volksvertreter wurden von den Wählern abgestraft. Überhaupt erlebte die Union ein Desaster von ungeahnten Ausmaßen.


Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlass, gehen doch die linken Kräfte geschwächt aus der Wahl hervor. Wenn jetzt um Kompromisse gefeilscht wird und hinderliche Überzeugungen in hohem Tempo fallengelassen werden, nur um Regierungsposten zu besetzen, ist es durchaus möglich, dass aus dem angekündigten sozialen und ökologischen Wandel ein kosmetischer Pinselstrich wird. Es könnte sogar sein, dass alles insgesamt rückwärts läuft.

10/2021

Dazu auch:

Warum denn wählen? hier direkt  im Anschluss





Warum denn wählen?


Wenn am nächsten Sonntag der Wähler, der vermeintliche Souverän, das letzte Wort gesprochen haben wird, platzen kurz darauf die hehren Wortblasen der Parteien und ihrer Kandidaten sowie die Ballons großer Ankündigungen. Dann geht das Hin und Her um eine Regierungsbeteiligung und das Geschacher um die Posten wieder los, und manche unverrückbar scheinende Position wird nach geheimen Verhandlungen stillschweigend geräumt, um die Partizipation an einem widersinnig zusammengestoppelten Kabinett nicht zu gefährden. Die TV-Sender und Zeitungen ergehen sich eifrig in Mutmaßungen und Farbspielen. Was sollen sie auch machen? Inhaltliche Aussagen der Bewerber hatten Seltenheitswert.


Die FDP als Beifang


Es sollen die spannendsten Bundestagswahlen seit deutschem Menschengedenken werden. Zumindest für den personellen und parteilichen Wettbewerb mag das zutreffen: Noch nie meldeten gleich drei KandidatInnen mit gewisser Plausibilität ihren Anspruch an, KanzlerIn zu werden, und selbst noch der niederbayerische National-Folklorist Hubert Aiwanger hat mit seinen Freien Wählern eine Außenseiterchance, ins Parlament einzuziehen.


Die bunte Gemengelage lenkt allerdings davon ab, dass es inhaltlich recht dröge zugeht, ja dass es so aussieht, als hätten die meisten Parteien und Politiker ihre Überzeugungen in der Besenkammer gelassen oder wenigstens bis zur Unkenntlichkeit modifiziert. Umgang mit der Pandemie? Die Meinungen unterscheiden sich nur in Nuancen; lediglich wenn es um Versäumnisse oder Skandale, etwa bei der Maskenbeschaffung, geht, kommt Stimmung auf. Afghanistan-Debakel? Die Opposition ätzt, doch die noch regierende Koalition gibt reumütig Fehler zu, nicht ohne zu suggerieren, dass die anderen es auch nicht besser gewusst hätten. 


Im RTL-Triell überboten sich Armin Laschet, Olaf Scholz und Annalena Baerbock geradezu in Bekenntnissen zur Aufrüstung der Bundeswehr.

Was der anstehenden Wahl tatsächlich einen sonderbaren Aspekt verleiht, ist der Umstand, dass man – egal, für wen man im bürgerlichen Spektrum votieren möchte – die FDP als Beifang dazubekommt, ob man nun will oder nicht. Nachdem die Volksparteien CDU/CSU und SPD auf Schrebergartengröße geschrumpft sind, die Grünen diese aber dennoch nicht überholen konnten, wird man die reine Lehre des Neoliberalismus in jedes Kabinett holen, ob unter einem Unionskanzler, einem SPD-Regierungschef oder (eher unwahrscheinlich) einer grünen Regentin. Eine Konstellation, die dies ausschlösse, wäre denkbar, ist aber wohl nicht erwünscht.    


Die linke Option: unwahrscheinlich


Schon 2013 wäre eine Koalition von SPD, Grünen und Linken möglich gewesen, doch scheuten die Sozialdemokraten vor dem Experiment zurück und begaben sich lieber in Unionsknechtschaft. Auch diesmal ist eine rot-rot-grüne Option unwahrscheinlich, steht Kanzlerkandidat Olaf Scholz doch dem Marktfanatismus der FDP erheblich näher als den sozialen Forderungen der Linken. Zudem träumen sowohl SPD als auch Grüne von einer mächtigeren Bundesrepublik, die sich trotz der Katastrophe von Kabul international  noch aktiver und expansiver einmischen soll, auch militärisch. Deshalb stoßen sich Scholz und Baerbock an der pazifistischen Haltung der Linken und deren Skepsis gegenüber der NATO.


Es sollte in einem politischen Diskurs eigentlich erlaubt sein, die Bündnisverpflichtungen eines Landes kritisch zu hinterfragen. Die NATO hat die gegenüber Gorbatschow gemachten Zusagen, sich nicht bis zu Russlands Grenzen auszubreiten, gebrochen, eine fatale Rolle in Libyen, im Irak und jetzt in Afghanistan gespielt und sich nicht gerade als friedenssichernde Macht profiliert. Dennoch verbitten sich Sozis und Grüne jeglichen Zweifel an der deutschen Mitgliedschaft, wollen den Linken bei diesem Thema einen Maulkorb umhängen, ganz so, als verstießen diese sonst gegen das Grundrecht auf ein nordatlantisches Aggressionsbündnis.


Sozialpolitisch ähnelt die Linke der klassischen Sozialdemokratie (während die SPD in den Neoliberalismus light enteilt ist). Ein grundlegender Wechsel wäre also von einer rot-rot-grünen Regierung nicht zu erwarten, wie auch das Vorbild auf Länderebene in Berlin belegt. Der positive Aspekt einer solchen Koalition bestünde darin, dass durch sie potentielle Horrorszenarien verhindert würden.      


Wählen, um Schlimmeres zu verhindern


Stellen wir uns nur die Umwelt- und Klimapolitik eines von der Union und der FDP dominierten Kabinetts vor: Straßen- und Autobahnbau würden zügig durch PPPs (Private Public Partnerships), in denen Versicherungen und Banken den Ton angeben und Gewinne einstreichen, während der Staat das Risiko trägt, vorangetrieben. Was an Wäldern noch übrigbleibt, wird nach den Vorstellungen der Holzwirtschaft, die von CDU/CSU-Funktionären mit Forstbesitz dominiert wird, ausgedünnt. Die großen, monokulturell pflanzenden Landwirtschaftsbetriebe und die Massentierhalter dürfen weiterhin auf Subventionen hoffen und nach Herzenslust den Boden bis zur Grundwasserverseuchung überdüngen und Insektizide bzw. Antibiotika einsetzen.


Als Allheilmittel gegen den Klimawandel sieht die FDP den EU-Emissionshandel, denn der ist marktgerecht. Zwar wird dadurch der Ausstoß von Treibhausgasen nicht wesentlich gesenkt, zwar werden dabei Kohlekraftwerke gegenüber effizienteren Gasanlagen bevorzugt, doch es lässt sich trefflich mit Emissionszertifikaten handeln, spekulieren und – Erstes Gebot der liberalen Gesetzestafeln! – Geld verdienen.

Eine solche Regierung wäre den Vorständen von Autokonzernen und Rüstungsunternehmen noch angenehmer als die letzten Koalitionen, und die hatten sie auch schon lieb. Natürlich würden die Wirtschaft und ihre Lobbyisten auch bei anderen Konstellationen Mittel und Wege finden, ihre Vorstellungen in die Kabinettsbeschlüsse einfließen zu lassen, doch das wäre schon mühsamer und auch nicht immer bombensicher.


Manch eine/r wird sich nun fragen, warum er sich denn überhaupt zum Wählen aufraffen soll, wenn sich am System doch nichts Grundlegendes ändert. Richtig ist, dass wir, egal mit welcher Koalition, am Morgen nach dem Urnengang wieder im Turbo-Kapitalismus aufwachen werden. Richtig ist aber auch, dass sich die soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit, der Zustand der Umwelt oder die klimatischen Bedingungen, also die Lebensbedingungen generell, innerhalb unserer Wirtschaftsordnung spürbar verschlechtern können, was nicht zu einer Revolution, sondern zum Aufleben von Ressentiments und zur endgültigen Entsolidarisierung führen würde. Wir stimmen also ab, um die größeren Übel zu verhindern, nicht weil wir an Parteien und ihre Programme glauben. Und wir stimmen ab, um die AfD wenigstens im Parlament klein zu halten, wenn schon die Hälfte des deutschen Volkes im Stillen deren Ausländerfeindlichkeit teilt.

09/2021  



   


SCHWARZROTBLECH


Kürzlich fiel mir eine Broschüre in die Hände, mit der die Bundesregierung offenbar regelmäßig einige (welche?) Bürger beglückt, um ihnen ausgewählte Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens erklären zu können. Die Nr. 2/2021 nahm sich ein im politischen Alltag und im Bewusstsein beträchtlicher Bevölkerungsteile zunehmend in den Hintergrund rückendes Sujet vor: Demokratie. Hier ein paar ungeordnete Gedanken zur Umsetzung des ambitionierten Vorhabens.


Versuch über eine schräge Titelseite


Die Demokratie ist eindeutig deutsch, ungebügelt und dreifarbig.


Die Grafik lässt den Trugschluss zu, dass die pittoreske Bundesflagge quasi das Symbol für die Volksherrschaft war, was weder die universale und interpretatorische Vielfalt des Begriffs Demokratie berücksichtigt, noch die ein wenig fragwürdige Entstehungsgeschichte der deutschen Dreifarbigkeit. Es war die Urburschenschaft in Jena, die im Jahr 1815 das Trio Schwarz (für die Knechtschaft), Rot (für das blutige Abschlachten) und Gold (als Licht der so errungenen Freiheit) zu ihrer Trikolore wählte. Zu dumm, dass damals niemandem auffiel, dass das Sklaven-Schwarz auf der späteren Flagge oben thronte. Auch die Urheber fischten im Trüben: Die Burschenschaften hatten den deutsche Nationalstaat sowie gewisse bürgerliche Freiheiten propagiert, dabei aber bereits chauvinistische und antisemitische Tendenzen offenbart.


Die Art und Weise, wie die Deutschlandfahne auf dem Titel abgebildet wird, müsste jeden nationalbewussten Flaggenliebhaber unwillkürlich an den Paragraphen 90a des Strafgesetzbuches (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole) denken lassen: Völlig disproportioniert flattert das hehre Stück Tuch in absonderlichen Wellen am Mast, viel zu lang und zu schmal, wie ein Bettlaken oder ein fröhlich buntes Leichentuch.


Die Welt, wie sie sein sollte


Das Innere des von der Bundesregierung zum „Magazin“ hochgejuxten Blättchens erfüllt die negativen Erwartungen, die das Cover weckte, voll und ganz. Auf den mageren 24 Seiten der zweiten Ausgabe 2021 darf natürlich das Ghostwriter-Intro, mit dem die scheidende Kanzlerin die „lieben Leserinnen und Leser“ zum Leseschlaf einlädt, nicht fehlen, und – ganz  im Stile der großen Unverbindlichen - lässt sich wenige Seiten weiter eine Geschichtsprofessorin von der Bundeswehruniversität München über den nüchternen Charme der Demokratie aus.


Dann aber wird’s heikel. Ein Artikel mit der Überschrift „Demokraten in Uniform“ zeichnet das Idyll vom hohen Bewusstsein deutscher Cops, welches ein Ausbildungsleiter namens Joern Theissig mit frommen Wünschen garniert: „Polizeibeamtinnen und -beamte bekennen sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Menschenwürde und die Menschenrechte zu schützen, sind die wichtigsten Pflichten bei jedem Einsatz.“ Als hätte es nie rassistisches Profiling oder exekutive Übergriffe auf antifaschistische sowie pazifistische Demonstranten gegeben… Und auch die permanenten Entgleisungen rechtsradikaler Ordnungshüter werden in dem zuckersüßen Report ignoriert, mündet der doch in die lapidare Feststellung: „Extremistisches Gedankengut hat keinen Platz in den Reihen der Polizei und wird nicht geduldet.“ So geschönt wird eine Welt dargestellt, wie sie sein sollte, und nicht eine Welt, wie sie ist, in welcher der Staat, vertreten durch Herrn Seehofer, die Untersuchung rassistischer Strukturen in der Polizei gegen nationale wie internationale Forderungen kategorisch ablehnt.


Fünf Seiten lang beantworten zwei ProtagonistInnen der publizistischen und wissenschaftlichen Elite ziemlich belanglose Fragen der Redaktion. Christoph Möllers, der einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht in Berlin innehat, schwebt über den Problemen, wenn er feststellt: „Ich halte es für ein Problem, wenn sich viele Menschen ausschließlich für ein Thema, zum Beispiel den Klimaschutz, engagieren. Damit arbeiten sie am Parteiensystem vorbei und vergeben letztlich auch eine Chance auf Einfluss.“ Er fordert, dass „alle Einzelfragen gegen alle anderen Einzelfragen abgewogen werden und in Ausgleich gebracht werden müssen“.


Davon abgesehen, dass man/frau den Menschen, die den Parteiensumpf auf der Suche nach Problemlösungen umgehen, nur gratulieren kann, geht Möllers Wunsch, nach den Vorgaben eines dialektischen Besinnungsaufsatzes in der zwölften Klasse zu agieren (Die Rettung der Umwelt „fair“ gegen die Interessen der Autobauer abgewogen), auch inhaltlich in die Irre: Der Klimawandel bedroht unsere sozialen und ökonomischen Grundlagen, wird die friedliche Koexistenz von Staaten, Regionen und letztlich all die schönen Formen von Demokratie zunichtemachen.


Dass der Rechtsprofessor nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint, belegt eine putzig naive Einschätzung: „Aber zur Demokratie gehört auch die Demut, dass wir die Dinge nur sehr begrenzt in unserem Sinne verändern können. Unter Gleichen hat jeder gleich viel oder gleich wenig zu sagen.“ Da werden sich die die Chefs von Daimler, Siemens oder Bayer aber wundern, dass sie mit all ihren Lobbyisten und Zuwendungen an Politiker auch nicht mehr erreichen können als Lieschen Müller aus Wuppertal. Dachten sie nach der (flüchtigen) Lektüre von George Orwell („Animal Farm“) doch immer, sie seien bei der demokratischen Entscheidungsfindung etwas gleicher als die anderen.


Skeptischer gegenüber der real existierenden Demokratie zeigt sich die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke, die in der SZ tiefsinnige Kommentare schreibt: „Es braucht mehr Gegenwehr gegen soziale Ungleichheiten und mehr Anerkennung der Vielfalt.“ Allerdings ist dies eine sehr defensive Argumentation. „Gegenwehr“ impliziert, dass sich die Ungleichheiten bereits auf dem Siegeszug befinden. Soziale Rückzugsgefechte helfen wenig, wenn die systemischen Grundlagen nicht per se als ungerecht erkannt und benannt werden.


Eine Drohung zu guter letzt


Ein Bericht über den Jenaer Verein Drudel 11, der ziemlich erfolgreich jungen Menschen zum Ausstieg aus der Neonazi-Szene verhilft und ihnen Perspektiven in der Ausbildung oder Berufswelt bietet, ist noch der erfreulichste Beitrag in einem PR-Blättchen, das sich ein gewaltiges Thema, eben die Demokratie, vorgenommen hat, aber wesentliche Komponenten und Versäumnisse außen vor lässt. So schweigt SCHWARZROTGOLD in diesem Beitrag höflich tot, dass seine Herausgeberin, die Bundesregierung nämlich, das gegen die braune Renaissance gerichtete Wehrhafte-Demokratie-Gesetz nicht verabschiedet hat, weil die Union argwöhnte, dass die nötige Aufklärung vor allem von kritischen und linken Geistern forciert werde.


Aufgrund der bewusst lückenhaften Information über den Stand der Demokratie hierzulande und eines fast peinlichen Nabelschau-Euphemismus  (ganz so, als feiere sich Disneyland verlegen als Heimat des kritischen Denkens) wirkt das Gold im Farbenspektrum der deutschen Regierung reichlich blechern. Im Grund ist ein solch belangloses und sicher nicht kostengünstiges Medienprodukt ein Fall für den Bundesrechnungshof, der die Verwendung von Steuergeldern prüft.

Die Rückseite des Machwerks ähnelt einer Drohung – in die Form eines Werbeslogans der Bundesregierung für ihren Podcast Aus Regierungskreisen gegossen. „Politik erklärt von denen, die Politik machen.“ Dass nach dem ersten Wort ein Komma fehlt – geschenkt; gutes Deutsch war den Mächtigen im Lande immer schon fremd. Wenn aber diejenigen, welche den Schlamassel angerichtet haben, diesen danach auch noch für andere interpretieren dürfen, ist Vorsicht angezeigt.

08/2021

Dazu auch:

"Deutscher Sang" im Archiv der Rubrik Medien (2015) 



   



Afghanisches Roulette


Bei ihrer Flucht aus Afghanistan ließ die Bundeswehr aus Logistikgründen die einheimischen Helfer zurück und setzte sie so der Rache der Taliban aus. Im Gegensatz dazu klappt es bei der „Rückführung“ von Flüchtlingen aus Deutschland nach Kabul erstaunlich gut mit dem Transport. Die Islamisten werden mit der blutigen Abrechnung kaum mehr nachkommen.


Geflohene? Kollaborateure? Egal!


Dass die Taliban barbarisch mit all jenen umspringen, die ihre Vorstellungen vom archaischen Islamismus nicht teilen wollen oder sich ihrer fundamentalistischen Umgestaltung der Gesellschaft widersetzen, ist hinlänglich bekannt. Wie grausam und bedenkenlos sie Rache nehmen, weiß man spätestens, seitdem sie den Ex-Präsidenten Nadschibullah, unter dem Afghanistan nach dem Abzug der sowjetischen Truppen für wenige Jahre einen Hauch von Hoffnung verspürt hatte, 1996 aus dem UNO-Hauptquartier holten, folterten und aufhängten.


Für die Taliban sind Bedienstete der fremden Truppen, aber auch der westlichen Hilfsorganisationen, mögen sie als Dolmetscher, Service-Kräfte oder Wachleute gearbeitet haben, Kollaborateure, ebenso wie die Landsleute, die sich zum ungläubigen Feind, d. h. in den Westen, geflüchtet waren und nun nach Afghanistan zurückgeschickt werden. Sollten die Taliban wieder in Kabul an die Macht gelangen, drohen all diesen Menschen, die nach jedem Strohhalm gegriffen hatten, um dem Mittelalter-Islamismus zu entkommen, Vergeltungsmaßnahmen bis hin zur Exekution.


Und es sieht ganz so aus, als ob es so käme. Nach neueren Einschätzungen von US-Militärkreisen kontrollieren die Taliban bereits 250 der 400 afghanischen Distrikte weitgehend, ihre Verhandlungen mit dem Kleptokraten-Regime in Kabul sind nichts als eine Hinhalte-Farce. Insofern verwundert das Resümee von Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (und noch mehr das Fehlen des Widerspruchs seitens der meisten deutschen Medien): „Ein historisches Kapitel geht zu Ende, ein intensiver Einsatz, der die Bundeswehr gefordert und geprägt hat, bei dem sich die Bundeswehr im Kampf bewährt hat.“


Kein Platz für Menschen


Eine Niederlage wird zum „historischen Kapitel“ schöngeredet, das Einigeln bei Masar-i-Sharif zum „intensiven Einsatz“ hochstilisiert, und die Bundeswehr hat sich „im Kampf bewährt“, bei dem ihnen außer einem Massaker mit ca. hundert toten Dorfbewohnern nichts Entscheidendes „gelungen“ ist. Die Truppenführung setzt noch eins drauf und feiert sich selbst für eine logistische Meisterleistung, also dafür, dass die Flucht mit 1300 Containern auf dem Luftweg glückte.


In diesen Behältern wurde von Munition, Waffen und Fahrzeugteilen bis hin zu Duschvorhängen und Spirituosenbeständen (von denen eigentlich niemand wissen sollte) so ziemlich alles abtransportiert, was die (kurzzeitige) Präsenz westlicher Zivilisation am Hindukusch symbolisierte. Solche Frachtmengen beanspruchten viel Raum in den riesigen Antonov-Flugzeugen, sodass für afghanische Mitarbeiter kein Platz mehr blieb. Obwohl bereits über 300 solcher „Ortskräfte“ im Dienste der westlichen Interventionstruppen und Hilfsorganisationen von den Taliban umgebracht worden waren, ließ man das einst umworbene Personal schutzlos zurück – und nicht nur aus logistischen Gründen. Die Mohren haben ihre Schuldigkeit getan, die Mohren können bleiben…


Dabei hatte sich die Bundesregierung anfangs höchst kulant gegeben. Die Bundeswehr habe Visaformulare nach Masar-i-Scharif geflogen, wo eine „Anlaufstelle“ für die einheimischen Unterstützer eingerichtet werde. Dieses Büro wurde aus „Sicherheitsgründen“ nie eröffnet, weil die Taliban die Stadt bereits eingeschlossen hatten. Also müssen sich die Helfer aus dem Norden durch Gebiete, die längst von den Islamisten eingenommen wurden, ins rund 450 km entfernte Kabul durchschlagen und dort Asyl beantragen. Wer das schafft, ist keineswegs auf der sicheren Seite. Bei einer Einzelfallprüfung muss er nachweisen, dass sein Leben konkret von den Taliban bedroht ist. Logische Überlegung und gesunder Menschenverstand reichen deutschen Konsularbeamten nicht, ein (kaum aufzutreibender) Beleg für das Offensichtliche muss her. Überspringt ein afghanischer Mitarbeiter dennoch diese Hürde, braucht er Geld. Das Flugticket nach Deutschland muss er nämlich selbst bezahlen.  


Ein „Spiel“ um Leben und Tod


Die „logistische Meisterleistung“, bei der Schnaps sowie Panzer gerettet und Menschen ihrem Schicksal überlassen wurden, bedeutet aber keinesfalls das Ende des amtlichen Flugverkehrs zwischen Afghanistan und Deutschland. Zwar landet hierzulande nach wie vor kein Transporter mit Flüchtlingen an Bord, doch starten von hiesigen Airports weiterhin „Sammelflüge“, mit denen bislang rund 1200 Afghanen zurück nach Kabul verfrachtet wurden. Nur bei einem Teil von ihnen handelt es sich um Straftäter, die anderen sind Azubis, die von der Polizei aus der Berufsschule geholt wurden, oder Handwerksgesellen, die ungeachtet ihrer Integrationsfortschritte und der Lebensgefahr, die ihnen in der früheren Heimat droht, für „ausreisepflichtig“ befunden wurden.


Kein Medienaufschrei begleitet das unrühmliche Ende des zwanzigjährigen Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr mit den möglicherweise letalen Folgen für die einheimischen Hilfskräfte sowie die Abschiebung von Geflohenen in ein Hochrisiko-Land, gegen die mittlerweile sogar die Regierung in Kabul protestiert. Lediglich im Juli 2018 empörte sich die Presse ein wenig, als Innenminister Horst Seehofer zynisch frohlockte: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 - das war von mir nicht so bestellt - Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden." Wenig Resonanz hingegen erzielte Heiko Maas, Klassenprimus in der Zwergschule politischer Moral, als er Anfang dieses Julis befand: „Welche Auswirkungen das dann auf die Frage hat, ob Menschen noch abgeschoben werden können nach Afghanistan, wird man dann sehen. Bei dem, was wir bisher an Informationen haben, halte ich die bisherige Praxis aber nach wie vor für vertretbar.“


Eine solche Praxis erinnert an Russisches Roulette, jenes Spiel dekadenter Snobs aus dem vorigen Jahrhundert, bei dem man sich einen Revolver mit sechs Patronenkammern, von denen nur eine geladen war, an die Schläfe hielt und hoffte, dass man beim Abdrücken nicht die fatale Kammer erwischte. Die deutschen Verantwortlichen spielen dieses Spiel mit Abschiebeflüchtlingen. Allerdings lassen sie die Revolver von anderen (den Taliban) auf deren Köpfe richten. Auch dürfte in Afghanistan nicht nur eine Patrone in der Trommel stecken.

07/2021

Dazu auch:

Zwischen allen Stühlen im Archiv von Medien (2021)

Afghanische Orakel im Archiv von Politik und Abgrund (2019)






Ciceros Feindbild


Die NGO Greenpeace hat eine Dummheit begangen: Sie ließ zu, dass einer ihrer Aktivisten vor dem EU-Spiel Deutschland gegen Frankreich eine Bruchlandung in der Münchner Allianz-Arena baute, dabei sein eigenes Leben und potentiell das anderer gefährdete, dass er außerdem auf diese Weise eine Brachialreaktion seitens der Sicherheitskräfte hätte auslösen können. Zum radikalen Ankläger der Naturschutz-Organisation fühlt sich nun aber Cicero, das Zentralorgan des neoliberalen Konservatismus, berufen. Es fordert indirekt, dass die Finanzämter Greenpeace den Status der Gemeinnützigkeit aberkennen – als handle es sich bei seinen Redakteuren wie Autoren um Experten für gesellschaftliche Solidarität und um Richter über deren Kriterien.


Nomen ist ein bisschen Omen


Es war eine selten dämliche Aktion, die sich Greenpeace ausgedacht hatte, um kurz vor dem EM-Spiel gegen den DFB-Sponsor VW zu protestieren. Ein Fallschirmspringer sollte von seinem Gleitschirm aus einen Ballon ins Stadion schweben lassen. Da aber die Steuerung seines Luftgefährts versagte, musste er in der Allianz-Arena notlanden und verletzte zwei Menschen. Dass eine solche Aktion über einer Menschenmenge grundsätzlich hochriskant ist, da sie Terrorangst bis hin zur Massenpanik auslösen kann, schien den Verantwortlichen ebenso wenig klar wie die Tatsache, dass dieser an Pennäler-Übermut erinnernde Protest die Aversionen von Tausenden anwesender Fans sowie von Millionen vor den TV-Geräten, deren Hirne längst von nationaler Hybris und altrömisch anmutender Brot- und Spielesucht okkupiert worden waren, sich nur gegen einen Übeltäter richten konnte, und der hieß Greenpeace, nicht VW!


Die Umweltschutzorganisation hat zweifellos einen schweren Fehler begangen, doch die rechtsbürgerliche Hexenjagd, die nun begann, hat sie schon aufgrund früherer und auch aktueller Meriten nicht verdient. Natürlich meldete sich sofort Friedrich Merz, für den die Natur ein von BlackRock partiell geduldetes und von Finanzströmen entwässertes Reservat darstellt, zu Wort und forderte die Steuerbehörden dazu auf, Greenpeace die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Darin wurde er von einem weiteren üblichen Verdächtigen, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, unterstützt. Das hatte ja schon bei anderen unbotmäßigen NGOs wie Attac und der VVN prima geklappt.


Den gnadenlosen Vereinfachern sprang alsbald eine der exotischsten Erscheinungen in der deutschen Medienlandschaft bei. Cicero, das Magazin, das dem drögen Finanzbürgertum der Republik ein wenig intellektuellen Glanz verleihen soll, zitierte in seiner Online-Ausgabe den eher unbekannten Marburger Rechtsprofessor Sebastian Müller-Franken und nutzte dessen kategorisches Verdikt als Schlagzeile: „Finanzamt muss Greenpeace die Gemeinnützigkeit entziehen.“


Dubiose Allianz gegen freche Umweltschützer


Die klare Parteinahme gegen eine verdienstvolle, aber nicht unfehlbare NGO nötigt einen geradezu, den selbsternannten Moralhüter Cicero unter die Lupe zu nehmen. Zunächst fällt auf, dass einem Monatsmagazin mit einer verkauften Auflage von gerade mal 42.000 (Tendenz: kontinuierlich sinkend) ziemlich viel Aufmerksamkeit eingeräumt wird. Die ehemaligen Chefredakteure Weimer und Schwennicke saßen alle paar Wochen in der sonntäglichen Säusel-Talkshow Presseclub der ARD und gaben dort ihre Meinungen irgendwo zwischen rechter FDP und neoliberaler Union von sich. Es ging bei Cicero manchmal aber auch noch rechter als im national-konservativen Lager zu, vor allem, wenn sich Kulturchef Alexander Kissinger zu Wort meldete. Laut taz-Redakteurin Anne Fromm schreibe der „oft an der Grenze zum Rechtspopulismus“ und verteidige ausgesprochene Chauvinisten wie Thilo Sarrazin und Akif Pirinçci. Noch deutlicher urteilte Catalina Schröder von der Fachzeitschrift Journalist über Cicero. Hier werde „AfD-Gedankengut so elegant verpackt, dass es beim ersten Hinhören gutbürgerlich klingt“.


Der rechte Kurs von Cicero dürfte schon von seinen früheren Geldgebern goutiert worden sein. Der helvetische Ringier-Verlag, der auch das nationalistische Krawallblatt Blick in der Schweiz herausgibt, stand für die Anschubfinanzierung gerade. Inzwischen besitzt der Finanzmanager Dirk Notheis, der als CDU-MdL einst ein anrüchiges Geschäftle mit der baden-württembergischen Landesregierung getätigt hatte, die Hälfte der Verlagsanteile.


Noch ein Wort zum Namen des Magazins: Hier werden klassische Bildung und sprachliche Brillanz suggeriert, denn der altrömische Prätor und Konsul war einer der genialsten Redner und Briefeschreiber der Antike. In der politischen Praxis allerdings galt er vielen Zeitgenossen als opportunistisch und prinzipienlos, als Wendehals sozusagen. Viel Voraussicht bewies er auch nicht. Vor der Ermordung Cäsars setzte er auf das falsche Pferd und wurde dann von den Rächern auf der Flucht getötet.


Vergleich der Bilanzen


Gemessen an der FAZ ist Cicero als Organ des deutschen Kapitaladels natürlich ein kleines Licht, doch – ich zitiere ungern den Volksmund, hier aber zeigt er ausnahmsweise Treffsicherheit – „auch Kleinvieh macht Mist“. Die gesamtgesellschaftliche, aber von Einzelnen angeeignete Produktion, verbunden mit der „bedauerlicherweise“ hinzunehmenden Umweltzerstörung, und das Regiment eines freien Marktes, der viele Unfreie und wenige Profiteure kennt und sehr anarchisch daherkommt, sind für das Magazin und ähnliche Publikationen die grandiosesten Emanationen des gesunden Menschenverstands. Und wenn die Argumente ein wenig völkisch garniert werden - sei’s drum…


Cicero verteidigt also den gesellschaftlichen Status quo mit allen journalistischen Mitteln und goutiert Veränderungen nur, wenn sie der Macht der Investoren und dem Einfluss nationalkonservativer Politiker nutzen. Das Magazin setzt sich gewissenhaft für seine Sponsoren ein, hat aber trotz des Wohlwollens öffentlich-rechtlicher Sender nur eine recht überschaubare Verbreitung und kaum Resonanz außerhalb des neoliberalen Klüngels erreicht.


Im Vergleich dazu ist Greenpeace eine Institution von polit-ökologischer Relevanz, die NGO hat weltweit Standards für den Umweltschutz gesetzt und die Menschen erst auf die Bedrohungen durch den Raubbau an der Natur aufmerksam gemacht, auch wenn sie dafür aus einer Art moralischen Notstands heraus bisweilen ein Gesetz übertreten musste. Ohne Greenpeace gäbe es einige Arten weniger auf der Erde, wäre die Basisbewegung Fridays for Future kaum denkbar, hätte wohl auch das Bundesverfassungsgericht unlängst die Berliner Regierung nicht dazu gezwungen, die lauen Maßnahmen gegen den Klimawandel nachzubessern.

Dass so viel Engagement und Nonkonformismus den Zorn von Regierungen (und der ihnen ergebenen Medien) sowie die Rache der Staatsorgane heraufbeschwören, musste Greenpeace des Öfteren erfahren,  am drastischsten im Juli 1985, als der französische Auslandsgeheimdienst im Hafen des neuseeländischen Auckland einen Anschlag mit Haftminen auf das Schiff „Rainbow Warrior“, verübte, das zu Protesten gegen die Atombombenversuche der Grande Nation auslaufen sollte. Mehrere Menschen wurden verletzt, ein Aktivist starb.


Moralhüter, auf beiden Augen sehbehindert


Ganz so drakonisch ist die Bestrafung, die Cicero via Rechtsprofessor Müller-Franken lanciert, freilich nicht. Aber Daniel Gräber, der Autor des Artikels, ist Leiter des Wirtschaftsressorts, das sich in schöner Offenheit „Kapital“ nennt, und er lässt seinen „Experten“ die volle Härte des Staates gegen Leute, die regelmäßig gegen das Prinzip der unternehmerischen Allmacht verstoßen, fordern.


Aus der Fahrlässigkeit der Münchner Aktion von Greenpeace, die ohne den technischen Defekt vermutlich ungefährlich verlaufen wäre, macht der Staatsrechtler Müller-Franken ein Verbrechen mit finsterem Vorsatz: „Straftaten, bei denen Menschenleben riskiert werden, können auf keinen Fall als gemeinnütziger Zweck gelten.“ Davon abgesehen, dass der Magdeburger Jurist sich in der deutschen Sprache offenbar nicht recht wohlfühlt (denn eine Tat gilt nicht als Zweck, sie dient diesem allenfalls), greift er sich geschmäcklerisch ein winziges Detail im globalen Wirken einer NGO heraus, um deren Spendenaufkommen zu schmälern. Er sollte sich besser mit den Aktivitäten der gemeinnützigen Stiftungen von zwei Parteien, die Cicero besonders am Herzen liegen, beschäftigen:


-     Die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) der CDU leitete zwischen 1985 und 1995 fast sieben Millionen DM aus dem Entwicklungshilfeministerium an die südafrikanische Inkatha Freedom Party weiter, die dem Apartheid-Regime als fünfte Kolonne diente. Man könnte mit einigem Recht sagen, die KAS förderte die Rassentrennung mit Bundesmitteln.


-     Die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) der FDP unterstützte 2009 den Militärputsch gegen den gewählten Präsidenten Zelaya in Honduras und verbreitete Unwahrheiten über die Motive des Staatsstreichs. Im selben Jahr finanzierte die FNS eine Info-Veranstaltung mit klimaskeptischen Organisationen im Vorfeld der UN-Konferenz in Kopenhagen. Hauptredner war der US-Propagandist Fred Singer, der die Gesundheitsrisiken des  Tabakrauchens, die Existenz des Ozonloches und der menschengemachten globalen Erderwärmung sowie die Gefahren von saurem Regen und des Giftmülls leugnet.


Singer, der sich von Konzernen und Industrieverbänden für seine „Überzeugungsarbeit“ stets gut bezahlen ließ, passt einfach besser in die ganz eigene Vorstellung von Gemeinnützigkeit, die Neoliberale und damit auch Cicero oder Prof. Sebastian Müller-Franken hegen, als irgendwelche aufmüpfigen Naturschützer.

06/2021

Dazu auch:

Die Rache des Staates (2019) und Gemeiner Nutzen (2014) im Archiv dieser Rubrik






Verblödungstheorien


Myriaden von Infos, Fakten, Fakes und Halbwahrheiten erreichen uns via Internet, prägen oder unterwandern unser Bewusstsein, suggerieren uns einen Zustand des Globus, wie ihn andere sehen oder gerne hätten, extrem fürchten oder uns als real verkaufen möchten. Aus der schier unendlichen amorphen Masse von Äußerungen fischen sich am rechten Rand des Systems angesiedelte Netzwerker einzelne Sequenzen, verknüpfen sie sehr lose, füllen die beachtlichen Lücken mit dystopischen Phantasien und errichten so scheinbar logische, tatsächlich aber irrationale Gedanken-gebäude, genannt Verschwörungstheorien. Als ob die Welt nicht schon ohne solche Horrorszenarien fies genug wäre…


Aus Fakten Märchen erschaffen


Verschwörungstheorien sind Gedankenkonstrukte, mit deren Hilfe geschichtliche Entwicklungen, Gesellschaftsformen oder politische Ereignisse als Ergebnis der Konspiration einer Gruppe von Heimlichtuern, etwa einer „Elite“, eines Geheimbundes oder einer Glaubensgemeinschaft, erklärt werden sollen. Es handelt sich um Narrative, die mitunter einige plausible Partikel beinhalten, die mit dem Kitt der Mystifikation und der rigorosen Schuldzuweisung zu einem Gebilde zusammengeschweißt werden, das im Ganzen weder beweisbar noch logisch ist. Egal, kritische Revision und dialektisches Überdenken sind ohnehin nicht vorgesehen…


Damit wir uns recht verstehen: Es gibt Verschwörungshypothesen, und es gibt reale Verschwörungen. Erstere sind verifizier- bzw. falsifizierbare Anzeigen geheimer Missetaten, also auf ihren Tatsachengehalt hin zu überprüfen, während die tatsächlichen klandestinen Aktivitäten sich oft in Militärputschen oder mit bestimmter Intention begangenen Gruppenverbrechen manifestieren. Behauptungen von Zeitzeugen, wonach rechte US-Militärs und republikanische Politiker sich 1980 mit dem Mullah-Regime in Teheran verbündet hätten, um die Contras in Nicaragua mit Waffen zu versorgen und die Carter-Regierung zu schwächen („Irangate“), erwiesen sich als ebenso wahr wie Berichte über die CIA-Machenschaften in Guatemala, die 1953 einen Bürgerkrieg mit 200.000 Toten auslösten, oder über die infam inszenierten Schauprozesse, mittels derer Stalin in den 1930er und 1940er Jahren seine Gegner liquidieren ließ. Eine leibhaftige Verschwörung (mit einem Hauch kruder Phantasie) glückte der Bush-Administration, als sie dem Diktator Saddam Hussein den Besitz von Geisterwaffen unterstellte, um 2003 in den Irak einmarschieren zu können.

Derzeit haben Verschwörungstheoretiker wieder Hochkonjunktur, in den USA wie hierzulande. In Übersee interpretieren sie eine verlorene in eine gestohlene Wahl um, hierzulande glaubt man, die wahren Nutznießer der Corona-Krise entlarvt zu haben, und dämonisiert weltbekannte Kapitalisten, die doch nur so bedenkenlos und machthungrig taktieren, wie ihr Metier es ihnen vorschreibt.


Ein bisschen Wahrheit als Einstieg…     


Dass sich Microsoft-Gründer Bill Gates als Wohltäter der Menschheit und Bekämpfer von Krankheiten und Hunger auf aller Welt feiern lässt, ist dank allseits gewogener Berichterstattung mittlerweile internationales Allgemeingut. Dass er über sein Privatvermögen und seine Stiftungen aber Anteile an Pharma-, Chemie- und Agro-Konzernen hält, die in der Praxis seinen formulierten hehren Absichten entgegenarbeiten und mit partieller Naturzerstörung oder exzessiver Ausbeutung kleiner Pächter ordentlich Profit machen, hat einige Kritiker mit viel düsterer Phantasie und wenig analytischem Denkvermögen zu bizarren Spekulationen über seine wirkliche Verantwortung hinaus verleitet.


Gates trickst, manipuliert und monopolisiert nach Herzenslust – wie das seine Kollegen von Apple, Google, Facebook, aber auch Daimler und VW tun. Er strebt danach, sein digitales Monopol zu erhalten und  seinen politischen Einfluss auszubauen, vor allem aber will er den gesellschaftlichen Status quo, die Marktherrschaft der aktuellen Eliten zementieren. Das aber wollen Angela Merkel, Gerd Schröder oder Emanuel Macron auch, ohne dass ihnen deshalb jemand unterstellt, sie hätten Corona in die Welt gesetzt und wollten nun durch bei der Impfung implantierte Chips die Menschheit versklaven.


Aus dem AfD-Gruselkabinett kam der Vorwurf des Nürnberger MdB Martin Sichert, die Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock sei eine Marionette des Multi-Milliardärs George Soros, weil sie ein Foto mit ihm von der Münchner Sicherheitskonferenz auf Instagram  veröffentlicht hatte. Nun ist der greise Investor und Finanzjongleur tatsächlich eine Reizfigur – nicht nur für Rechten: Er wettete erfolgreich gegen Währungen, etwa das britische Pfund, dann gegen den thailändischen Baht, stürzte so Asien in eine schwere Währungs-krise, vernichtete die Existenzen Zehntausender von Einzelhändlern, trieb unzählige kleine Sparer in den Selbstmord und verdiente damit ein Riesenvermögen. Weil er heute in mehreren Ländern Institute und Privat-Unis, an denen strenger Wirtschaftsliberalismus gelehrt wird, unterhält und – wie Bill Gates – NGOs Spenden zukommen lässt, wurde er von den Medien zum „Philanthropen“ geadelt.


Dass Soros die geopolitischen Geschicke mitbestimmen möchte, obwohl er sich eher als Zerstörer denn als Förderer von Volks-wirtschaften geoutet hat, entspricht strikt kapitalistischer Logik sowie Vorgehensweise und darf nicht zur fiktionalen Verzerrung seiner Person führen. Soros strebt nicht die Weltherrschaft an, er will das Stück daran verteidigen, das ihm der „freie“ Markt zugespielt hat, und dies ist vom kapitalismusfrommen Wirtschaftsprogramm der AfD voll gedeckt. Der Vorwurf, Baerbock lasse sich als Strohfrau missbrauchen, ist regelrecht absurd. Die Grünen brauchen keinen George Soros als Paten, um unser gegenwärtigen Macht- und Wirtschaftssystem verinnerlichen zu können, sie haben sich ihm bereits längst mit Inbrunst ergeben. Ein System übrigens, das auch viele Verschwörungstheoretiker nicht rundherum ablehnen, dessen sozialdarwinistischen Charakter sie nur gern geschärft sähen.


Wenn rechtsradikale Phantasten aber Soros attackieren, rekurrieren sie oft auf einen Umstand, der in der Sache bedeutungslos ist, im Kontext von Hass, Rassismus, Minderwertigkeitskomplexen und Zukunftsängsten jedoch aus Verschwörungstheorien Zeitbomben von vernichtender Sprengkraft machen kann, wie die Vergangenheit belegt: Obwohl dies mit seinem Geschäftsgebaren nicht das Mindeste zu tun hat, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass George Soros Jude ist.


Von der Verleumdung zum Massenmord


Die systematische Verdrehung von Tatsachen ist nur in Schelmen-romanen, etwa im „Gargantua und Pantagruel“ von François Rabelais (daher rabulistisch), originell und lustig, in der Realität kann sie hochgefährliche Situationen heraufbeschwören, wie wir nicht erst seit dem Aufmarsch rechter Milizen nach Trumps absurder Behauptung, er sei um den Wahlsieg betrogen worden, wissen. Kamen in früheren Krisenzeiten frei erfundene Bezichtigungen auf der Suche nach einem Sündenbock hinzu, war dem Massaker durch den fanatisierten Pöbel der Boden bereitet.


Im Mittelalter wurden während der Pestepidemien die Juden völlig grundlos beschuldigt, die Seuche entfesselt, die Brunnen vergiftet und christliche Kindlein gemeuchelt zu haben. Die fürchterlichen Pogrome, die darauf folgten, machten ganze Regionen zu „judenfreien Zonen“. Berufen konnten sich die frommen Henker auf das Wort Gottes, speziell das Matthäus-Evangelium, in dem der Befehl des Herrschers Herodes, alle männlichen Babys im Heiligen Land umbringen zu lassen, um so den kleinen Jesus zu liquidieren, kolportiert wird. Dass diese Begebenheit nie stattgefunden hat, ficht wehrhafte Christen bis in unsere Gegenwart hinein nicht an. Für sie waren (und für einige sind) die Juden per se Gottesmörder, was wieder einmal nahelegt, dass klassische Religionen und Sekten mit der für sie typischen deterministischen Auslegung der Wirklichkeit und ihrer zweckgerichteten Geschichtsklitterung zumindest in ihrer Genese den Verschwörungstheorien doch sehr ähnlich sind.


Den Nazis galten die 1903 aufgetauchten Protokolle der Weisen von Zion, ein Kompendium von Fälschungen aus der Feder verschiedener Autoren, als Beweis für ihre krude These von der jüdischen Welt-verschwörung – und so mancher Reichsbürger oder rechte Antisemit hierzulande glaubt noch heute an diesen Unsinn. Gefährlich jedoch können Verschwörungstheorien (oder sollte man angesichts der Schlichtheit der meisten Horror-Kreationen lieber von Konspirations-legenden sprechen?) auch für die eigenen Anhänger werden, wie sich in der jetzigen Pandemie erweist.


Von der Politik inspiriert


Wenn sich Zehntausende von Impfgegnern und Corona-Leugnern ohne Masken und Sicherheitsbestand versammeln, handeln sie nach eigener Überzeugung konsequent – und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen fahrlässig. Politiker haben den individuellen Spielraum eingeschränkt, und Politiker lügen. Letzteres ist nicht unbedingt von der Hand zu weisen, spielt aber in Covid-19-Zeiten eine untergeordnete Rolle. Die Verantwortlichen im Bund und in den Ländern handeln manchmal ungeschickt, oft zu langsam, bisweilen übereilt, je nachdem, wie sie sich mehr Zuspruch des Volkes erhoffen, und einige, vornehmlich in der Union, tricksen sogar, um sich ein wenig zu bereichern: bestimmte Alpha-Männchen wie Söder und Spahn haben sogar sichtbar Spaß an ihrer Lizenz, restriktive Maßnahmen zu verkünden und das öffentliche Leben ein wenig zu reglementieren. Und doch man kann ihnen allen nicht unterstellen, dass sie Corona erfunden hätten oder die Seuche nutzen würden, um eine Diktatur zu errichten.


Unehrlichkeit, Korruption, Intrigen und Absprachen werden in der bundesrepublikanischen Politik fast täglich aufgedeckt, doch sie dienen ganz prosaisch den Karrieren, dem Machterhalt und der Bedienung wirtschaftlicher Interessen. Sicherlich inspirieren diese Affären und Skandale Menschen, denen das System zu trocken und kompliziert erscheint, dazu, der kalten Berechnung einen mystischen Mantel umzuhängen, doch das von diesen Apokalyptikern heraufbeschworene Böse stammt weder aus Fantasy-Games noch aus dem Herrn der Ringe, es tummelt sich als informeller Austausch in Statistiken, Buchhaltungssoftware oder den Think Tanks der global agierenden Lobbyisten.


Die wirren Verschwörungsdetektive der Rechten mit dem Konfusionsmulti Ken Jebsen an der Spitze finden häufig ein Körnchen Wahrheit in umstrittener Materie, das sie dann mit der Besessenheit von Religionsstiftern und bedeutungsschwangerem Brimborium zu einem schillernden Ballon aufblasen und diesen vorzugsweise über Youtube, gern auch in Russia Today (Putin glaubt den Quark nicht, schätzt aber Verunsicherung) auf die Öffentlichkeit loslassen.


Seriöse Kritiker der NATO-Strategie oder der israelischen Siedlungspolitik finden sich plötzlich als Sympathisanten rechtsextremer Märchenonkel und Putin-Fans diffamiert, auch wenn ihre Analyse auf Tatsachen basiert und ihre Schlussfolgerungen in eine ganz andere, jedenfalls nicht völkisch-mythische Richtung gehen.


Eine Gefahr, die Verschwörungstheorien mit sich bringen, besteht also darin, dass Menschen, die ernsthaft über strittige Themen recherchieren und in vielen Fällen Glaubwürdigkeit, Integrität oder Effizienz der maßgeblichen Politik aus gutem Grund (und nicht von Aversionen und Hassgefühlen geleitet) anzweifeln, mit sachlichen Argumenten und Fakten gegen die hysterische Meinungsmache in den social media kaum mehr durchdringen.


Das andere Dilemma ist, dass angesichts der aktuellen Verschwörungsinflation die Warnungen vor tatsächlichen konspirativen Aktivitäten, wie sie gerade im rechtsextremen Umfeld, das so gerne Angehörige ethnischer Minderheiten und politische Gegner als finstere Illuminaten denunziert, verstärkt zu beobachten sind, nicht mehr ernstgenommen werden. Das braune Netzwerk des NSU aber war keine kranke Fiktion, sondern mörderischer Ernst, und die Vorbereitung der Prepper, der Munition hortenden Elite-Soldaten, der Uniter-Mitglieder und wohlbewaffneten Reichsbürger auf einen Tag der Abrechnung könnte unversehens von der bloßen „Putsch-Theorie“ zur blutigen Realität werden.

05/2021

Dazu auch:     

Die Gottgleichen im Archiv von Politik und Abgrund (2020)

„Reichsbürger“ im Archiv der Rubrik Medien (2017)





Patent vor Leben

 

Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass unserer „freien“ Marktwirtschaft kein soziales Korrektiv innewohnt, dass sie somit nicht in der Lage ist, dringende Menschheitsprobleme aus eigener Kraft zu lösen – die Corona-Pandemie hätte ihn geliefert. Die Forschung hat ihre Schuldigkeit getan und rasch wirksame Impfungen ermöglicht, aber der neoliberale Ungeist der Gewinnmaximierung um jeden Preis verhindert, dass die dringend benötigten Vakzine zu jedem Menschen an jedem Ort der Erde gelangen, wie das erschütternde Beispiel Indiens zeigt.

 

Menschenfreundliche Narren

 

Dass der schottische Arzt Alexander Fleming in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen das Wachstum bestimmter Mikroben hemmenden Schimmelpilz entdeckte und erforschte, sollte wenig später Hunderttausenden, vielleicht Millionen von Soldaten im Zweiten Weltkrieg sowie unter bakteriellen Infektionskrankheiten leidenden Menschen das Leben retten. In streng kapitalistischem Sinn hatten Fleming und seine Kollegen allerdings wie Trottel gehandelt, indem sie ihr Wissen der Welt frei zur Verfügung stellten, statt ihren Wirkstoff Penizillin, Urquell aller Antibiotika, patentieren zu lassen und viel Geld damit zu verdienen.

 

So dumm wollten der US-Gigant Pfizer, sein deutscher Juniorpartner BioNTech und andere Pharma-Giganten, die erfolgreich nach Vakzinen gegen das Corona-Virus gesucht hatten, nicht sein. Sie meldeten die Patente an, füllten ihre Kassen mit exorbitanten Verkaufserlösen und bedienten die Wunschträume der Anteilseigner, Investoren und Spekulanten an den Börsen mit sensationellen Wertsteigerungen. Schließlich habe die Entwicklung der Impfstoffe über drei Milliarden Euro verschlungen, rechtfertigten die Manager ihre unbescheidenen Preis-kalkulationen, verschwiegen dabei aber, dass 90 Prozent dieser Kosten aus staatlicher Förderung in den USA und der Bundesrepublik stammten.

 

Was in unserer Marktwirtschaft als gesunder Geschäftssinn durchgeht, Profitmaximierung aufgrund eines weltweit überlebenswichtigen Bedarfs nämlich, kann in vielen Ländern zu Katastrophen bis hin zum Massensterben führen. Derzeit erleben wir am TV-Gerät oder im Internet live mit, wie sich in Indien die Covid-19-Pandemie zu tödlichsten Seuche der letzten Generationen entwickelt. Dafür verantwortlich ist zu einem erheblichen Teil eben jene Patentierung, die einst eingeführt wurde, um die geistige Urheberschaft und die in ein neues Produkt investierte Arbeit vor Nachahmern und Trittbrettfahrern zu schützen. Im Falle der Impfstoffherstellung aber wird dadurch das Kapital vor den Bedürftigen geschützt, wird Armen die Chance verweigert, die Mittel zu ihrer Rettung selbst zu fabrizieren.

 

Jene Marktordnung, auf die von der AfD über die Union und die geläuterte SPD bis hin zu den immer „wirtschaftlicher“ denkenden Grünen alle rechten und bürgerlichen Parteien schwören, ist das Gegenteil von Solidarität. Und bevor die von den westlichen Gesellschaften gehätschelten Pharma-Konzerne von ihren Patenten lassen, sollen erst einmal die Regierungen ein wenig Erste Hilfe leisten. Wie das wiederum aussieht, erfährt man ausführlich aus den Medien, wobei denen der Sinn für Relationen verlorengegangen zu sein scheint.     

 

Ein bisschen Sauerstoff statt Patenten

 

In Funk und Fernsehen kam es an erster Stelle der Nachrichten, in den Zeitungen beherrschte es die Schlagzeilen: Die Bundeswehr flog 150 Apparate für künstliche Beatmung nach Indien, wo es an Sauerstoff und Geräten für Hunderttausende schwer an Corona erkrankter Patienten mangelt. Natürlich ist selbst die geringste Hilfe zum Überleben auch nur weniger Menschen per se begrüßenswert, in diesem Fall aber drängt sich der Eindruck auf, die Bundesregierung wolle von ihrer Mitschuld an der verheerenden Situation in Südasien ablenken, und zwar durch den ominösen Tropfen auf den heißen Stein, den sie selbst mit zum Glühen gebracht hat.

 

Statt erst in höchst bescheidenem Umfang einzugreifen, als die Menschen in den Kliniken von Delhi oder Mumbai bereits im Sterben lagen, hätte sie mithelfen können, die Covid-19-Infektion von Abermillionen Indern von vornherein zu verhindern. Im Oktober letzten Jahres hatten Indien und Südafrika in der Welthandelsorganisation WTO beantragt, für die Dauer der Corona-Pandemie die Impfstoff-Patente auszusetzen. Mehr als hundert Länder, dreihundert gesellschaftliche Organisationen, von Amnesty International (AI) über Human Right Watch und Oxfam bis zu Medico International, sowie 175 Ex-Regierungschefs und Nobelpreisträger nebst dem WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus hatten diese Initiative unterstützt und die profitorientierte „Exklusivität“ der Pharma-Konzerne in einem Aufruf verurteilt: "Wenn sich die Situation nicht ändert, werden die Interessen und Gewinne einiger weniger das Schicksal der Mehrheit bestimmen."

 

Das Vorpreschen Indiens und Südafrikas machte durchaus Sinn. In beiden Staaten stellen moderne Fabriken Medikamente für internationale Konzerne sowie Generika in riesigen Mengen her. Das produktive Know-how und die technischen Kapazitäten wären also vorhanden, genügend Vakzine für die eigene Bevölkerung und darüber hinaus für andere Drittweltregionen bereitzustellen. Das allerdings würde auf dem Weltmarkt die hohen Preise für die Impfstoffe, die durch die derzeitige Knappheit und eben durch die Patente gewährleistet werden, empfindlich nach unten drücken.

 

Doch nun erhob die globalisierte Marktwirtschaft ihr scheußliches Haupt. Die USA, die EU (mit Deutschland an der Spitze) und Brasilien lehnten in der WTO das zeitweilige Einfrieren der Patente ab, was bedeutet, dass die Dritte Welt sich nicht selbst helfen darf und das Gros der Opfer stellen muss, wie eine halbe Million Neuinfizierter auf dem südasiatischen Subkontinent jeden Tag belegt. Gönnerhaft steht Berlin „Seite an Seite in Solidarität mit Indien“ (Kanzlerin Merkel), indem es für die Galerie ein paar Intensivstationen ausrüstet, während es den Impfschutz für die Massen verhindert. Ebenso scheinheilig klingt die Ankündigung aus dem Weißen Haus, man werde 60 Millionen Dosen AstraZeneca an arme Länder verschenken, Brosamen, die vom Tisch des gierigen Westens, der sich zwei Drittel aller Vakzine für sein knappes Sechstel der Weltbevölkerung gesichert hat, fallen, vor allem weil viele US-Bürger den schwedisch-britischen Impfstoff als zu gefährlich oder „unamerikanisch“ ablehnen.

 

Ganz wendet sich die EU aber nicht von Indien ab, lassen sich doch auch mit Kranken und Hungernden noch lukrative Geschäfte machen: Brüssel will endlich das seit 2013 auf Eis liegende Freihandelsabkommen unter Dach und Fach bringen und stärkt deshalb Premier Modi und den Hindu-Faschisten seiner BJP den Rücken, die den Schutz der Märkte für landwirtschaftliche Produkte aufheben wollen. Solche Deregulierungen sind ganz nach dem Geschmack der europäischen Agrar-Industrie, die gerne ihre Erzeugnisse zu niedrigen Kampfpreisen verkaufen und so en passant die indischen Bauern um Einkommen und Land bringen möchte. Dass die Proteste der einheimischen Farmer blutig unterdrückt werden, dass AI ein Ende der „brutalen Repression“ fordert, stört die EU ebenso wenig wie das dortige Massensterben aufgrund fehlender Corona-Impfstoffe.

 

Düstere Lehren aus der Pandemie

 

„Während Berlin und Washington damit Beiträge zur Symptombehandlung leisten, bewahren sie die Impfstoffpatente, die Indien echte Hilfe bringen könnten, für sich.“ So kommentiert die kritische Internet-Plattform German-Foreign-Policy die dürftigen Kompensationen, die Deutschland und die USA* leisten, um Konzerne, die beide Regierungen angesichts der potentiellen Marktmacht wohl als „systemrelevant“ einstufen, vor Gewinnverlusten durch praktizierte Menschlichkeit zu bewahren.

 

Die Hoffnung, die Gesellschaften in den Erstwelt-Nationen würden aus der Pandemie eine Lehre ziehen, sich solidarischer, nachhaltiger und intelligenter auf künftige Herausforderungen vorbereiten, war schon sehr bald verflogen. In kleinlicher Konkurrenz schottete man sich ab, balgte sich um Impfstoffe und vernachlässigte trotz pausenloser Lippenbekenntnisse die recht-, da besitzlose Mehrheit auf dem Globus. Hierzulande liefen Schaumschläger wie Spahn oder Söder zu großer Form auf, und die offiziösen Medien versäumten es, Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und die Skrupellosigkeit, mit der einige Parvenüs die Seuche für ihre eigenen politischen Ambitionen nutzten, zu entlarven. Und nirgendwo steht zu lesen oder ist zu hören, dass die globalen Konzerne während der Pandemie abgefeimter agieren, als es sich selbst die sozialistischen Theoretiker hätten vorstellen können.

 

Die Berliner Regierung aber ist stolz darauf, dass mit BioNTech ein mittelständisches Unternehmen per Patent Geld wie Heu scheffelt und träumt von einem neuen deutschen Global Player. Der US-Partner Pfizer ließ unlängst verlauten, er rechne mit einem Umsatzsprung von 15 Milliarden Dollar aus dem Verkauf des Impfstoffes, wobei die Gewinnmarge bei vier Milliarden liege. Die Zahlen von BioNTech dürften ähnlich ausfallen, teilen sich doch beide Unternehmen das Geschäft zu je fünfzig Prozent. So wird aus einem deutschen Mittelständler, der 2019 gerade einmal 110 Millionen Euro umsetzte, ein Pharma-Riese. Corona muss also nicht für alle schlecht oder gar tödlich sein…

 

Es ist gerade die Pharma-Branche, die den enthemmten Kapitalismus besonders rigoros repräsentiert. Mal verweigert sie Patente und verlängert so eine Pandemie, mal überschwemmte sie die Dritte Welt mit Medikamenten, die den Durchfall bei Slum-Kindern stoppen sollten und bewarb diese Produkte auch noch, als Mediziner und Entwicklungshelfer längst darauf hingewiesen hatten, dass der Organismus der unterernährten Kleinen von dieser „Hilfe“ letal überfordert wurde. Wer mehr über die bis zum Kapitalverbrechen konsequente Vorgehensweise der Medizin-Multis in unterentwickelten Ländern erfahren möchte, sollte den Roman „Der ewige Gärtner“ des britischen Autors und zeitweiligen Geheimdienstmitarbeiters John le Carré lesen. Gut, die Namen waren von ihm erfunden und die Handlung bedurfte dramatischer Effekte, aber ansonsten ist das Buch näher an der aktuellen Lebenswirklichkeit als sämtliche Wirtschaftsteile aller „seriösen“ Blätter…

 

*) Am letzten Mittwoch erklärte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai, dass Washington nun ebenfalls bereit sei, den Patentschutz für die Zeit der Corona-Krise auszusetzen, um „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen“. So erfreulich diese Einsicht ist – das monatelange Zögern vorher dürfte bereits Hunderttausenden das Leben gekostet haben. Dass sich die USA mit Verspätung generös zeigen, stößt bei einer treuen Verbündeten der Pharma-Industrie auf spontane Ablehnung: Bundes-kanzlerin Angela Merkel lehnt eine Aussetzung der Impfstoff-Patente weiterhin dezidiert ab. Einen Antrag der Linken-Fraktion, Impfstoff-Patente freizugeben, wies mittlerweile eine Bundestagsmehrheit zurück. Da scheinen selbst die Konzerne zartbesaiteter, jedenfalls überlegen sich einige, unter dem öffentlichen Druck einzulenken.

05/2021 

Dazu auch: 

Triple-Moral im Archiv dieser Rubrik (2020) 

 

 



Zwischen den Stühlen

 

Es gibt drängende politische oder wirtschaftliche Mega-Probleme, die auch nach eingehendster Abwägung nicht zu bewältigen sind, gordische Knoten sozusagen, für die sich weder ein Alexander noch ein passendes Schwert finden lässt. Nord Stream 2 und eine friedliche Lösung in Afghanistan wären zwei Beispiele für solche Konflikte. Wenn man sich aber nachdenklich und ehrlich ratlos zeigt, sitzt man unversehens zwischen den Stühlen, die von Wirtschaftsliberalen, Internet-Hysterikern und publizistischen Alleswissern besetzt sind. Auf deren Sitzmöbeln möchte man aber gar nicht Platz nehmen.

 

Fürsorgliche Erpressung

 

Widerstreitende Interessen, sich widersprechende Einschätzungen von Fachleuten und Journalisten sowie Sanktionen und Moralappelle charakterisieren die Auseinandersetzung um die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2. Wie intensiv man sich auch in die Materie einarbeitet, wie sorgfältig man das Pro und Kontra abwägt, man wird den Stein der Weisen nicht finden, ja es gelingt nicht einmal, einen relativ befriedigenden Kompromiss zu finden, zu verworren sind die Interdependenzen, zu undurchsichtig hängt alles mit allem zusammen.

 

Da sind die US-Regierungen (Trump wie Biden), die sich vorgeblich Sorgen um eine mögliche Abhängigkeit Westeuropas von russischen Rohstofflieferungen machen und doch nichts anderes im Sinn haben, als ihr höchst umweltschädlich gewonnenes Fracking-Gas ohne Konkurrenz aus dem Osten an die EU zu verhökern. Um ihre Sicht der Dinge den Deutschen plausibel zu machen, belegen die Vereinigten Staaten die am Bau der letzten Pipeline-Kilometer beteiligten Firmen mit existenzgefährdenden Sanktionen. Überhaupt scheint Washington von der Kanonenboot-Politik früherer Jahrzehnte abgekommen zu sein und sich mehr auf wirtschaftliche Erpressung bis hin zu Strangulation ganzer Volkswirtschaften verlegt zu haben.

 

Nun könnte man annehmen, die deutsche Entscheidung fiele leicht: Günstiges Gas aus Russland importieren und die sich als Regulatoren des angeblich so freien Marktes gerierenden USA in die Schranken verweisen! Ganz so einfach dürfte es aber nicht werden. Dass sich Geschäftspartner Putin innerhalb seines Machtbereichs allmählich vom autokratischen Regierungschef zum bedenkenlosen Despoten wandelt, würde die deutsche Wirtschaft natürlich nicht von einem Schnäppchen abhalten, zumal der Kreml-Kumpel des Chef-Lobbyisten Gerhard Schröder in Handels- wie Sicherheitsfragen als berechenbar und verlässlich gilt. Was aber wird aus den vollmundigen Klimazielen der Bundesregierung, wenn für die nächsten Jahrzehnte ein fossiler Brennstoff für ansehnliche Profite, günstige Heizkosten und dreckige Luft sorgt?

 

Es gehört zur Strategie der Spitzenpolitiker hierzulande, Lippenbekenntnisse en masse für die Klima- und Umweltrettung abzusondern und jede Menge Hintertürchen für gegenteilige Bedürfnisse der Wirtschaft offenzuhalten, handle es sich nun um die Zerstörung von Dörfern und Wäldern zugunsten der Förderung der letzten Braunkohle-Briketts, um die Planierung des Landes für einen aus dem Ruder laufenden Individualverkehr oder um die verschämten Andeutungen, die nicht bis ins Letzte beherrschbare Kernenergie mit ihren unvorhersehbaren Spätfolgen wieder ins Kalkül zu ziehen. Erdgas bis zum Abwinken, das durch eine obendrein den Schutz der Meeresfauna aushebelnde Pipeline in der Ostsee fließt, wird die feuchten Gewinnträume der Wirtschaft, diese schmuddelige Energiequelle bis zum letzten Heller auszubeuten, mit Sicherheit befeuern. Die vage Aussicht, die Röhren später für Wasserstoff zu nutzen, kann da auch nicht trösten, sind Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit dieser Kraftquelle doch noch längst nicht bewiesen.

 

Der Erpressung durch die USA nachgeben (und vielleicht auch noch deren Fracking-Gas abnehmen müssen) oder die billige Nutzung einer dreckigen Ressource auf Jahrzehnte festschreiben – so stellen sich derzeit die Optionen der deutschen Politik dar. Die Versäumnisse, die diese Sackgasse überhaupt erst zuließen, sind den Bundes- und Landesregierungen in den Jahren zuvor unterlaufen, als sie die Umstellung auf Sonne, Wind und Wasser zu zögerlich anleierten, bisweilen sogar behinderten, eine dezentrale (für Großkonzerne wenig profitable) Energieversorgung blockierten, gleichzeitig aber die Speicherung und den umweltverträglichen Leitungsbau vernach-lässigten. Der Mangel an Voraussicht und ökologischem Sachverstand stellt uns im Verein mit der Rücksichtnahme auf Lobby-Interessen nun vor die Wahl zwischen Pest und Cholera in einer entscheidenden Versorgungsfrage – eine „hausgemachte“ Zwickmühle.

 

Die schlechteste von null Chancen?

 

Noch verfahrener stellt sich die Lage Afghanistans dar, wo die an der 2001 begonnenen Intervention teilnehmenden Regierungen kein Gesicht mehr verlieren können, weil es ihnen schon längst abhanden gekommen ist. In der hoffnungslosen Situation eines Landes, in dem Neo-Imperialismus, Islamismus, Militär- und Handelsinteressen eine für den Regional- und Weltfrieden verhängnisvolle Gemengelage geschaffen haben, bietet sich wenigstens der Bundesrepublik eine nationale Teillösung auf: Raus mit der Bundeswehr aus dem Land! Vom Massaker an mehr als hundert armen Dorfbewohnern, die ein wenig Benzin klauen wollten, und dem Verlust von dreiundfünfzig eigenen Soldaten abgesehen, haben die Truppen zwanzig Jahre lang weder strategische Erfolge erzielt, noch brauchbare Spuren hinterlassen. Ein vollständiger Abzug würde kein ehrenhaftes, aber ein glimpfliches Ende des Irrsinns garantieren.

 

Wie aber soll insgesamt ein Krieg beendet werden, in dem sich so ziemlich alle Beteiligten die Hände schmutzig gemacht haben? Da in der machtpolitischen Logik unserer Zeit jedes Land geopolitisch oder zumindest militärtechnisch wichtig ist (sei es wegen seiner Rohstoffe, als Horchposten oder als ideologischer „Dominostein“), wurde auch der archaisch strukturierte Vielvölkerstaat am Hindukusch zum Objekt der imperialen Begierde. Nachdem Großbritannien bereits ausgangs des 19. Jahrhunderts weitgehend erfolglos versucht hatte, das Gebiet seinem Empire einzugliedern, scheiterte rund ein Jahrhundert später die UDSSR. Moskau hatte Truppen entsandt, um die zerstrittene und unfähige Kommunistische Partei Afghanistans an die Macht zu bringen und dort zu halten. Das entscheidende Motiv hierfür dürfte wohl weniger der Export des eigenen als sozialistisch etikettierten Bürokratismus gewesen sein als vielmehr die Errichtung eines Bollwerks gegen die Einkreisungsversuche seitens der NATO.

 

Was die Briten schon wussten, erfuhren nun auch die Sowjets und sollte wenig später die westliche Allianz, die das 9/11-Desaster per Invasion bestrafen wollte, hautnah erleben: Die Afghanen mögen sich unterschiedlichen (oft) verfeindeten Ethnien, Völkern oder Stämmen zurechnen – wenn aber wildfremde Eindringlinge ihr Land besetzen, wehren sie sich doch recht erfolgreich. Während der Besatzung durch sowjetische Truppen hatten die USA Islamisten, Drogenbarone und Warlords für den Kampf gegen den Feind im Kalten Krieg aufgerüstet. Diese teils fanatischen, teils skrupellos berechnenden Verbündeten, vom Eiferer Hekmatyar über den usbekischen „Blutsäufer“ Dostum bis hin zu dem posthum zum Helden verklärten Massoud, dessen Truppen für Massenmorde an Zivilisten verantwortlich waren, setzten dann den Krieg untereinander fort, bis Pakistan die noch rigideren, aber auch disziplinierteren Taliban in Marsch setzte. Als diese die Macht in Kabul eroberten, boten sie auch den Terroristen von Al Qaida Unterschlupf, was letztendlich zur Rechtfertigung des fruchtlosen westlichen Einmarschs diente.

 

Zwei deutsche Politiker haben die Intervention und die Beteiligung der Bundesrepublik daran unterschiedlich begründet: Der damalige SPD-Kriegsminister Peter Struck schwadronierte orientalisch-blumig, unsere Demokratie werde am Hindukusch verteidigt, während Ex-Präsident Horst Köhler ganz pragmatisch im Sinne der Wirtschaft davon sprach, dass es um die Freiheit der Handelswege gehe.

 

Einige schwache und korrupte afghanische Regierungen und viele Tote später müssen die hochgerüsteten Interventionskräfte zugeben, dass die Taliban, die man schon geschlagen wähnte, immer stärker werden und wohl inzwischen mehr als die Hälfte des Landes unter ihre Kontrolle gebracht haben. Donald Trump, der Niederlagen jeder Art persönlich nimmt, wollte prompt Fersengeld geben, die US-Truppen abziehen und die politischen Handlanger in Kabul, aber auch die wenigen Frauen, Künstler und Journalisten, die von der toleranteren Atmosphäre in einigen Regionen profitieren konnten, der Rache der Islamisten ausliefern.

 

Die westlichen Alliierten glänzten eher mit willkürlichen  „Kollateralschäden“ als durch militärische Siege gegen die Taliban. Möglicherweise fielen mehr harmlose Hochzeitsgesellschaften als feindliche Einheiten ihren Bombardements zum Opfer. In einem zwanzigjährigen Krieg von niedriger bis mittlerer Intensität, aber mit hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung, häuften nordamerikanische, britische und – wie zuletzt publik wurde – australische Soldaten Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, ohne auch nur in die Nähe eines endgültigen Triumphes über die Islamisten zu kommen.

 

Insofern muss man den sofortigen Abzug aller fremden Truppen aus Afghanistan fordern, gleichzeitig aber darf es keine Restauration der Taliban-Herrschaft mit Scharia und Pogromen gegen Andersgläubige und –denkende geben. Wie dieser Quadratur des Kreises, die durch die Fehleinschätzungen und Machtgelüste in der jüngeren Geschichte entstanden ist, beizukommen ist, steht in den Sternen. Nur den Deutschen kann man guten Gewissens raten, sich sofort vom Acker zu machen, denn im besten Fall lässt sich von ihnen sagen, dass sie in einer nutzlosen Mission dort waren; weniger wohlwollend könnte man ihnen auch bescheinigen, an der Chaotisierung der Lage mitgewirkt haben. 

 

Sollte die Bundesrepublik eine kleine humane Geste erwägen (was sehr unwahrscheinlich ist), könnte sie wenigstens den afghanischen Dolmetschern und Service-Kräften der Bundeswehr, die zu den ersten Opfern der Taliban nach deren Sieg zählen würden, Asyl in Deutschland anbieten – und weitere Ausweisungen von Flüchtlingen in ein Land, das sich für die eigene Armee als zu gefährlich erwiesen hat, unterlassen.

                    

Die Gewissheiten des Internet

 

Die Reihe der unlösbaren Weltprobleme wird immer länger, und ohne ein Geschichtsbewusstsein, das wenigsten ihre Genese ansatzweise erklärt, verlässt man sich bei der Beurteilung nur auf den „gesunden Menschenverstand“ und fühlt sich bald von allen guten Geistern verlassen. Man stellt Fragen und wartet vergeblich auf Antworten und eine Spur von Logik.

 

Wie kann es sein, dass ein leicht spinnerter Diktator wie Muammar al-Gaddafi ein tribalistisches Land wie Libyen in relativem Wohlstand zusammenhalten konnte, während seine rebellierenden Nachfolger es mit Hilfe der Großmächte in Krieg und Elend stürzten?

Warum straft die EU Russland wegen Putins Scheinprozess gegen Nawalny mit Sanktionen ab, während die Saudis, die Regimekritiker zerstückeln und den Jemen in die Steinzeit zurück bomben, glimpflich davonkommen und der Faschist Bolsonaro in Brasilien sowie der Massenmörder Duterte auf den Philippinen gänzlich ungeschoren bleiben?

 

Ganz sicher gehört Putin, der Oligarchenfreund und Gönner der Rechtsradikalen weltweit, zu den unappetitlicheren Figuren des Zeitgeschehens, aber wer zählt die Leichen in unseren Kellern? Hätten wir nicht angesichts der Komplizenschaft deutscher Botschafter und der Hilfestellung von Konzernen wie VW, Daimler oder Siemens bei Folter und Unterdrückung durch die lateinamerikanischen Militärregimes Sanktionen gegen das eigene Land fordern müssen? Wäre das nicht heute noch Pflicht angesichts der Verwicklung unserer Rüstungsindustrie in beinahe alle blutigen Konflikte der Erde?

 

So viele Fragen – und keine befriedigenden Antworten…

 

Doch, die Antworten gibt es, zwar keine lösungsorientierten und vernünftigen, aber doch die eigene Sturheit und Vorbehalte zementierenden. Man findet sie in den „sozialen Medien“, zusammengeschustert aus fragmentierten Informationen, reaktionären (und manchmal auch an Fantasy gemahnenden) Glaubensbekenntnissen und Verschwörungstheorien. Laut Internet steht der Feind stets dort, wo man ihn immer schon verortet hat, und man kann die eigene Meinung mit den passenden Horrorszenarien festigen und für andere „dokumentieren“. Zweifel am eigenen Tun oder gar Korrekturen sind nicht erlaubt.

 

Wer beispielsweise gelinde Zweifel am Narrativ der Bundesregierung und der Edelpresse über den Bürgerkrieg in Syrien hegt, hat die Möglichkeit, sich im Blog des AfD-affinen Journalisten Ken Jebsen bestätigen lassen, dass Assad im Grunde alles richtig gemacht hat. Geschickt werden die tendenziösen Wertungen und unbewiesenen Annahmen in der offiziösen Darstellung konterkariert, aber dann mit eigenen Unterstellungen und Verdrehungen so weit in eine irrationale Gegenwirklichkeit umgedeutet, dass Assad als pures Opfer des Westens aufscheint und nicht – wie es sich tatsächlich belegen lässt – als einer von vielen Schurken in diesem Trauerspiel.

 

Da werden Horrorszenarien bemüht, wo doch die mediale Realität genug Gruseliges zu bieten hat. Denn auch die außenpolitischen „Experten“ von FAZ, ZEIT oder SZ tun oft nichts anderes, als ihre Sichtweise von der Welt, unterlegt mit weichen Fakten und opportunen Tatsachenbehauptungen, zu propagieren. Dies scheint in ihnen, die vom derzeitigen Machtgefüge profitieren, systemgenetisch angelegt zu sein. Natürlich befleißigen sie sich einer gemäßigteren Sprache und einer intelligenteren Argumentation als die Eiferer im Netz, doch in ihrer Sache sind sie so entschlossen wie diese.

 

Es ist nicht leicht, sich der Erkenntnis gesellschaftlicher oder gar globaler Realität durch kritische, ja misstrauische Überprüfung der publizistischen Angebote anzunähern. Bei einigen der ambivalenten Highlights des Weltgeschehens landet man auf der Suche nach einem Fünkchen Perspektive unweigerlich zwischen den Stühlen, und auch keine redlich gefestigte Überzeugung oder theoretische Analyse kann einem dann aufhelfen. 

04/2021 

Dazu auch: 

Afghanisches Orakel im Archiv von Politik und Abgrund (2019)

Sturm im Wodkaglas im Archiv von Helden unserer Zeit (2017)         

 

 

 


Habe die Ehre!

 

Weil sich mindestens zwei (mittlerweile Ex-)Kollegen ein Zubrot beim Handel mit Corona-Masken verdient hatten, mussten alle Bundestagsabgeordneten der Christen-Union eine Ehrenerklärung unterzeichnen, der zufolge sie keine finanziellen Vorteile bei der Bekämpfung der Pandemie erzielt hatten. Es sollte eine Geste für die empörte Wählergalerie sein, aber recht verbindlich und zielführend war’s nicht. Ehre lässt nämlich mannigfaltige Interpretationen, die Verletzung derselben ebenso viele Rechtfertigungen zu.

 

Begrenztes Feld der Ehre

 

Der verzweifelte Versuch, der restlichen Unionsfraktion mit einem

pauschalen Befreiungsschlag Integrität zu bescheinigen, ließ deren Vorsitzenden Ralph Brinkhaus (CDU) und den CSU-Landesgruppen-chef Alexander Dobrindt auf den etwas antiquiert wirkenden Begriff Ehre rekurrieren, den man mit dem Mittelalter, mit hehrem, martialisch zu verteidigendem immateriellem Gut, mit Ehrenhändel, Ehrenschuld, Ehrlosigkeit etc. in Verbindung bringt. Tatsächlich galt das mittelhochdeutsche ēre als entscheidender ritterlicher Wert, als Ansehen. Dass ausgerechnet Dobrindt, der als Bundesverkehrs-minister das multimillionenschwere Maut-Desaster erst in Gang gebracht hatte und dem bundesweit das Prestige eines Autokonzern-Lobbyisten im Amt zugesprochen wurde, seine Kollegen mit dem Ausschluss aus der Fraktion im Falle falscher Angaben bedrohte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie; doch Brinkhaus und er hatten das Feld der Ehre vorsichtshalber so knapp vermessen, dass gar kein Übeltäter mehr vorhanden sein konnte.

 

Die Abgeordneten mussten nämlich nur mit reinem Gewissen in einer Sache Ehre einlegen, die Erklärung galt lediglich für den Zeitraum der Pandemie und für miese Geschäfte in Zusammenhang mit deren Bekämpfung. Da konnte einer nach Herzenslust Gagen aus Aserbaidschan bzw. Nordmazedonien kassieren oder mit Waffenhändlern und anderen Konzernen in seinem Wahlkreis gekungelt haben – Schwamm drüber, war eine andere Baustelle. Vielleicht schluckte so mancher Unionsparlamentarier den Neid auf das Gespür für lukrative Nebenverdienste, das die Ex-Kollegen Nüßlein und Löbel bewiesen hatten, erleichtert herunter, hatte er die eigenen Schäfchen doch auf einem Gebiet, das außerhalb einer zu erklärenden Ehre lag, ins Trockene gebracht.

 

Sollten aber die beiden Moraldetektive an der Fraktionsspitze auf die Schnapsidee kommen, künftig auch kleine Unregelmäßigkeiten auf anderen Gebieten einbeziehen zu wollen, sei jedem MdB geraten, sich mit den vielfältigen Auffassungen von Ehre auseinanderzusetzen und die eigene Unschuld mit der für ihn günstigsten Interpretation zu begründen.

 

Gedanken eines Pragmatikers

 

Ein Unionsabgeordneter, der zwar die Maskenbeschaffung mit ihren Honorar-Chancen verschlafen hat, aber eine weitere hochnotpeinliche Befragung durch die Fraktionsführung wegen anderer, früherer Schnäppchen fürchten muss, könnte, so er belesen genug ist, mit Aristoteles oder Thomas Hobbes seine Ehre retten. In der Nikomachischen Ethik hatte der griechische Philosoph das ominöse Objekt als „das Ziel des in Geschäften aufgehenden Lebens“ definiert.

 

Na also, wird unser wackerer Parlamentarier argumentieren, das rechtfertigt doch, dass ich stets nach dem Leitsatz Viel Geld, viel Ehr‘ gehandelt habe. Nun wird man dem MdB entgegenhalten, Aristoteles habe als Motiv das Streben nach Vortrefflichkeit genannt, was die persönliche Raffgier so ziemlich ausschließt, doch da eilt dem bedrängten Hinterbänkler Thomas Hobbes zur Hilfe.

 

Der englische Mathematiker und Staatstheoretiker fegte im 17. Jahrhundert den antiken und den auf Heldenmut abzielenden mittelalterlichen Schwulst beiseite und machte die Ehre an sich fit für die Politik und das Business, die Neuzeit halt: „Alle Handlungen und Äußerungen, welche aus Erfahrung, Wissen, richtiger Beurteilung oder Verstande herkommen, sind ehrenvoll; denn sie gehören zu den Zeichen der Macht.“ Ernsthafte Geschäfte zu tätigen und nach Reichtum zu streben, ist gemäß Hobbes „ehrenvoll“. Die Ehre ist dabei unabhängig davon, ob sie gerecht oder ungerecht ist, ob sie Gutes oder Böses bewirkt. Unser Pragmatiker findet sich nun voll gerechtfertigt: Weil ich als Volksvertreter ein wenig mitbestimmen darf, wohin Gelder fließen und Aufträge gehen, kann ich nach bestem Wissen und Gewissen sowie mit klarem Verstand die Hand ein wenig aufhalten. Schließlich steigere ich so meine ökonomische Macht, und was hinten dabei herauskommt, ist sowieso egal.

 

Von Philosophen lernen

 

Sollte ein Feingeist der Unionsfraktion sich gerade ein wenig bereichert haben, aber ehrenrührige Anwürfe eloquent abschmettern wollen, kann er sich auf die Vorlesungen über die Ästhetik des Philosophen Friedrich Hegel berufen: „Der Mann von Ehre denkt daher bei allen Dingen zuerst an sich selbst; und nicht, ob etwas an und für sich recht sei oder nicht, ist die Frage, sondern, ob es ihm gemäß sei, ob es seiner Ehre gezieme, sich damit zu befassen, oder davonzubleiben. Und so kann er wohl auch die schlechtesten Dinge tun und ein Mann von Ehre sein.“

 

Mit Freuden kann der tiefsinnige Abgeordnete nun alle von dem großen Weltgeist-Hegel postulierten Anforderungen abhaken: Ich habe bei dem Deal nur an mich selbst gedacht, er passt ja auch bestens zu mir. Und wegen dieser kleinen Vorteilnahme darf mir niemand meine Ehre absprechen!

  

Alles halb so schlimm

 

Der gewöhnliche, beim Geschäft mit Gerüchle ertappte CDU-Abgeordnete indes setzt sich nicht so gern mit ethischen oder gar intellektuellen Fragestellungen auseinander, er wählt lieber die beherzte Attacke und deutet mit dem nackten Finger auf die anderen Parteien: „Das machen doch alle!“ Das ist schon richtig, auch wenn, mit Ausnahme der FDP vielleicht, kein Wahlverein dem großen Geld so inniglich verbunden ist wie die Union.

 

Aus letzterem Grunde sind bestimmte Unterstellungen von Robert Habeck und anderen Übelwollenden übrigens grundsätzlich falsch: Die schwarze Front hat kein „strukturelles Problem“ mit Honoraren, Korruption und Lobbyismus. Warum sollte diese Partei Probleme mit ihrer ureigensten Struktur haben?

 

Der gestandene bayerische Volksvertreter von der CSU aber nimmt das alles gelassen. Eine Ehrenerklärung ist schließlich keine eidesstattliche Einlassung, also auch nicht strafbewehrt, wird er einwerfen. „Und wenn sie’s wäre – unser Friedrich Zimmermann ist in der Spielbankenaffäre des Meineids überführt worden. Und was ist ihm passiert? Er hat danach als Bundesinnenminister für Ordnung in Deutschland sorgen müssen. Ehrlich!“ 

03/2021 

Dazu auch:

Verlorene Tochter im Archiv von Helden unserer Zeit (2017)


  



Fußball über Gräbern

 

Mindestens 6500 Tote. Das sind mehr als doppelt so viele Opfer wie bei den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA, das könnte die Bilanz eines Bürgerkriegs in einem kleinen Failed State sein. Es ist das Ergebnis des Zusammenwirkens einer kleinen, aber reichen Wüstendiktatur, des Emirats Katar, und einer global agierenden mafiösen Organisation, des Weltfußballverbandes FIFA. Es mussten aber möglicherweise noch viel mehr Menschen für ein größenwahnsinniges Projekt, die WM 2022, ihr Leben lassen, wie Recherchen des britischen Guardian nahelegen.

 

Was ist wirklich der Skandal?

 

Die beiden bekanntesten Moralphilosophen des Landes, Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß, waren angesichts der Impertinenz einer bundesdeutschen Behörde not amused und sorgten sich um die Contenance der sensiblen Star-Kicker des FC Bayern München. Die Deutsche Flugsicherung hatte sich erdreistet, völlig korrekt wegen der Nachtflugbeschränkungen am legendären BER-Airport die Startfreigabe für den Trip der Mannschaft zum Weltpokal-Turnier in Katar zu verweigern. Eine ganze Nacht mussten die Spieler in der Edel-Klasse eines Jets verbringen, ehe sie nach Arabien abdüsen durften. "Die Verantwortlichen wissen gar nicht, was sie unserer Mannschaft damit angetan haben", barmte Rummenigge gegenüber BILD, während Metzgersohn Hoeneß deftig austeilte, von einer „Unverschämtheit der Verantwortlichen“ sprach und den Vorfall gegenüber dem BR als „Skandal“ bezeichnete.

 

Um einen Skandal handelt es sich tatsächlich, aber nicht wegen des Nachtflugverbotes für titelhungrige Bayern-Kicker, sondern wegen der Ignoranz, die große Wirtschaftsunternehmen, die sich „Vereine“ nennen, gegenüber dem massenhaften Tod und der gnadenlosen Ausbeutung von südasiatischen Bauarbeitern im reichen Katar an den Tag legen. Weder die großen europäischen Clubs noch die FIFA, die nächstes Jahr ihre WM quasi über Gräbern ausrichten lässt, sehen ein Problem darin, in Stadien spielen zu lassen, die auf den Knochen von Arbeitsimmigranten errichtet wurden, noch nehmen sie Notiz von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die das Gastgeberland für die termingerechte Fertigstellung irrwitzig überdimensionierter Sportstätten bis heute begeht.

 

Es ist dem Guardian, der derzeit wohl wichtigsten investigativen Zeitung in Europa, zu verdanken, dass ein Thema, das über Jahre hinweg sporadisch in den Medien aufschien, um gleich wieder grelleren Schlagzeilen zu weichen, noch einmal in seiner ganzen Brisanz aufgerollt wird – auch wenn sich voraussichtlich wieder nichts ändern wird. Schon kurz, nachdem 2010 Katar unter höchst fragwürdigen Umständen (davon weiter unten) die Ausrichtung der WM 2022 zugesprochen wurde, gelangten Berichte an die Öffentlichkeit, aus Staaten der Dritten Welt angeheuerte Bauarbeiter würden wie Sklaven behandelt, um sieben riesige Fußballstadien aus der Erde zu stampfen, Hunderte seien bereits gestorben. Die Sportpresse aber erregte sich heftig über die Zumutung, die internationalen Stars in der Gluthitze des Wüstensommers antreten zu lassen (was zur Verlegung in kühlere Monate führte), das Schicksal der Bauleute bei extremen Temperaturen interessierte da weniger.

 

Der Guardian hatte in den Ländern Indien, Bangladesh, Nepal, Sri Lanka und Pakistan offizielle Sterbelisten der in den Jahren 2011 bis 2020 nach Katar entsendeten Arbeitskräfte ausgewertet. Abertausende waren in diesen Ländern für die Errichtung der Sportstätten angeworben worden, mindestens 6500 kehrten nicht mehr in ihre Heimat zurück. Vermutlich werden noch weit mehr Menschen die „Gastarbeit“ mit dem Leben bezahlt haben, heuerte das katarische Organisationskomitee doch viele weitere Bauarbeiter aus anderen Staaten, etwa von den Philippinen, an.

 

Eine ungewöhnlich große Anzahl von Arbeitern aus Südasien beging Selbstmord, bei anderen wurden Brüche und innere Verletzungen nach Stürzen aus großer Höhe, Herz- und Kreislaufversagen oder letale Erschöpfung als Todesursachen festgestellt. In den engen Massenunterkünften erlagen etliche Stromschlägen bei Überschwemmungen durch offene Kabel. In den Barracken grassierten Krankheiten, zuletzt auch forderte auch Covid-19 beinahe erwartungsgemäß Hunderte von Opfern. Die meisten aber sollen, wie die Behörden Katars ohne Autopsie und detaillierten Totenschein behaupteten, eines „natural death“ gestorben sein, wie immer man den natürlichen Tod definieren mag.

 

Amnesty International bezweifelt das ebenso wie die UN-Arbeitsorganisation ILO, die vor allem die mörderische Hitze, verbunden mit permanenter Überlastung, für die vielen Toten verantwortlich macht. Eine deutsche Lichtgestalt allerdings stellte dem Organisationskomitee in Katar den Persilschein aus: Er habe auf den Baustellen „keinen einzigen Sklaven“ gesehen, sagte Franz Beckenbauer.

 

Ein Gangsterstück von Anfang an

 

Der „Kaiser“, wie der auf dem Fußballfeld brillante Libero heute noch genannt wird, hatte auch angeblich nichts von der Bestechungsorgie innerhalb der FIFA vor der WM-Vergabe mitbekommen. Seit vorigem Jahr weiß man, dass wenigstens drei Funktionäre „gekauft“ wurden, um Katar die nötigen Stimmen bei der Wahl des Austragungsortes zu verschaffen – und Beckenbauer, der sich heute an nichts mehr erinnern kann, hat wohl eine aktive Rolle dabei gespielt.

 

Wie die anderen Golf-Fürstentümer leidet Katar unter beinahe krankhafter Hybris und Verschwendungssucht, so dass es nur eine Frage der Zeit war, bis seine stets mit den Saudis und den Vereinigten Arabischen Emiraten konkurrierende Herrschaftsclique versuchen würde, sich einen der größten medialen Events weltweit zu sichern, eben die Fußballweltmeisterschaft. So findet das gigantomanische Turnier also 2022 in einem der klimatisch und sporthistorisch ungeeignetsten Länder auf dem Globus statt – obwohl der Wüstenstaat zumindest im Aktivenbereich aufgeholt hat, indem er ganze Fußball- und Handballmannschaften sowie begabte Leichtathleten aus aller Welt einbürgerte, gegen viel Cash natürlich. Diesen Neu-Katarern geht es natürlich wesentlich besser als den rechtlosen Bauarbeitern.

     

Der Fall Katar ist eigentlich mehr noch eine Causa FIFA, denn die mächtigste Sportorganisation der Erde ist offen korrupt und mafiös. Dennoch liegen ihr die Staaten zu Füßen, und auch die Bundesrepublik, vertreten durch den DFB, vergaß einst die sonst pausenlos hergebeteten Regeln von Anstand sowie Fairness und kaufte sich die Heim-WM 2006, unter maßgeblicher Mitwirkung des notorischen Franz Beckenbauer. Die FIFA hebt sich von der sizilianischen Cosa Nostra nur noch dadurch ab, dass sie nicht direkt mordet und, oft mithilfe der Schweizer Justiz an ihrem Stammsitz in Zürich, ihr Gangstertum ganz offen zelebriert, als wär’s ein Stück von Dürrenmatt.

   

Der unantastbare Profi-Fußball

 

Umso erstaunlicher ist angesichts des üblen Rufs, mit welcher Selbstverständlichkeit der Profi-Fußball (nicht nur in Deutschland) für sich in Anspruch nimmt, „systemrelevant“ zu sein, und daraus das Recht ableitet, wichtige Corona-Einschränkungen für seinen Spielbetrieb außer Kraft zu setzen. Und die Politik nickt das Ganze wohlwollend ab, weil das drangsalierte Volk Zerstreuung, und sei es nur während der Sportschau vor dem Fernseher, braucht, vor allem aber, weil Bundesliga und Champions League in erster Linie Wirtschaft sowie kapitalistische Akkumulation sind und nicht Spiel oder Wettkampf. Dass es, wenn es um das große Geld geht, manchmal ein wenig kriminell abläuft, gehört halt zu den Petitessen dieses Systems.

 

Unnachahmlich auch die Chuzpe, mit der die DFB-Funktionäre die Ausrichtung der Profi-Begegnungen um Punkte und besonders TV-Gelder als vorbildlich preisen, obwohl wegen Corona ständig Akteure gesperrt und sogar ganze Spiele abgesagt werden müssen. Millionen von Amateuren, Jugendlichen und Kindern ist der relativ gefahrlose Sport unter freiem Himmel untersagt, kleine Vereine stehen vor der Insolvenz, während hochbezahlte Stars kicken dürfen und nicht selten danach durch (abstandslose) Gruppenorgien auffallen, die sie dankenswerterweise auch noch selbst mit dem Smartphone für die Öffentlichkeit dokumentieren. Geld kauft vielleicht Tore, aber keinen Geist.

 

So bedenkenlos, wie die mächtigen Funktionäre des Profi-Fußballs ihr Recht auf gesellschaftliche Bevorzugung und maßlose Bereicherung verteidigen, so vernachlässigbar stufen sie die Kollateralschäden bei der baulichen Umsetzung irrwitziger Großprojekte des Emirs von Katar ein: ein paar tausend Inder oder Nepalesen? Na und, die lukrative Show muss weitergehen, das bringt unsere Form des Wirtschaftskreislaufes so mit sich. In dieser Beziehung könnte man auch angesichts der klassischen Geringschätzung der globalen Armenhäuser durch ökonomisch potente Staaten den Vordenkern von FIFA, DFB oder FC Bayern recht geben: Der Profi-Fußball ist systemrelevant – im Gegensatz zu ein paar toten Habenichtsen. 

03/2021 

Dazu auch:

FIFA-Sepp, Licht-Franz im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2014)

 

 

  



Zeit der Peinlichkeit


Es ist verständlich, dass die Medien in Pandemie-Zeiten täglich über den Gesundheitszustand der Republik berichten. Viele Menschen möchten fortlaufend darüber informiert werden, wie viele Infizierte und Tote es in ihrer Region gegeben hat, wie viel Bewegungsfreiheit ihnen noch zugestanden wird, oder ob und wann sie mit einer Impfung rechnen dürfen. Geradezu peinlich aber nimmt es sich aus, wenn Funk und Presse in der Corona-Krise den Regierenden unendlich viel Raum für die Rechtfertigung ihrer teils überhasteten, teils verspäteten Maßnahmen und für die Legendenbildung in eigener Sache bietet – als hätten die Journalisten wieder einmal vor dem politischen Diktat „alternativlos“ kapituliert und würden die Apotheose der „Macher“ betreiben.


Auf allen Kanälen, aber vergesslich


Man schaltet den Fernseher ein: Söder, Spahn, Scholz und vielleicht noch Lauterbach sitzen in trauter Talkrunde zusammen; man schlägt die Zeitung auf, und schon springen einem austauschbare Schlagzeilen ins seuchenmüde Auge: Söder schließt aus, Spahn warnt, die Kanzlerin mahnt und der Bundespräsident appelliert an sein Volk. Selbst wenn die angstgeplagten Bürger, aus banger Wissbegier oder in Sorge um ihre Angehörigen alles Wesentliche über Covid-19 und die Ausbreitung/Eindämmung des Virus erfahren möchten, beginnen sich manche doch langsam zu fragen, ob sie deshalb immer dieselben Gesichter und die gleichen redundanten, aber bedeutungsschwanger gegrummelten Phrasen vorgesetzt bekommen müssen.


Der Erkenntnisgewinn ist gleich Null, doch scheint sich das Gros der deutschen Bevölkerung mit der Einsicht, dass eine Nachricht ohne Sinngehalt eine gute Nachricht sei, zu trösten und lässt sich vom landesväterlichen/-mütterlichen Gehabe der staatstragenden Politiker einlullen. Für diese wiederum bieten die ARD-Tagesschau, Anne Wills Plauderstündchen oder die vorderen Seiten der Tageszeitungen kostenlose Wahlkampfwerbung. Als Dauerredner sind sie allerorten präsent, und als gelernte Selbstdarsteller wissen sie, sich ins rechte Licht rücken und andere Ansichten wie berechtigte Zweifel mit viel Pathos und versteckter Rabulistik totzuschwallen. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender ermöglichen der Bundesregierung und den MinisterpräsidentInnen der Länder kostenloses Product Placement in einer Konzentration, die woanders zur strafbewehrten Sanktionierung durch die Freiwillige Selbstkontrolle oder den Fernsehrat führen würde.


Nur ganz vereinzelt, am Rande des medialen Geschehens, in den verbliebenen Nischen kritischen journalistischen Geistes, regt sich noch Widerspruch, werden die herrschende Politik und das so jäh erwachte und plakativ zur Schau gestellte Problembewusstsein der politischen Trendsetter hinterfragt, erlauben sich skeptische Beobachter die Überprüfung von Verantwortlichkeiten. Dann darf Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung in einem Kommentar darauf hinweisen, wie nonchalant mit den Grundrechten der Bürger hantiert wird, dann zählen ARD-Politmagazine mit niedriger Einschaltquote die früheren und gegenwärtigen Versäumnisse der vom Selbstlob besoffenen Kümmerer auf höchster Ebene auf.


Wie das Mikro die Sorgfalt ablöste


Wer denkt denn noch daran, dass einst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Corona für ein harmloseres Grippe-Pendant hielt, dass Covid-Shooting-Star Markus Söder anfangs behauptete, Bayern habe die Verbreitung des Virus gestoppt, und sich trotz der österreichischen Erfahrungen zunächst gegen Abstandsregeln und Maskenpflicht aussprach. Auch als es ihm opportun erschien, sich an die Spitze der Besorgnisträger zu stellen, unterlief dem Freistaatsherrn einiger Unsinn. So erhielten in Bayern Leute, die sich allein mit einem Buch auf eine Parkbank setzten, Bußgeldbescheide, und das wenige Tage, nachdem Söder und die CSU-Spitze trotz deutlicher pandemischer Vorzeichen den Politischen Aschermittwoch im vollen Saal zur Stammtisch-Propaganda und als Virenschleuder genutzt hatten. Ein weiteres Beispiel aus dem bajuwarischen Absurditätenkabinett: Als gelockert wurde, durften in Bayern die Restaurants bis in die Nacht hinein Gäste in ihren stickigen Räumen bewirten, während die Straßencafés und Biergärten an der weitaus ungefährlicheren frischen Luft am frühen Abend schließen mussten.


Egal ob sie Kretschmann, Kretschmer oder Schwesig heißen, in Schleswig-Holstein, Thüringen oder Berlin regieren, eine ordentliche oder traurige Bilanz bei der Krisenbewältigung vorweisen können – die Ländervorsitzenden reagieren wie Süchtige auf jedes Mikrofon, würden am liebsten jede gesetzgebende Sitzung schwänzen, wenn der TV-Talkmaster ruft. Und sie wetteifern untereinander, wer die drastischsten Ankündigungen zur besten Sendezeit unters Volk bringt. Bei so viel Medienpräsenz, kann der Blick aufs Detail schon mal abschweifen, scheitern die kühnsten Pläne an sagenhafter Inkompetenz. Wenn etwa Bayern die Heimkehrer an den Grenzen testen lässt, den Infizierten aber die Ergebnisse nicht mitteilt, auf dass sie ihre mikroskopisch kleinen Mitbringsel fröhlich mit Verwandten und Bekannten teilen können; wenn Maskenpflicht herrscht, aber Masken fehlen; wenn keine Schutzkleidung für die Pfleger von Corona-Patienten vorhanden ist, dann würde man gern von Schildbürgerstreichen reden, nur enden diese womöglich tödlich.


Wie soll man auch alles im eigenen Apparat im Griff haben, wenn man pausenlos damit beschäftigt ist, in Interviews zu erklären, dass man alles im Griff habe. Wichtig ist die klangvolle Verkündigung segensreicher Maßnahmen in der Öffentlichkeit, die Pannen bei der Ausführung geraten sowieso schnell in Vergessenheit. Und ein Spitzenpolitiker hat sich um die Außenwirkung zu bemühen, die Petitessen bei der Realisierung wird er doch wohl seinen Subalternen überlassen dürfen.  


Pudelwohl in der Existenzkrise


Am deutlichsten scheint der Ausdruck der Selbstzufriedenheit in den Mienen von Spahn und Söder auf (vielleicht noch in der S/M-Variante bei Lauterbach). Ihre bedeutungsschwangeren Plattitüden überzeugen den verschreckten Bürger davon, die in Teilen notwendigen, oft aber unlogischen und manchmal willkürlich anmutenden Beschränkungen seiner persönlichen Freiheiten als gottgegeben hinzunehmen. Es hat Charme, ein wenig autoritär regieren zu können, manche Dekrete am Parlament vorbei zu erlassen.


Da werden Expertise, Empathie und Umsicht vorgegaukelt, während über die Fehler eines auf Profit getrimmten Gesundheitswesens und die Unzulänglichkeiten bei der Nachverfolgung, beim Testen sowie beim Impfen den Mantel des kollektiven Schweigens gebreitet wird. Die Aufmerksamkeit gehört dem Aktionisten, nicht dem Ergebnis.

Die Medien sollten ihrer Informationspflicht nachkommen, indem sie die wichtigsten Corona-Statistiken veröffentlichen und erklären, den Anspruch der deutschen Politik mit der Wirklichkeit abgleichen und die zahllosen Ungereimtheiten bei Beschaffung und Verabreichung von Medikamenten und Seren untersuchen. Für den Platz aber, den sie zusätzlich für die Selbstdarstellung wahlkämpfender Corona-Gewinnler freischlagen, gäbe es wahrlich genügend relevanteren Stoff: Setzt sich die Bundeswehr aus Afghanistan ab, wo sie 20 Jahre lang ohne erkennbaren Nutzen, aber zum Schaden mancher Zivilisten präsent war? Sie hat die Taliban, die dem Chaos, das Russen und US-Amerikaner anrichteten, entsprossen, lau und folgenlos bekämpft. Macht sich das deutsche Kontingent jetzt aus dem Staub, opfert es seine afghanischen Mitarbeiter und Dolmetscher der Rache der Islamisten. Wird das Mandat aber verlängert, vergammelt es in streng geschützten Lagern, ohne das vom Westen halbherzig alimentierte Kleptokratenregime in Kabul beschützen zu können.

   

Und in den USA ernennt die aus der Obama-Ära recycelte  Lichtgestalt Joe Biden mit Antony Blinken einen Falken zum Außenminister, auf dass der neue Kalte Krieg bald auch eine heiße Komponente bekommen könnte. Währenddessen sorgt ein Bürgerkrieg in Äthiopien zuverlässig für weitere Hungersnöte und „Flüchtlingswellen“, konvertiert die Republik Indien, das demnächst volkreichste Land der Erde, zur fundamentalistischen Hindu-Diktatur (mit Atombombe), bedrohen in Myanmar Militärs, zu denen deutsche Rüstungsfirmen beste Kontakte unterhielten, ihre Gegner und die Rohingya-Minderheit mit Völkermord. Und der Krieg im Jemen und die „offensive“ neue NATO-Doktrin im Pazifikraum und …


Wenn es denn noch mehr um Corona gehen soll, wären gründliche Erklärungen vonnöten, warum sich die EU, die USA und Großbritannien um Impfstoff prügeln und gleichzeitig zulassen, dass sich Pharmakonzerne die potentielle Lebensrettung zwecks lukrativen Monopols patentieren lassen. Als würden nicht sogar die oft betriebsblinden Virologen darauf hinweisen, dass die seuchentechnische Vernachlässigung Afrikas die Pandemie global verewigen wird.


Nein, wichtige Themen gäbe es genug auf der Welt. Doch lassen sich die meisten eben schlecht für die Image-Kampagne unserer Polit-Koryphäen nutzen und für Anne Will telegen aufbereiten. 

02/2021 

Dazu auch: 

Von Bayern lernen? im Archiv von Politik und Abgrund (2020)              





Museum für Markus

 

Der Nürnberger Immobilienunternehmer Gerd Schmelzer wird Herbergsvater eines neuen vom bayerischen Staat subventionierten Museums – und verlangt obszön viel Miete, wie Experten meinen. Doch es gilt, einen Wunschtraum von Markus Söder zu realisieren, und da ist es sicherlich nicht kontraproduktiv, dass sich der Hausherr der CSU gegenüber recht spendabel zeigte. Während ein überregionaler Rechercheverband das Thema in die bundesweiten Nachrichten hievte, glänzten lokale Medien eher durch vornehme Zurückhaltung.

 

Söders Steckenpferd „Zukunftsmuseum“

 

Wenn Markus Söder etwas will, dann gibt es keine Bedenken, Diskussionen oder Kalkulationen. Vor dreieinhalb Jahren wollte der damalige bayerische Heimat- und Finanzminister das kulturelle Ambiente seiner Vaterstadt Nürnberg um ein ambitioniertes Projekt bereichern, eine Dependance des Deutschen Museums in München, die sich ganz unbescheiden „Zukunftsmuseum“ nennen sollte. „Ein Quantensprung“ sei das, tönte Söder und entblödete sich nicht, bei der Präsentation der Pläne gemeinsam mit Wolfgang Heckl, Generaldirektor der Hauptstelle an der Isar, in Uniformen, wie sie in der SF-Fernsehserie Star Trek die Darsteller trugen, aufzutreten.

 

Ein weiteres Museum ist immer etwas Feines für eine Stadt mit reicher künstlerischer wie wissenschaftlicher Tradition und reichlich provinzieller Gegenwart. Doch wo sollte man den neuen Geistestempel platzieren? Ein Standort, der die dichtbesiedelte, aber strukturschwache Südstadt aufgewertet hätte, wurde bald verworfen, bot doch der in der Noris omnipräsente Unternehmer Gerd Schmelzer ein Objekt in absoluter Toplage, allerdings auch gegen einen Top-Mietzins an. Der Projektmanager (im Volksmund: Baulöwe) hatte ein riesiges Geviert zwischen Hauptmarkt und Pegnitz sowie den berühmten gotischen Kirchen St. Sebald und St. Lorenz ersteigert, den maroden Altbestand weitgehend beseitigt und

einen neuen Gebäudekomplex hochziehen lassen, für den er eine lukrative Nutzung suchte.

 

Schon damals wurde viel gegrummelt über das (undurchsichtige) Vergabeverfahren und die (überhöhte) Pacht, doch die Bayerische Staatsregierung (featuring Markus Söder), das von ihr mit Steuermitteln bestens alimentierte Deutsche Museum in München und die mit Schmelzer eng bekannte Nürnberger Stadtspitze machten Nägel mit Köpfen. Eine Anschubfinanzierung von 27,6 Millionen Euro für bauliche Anpassungen sowie eine Monatsmiete von mehr als 232.000 Euro für die nächsten fünfundzwanzig Jahre wurden vereinbart, ergibt zusammen knapp 100 Millionen bis 2044 für die bayerischen Bürger, denn für diese Kosten kommt der Freistaat auf. Doch das ist noch nicht alles: Im Gegensatz zu üblichen Verträgen ist für Wartungs-, Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten nicht der Eigentümer der Immobilie zuständig, sondern der Mieter, also im Endeffekt der Steuerzahler.

 

Von oberster Stelle abgesegnet, verstummten die Proteste allmählich, bis jetzt, kurz vor der Eröffnung des Museums, der FDP-Landtagsabgeordnete Sebastian Körber, als Architekt ein Mann vom Fach, die doch sehr vermieterfreundliche „Konstellation aus erklärungsbedürftig hoher Miete, außerordentlich langfristigem Mietvertrag und zusätzlicher Finanzspritze in Millionenhöhe“ als „bayernweit beispiellos“ erneut aufs Tapet brachte. Und nun nahm sich der Rechercheverbund der Nordlichter NDR und WDR mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) der merkwürdigen Kalkulation an, stieß dabei auf eine weitere gute Tat Schmelzers, der sich für die teure Vermietung als Förderer der Musen und Wissenschaften feiern lässt, nämlich eine Spende an die CSU, und machte die undurchsichtige Gemengelage am 22.01. in der Tagesschau 24 publik.

 

Peterle auf allen Suppen

 

Nicht die lokale Presse und auch nicht der Bayerische Rundfunk (BR), der immerhin über ein Studio Nürnberg verfügt, waren mit diesem Thema, das von öffentlichem Interesse ist, soweit die Verwendung von Steuergeldern überhaupt noch interessiert, zuerst an die Öffentlichkeit gegangen, sondern überregionale und in zwei Fällen sogar außerbayerische Medien. Dabei wäre man mit wenigen Nachfragen auf einige seltsame Koinzidenzen gestoßen: Die Leitung des Deutschen Museums in München muss zunächst selbst von Schmelzers Mietforderungen geschockt gewesen sein, hatte sie doch mit 25 Euro pro Quadratmeter gerechnet. Als es dann aber 38,12 Euro wurden, durfte sie dennoch nicht zurückzucken, denn Markus Söder befand, eine „Marke von Weltrang“ könne durchaus hohe Quadratmeterpreise für die Nürnberger Filiale zahlen.

 

Nicht dass die Berechtigung dieser Miethöhe nicht geprüft worden wäre, fragt sich nur, mit welcher Intensität und von wem. Drei Monate vor Unterzeichnung des Mietvertrags hatte die Immobiliengesellschaft des Freistaats (IMBY) in einer Stellungnahme zwar eine "Tendenz der vertraglichen Regelungen zu Gunsten des Vermieters" festgestellt, war aber dennoch zu der seltsamen Quintessenz gelangt, das Preisangebot könne - was soll der Geiz? - dennoch als schlüssig angesehen werden. Kein Wunder, heißt der oberste Dienstherr der IMBY doch Markus Söder.

 

Gerd Schmelzer, der in diesem Jahr siebzig Jahre alt wird, durfte sich also über eine phänomenale Rendite freuen und ist bei künftigen Schäden oder möglichem Wartungsbedarf voraussichtlich bis zu seinem Lebensende außen vor. Einer, dem so viel Gutes widerfährt, der möchte sich auch irgendwann erkenntlich zeigen. Wir wissen nicht, wie er das im Einzelnen anstellt, misstrauische Menschen aber verweisen auf die Bundesdrucksache 19/17350, in der für 2018 eine Parteispende der Firma GIP in Höhe von 45.500 Euro ausgewiesen ist (50.000 hätten nach dem Parteiengesetz veröffentlicht werden müssen). Inhaber des Immobilienparks GIP sind Schmelzer und seine Kinder, die Spende ging an die Nürnberger CSU.

 

Söder ließ sofort erklären, dass er von der Spende nichts gewusst habe, und Schmelzer offenbarte, dass er schon häufiger an Parteien, auch an die CSU, gespendet habe. „Das hat mit dem Museum überhaupt nichts zu tun.“ Zwar legte er für die anderen Zuwendungen keine Belege vor, doch klingt sein Bekenntnis zum politischen Mäzenatentum durchaus glaubwürdig. Schmelzer kann mit allen. Früher hatte in Nürnberg die SPD das Sagen; durchaus möglich, dass der Immobilien-Guru damals auch die Genossen pekuniär bedacht hat, was Michael Husarek, Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten, dann wohl so ähnlich eingeordnet hätte wie besagte Gabe an die CSU: „Die dürfte unter politischer Landschaftspflege verbucht werden – alles andere sind Unterstellungen.“ 

 

Bevor nun ein Puritaner gleich damit kommt, dass man einen solchen Vorgang in der Dritten Welt anders nennen würde, sei darauf verwiesen, dass Schmelzer sich womöglich einfach nur gefreut hat und vielleicht auch deshalb so spendabel war, weil er bei diesen hohen Mieteinnahmen ohne jedes Risiko einem geruhsamen Lebensabend entgegensehen kann.

 

In Nürnberg nennt man jemanden, der äußerst umtriebig ist und überall die richtigen und wichtigen Beziehungen knüpft, „Peterle (Petersilie) auf allen Suppen“. Und so einer ist Gerd Schmelzer. Gut Freund mit jedem in der intellektuell nicht sonderlich auffälligen Guten Gesellschaft der alten Reichsstadt, nutzt er seine Kontakte zu den exotischsten Engagements: Mal amtiert er als Präsident des 1. FC Nürnberg (den er nach eigenen Angaben sanierte, dem es danach aber trotzdem nicht so richtig gut ging), mal wird er vorübergehend Geschäftsführer der größten Lebkuchenfabrik am Platz. Und ein privates Projekt verwirklichte er auch, mit der Heirat der CSU-Kulturreferentin Julia Lehnert (heute dritte Bürgermeisterin). Vielleicht bewogen ihn ja auch persönliche Bande, nicht schnöde Interessen, zur Spende an die Partei seines Herzens. 

      

Die vornehme Zurückhaltung der Presse

 

Es ist bezeichnend, dass die Vorgänge in Nürnberg von den NN, der Monopolzeitung vor Ort, und dem BR zögerlich aufgegriffen wurden. Der Bayernsender hatte in den letzten Jahren seinen Ruf als devoter Schwarzfunk teilweise ablegen können, doch seit Söders Stern so richtig aufzugehen scheint, weichen kritische Stimmen mehr und mehr einer Idealisierung des vermeintlichen Corona-Dompteurs. Immerhin bequemte sich der ARD-Ableger zu einer verkürzten Nacherzählung der vom Dreierverbund lancierten Geschichte.

 

Die NN brauchten vier Tage, um das für ihren Redaktionssitz brisante Thema genauer aufzuarbeiten, taten das dann aber gleich mit drei Beiträgen in einer Ausgabe. Zwei davon, darunter Husareks oben erwähnter Kommentar, lasen sich eher abwiegelnd: nicht so wild das Ganze. Und auch nicht so neu, folgt man dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Horst Arnold. Einen Untersuchungsausschuss hält er laut Bericht von Roland Englisch, NN-Korrespondent in der Landeshauptstadt, nicht unbedingt für notwendig, ebenso wenig wie der Grünen-MdL Ludwig Hartmann, der immerhin die Einschaltung des Landesrechnungshofes fordert, der aber schon von sich aus schon tätig geworden ist. 

 

Trotz der anfangs verhaltenen Reaktionen, flogen dann am letzten Mittwoch im bayerischen Parlament doch noch die Fetzen: Söder, Heckl, Schmelzer und dessen Gattin hätten sich „die Bälle zugeworfen“, kritisierte die Grüne Vera Osgyan, die auch „ein neues Geschmäckle“ wahrnahm. Es handle sich um einen „Schnellschuss“ von Söder, konstatierte SPD-Kollege Harald Güller. 

 

Die meisten offiziösen Statements der Lokalpresse zum Gebaren zweier Nürnberger Größen in Politik und Wirtschaft legen hingegen zwei Schlussfolgerungen nahe:

 

-     Man schaut lieber nicht so genau hin, bevor man das eigene Nest beschmutzt und mögliche Gönner gegen sich aufbringt, setzt die guten Beziehungen nicht aufs Spiel, zumal die NN erst zwei Wochen zuvor ein Interview, in dem sich Schmelzer eine ganze Seite lang selbst loben durfte, im Sportteil veröffentlicht hatten.

 

-     Und zum andern ist das Geflecht aus Kapital, Legislative, Parteienfolklore und der vermeintlichen Vierten Gewalt, den Medien eben, undurchdringlich und soll es nach dem Dafürhalten maßgeblicher Leute auch bleiben, weil es Teil einer Normalität ist, von der eine dünne, aber einflussreiche Schicht profitiert, mit der wir Bürger uns aber längst abgefunden haben.

 

Trotz dieses resignativen Konsenses tanzt doch ab und zu ein NN-Redaktionsmitglied aus der Reihe und ordnet die Verantwortung korrekt zu, so wie Franziska Holzschuh in ihrem NN-Artikel zur Causa Zukunftsmuseum: „Die Person, die hier Transparenz herstellen muss, ist Markus Söder.“ Doch Frau Holzschuh durfte erfahren und berichten, dass die Recherche einer einfachen Journalistin einen bayerischen Herrscher wenig juckt: „Der (Anm.: Söder) jedoch gab auf Anfrage keine Stellungnahme ab – ein Sprecher verwies auf die CSU und das Wissenschaftsministerium.“ 

01/2021

Dazu auch:

Fabel vom Wolf Markus unter Helden unserer Zeit (2019)   

   

 

 

2020 

 

 

Die Macht will Assange

 

Nachdem sie Julian Assange in ein Gefängnis für Schwerverbrecher gesperrt und unter menschenunwürdigen Bedingungen gegen ihn verhandelt hatte, offenbarte die britische Justiz nun doch so etwas wie menschliche Einsicht. Er sei nicht auszuliefern, weil er unter Depressionen leide und selbstmordgefährdet sei, entschied eine Londoner Richterin, nicht ohne den Klägern aus den Vereinigten Staaten eine moralische Ohrfeige zu verabreichen, indem sie die US-Haftbedingungen durch die Blume als inhuman charakterisierte. Das Urteil zeugt von humanitären Bedenken, spart aber leider die entscheidende inhaltliche Frage aus: Wie kann sich eine Macht, die Völkerrecht gebrochen hat und internationale Richtersprüche ignoriert, erdreisten, den Aufklärer ihrer Verbrechen zu belangen und möglicherweise lebenslang wegzusperren?

 

Recht gilt, wenn es in den Kram passt

 

Bezirksrichterin Vanessa Baraitser sprach bei ihrer Begründung den Häschern aus Übersee in der Sache weitgehend aus der Seele: Sie sei nicht überzeugt davon, dass Assange in den USA kein faires Verfahren erwarte, dass er ein Opfer politischer Verfolgung sei und er lediglich investigativen Journalismus betrieben habe. Die Auslieferung lehne das Gericht dennoch ab, weil es keine Garantie gebe, dass Assange, dem in den Vereinigten Staaten 175 Jahre Gefängnis wegen Spionage, Datendiebstahls und Veröffentlichung geheimer Dokumente drohten, sich nicht das Leben nehmen werde, wenn er dort in Isolationshaft enden würde.

 

Eigentlich ist es aber eine Eselsbrücke, mit deren Hilfe die britische Justiz zumindest in erster Instanz einen Konflikt mit den US-Strafverfolgern (und wohl auch der eigenen Regierung) vermeiden und sich zugleich als fair präsentieren möchte. Das Ergebnis ist in Ordnung, die Begründung falsch. Wie weltfremd muss man sein (oder scheinen wollen), wenn man wie Richterin Baraitser die politischen Intentionen der Strafverfolger negiert und den Kollegen in den Vereinigten Staaten Unvoreingenommenheit gegenüber dem dort längst als Verräter Abgestempelten zubilligt? Warum wird nicht zuallererst geprüft, ob Washington gemäß seiner internationalen Rechtsgepflogenheiten überhaupt die Voraussetzungen erfüllt, eine Auslieferung einzuklagen?

 

Gewiss, Assange hat nach bürgerlichen Gesetzen Verbrechen begangen, indem er staatliche Computer hacken ließ und geheime Akteninhalte ins Netz stellte. Aber er hat gemäß denselben Gesetzen in einer (übergeordneten) Notstandssituation gehandelt, weil er kriminelle Desinformationen, illegale Absprachen sowie Befehle und – vor allem anderen – Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufdecken und publik machen wollte. Assange hat auf seiner 2010 gegründeten Internet-Plattform Wikileaks eine Reihe von Gräueltaten, begangen von US-Soldaten in Afghanistan und im Irak, dokumentiert, darunter das „Collateral Murder“-Video, das zeigt, wie GIs aus einem Hubschrauber heraus mehrere Kinder und zwei Journalisten der Agentur Reuters auf einer Straße in Bagdad abknallen. Für diese „Indiskretion“ will sich die Administration in Washington jetzt rächen, indem sie den Boten der schlechten Nachricht drakonisch bestraft, nicht die Kriegsverbrecher. Und weil ein Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien existiert, das die Auslieferung politischer Gefangener untersagt, darf der Fall Assange für die britische Justiz kein politischer sein.

 

Schon formaljuristisch begibt sich die US-Regierung auf dünnes Eis. Sie will einen Australier für „Verbrechen“ (Veröffentlichungen), die er in Großbritannien begangen hat und die in vielen anderen Staaten (legal) medial verbreitet wurden, belangen. SPIEGEL-Autor Michael Sontheimer weist in einem Interview der Frankfurter Rundschau auf die möglichen Folgen für die Pressefreiheit hin: „Das ist für Journalisten in aller Welt - vor allem, wenn sie über Kriege und Geheimdienste recherchieren – eine böse Bedrohung.“

 

Geradezu absurd aber mutet der Versuch Washingtons an, in diesem Fall die Gerichtsbarkeit anderer Länder zu bemühen. Alle US-Regierungen der letzten Jahrzehnte haben nämlich die Zuständigkeit internationaler Justizbehörden verneint – wenn sie sich auf eigene Staatsbürger oder nationales militärisches Handeln bezog. Dies gilt auch für die höchste Ebene: So sprach die Reagan-Regierung dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag kurzerhand die Kompetenz ab, als der sie wegen der Verminung nicaraguanischer Häfen verurteilte. Für God’s Own Country gilt offenbar der küchenlateinische Spruch quod licet Jovi, non licet bovi, etwa: Was Jupiter darf, ist dem Vieh noch lange nicht erlaubt. Und in unserem Exempel ist Julian Assange das Rind, das zur Schlachtbank geführt werden soll.

 

Rachsucht und Milde

 

Nun könnten heillose Optimisten erklären, die USA seien ein Rechtsstaat und insofern könne Assange auf ein faires Verfahren hoffen. Tatsächlich aber ähneln die Gerichte dort eher Schaubühnen, auf denen sich die Staatsanwälte (Wahlbeamte!) als tough guys und Medienstars profilieren wollen, während die Richter oft dem alttestamentarischen Gott der Rache anhängen, vor allem wenn die Delinquenten schwarz, braun, rot, gelb oder links bzw. unamerikanisch  sind. Die Chancen, dass ein von vornherein als Spion gebrandmarkter Enthüllungsjournalist, der auch noch den Ruf der Großen Nation „beschmutzt“ hat, auf eine faire und unvoreingenommene Jury trifft, gehen gegen Null.

 

Allerdings gibt es eine bisweilen zu Untätigkeit und Ignoranz tendierende Laissez-faire-Haltung im US-Gerichtswesen, die gerade in der Causa Assange den feinen Unterschied ausmacht: Die mit Hilfe von wikileaks überführten Mörder von Bagdad sind bis heute von jeglicher Strafverfolgung verschont geblieben. Und wenn ein Gericht doch einmal ein Urteil über Kriegsverbrecher aus den eigenen Reihen spricht, dann fällt es entweder milde aus oder wird von höherer Gewalt außer Kraft gesetzt. Nachdem 1968 GIs im vietnamesischen Dorf My Lai mehr als 500 Frauen, Kinder und Greise massakriert hatten, wurde Leutnant Calley als einziger Angeklagter schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt, die Präsident Nixon nur einen Tag später zu Hausarrest umwandelte. Drei Jahre später war Calley ein freier Mann.

 

Auch der scheidende Hassprediger Donald Trump begnadigte drei Soldaten, die wegen Kriegsverbrechen rechtskräftig verurteilt waren (zwei davon wegen Morden in Afghanistan). Die SoldatInnen, die 2006 im irakischen Gefängnis Abu Ghreib Häftlinge gefoltert und gedemütigt hatten, flogen nicht wegen des Ermittlungseifers der US-Militärjustiz auf, sondern weil sie so blöd waren, Fotos von ihren Schweinereien zu machen, die in die Presse gelangten. Nur zwei von ihnen erhielten mehrjährige Gefängnisstrafen, wurden aber ziemlich schnell wegen guter Führung entlassen. Die anderen kamen mit Degradierungen, Kurzzeitknast und geringen Geldbußen davon. Auf so viel Nachsicht könnte Assange bei einem Schuldspruch in den USA wohl kaum rechnen.

 

Diskrete Komplizenschaft

 

Den US-Behörden kann man bei ihrer Jagd auf Assange durchaus Rachsucht und Bedenkenlosigkeit attestieren, nicht aber Scheinheiligkeit. Dafür waren andere Regierungen und Justizapparate zuständig. Wohl auf einen diskreten Wink aus Washington hin ermittelte die schwedische Staatsanwaltschaft wegen Vergewaltigungsvorwürfen gegen den Australier – einen Sexualverbrecher hätte man wohl geräuschloser über den großen Teich abschieben können. Als „konstruiert“ bezeichnete der Schweizer UN-Sonderbeobachter Nils Melzer die Vorwürfe, zumal die beiden betroffenen Frauen ausgesagt hatten, es habe einvernehmlichen Sex gegeben und sie hätten Assange danach nur zu einem HIV-Test zwingen wollen. (Mittlerweile wurden in Schweden alle Ermittlungen eingestellt.) Der britischen Justiz wiederum gibt der Schweizer Rechtswissenschaftler die Schuld dafür, dass Assange unter unsäglichen Haft- und Prozessbedingungen zu leiden hatte, bis er „alle tragischen Symptome für Opfer langdauernder Folter“ zeigte.

 

Noch bedenklicher liest sich aber, was Melzer im Schweizer Magazin Republik für den Fall einer Auslieferung des Wikileak-Gründers in die USA prognostiziert: „Wenn Sie vor so einer Jury wegen Verletzung der nationalen Sicherheit angeklagt werden, dann ist das Urteil schon von Anfang an klar. Das Verfahren wird immer von denselben Einzel­richtern geführt, hinter geschlossenen Türen und aufgrund geheimer Beweis­mittel. Niemand wurde dort in einem solchen Fall jemals freigesprochen.“

 

Ecuadors linker Präsident Rafael Correa hatte schließlich Assange nach dessen Flucht aus Schweden Asyl in der Londoner Botschaft des Andenstaates gewährt. Der Australier hauste dort beengt, aber in Sicherheit – bis Correas politischer einstiger Weggefährte und Nachfolger Lenin Moreno auf strikten Rechtskurs einschwenkte. Trumps Vizepräsident Mike Pence flog laut Michael Sontheimer „mal kurz nach Ecuador und erklärte der dortigen Regierung, wie sie die Beziehungen zu den USA verbessern könnte…“ Der Preis für das Wohlwollen Washingtons war Assange, der nach sechs Jahren die Vertretung als Gefangener verlassen musste.

 

Und die Bundesrepublik? Hier hält man es wie im Falle Snowden: Zunächst heuchelt man Empörung über die NSA-Schnüffelei und dankt dem Whistleblower. Dann kommt heraus, dass der BND ebenfalls hackt und abhört, wo immer auf der Welt es geht, und die die Rolle der beleidigten Unschuld wird abgelegt. Inzwischen ist Snowden eine persona non grata, der in Deutschland nicht vor einer Auslieferung in die USA sicher sein könnte. Zum Fall Assange äußert sich die Bundesregierung lieber erst gar nicht.

 

Zum Themenkomplex „Whistleblower und investigative Recherche“ hört man aus Berlin auch sonst nicht viel  (ist er doch ein garstig Ding für Politiker), da kann der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (ROG), Christian Mihr mit Blick auf den Fall Assange noch so eindrücklich warnen: „Hier steht die Zukunft von Journalismus und Pressefreiheit weltweit auf dem Spiel.“ Tatsächlich waren es Whistleblower wie Daniel Ellsberg mit der Veröffentlichung der geheimen  „Pentagon Papers“, die das Ende des Vietnam-Kriegs beschleunigten, oder Enthüllungsreporter der New York Times und der Washington Post, die den notorischen Lügner Nixon zu Fall brachten. Es scheint, als wolle die etablierte Macht solche Risiken nicht mehr zulassen. 

 

Mehr Mut als die Westeuropäer bewies Mexikos Staatspräsident Obrador, der trotz der diffizilen Beziehungen seines Landes zum nördlichen Nachbarn Assange politisches Asyl anbot. Kuriosum am Rande: Mexiko gilt für Reporter als das gefährlichste Land der Welt. Mindestens acht Journalisten starben allein im letzten Jahr zwischen den Fronten der von Drogenkartellen besoldeten Privatarmeen und der korrupten Sicherheitskräfte. Dennoch könnte Mexiko für Julian Assange ein sichererer Ort sein als die USA oder Großbritannien.

 

Denn es bleibt abzuwarten, ob die nächste britische Instanz, die von den US-Strafverfolgern demnächst  bemüht werden wird, das Mitgefühl von Richterin Baraitser mit einem von der Rache des Imperiums bedrohten Whistleblower teilt. Für die Freilassung des Selbstmordgefährdeten haben allerdings auch die Skrupel der Londoner Gerichtsvorsitzenden nicht ausgereicht. 

01/2021 

Dazu auch: 

Gewogen und zu schwer befunden (2012) und Die Scheinheiligen (2013) im Archiv dieser Rubrik 

  



Triple-Moral

 

Die Corona-Pandemie sei eine Gefahr für gesamte Weltbevölkerung, sie könne nur durch internationale Zusammenarbeit sowie Unterstützung der armen Länder besiegt werden. So oder so ähnlich tönten die maßgeblichen EU-Politiker, und auf diese Verpflichtungen wies auch der UN-Generalsekretär Guterres in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag hin. Doch Covid-19 bringt es an den Tag: Innerhalb der einzelnen Staaten gibt es den oft beschworenen Neuanfang in puncto nachhaltiger und naturverträglicher Produktion nicht, zwischen den Ländern herrscht weiterhin das Konkurrenzdenken über die Solidarität, und die Dritte Welt gehört der Katz, weil sie nicht zahlungsfähig ist.

 

Impfstoffe in der Auktion

 

António Guterres, als UNO-Chef so etwas wie der Repräsentant der gesamten Weltbevölkerung, erklärte den Abgeordneten in Berlin, was angesichts der Pandemie zu beachten sei: „Unsere Herausforderung besteht darin, zu gewährleisten, dass die Impfstoffe als globales öffentliches Gut betrachtet werden.“ Auch Medikamente für Corona-Erkrankte müssten überall und für alle Menschen zugänglich und bezahlbar sein.

 

Trotz höflichen Beifalls stieß er damit bei den meisten deutschen Volksvertretern auf Granit. Die Bundesrepublik mischt längst an vorderster Front im Bieterwettstreit um schnellere Lieferungen sowie größere Mengen von Impfdosen mit und verhindert trotz anderslautender Lippenbekenntnisse in der Welthandelsorganisation WTO zusammen mit anderen Industriestaaten, dass ärmere Länder die Chance bekommen, sich selbst mit Vakzinen zu versorgen.

 

Wieder einmal war es Donald Trump, der die Versteigerung des „globalen öffentlichen Guts“ gemäß dem Motto „America first!“ mit unmoralischen Geboten eröffnete und versuchte, durch den Kauf und die Manipulation von Firmen, Lizenzen und Optionen seinen Landsleuten die erste Impfung und sich selbst die Wiederwahl zu sichern. Doch auch Deutschland war seit den ersten Corona-Tagen sich selbst am nächsten. Weil man die von der WHO geforderte Pandemie-Prävention verschlafen hatte, raffte man in Berlin Desinfektionsmittel, Masken sowie Beatmungsgeräte  zusammen und verweigerte diese stärker betroffenen EU-Partnern.

 

Wenn es jetzt um eine weltweit gerechte Impfkampagne geht, zeigt sich hier und in der westlichen Staatengemeinschaft wieder einmal, dass ein auf gnadenlose Konkurrenz und ökonomischen Wettbewerb angelegtes System nicht dazu geeignet ist, ein existentielles Problem, wie es durch die Seuche für alle entstanden ist, in humanitärem Sinn für alle (und nicht nur für die Auserwählten) zu lösen. Die Starter bei den vom Kapitalismus organisierten Rennen beginnen den Lauf aus verschiedenen Entfernungen; die privilegierten Individuen oder Nationen sind nach 100 Metern im Ziel, die anderen haben eine Marathondistanz vor sich.

 

Patentrecht und Massenexitus

 

So haben sich nach einer Studie von Citi Research die reichsten Länder der Erde etwa 85 Prozent der demnächst zur Verfügung stehenden Covid-19-Vakzine gesichert, allein die USA mit nur 330 Millionen Einwohnern reservierten 2,6 Milliarden Impfdosen für sich. Und Deutschland, das sich eigentlich verpflichtet hatte, gemeinsam mit den anderen Mitgliedsländern die Beschaffung ausschließlich über die EU laufen zu lassen, frönt dem nationalen Egoismus und kauft, was es auf dem Markt bekommt.

 

Die Dritte Welt schaut wie immer in die Röhre oder besser: in die leere Kanüle. In ihrer Erstwelt-Hybris lassen die Industriestaaten dabei einige wichtige Fakten außer Acht:

 

-     Viele Namen der Forscher und Startup-Gründer, die maßgeblich an der Entwicklung der Corona-Impfstoffe beteiligt waren, klingen in unseren Ohren exotisch; ihre Träger entstammen nicht der westlichen Nutznießer-Kultur. Ähnliches gilt für die Autoren der Software, mit der die Wissenschaftler arbeiten. Es scheint, als saugten die OECD-Staaten die geistigen und kreativen  Potentiale aus den Drittwelt- und Schwellenländern ab, ohne diese an den Erfolgen ihrer Landsleute teilhaben zu lassen.

-     Eine von der Bedrohung durch Covid-19 freie Welt ist nur denkbar, wenn die oft zitierte Herdenimmunität per Impfung auch den am wenigsten entwickelten und entlegensten Zipfel der Erde erreicht. Gerade in den Tropenländern mit ihrem humiden und fruchtbaren Klima könnte das Virus besonders leicht mutieren, bis hin zu resistenten Formen, und sich erneut über den Rest des Planeten verbreiten, da internationaler Handel und Fernreisen schon zum Frommen der Wirtschaft nicht lange ausgesetzt bleiben werden.

-     Als Feigenblatt wurde die internationale Plattform Covax installiert, die Impfstoffe kaufen und an 90 ärmere Länder verteilen soll. Benötigt würden für rund 3,9 Milliarden Menschen knapp 8 Milliarden Dosen, feste Zusagen aber hat Covex bislang für lächerliche 200 Millionen Dosen erhalten.

 

Es gäbe einen einfacheren Weg der regionalen Versorgung mit Vakzinen. Etlichen der betroffenen Staaten fehlen die Mittel zur Grundlagenforschung und Erprobung von Vakzinen, zur Produktion wären sie aber durchaus in der Lage. Also brachten am 2. Oktober Indien und Südafrika einen Vorschlag, dem sich inzwischen weitere Staaten in Afrika, Asien und Südamerika angeschlossen haben, bei der WTO ein, der eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte für die Dauer der Pandemie vorsieht, so dass ärmere Staaten die Impfstoffe, für die sich die Pharmariesen bereits die Patente gesichert haben, ohne unerschwingliche Lizenzkosten selbst herstellen können.

 

Vor allem die USA, die Schweiz, Großbritannien und die EU mit Deutschland an der Spitze, also die Länder, in denen die Konzerne von Pfizer und Biontec über Merck bis Novartis ihre Stammsitze haben, wehrten sich gegen die Initiative. So wurde dieser überlebenswichtige Tagesordnungspunkt auf das nächste Treffen Mitte März 2021 (vielleicht auch ein bisschen früher) vertagt.

 

Die Pharma-Branche (und ihre zahllosen Lobbyisten), die für ihre Arbeit an Impfstoffen Unsummen an öffentlichen Geldern kassierte, versteht die Corona-Krise als Gelegenheit zur Profitmaximierung, nicht als Drama für die Alten und Armen. Dabei beanspruchen ihre Konzerne eine Urheberschaft an den Ergebnissen, die zumindest zweifelhaft ist, wie der Afrika-Korrespondent der Frankfurter Rundschau, Johannes Dieterich, schreibt: „Ihre Forschung basiert auf einem seit Hunderten von Jahren geschaffenen Wissensfundament, das sich die Unternehmen in einem schleichenden Coup als angeblichen Privatbesitz unter den Nagel gerissen haben.“

  

Einbruch in unseren Hinterhof

 

Dieterich schildert die Gefühle der Menschen in Afrika, wenn sie an TV-Geräten zusehen dürfen, wie auf anderen Kontinenten die Impfstoffe abgefüllt und schließlich „in hellhäutige Oberarme gespritzt“ werden. „Dagegen wissen die Zuschauer:innen, dass sie selbst vielleicht in einem Jahr in den Genuss der injizierten Lösung kommen – falls sie bis dahin noch am Leben sind.“ Das „globale öffentliche Gut“, wie sich der UN-Generalsekretär ausdrückte, muss erst einmal exorbitante private Rendite abwerfen, also dem wohlhabenden Teil der Weltgemeinschaft verkauft werden, ehe es irgendwann und häufig zu spät auch der an Armut leidenden globalen Mehrheit zugutekommt.

 

Da dies Unmut in der Dritten Welt erzeugen könnte, fordert die Stiftung Politik und Wissenschaft, die neben dem Bundestag auch die Berliner Regierung berät, die BRD solle wenigstens einen Teil der überzähligen Impfdosen an Covax weitergeben und dies danach „gut kommunizieren“. Auf Klardeutsch: Überlasst den Bettlern ein paar Brosamen und redet laut darüber!

 

In den hiesigen Medien wird die systemische Ungerechtigkeit, die quasi von der Wirtschaft mit Unterstützung des Staates lancierte Einteilung der Welt in Kasten, kaum thematisiert, sie sind viel zu sehr mit der Diskussion der nationalen Impf-Reihenfolge beschäftigt. Anders ist es, wenn der Dritten Welt plötzlich Hilfe von anderer Seite zuteilwird. Dann gilt es, böse Absichten aufzuspüren.

   

Tatsächlich sind Russland und China nicht unbedingt als Wohltäter ohne Hintergedanken bekannt. Die Volksrepublik will ihr staatskapitalistisches Welthandelskonzept („Neue Seidenstraße“) möglichst flächendeckend vorantreiben, und Russland sucht nach politischen Verbündeten sowie strategischen Partnern. Beide Staaten buhlen in deshalb in der Dritten Welt um Sympathien, aber sie handeln wenigstens schnell, liefern ihre Impfstoffe nach Mexiko oder in afrikanische Länder, ohne nach der Zahlungsfähigkeit zu fragen, und lassen von ihnen entwickelte Vakzine in Ländern wie Indien, Brasilien und Indonesien produzieren.

 

Und schon wird aus der üblichen westlichen Doppel- eine noch perfidere Triple-Moral: In wohlklingender Rede bietet man den Staaten der Dritten Welt Unterstützung in der Not an, opfert diese Option dann den Interessen der eigenen Konzerne und prangert anschließend die Hilfsangebote von dritter Seite als verdeckte Einflussnahme an. Wer wann wie schnell in ihrem Hinterhof stirbt, wollen EU und USA immer noch ohne fremde Einmischung bestimmen. 

12/2020 

Dazu auch:

Vorsicht: Hilfe! im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2014)      

 

  



Zwei Seiten der AfD?

 

Gewiss, die Mehrzahl der bürgerlichen Journalisten mag die AfD nicht und verbreitet sich teils besorgt, teils genüsslich über die vulgären Streitereien zwischen deren Anhängern und die offene Geistfeindlichkeit, die sich in der Programmatik oder den Brandreden der Spitzenleute niederschlägt. Doch in den Berichten und Kommentaren zum Parteitag in Kalkar wird häufig das Erscheinungsbild der rechtsextremen Organisation, nicht aber deren neoliberale Abstammung und ihre manipulative Ausstrahlung weit in unverdächtige Kreise hinein thematisiert. Die Beschäftigung mit dem chaotischen Outfit lenkt indes von der wachsenden Gefahr radikal nationalistischer Mobilisierung eines beträchtlichen Teils der deutschen Bevölkerung ab. 

 

Eine Wiedergeburt mit vielen Vätern

 

Als die Aktion für Deutschland 2013 von dem Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke aus der Taufe gehoben wurde, konnte man in ihr ein radikaleres Kind der FDP vermuten: neoliberal, dem ökonomischen Herrschaftsmodell verpflichtet und von nationalem Egoismus durchdrungen. Zwar unterschied sich die AfD vom liberalen Wahlverein zur Durchsetzung von Konzerninteressen durch die Ablehnung des Euro und der anstehenden Freihandelsverträge, doch wirkten solche Differenzen wie Streitigkeiten innerhalb einer großen, im tiefsten Inneren doch homogenen Familie. Selbst als sich die Newcomer rhetorisch, ideologisch und gemütsmäßig weit nach Rechtsaußen begaben, sahen ihre Wirtschaftsprogramme immer aus, als seien sie von der FDP abgeschrieben worden.

 

Eine neue Partei hat erfahrungsgemäß viele Väter (und Mütter), die AfD suchte sich ihre Vorfahren selbst in einem illustren Spektrum, das von Chauvinisten über Geschichtsrevisionisten bis zu deutschtümelnden Spätromantikern reichte. Die zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung verschwundene NPD stand Pate, der diffamierende „Klartext“ von Franz Josef Strauß feierte eine Renaissance, Pegida bestimmte die Agenda mit, und irgendwie erinnerte die Partei an die kurzzeitig recht erfolgreichen Republikaner, nur dass sie sich im modernen Kapitalismus verortete.

 

Doch der reaktionäre Ökonimismus  trat in den Hintergrund und vegetierte unbeachtet weiter im Parteiprogramm vor sich hin, während der Ton aggressiver, plakativer und ordinärer wurde, so dass erst Lucke und wenig später seine Kontrahentin Frauke Petry das Handtuch warfen, weil sie vielleicht zartes Ocker mochten, ihnen aber vor einer tiefbraunen Schmuddelecke graute.

 

Die AfD war endgültig rechtsextrem geworden, und sie wird es bis zu ihrer Auflösung bleiben. Das Konkurrenzprinzip des entfesselten Kapitalismus passt ein ganzes Stück weit ausgezeichnet zur völkischen Hybris, die eine natürliche teutonische Überlegenheit und den steten Kampf gegen die (dunklen) Fremden dekretiert, aber irgendwann lässt sich das nicht mehr als inhaltlicher Bestandteil bürgerlicher Demokratie verkaufen. Insofern ist es verständlich, dass die Leitmedien hierzulande ausführlich und bisweilen süffisant über die Selbstzerfleischung der AfD berichten; bezeichnend ist jedoch auch, dass sie – wie einst Jesus und Diogenes das Gute im Menschen – das Erklärbare oder den „Vernünftigen“ in der heillosen Melange suchen und das genuin Bösartige so lange relativieren, bis sie etwas Brauchbares bzw. einen „Aufrechten“ gefunden haben.

 

Meuthens guter Kern?

 

Der Präsenz-Parteitag in Kalkar verlief in etwa so, wie man es seit Jahren von der AfD gewohnt ist. Während die Protagonisten des organisatorisch aufgelösten, aber im Geiste vieler Mitglieder immer noch dominierenden Flügel die neue Gemeinschaft mit Corona-Leugnern sowie Verschwörungstheoretikern vertiefen wollten und verbal-radikal noch ein paar Schippen drauflegten, distanzierte sich der Co-Vorsitzende Jörg Meuthen von extremistischen Äußerungen und einer möglichen Verschmelzung mit dem Querdenker-Mob. Der EU-Abgeordnete möchte seine Partei akzeptabel für den konservativen Salon machen oder ihr wenigstens ein rechtsbürgerliches Mäntelchen umhängen, das sich von der braunen Gesinnungskluft der Parteifreunde am äußersten Rand (der allerdings erstaunlich breit ist) unterscheidet.

 

Und Meuthen ist durchaus erfolgreich. Den offen antisemitischen Konkurrenten Gedeon hat er in Baden-Württemberg mit Hilfe von Verfahrenstricks entmachtet, den Brandenburger Fraktionschef und Flügel-Strippenzieher Kalbitz aus der Partei geworfen, und in Kalkar konnte er sich auch knapp gegen Alexander Gauland, das Urgestein der altdeutschen Restauration, und dessen Entourage behaupten. Und schon springen ihm Journalisten bei, die ansonsten wenig mit extremem Populismus in Verbindung gebracht werden. 

 

FAZ-Korrespondent Markus Wehner attestierte Meuthen „eine schonungslosen Attacke auf die Radikalen in der AfD“ und lobte den raffinierten Weichzeichner in höchsten Tönen: „Während Meuthen Führung zeigte, fiel der Nimbus von Björn Höcke als Führungsfigur in Kalkar endgültig in sich zusammen.“ Eigentlich müsste letzteres den Parteichef traurig gemacht haben, hatte er doch jahrelang den Faschisten Höcke (so darf der Mann gemäß einem Urteil des Meininger Landgerichts genannt werden) nach Kräften unterstützt.

 

Auch Nadine Lindner, Berliner Korrespondentin des Deutschlandfunks, sieht in Meuthen offenbar eine seriöse Alternative zur Alternative für ein rechtextremes Deutschland: „Die AfD hat in Kalkar ihr Rentenproblem gelöst und viele andere Probleme offengelegt. Sie bleibt eine zerrissene Partei mit unvereinbaren strategischen Zielen. Rechtsoffene Bewegungs- oder konservative Bürgerpartei?“ Gut, die AfD verabschiedete sich in Kalkar von wüsten Rentenplänen, die das Umlagesystem u. a. durch staatliche Mindestrente, Eigenvorsorge und Zocken auf den Finanzmärkten ersetzt hätten, und präsentierte jetzt eine konventionelle „Lösung“ mit ein paar populistischen Einsprengseln. Aber Lindner gesteht in ihrem Beitrag einem (natürlich von Meuthen repräsentierten) Teil der Partei konservative Bürgerlichkeit zu, wo doch eigentlich nur der Gesinnungsporno Two Shades of Brown über die Bühne geht.

 

Noch konsequenter kürt in den t-online-news der Rentier Gerhard Spörl, der immerhin schon als Ressortleiter und USA-Korrespondent für den SPIEGEL tätig war, den Parteichef zum lupenreinen Demokraten: „Die Tiraden galten Jörg Meuthen, der ja kein Sonderling oder notorischer Aufrührer ist, sondern eher das Gegenteil, ein bürgerlicher Rechter mit anständigem Beruf und unhetzerischer Rhetorik.“ Wollen wir uns als Gegenbeweis einen Satz, den der so Gepriesene auf dem AfD-Parteitag in Stuttgart 2016 von sich gab, zu Gemüte führen: „Wir wollen weg von einem links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland, von dem wir die Nase voll haben.“

 

Einmalige politische Jugendsünden? Nicht unbedingt, denn zwei Jahre später war Meuthen kein bisschen weiser geworden, als er nach der Jagd auf Ausländer in Chemnitz von „einer finsteren Stimmung im Land, die nur zu begründet sei“ sprach. Schon wollte man ihm rechtgeben, da stellte er klar, dass er nicht gewalttätige Rassisten als Urheber dieser Stimmung ausgemacht hatte. Er sei im Gegenteil „sogar stolz auf viele dieser Menschen in Sachsen, […] die so etwas wie Mut, Stolz und den Antrieb haben, sich und das eigene Land zu verteidigen“.

 

Es gibt nur eine Schlussfolgerung: Wer bei klarem Verstand Mitglied der AfD ist, gehört zur extremen Rechten und bahnt dem in Deutschland lange Zeit latenten Rassismus eine Gasse in weite Kreise der Gesellschaft. Wenn Meuthen die übelsten in der Partei kursierenden Latrinenparolen wenigstens sprachlich ein wenig glätten will, heißt das nicht, dass er sich deshalb von seinen Neonazi-Kollegen abwendet. In der Frankfurter Rundschau entlarvt Christian Thomas eine kreidehaltige Frage des plötzlich Gemäßigten als rhetorisches Spielchen: „´Aber ist es wirklich klug, von einer Corona-Diktatur zu sprechen?‘ fragt Meuthen die mehr als 500 Delegierten. Die Frage nach Klugheit (und nicht danach, ob es richtig ist), erweist sich als ein Appell an taktische Überlegungen, an Opportunismus und Gerissenheit.“    

   

Die Partei wankt, das Potential bleibt

 

Die überwältigende Mehrheit der Deutschen schüttelte in der Zeit der US-Präsidentschaftswahlen sorgenvoll den Kopf: Wie kann ein Lügner, Narzisst, Hysteriker und Gefährder wie Trump auch nur den Hauch einer Chance haben, im Amt bestätigt zu werden? Die hiesigen Bürger hätten nicht über den Atlantik blicken müssen, um Zeitzeugen solcher Unvernunft zu werden, die nähere Umgebung, das eigene Land, hätte genügt: Verkehrsminister, die von einer lügenden und betrügenden Automobilindustrie an kurzen Fäden geführt werden, eine Kanzlerin, die als Lobbyistin für einen Gangster-Konzern der IT-Branche antichambriert, Finanzminister, die den Staat etliche Milliarden kosten, weil sie die faulen Cum-Ex-Geschäfte nicht unterbinden, und so weiter. Die Aufregung darüber hält sich in der Bundesrepublik vor und zwischen den Wahlen in engen Grenzen.

 

Die von BILD und anderen systemrelevanten Publikationen entschärfte Wahrnehmung kommt auch der AfD zugute. Die Partei taumelt von einem Spendenskandal zum anderen, ihre Mandatsträger bekämpfen sich vor Gerichten, werden bisweilen auch handgreiflich, beleidigen, verleumden und sammeln Strafanzeigen wie andere Briefmarken. Bei einer Umfrage gaben kürzlich trotzdem nur 75 Prozent der Interviewten an, sie würden die AfD keinesfalls wählen. Zwar scheint die Partei gegenwärtig in der Wählergunst bei um  die zehn Prozent zu stagnieren (Vorsicht, die Demoskopie kriselt derzeit!), doch ihr tatsächliches Potential liegt weiter im Bereich eines Viertels der Bevölkerung.

 

Weil die Union gern ungestörten Zugriff auf rechte Stimmen hätte, erörtern einige ihrer Taktiker mit geneigten SPD-Kollegen die Möglichkeit eines AfD-Verbots. Das ging schon bei der NPD schief, auch deshalb, weil die vom Verfassungsschutz auf die Nationaldemokraten angesetzten V-Leute so konstruktiv im Vorstand der Partei mitarbeiteten, dass am Ende nicht mehr klar war, ob die ultrarechten Programme nun den braunen Vordenkern oder den eingeschleusten Grundgesetzhütern zu verdanken waren. Verfassungsschützer sind seit den Anfängen der BRD im Zweifel eben eher rechts, und die AfD kann wohl auf einige Schonung und Unterstützung rechnen, zumal sogar dem ehemaligen Chef des VS-Bundesamtes, Hans-Georg Maaßen, gewisse Sympathien für die Partei nachgesagt werden.

 

Zwar sitzt die AfD in keiner Landesregierung, doch gelingt es ihr, mit Lautstärke und Ausführungen zu dem, was das deutsche Volk schon immer gestört hat (von Migration bis Feminismus), die Union und die SPD immer weiter nach rechts zu treiben. Ohne die Gaulands und Weidels wäre aus einer anfangs gutwilligen, wenn auch wenig durchdachten Flüchtlingspolitik nicht binnen kurzer Zeit eine fremdenfeindliche Abriegelungs- und Abschiebungsroutine geworden.

 

Einige CDU-Landesverbände im Osten der Republik liebäugeln zum Entsetzen der Bundespartei, die im rechten Lager den Alleinvertretungsanspruch erhebt, mittlerweile ziemlich offen mit einer Zusammenarbeit. So wählten die Thüringer Christdemokraten eine von der AfD aus dem Ärmel gezauberte FDP-Marionette für zwei Tage zum Ministerpräsidenten, und in Sachsen-Anhalt verhindern möglicherweise CDU und Rechtsnationalisten in trauter Gemeinsamkeit eine relativ moderate Erhöhung der Rundfunkgebühren. Und da wäre noch Kanzler in spe Friedrich Merz, der die Deutschnationalen überflüssig machen will, indem er ihre Themen in weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung besetzt. Da wird selbst dem SPIEGEL bange: „Das Risiko dieses Kurses ist, dass die politische Nähe zu den Rechten plötzlich so groß ist, dass einzelne Kooperationen folgerichtig erscheinen.“

 

Behaupte noch einer, dass völkische Krakeeler in diesem unserem Lande keine Zukunft mehr hätten…

12/2020

Dazu auch:

Paten der AfD im Archiv dieser Rubrik (2016)

Die dümmsten Kälber (2018) und Gefährliche Spießer (2016) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

 

  



Wiedersehen im TV                          

Wen erreicht dieser Blog wie?

               

Wer in der vorletzten Freitagnacht Jan Böhmermanns Late-Night-Show Magazin Royale im ZDF anschaute und zuvor zufällig das Dossier „Coburger Schande“ (Rubrik Medien) auf dieser Homepage gelesen hatte, mochte einen Déjà-vu-Moment erleben. In komprimierter Form, aber mit gleichem Tenor erzählte der Kabarettist bei seiner ansonsten wenig geglückten Hauptprogramm-Premiere nach, was ich bereits 2014 im Dossier „Coburger Schande“ (Teile 1 und 2 in der Rubrik Medien) über die Benennung einer Straße nach dem Nazi und Reichswirtschaftsführer Brose und den damit verbundenen Kotau der Coburger Stadtspitze vor dessen Enkel, dem Milliardär Stoschek, berichtet hatte. Reiner Zufall? Vielleicht, aber dann ist es beileibe nicht der einzige.

 

Arg viel Ähnlichkeit

 

Wer eine Homepage mit Infos, Essays oder Recherchen ins Netz stellt, möchte natürlich wissen, ob er überhaupt Interessierte erreicht und wenn ja, wie viele. Schließlich ist die Intention von Bloggern, anzuregen, aufzudecken, zu kritisieren oder zu warnen. Und da sollten zumindest ein wenig Publikum und Resonanz vorhanden sein. Bei ihrem Start im September 2012 verzeichnete diese Website 230 Besucher im Monat. Laut Telekom-Statistik waren es gut acht Jahre später 7320 Leser im Oktober 2020. Das war der höchste Stand seit Beginn, nach einem stetigen Zuwachs, dessen erhöhtes Tempo in den letzten eineinhalb Jahren wohl auch wesentlich den Cartoons von Rainer Hachfeld zu verdanken ist.

 

Für eine „private“ Homepage ohne kommerziellen Nutzeffekt oder Beratungsangebote und ohne Andocken an die (a)sozialen Medien ist das ziemlich viel, im Vergleich mit den Netz-Präsentationen der Pressegiganten SPIEGEL und BILD oder natürlich mit Online-Basaren wie Amazon bleibt walter-view freilich winzig. Doch zählen im Meinungsspektrum des Internets nicht nur numerische Fakten, es existiert auch eine inhaltliche, oft „latente“ Wirkweise, die sich kaum messen lässt.

 

Hat ein Beitrag Menschen zum Nachdenken gebracht, zum Handeln angeregt oder – ohne Verschwörungsrabulistik – die offiziöse „Wahrheit“ in neuem Licht erscheinen lassen? Ein Indiz für einen gewissen Effekt ist es, wenn andere die Themen und Thesen aufgreifen und sie weiter verbreiten. Manchmal glaube ich registrieren zu dürfen, dass Letzteres mit meinen Artikeln geschieht, und zwar auf einer größeren Bühne, auf der sich vor allem Kabarettisten und Satiriker tummeln, gerne vor der TV-Kamera. Diese launigen Interpreten des politischen Geschehens, ihre Redakteure und Zuarbeiter scheinen ab und zu auch in den Rubriken von walter-view zu schmökern und den einen oder anderen Gedanken dort für die eigenen Programme zu adaptieren.

 

Nicht nur bei Böhmermann fühlte ich mich an die eigene Schreibe erinnert, auch Uthoffs und von Wagners „Anstalt“ im ZDF, eine qualitativ gediegenere Variante des politischen Kabaretts, schien Anleihen bei walter-view genommen zu haben. In meinen Texten „Gemeiner Nutzen“ (2014) und „Schluss mit lustig!“ (2019), beide im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund, hatte ich die Aberkennung der Gemeinnützigkeit von kritischen NGOs durch den Bundesfinanzhof in München kritisiert. Dass ein Sketch in der „Anstalt“ meiner Argumentation und Gliederung ziemlich akribisch folgte, mag noch politischer Nähe oder sachlicher Koinzidenz zuzuschreiben sein. Aber für die weiterhin anerkannte Gemeinnützigkeit rechter, fragwürdiger oder sogar gesellschaftspolitisch bedenklicher Vereine und Institutionen, von Neonazi-Organisationen bis zu bankrotten Parteienstiftungen, hätte es Tausende von Beispielen gegeben, Max Uthoff indes wählte das gleiche Exempel wie vor ihm ich: ein Wehrkundemuseum.

 

Auch Markus Barwasser alias Erwin Pelzig argumentierte gegen die rechten Gerichtsentscheidungen derart geistesverwandt, dass es sich wie ein Stück von mir anfühlte. Der Fall des Bauunternehmers Peter Weber, eines Youtube- und Facebook-Stars der nationalistischen Szene, der dem fränkischen Dorf Schwarzenbruck ein PR-Konzert mit Jürgen Drews aufzwingen wollte und den Gemeinderat zu Kreuze kriechen ließ, wurde von mir in „Das große Einknicken“ (Archiv der Rubrik Politik und Abgrund 2019) abgehandelt. Christoph Süß hat für die BR-Sendung quer selbst recherchieren lassen. Als er aber das Thema eine Woche später nochmals aufgriff, war seine Wortwahl nahezu identisch mit der meines Beitrags auf walter-view. Dieser war übrigens von Schwarzenbrucker Bürgern auch dem Polit-Magazin Monitor zugespielt worden, und so gelangten Recherche-Ergebnisse meiner Website auch ins Abendprogramm der ARD.

 

Ein wenig kulturelle Reichweite

 

Schon vor einigen Jahren hatte mir der inzwischen emeritierte Berliner Kabarettist Martin Buchholz gesagt, er greife ab und zu Themen und Versatzstücke aus meiner Website auf und baue sie für seine Programme um. Immerhin revanchierte er sich, indem er walter-view den Lesern seines populären Newsletters Wochenschauer empfahl. Von nichts kommt nichts, das gilt auch für die Protagonisten der Brettl-Bühnen. Es ist durchaus legitim, fremden Fundus zu durchstöbern, und Quellenangaben würden den Rahmen sprengen – eine Kabarettnummer ist schließlich keine Doktorarbeit. Aber es sei mir nachgesehen, dass ich die ansonsten stille Genugtuung über die Verbreitung des eigenen Senfes durch Stars der Szene zumindest einmal in acht Jahren auf meinen Seiten zum Ausdruck bringe.

 

Eigentlich wichtiger ist mir die Aufmerksamkeit, die den Autorenporträts in der Rubrik Literatur gewidmet wird. Die Intention war, Schriftstellern von Rang, die in den Oberflächenstrudeln des Kulturbetriebs unterzugehen bzw. der multimedial überforderten Rezipienten-Aufmerksamkeit zu entgleiten drohen, wieder einen ordentlichen Platz einzuräumen – unabhängig von Zeitgeist und Aktualitätsgebot. Die Wiederentdeckung eines William Faulkner etwa erscheint mir wichtiger als die Beschäftigung mit vielen Trägern deutscher Buchpreise der Gegenwart; den Australier Patrick White oder den Uruguayer Juan Carlos Onetti überhaupt erst an den Leser zu bringen, ist für mich ebenso ein Anliegen wie die Würdigung der weithin vergessenen Neuseeländerin Katherine Mansfield. Und von den Konterfeis eines Georges Simenon oder Ambrose Bierce sollte endlich das irreführende Etikett der Trivialität entfernt werden.

 

Dass alle zehn derzeit unter Literatur auf der Startpage geführten Autoren bei Google unter den ersten fünfzig Suchergebnissen rangieren, einige unter den ersten zehn, drei sogar unter den ersten fünf, freut mich, auch wenn natürlich die inhaltliche Relevanz mit diesem Instrument nicht zu messen ist.

  

Stachel im Speck bürgerlicher Hybris

 

Worum geht es beim Gestalten und Publizieren eines gesellschaftskritischen Blogs? Um Selbstverwirklichung? Sicherlich auch, immerhin ist es hilfreich, angesichts nationaler wie globaler Verfehlungen sowie von Kommerz und rechtsbürgerlicher Deutungshoheit glattgebügelten Mainstreams etwas äußern und veröffentlichen zu können, um nicht in der privaten Kammer ersticken zu müssen.

 

Selbstredend sollte aber diese Selbstbeschäftigung auch mit dem hehren Anspruch einhergehen, Informationen, die in den Massenmedien keine Rolle spielen oder zumindest nach meiner Einschätzung „untergewichtet“ werden, dem überschaubaren Publikum dieser Website bekannt zu machen, die selbstgefällige, systemimmanente Position bürgerlicher Kommentatoren zu konterkarieren, Sachverhalte aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten. Vor allem handelt es aber auch darum, elementare Menschenrechte aus den Ablagen von Bürokratie und Parteipolitik in die Öffentlichkeit zu zerren und den dicken Speckrand deutscher Hybris, der sich um die Kernelemente einer sozialen und aufgeklärten Gesellschaft gelegt hat, mit spitzem Stift aufzustechen.

 

Kann eine Homepage mit relativ überschaubarer Verbreitung solchen Ansprüchen gerecht werden? Immer nur unzureichend, für auch nur die kleinste signifikante Veränderung fehlt es an Reichweite. Und ob sie bei dem einen oder anderen User Meinungsänderung oder Wissenszuwachs bewirkt, ist nicht festzustellen, weil kaum Rückkoppelungen und schon gar keine Befragungen existieren. Aber ich halte es mit den progressiven Kabarettisten, Flüchtlingshelfern oder Umweltschützern: Wir versuchen es wenigstens.

 

Für die nächsten Jahre ist eine eher melancholische Reflexion wie diese auf walter-view nicht mehr zu erwarten. Schon nächste Woche widme ich mich wieder der politischen Geisterbahn mit Figuren wie den Scheuers, den Merkels, den Trumps, sorry: Bidens, den Soros und den Zuckerbergs – business as usual.

 

11/2020 

  



This will be the last

Gedanken zum 50. Todestag von Jimi Hendrix


Als am 18. September 1970 James Marshall (genannt Jimi) Hendrix in London nach exzessivem Konsum von Alkohol und Schlaftabletten an seinem Erbrochenen erstickte, befiel nicht wenige Menschen die Ahnung, dass damit der Anfang vom Ende der (relativ) unabhängigen Ära des progressiven Rock eingeläutet worden sei. In den kurzen vier Jahren seines Erfolgs hatte Hendrix das E-Gitarrenspiel revolutioniert wie kein anderer und avantgardistische Meilensteine gesetzt in einer Musik, die in der Epoche von love, peace and happiness, aber auch des Vietnamkriegs noch als Sound des gesellschaftlichen Aufbruchs verstanden wurde. Ernüchtert kann man inzwischen feststellen, dass es heute einen Star wie ihn im dressierten Pop-Business nicht mehr geben könnte.


Phönix aus dem Sumpf


Wer sich die exaltierte, manchmal aggressive, dann wieder nachdenkliche bis melancholische Musik, die alle Konventionen des Pop- und Showbusiness konterkarierenden Bühnenauftritte des Mannes aus Seattle und seinen permanenten Konsum von Alkohol und Drogen vergegenwärtigt, wird auch ohne viel Einfühlungsvermögen auf eine wenig harmonisch verlaufene Kindheit und Jugend schließen können. Tatsächlich spiegeln die ersten Jahre nach seiner Geburt am 27. November 1942 in Seattle die deprimierenden Erfahrungen vieler junger Schwarzer, die in einem miesen sozialen Milieu fast ohne Chancen auf Emanzipation oder gar Aufstieg groß werden müssen.


Seine Eltern James Allen Hendrix und Lucille Jeter, beide mit afroamerikanischen und indianischen Vorfahren, hatten ein beträchtliches Alkoholproblem. Jimi war ein schüchternes und sensibles Kind, das unter der Atmosphäre von Suff-Eskapaden, häuslicher Gewalt und ständigen Wohnungswechseln litt. Nachdem sich die Eltern 1951 scheiden ließen, wuchs er beim Vater auf. Immerhin scheinen Al und Lucille Hendrix, die als Tanzpaar gearbeitet hatten, ihrem Sohn musikalisches Talent vererbt zu haben. Umso seltsamer wirkt die jahrelange Weigerung des Vaters, Jimis sehnlichsten Wunsch zu erfüllen und ihm eine Gitarre zu besorgen. Erst 1957 kaufte Al dem Sohn für fünf Dollar eine gebrauchte akustische Klampfe, auf der der linkshändige Junge die Saiten verkehrt herum aufziehen musste.


Den Rest seiner Jugend verbrachte Jimi Hendrix weiterhin freudlos an falschen Orten: Von der Garfield High School flog er 1959 wegen schlechter Leistungen. Nach einem Autodiebstahl stand er vor der Wahl, zwei Jahre im Gefängnis abzusitzen oder sich „freiwillig“ zur Army zu melden. Er verpflichtete sich 1961 für drei Jahre und landete in der 101. US-Luftlandedivision, die in Fort Campbell stationiert war. Seine Vorgesetzten bemängelten seine fehlende Motivation, die Missachtung von Befehlen und kritisierten, er interessiere sich einzig und allein für das Gitarrenspiel. Seine Kameraden wiederum litten darunter, dass er auch Musik machte, wenn sie schlafen wollten. Nach dreizehn Monaten wurde Hendrix vorzeitig entlassen. Eine Army-Website bemerkt lakonisch über den mittlerweile berühmten Veteranen, die Luftwaffe habe einen schlechten Soldaten verloren, die Rock-Musik einen exzellenten Gitarristen gewonnen.


Nach seinem „Militärabenteuer“ gründete Hendrix eine eigene Band, verdiente sein Geld aber hauptsächlich als Begleitmusiker von Größen wie Little Richard, The Supremes oder Ike & Tina Turner. Schließlich verpflichteten ihn 1964 die Isley Brothers, eine über Generationen hinweg bekannte Soul- und Funk-Band, als Gitarristen. Ein Jahr später schloss er sich dem Rhythm & Blues-Star Curtis Knight an. Den Durchbruch, sozusagen die Auferstehung des Phönix aus dem Sumpf beliebiger Auftragsmusik, sollte Hendix 1966 erleben, als ihn der Engländer Chas Chandler in New York hörte.

    

Die Entdeckung eines Neutöners


Chandler war gerade als Bassist bei den Animals ausgestiegen und wollte nun andere Musiker beraten und produzieren. Er erkannte sofort Hendrix‘ einzigartiges Talent und das Potential zu einer großen Karriere. Chandler nahm ihn unter Vertrag und spannte ihn mit dem englischen Drummer Mitch Mitchell und dem irischen Bassisten Noel Redding zur Jimi Hendrix Experience zusammen, einem Trio, wie es die Welt noch nicht gehört hatte.


Kurz darauf wurde Hendrix mit der von dem US-Folksänger Billy Roberts geschriebenen Ballade „Hey Joe“ einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die Geschichte des Mannes, der seine untreue Frau erschießt und nach Mexiko fliehen will, wird von dunklen Gitarrenläufen, die mal drohend anschwellen, dann wieder wie in Resignation in sich zusammensinken, untermalt und akzentuiert. Bereits mit dem ersten Hit macht Hendrix klar, dass er sein Instrument anders einsetzte als all die diversen virtuosen Solo-Gitarristen der Rock-Musik.


Das erste Album „Are you experienced?“ erreichte Platz 2 der britischen Charts. Als Jimi Hendrix im renommierten Club Bag O’Nails auftrat, saßen die Beatles, The Who und Donovan im Publikum. Nur wenige Tage, nachdem die vier Liverpooler am 26. Mai 1967 ihre bahnbrechende LP „Sergeant Pepper`s Lonely Hearts Club Band“ veröffentlicht hatten, präsentierte die Experience in London den Titelsong live in einer härter akzentuierten Version. Jahrzehnte später erzählte Paul McCartney in einem ARTE-Interview, die Beatles seien stolz darauf gewesen, dass ein solcher Musiker ein Stück von ihnen gecovert habe. John Lennon wiederum soll den Veranstaltern des Monterey Pop Festival in Kalifornien den in den USA noch relativ unbekannten Hendrix empfohlen haben. So trat der am 18. Juni 1967 auf dem musikalisch wichtigsten Gipfeltreffen der Rock-Geschichte auf, spielte wie entfesselt, setzte seine Gitarre in Brand und schaffte mit einem einzigen Auftritt den Durchbruch in seinem Heimatland.


Als bestimmte zunächst spontane Showeffekte, etwa das Saitenspiel mit Zähnen und Zunge oder das Abfackeln des Instruments, von ihm als Auftrittsroutine erwartet wurden, verzichtete Hendrix, den Bekannte abseits der Bühne als freundlichen und zurückhaltenden Menschen wahrnahmen, darauf. Nur vier Alben waren tatsächlich von ihm autorisierte Werke, eine weitere LP „The Cry of Love“ stand bei seinem Tod kurz vor der Veröffentlichung. Aber es existieren unzählige Kompilationen mit mal schlechterem, mal besserem Material, darunter etliche Live-Mitschnitte. Die noch seriösesten posthum erschienenen Aufnahmen wurden von seinen Verwandten zusammengestellt.


Neben dem experimentellen Doppelalbum „Electric Ladyland“ von 1968 mit zwei Versionen von „Voodoo Child“, dem sinistren „Burning Of The Midnight Lamp“ oder „House Burning Down“, einem Kommentar zu den Aufständen in den Schwarzen-Ghettos von Watts, Newark und Detroit, gehört die Live-LP „Band Of Gypsys“ zu den herausragenden Beispielen für Hendrix‘ Kreativität. Dazu hatte er ein neues Trio mit den beiden schwarzen Musikern Billy Cox am Bass und dem Funk-Schlagzeuger Buddy Miles, der als hervorragender Lead- wie Hintergrundsänger Soul-Feeling in den zwingenden Bluesrock mischte, zusammengestellt. In der Neujahrsnacht 1970 attackierte Hendrix mit „Machine Gun“, das er in dem New Yorker Konzert, aus dem das Material für das Album stammt, den GIs in Vietnam widmet, textlich und akustisch die inhumane US-Kriegspolitik in Indochina.


Was aber machte den Sound von Jimi Hendrix so einzigartig? Es gab eine ganze Reihe begnadeter Leadgitarristen in der Rock-Musik, von Jimmy Page (Led Zeppelin) über Eric Clapton bis zu Jeff Beck, der in seiner Suche nach neuen Wegen und Techniken dem Mann aus Seattle noch am nächsten kam. Sie alle brillierten mit rasanten Läufen, ihre Soli waren raffinierte Phrasierungen des Grundthemas, ihre Fingerfertigkeit galt als legendär. Hendrix aber fegte über die Saiten wie eine Urgewalt und interpretierte die E-Gitarre als völlig neues Instrument; wo andere ein Thema versiert variierten, zerlegte er es, schuf neue Formen aus den Bestandteilen, lauschte jedem Ton, jedem Schrillen seiner Fender Stratocaster nach und fügte es einem Inferno hinzu, aus dem sich eine gleichzeitig kompromisslose und psychodelische (= bewusstseinserweiternde) andere Musik herauskristallisierte.


Harte Riffs, Stakkato-Drive, brutale Breaks und anarchische Gitarrengewitter charakterisierten eigene Lieder wie „Purple Haze“, „Gypsy Eyes“ oder „If 6 Was Nine“, und aus „All Along The Watchtower“, einem eher unauffälligen Song von der Dylan-LP „John Wesley Harding“, wurde ein düster-surreales Opus. Aber er schrieb auch einige der schönsten lyrischen Stücke des Rock, etwa das magische „Little Wing“, „The Wind Cries Mary“ oder „Angel“, feine Melodien, bei denen seine Fender ihre Sprengkraft einer melancholischen Grundstimmung unterordnete. Auch dem Blues verschaffte Hendrix in „Red House“ mehr Fülle und Resonanz, indem er sein Instrument tiefer stimmte und Akkorde mit dem Daumen der Griffhand um eine Bass-Komponente erweiterte. Das Wah-Wah-Pedal und der Verzerrer waren vor seiner Zeit Hilfsmittel für kurze exotische Effekte gewesen, er integrierte sie als wichtige Stilmittel durchgängig in die Musik („Who Knows“, „Voodoo Child“). Selbst die ungeliebten elektrischen Rückkoppelungen verarbeitete er zu musikalischen Echos, als sei jeder Ton in seiner expressiven Dimension willkommen.

 

Von seinen Managern Chandler und Jefferey, die ihn später übers Ohr hauen sollten, wurde er immerhin einmal zu seinem Glück gezwungen: Jimi Hendrix mochte seine Stimme nicht, die tatsächlich kein großes Volumen hatte und ein wenig tief war. Seine Produzenten aber zwangen ihn zum Leadgesang – und sie taten recht damit. Er klang ehrlich und ausdrucksstark, und kein geschliffener Vokalist hätte das atemlose Gefühl oder die subtile Trauer mancher Songs authentischer wiedergeben können. Zudem sang Hendrix in Improvisationen an den Gitarrenklängen entlang und führte so den dem Jazz entlehnten Scat-Gesang nebenher in die Rock-Musik ein.


Zeit der unbegrenzten Kreativität


Hendrix‘ größte Erfolge fielen in die wohl kreativste (wenn auch reichlich kurze) Phase der Rock-Musik. Die Beatles hatten mit „Sergeant Pepper’s“ quasi den Startschuss gegeben, viele andere brachen in den nächsten vier, fünf Jahren ebenfalls zu neuen Ufern auf. Die Sitar und die Tabla hielten ebenso Einzug in die Künstlerkommunen von London bis San Francisco wie die ersten Salsa-Rhythmen, die Jazz-Arrangements, das Soul-Feeling, die Folk-Ballade oder der Moog-Synthesizer.


In Großbritannien mischte das Speed-Trio Cream den elektrischen Blues auf, während Led Zeppelin Heavy Metal zur diffizilen Kunstform erhoben, Pink Floyd sich in den Sphärenklängen des Kosmos verloren, die Beatles sich mit dem Klassiker der modernen E-Musik, Karlheinz Stockhausen, beschäftigten und King Crimson psychodelische Soundorgien feierten. In den USA erreichten Janis Joplin und Jim Morrison die künstlerischen Höhepunkte ihrer kurzen Leben, hielten Frank Zappa und seine Mothers Of Invention der Nation den in intelligenten Rock mit Jazz-Ingredienzen gepackten Spiegel vor, heulte erstmals Neil Young zum schleppenden Rhythmus von Crazy Horse über vergebliche Liebe und das Unrecht auf der Welt. Das war die Zeit, in der Hendrix‘ revolutionäre Gitarre die Konventionen des Easy Listening sprengte und er viele enthusiastische Hörer und Epigonen fand.


Eine kurze Weile schien im Rock‘ n‘ Roll alles möglich, als wären kreativen Musikern keine Grenzen durch den Kommerz gesetzt, als könnten nur sie selbst entscheiden, was sie spielten, aufnahmen und veröffentlichten. Bereits Anfang der 1970er Jahre aber begannen wieder die Bosse der Plattenfirmen, die Produzenten, Manager und Show-Veranstalter die Kontrolle zu übernehmen. Eine kurze Phase weitgehender künstlerischer Freiheit wich der bis heute anhaltenden bleiernen Periode glattgebügelter, vorhersehbarer Event-Kultur, in der sich der Wert eines Stücks oder einer Performance in Dollars und Werbetauglichkeit bemisst.


Zwei ideell diametral entgegengesetzte Ereignisse prägten vor allem in den USA diese wilde Zeit der populären Musik: Da war einmal das Aufkommen der sympathischen, aber gesellschaftspolitisch naiven Hippie-Bewegung mit ihren Träumen von Frieden und freiem Grass; und da war der Vietnamkrieg mit seinen Millionen Opfern, der die Gesellschaft spaltete und für viele junge Menschen zum entscheidenden Faktor ihrer politischen Sozialisation wurde. Hendrix mag auch ein Blumenkind gewesen sein, aber sein Stil verband das Sehnen nach einer besseren Welt mit der lauten Härte industrieller Fabrikation, und sein musikalischer Kommentar zum US-Imperialismus erreichte eine nie gehörte Schärfe.

         

Das Guernica der Rock-Musik


Eigentlich hätte das legendäre Woodstock-Festival nur drei Tage dauern sollen. Doch amateurhafte Organisation und schlechtes Wetter verzögerten den Ablauf, und so war der vierte Tag angebrochen, als die letzten Musiker, Jimi Hendrix mit neuer Band, endlich die Bühne betraten. Vor der Rampe lagerten nur noch 25.000 hartgesottene Fans von zuvor mehr als 400.000, und um sie herum hatte sich ein gigantischer Ring aus Müll und Morast angehäuft.


Schon zuvor war in Woodstock über Vietnam gesprochen und gesungen worden, etwa von Country Joe McDonald oder Crosby, Stills, Nash & Young, doch jetzt hämmerte Hendrix das Grauen des Krieges und die Verbrechen des Land of the Free direkt in die Gehörgänge der noch von Flowerpower träumenden letzten Festivalbesucher. Er verzerrte „The Star-Spangeled Banner“, die pathetische Nationalhymne der USA, bis zur Kenntlichkeit und „nahm damit in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu ausnahmslos auf akustische Weise Stellung zur in den USA ständig präsenten US-Kriegsführung in Vietnam“, wie es der deutsche Musikwissenschaftler Martin Geck formulierte. Und im MDR sagte Markus Escher: „Durch Spieltechnik und den Einsatz von Effekten ließ er zwischen den bekannten Motiven der Hymne auch Kriegsszenen hörbar werden, darunter verblüffend deutlich Maschinengewehrsalven, Fliegerangriffe und Geschosseinschläge.“


Ein Kritiker verglich Hendrix‘ Interpretation des „Star-Spangeled Banner“ sogar mit Pablo Picassos Monumentalgemälde „Guernica“, der vielleicht berühmtesten Anklage gegen Kriegsverbrechen in der Bildenden Kunst. Das Motiv des Spaniers war die Zerstörung der baskischen Kleinstadt durch die Bombenflugzeuge der deutschen Legion Condor als besonders grausames Beispiel für die Massaker an der Zivilbevölkerung im Spanischen Bürgerkrieg gewesen.


Ein Leben implodiert


Anfang 1969 war Jimi Hendrix bei der Einreise nach Kanada zu einer Tournee mit Haschisch und Heroin erwischt worden. Sein Bassist Noel Redding erzählte später, das Experience-Trio sei zunehmend unter Drogen gestanden und Hendrix selbst habe begonnen, LSD schon vor dem Konzert einzuwerfen, und nicht erst danach wie früher. Dazu kam des öfteren noch jede Menge Whiskey. Manche Auftritte absolvierte der als Spross einer Suchtfamilie Vorbelastete beinahe apathisch, dann wieder begeisterte er 600.000 Zuhörer auf der Isle of Wight kurz vor seinem Tod.


Bis zum Schluss entwickelte Jimi Hendrix seine musikalischen Ideen weiter, aber ein geschwächter Körper und ein überdrehter Geist ließen keine vielleicht rettende Ruhephase zu. Als am 19. September 1970 die Nachricht von seinem Tod um die Welt ging, ahnten schon die ersten, dass das internationale Musikgeschäft eine solch exaltierte und künstlerisch eigenwillige Gestalt wohl nicht mehr zulassen würde. Insofern klingen die letzten Verse von „The Wind Cries Mary“ beinahe wie eine Self-Fullfilling Prophecy:


Will the wind ever remember?
The names it has blown in the past
And with its crutch, its old age and its wisdom
It whispers "no, this will be the last"

                  

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09/2020

 

 

 




Käufliche Republik

 

Gern maßregeln deutsche Politiker verbal andere Länder in der EU oder der Dritten Welt. Regierungen dort gingen nicht entschlossen genug gegen Korruption vor, die Behörden seien bestechlich und die Kontrollinstanzen blind, heißt es. Höchste Zeit, sich zu vergegenwärtigen, dass die Bundesrepublik selbst in Sachen Geldwäsche, Vorteilsnahme oder Steuerbetrug in der ersten Liga mitspielt.

 

Ein sicherer Hafen für die Mafia

 

Kein schöner Land in dieser Zeit, möchte man meinen: Die Menschen sind ehrlich und fleißig, die Geschäftsleute korrekt und die Regierenden ebenso integer wie verantwortungsbewusst. Unser Vaterland stellt sich weltweit als Musterdemokratie dar, auch wenn die Faktenlage nahelegt, dass sich – unbehelligt, geduldet oder sogar wohlwollend unterstützt – allerhand Schurken auf dem deutschen Mutterboden tummeln und mithilfe der heimischen Politik bei ihren finsteren Geschäften reüssieren.

 

Lange Zeit interessierte sich kaum jemand für die mehr oder weniger heimlichen Umtriebe kriminell handelnder Unternehmen und Banken sowie global agierender Kommerz-Gangster. Nach und nach aber kommen immer mehr dubiose bis mafiöse Machenschaften ans Licht, weil NGOs wie LobbyControl oder abgeordnetenwatch Aufklärung über Parteispenden einklagen und Recherche-Plattformen von Correctiv bis zu den investigativen Teams aus Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR die Cum-Ex-Betrügereien aufdecken. Ein Teil der Medien scheint tatsächlich aufgewacht zu sein, wie auch das Interview der Frankfurter Rundschau mit dem EU-Parlamentarier Sven Giegold, einem der letzten grünen Systemkritiker hierzulande, belegt.

 

Giegold nennt die Bundesrepublik ein „Geldwäscheparadies in Europa“ und schätzt, dass hier pro Jahr rund 100 Milliarden Euro an unredlich erworbenem Kapital in „sauberes“ Vermögen verwandelt werden. Verkehrte Welt: Die italienische Polizei wird „von deutschen Behörden alleingelassen“ im Kampf gegen die Mafia, „die in Deutschland fröhlich ihr Geld waschen kann“. Ein Großteil der schmutzigen Moneten fließt in das hiesige Immobiliengeschäft. Es gebe „eine enorme Zahl solcher Investments, bei denen der wirkliche Eigentümer und Verantwortliche unbekannt sind“, führt der Grüne aus. Dies bedeutet, dass zum einen die ohnehin hohen Preise und Mieten für Häuser und Wohnungen noch weiter steigen und sich andererseits die Mieter gegen Strohmänner oder Briefkastenfirmen kaum mit juristischen Mitteln zur Wehr setzen können. Die Bewohner ganzer Stadtviertel können so in eine soziale Schieflage geraten. Folgerichtig fordert Giegold, dass die Beschlagnahme von Immobilien einfacher werden müsse.

 

Hand in Hand mit der Geldwäsche geht die Steuervermeidung. Exemplarisch beschreibt Giegold eine deutsche Immobiliengesellschaft mit Muttergesellschaft in Luxemburg. Die Unternehmenstochter lässt sich von der Zentrale einen Kredit mit überhöhtem Zinssatz gewähren. Durch die teure Zurückzahlung der Schulden (an sich selbst) weist sie danach keinen Gewinn aus, während das Geld über die Grenze abfließt. Gemäß der neuen EU-Steuervermeidungsrichtlinie, die das Berliner Finanzministerium gern umsetzen würde, könnte der Staat in solchen Geschäften den normalen Marktzins durchsetzen, doch das verhindert Wirtschaftsminister Peter Altmaier, nicht erst seit WireCard als Gönner der Zwielicht-Ökonomie bekannt.

 

Die Wirtschaft darf alles

 

Mit Geldwäsche haben auch deutsche Geldinstitute beste Erfahrungen, wie die US-Drogenbehörde DEA bereits feststellen durfte. Vor allem die Deutsche Bank und die Commerzbank sorgten bereits in den 1980er Jahren dafür, dass sich die Kokain-Kartelle in Kolumbien und Mexiko keine Sorgen über den Geruch ihres Geldes machen mussten.

 

Doch nicht nur der Finanzsektor fungiert als Spielwiese für Wirtschaftskriminalität, auch die großen produzierenden und exportierenden deutschen Konzerne kennen kein Gesetz, wenn es um Absatz und Marktanteile geht. Die Autobauer VW, Mercedes und BMW manipulierten und betrogen (die beiden ersteren waren nebenher noch lateinamerikanischen Militärdiktaturen bei der Beseitigung von Gegnern behilflich) ebenso wie Siemens, der Global Player der Elektro- und Medizintechnik, der in Griechenland und anderswo Beamte und Politiker schmierte, um Projekte zu ergattern, oder die Rüstungsfirmen, die für Aufträge aus Krisengebieten den dortigen Entscheidern kräftige Trinkgelder zahlten.

 

Die redundante Feststellung, all diese Unternehmen seien für Deutschland systemrelevant, lässt nur die Folgerung zu, dass dieses System per se korrupt ist. Und so ist es kein Wunder, dass die menschenverachtenden und gesundheitsschädigenden Täuschungen der heimischen Automobilindustrie zuerst von US-Behörden aufgedeckt und bestraft wurden. Denn die Bundesrepublik, die sich stets als Hort von Recht und Anstand präsentiert, hat an der Austrocknung des Sumpfes aus Betrug und Korruption, die sie stets bei anderen Ländern in Südosteuropa oder Afrika anmahnt, kein Interesse.

 

Wie wäre es sonst zu erklären, dass Deutschland die bereits 2005 in Kraft getretene UN-Konvention gegen Korruption erst zehn Jahre später ratifizierte und sie dann in Asservatenkammern abhängen ließ? Die Mitglieder des Bundestags hatten wohl Bauchschmerzen, weil das Vertragswerk auch die Abgeordnetenbestechung verbietet, ein Delikt, das viele von ihnen aus der Praxis oder zumindest aus der Nähe bestens kennen. So ist es kein Wunder, dass der Europarat in Straßburg den EU-Primus in Berlin regelmäßig dafür rügt, dass dieser die Vorgaben der Korruptionsbekämpfung nicht umsetzt.

 

In den t-online-news schrieb Frederik Richter von Correctiv über die gesetzgebenden Parlamentarier, die Crème unserer Demokratie sozusagen: „Sie nehmen Bargeldspenden in unbegrenzter Höhe entgegen. Sie legen ihre Finanzen, ihr Vermögen und ihre Schulden nicht offen. Geheimdienstmitarbeiter dürfen ihnen über Tarnidentitäten Geld zukommen lassen. Sie setzen sich dafür ein, dass sie bestochen werden dürfen. Die Rede ist nicht von Politikern in einem südamerikanischen Land oder den Familienmitgliedern eines Kleptokraten in Afrika. Sondern von den Abgeordneten des Deutschen Bundestags.“

 

Omertà im Parlament

 

Die MdB der staatstragenden Parteien segnen nicht nur Gesetze, die Transparenz verhindern sollen, ab, sie sorgen auch dafür, dass die Kontrolle ihres Agierens in ihren eigenen Reihen verbleibt. Von etwa 75 Prozent der Parteienspenden weiß man laut LobbyControl  nicht, woher sie stammen. Erst ab 10.000 € müssen Spenden an Parteien, ab 5000 € Zuwendungen an Abgeordnete gemeldet werden, also stückeln Unternehmen, die sich um Gefälligkeiten bewerben, größere Summen einfach.

 

Wie viele Nebenjobs ein Bundestagsabgeordneter bei wem ausübt, erfährt man nicht durch Parlamentspublikationen, sondern zumindest auszugsweise durch ein Register von abgeordnetenwatch. Für die Überprüfung der subjektiven Einhaltung der Vorschriften und für eventuelle Sanktionen bei Fehlverhalten ist zuständig – die Bundestagsverwaltung. Die Forderung, deren Kriterien und Vorgehen für die Öffentlichkeit transparent zu machen, wurde vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig abgeschmettert. Und die Benimmregeln für die MdB hat aufgestellt – der Ältestenrat des Bundestags. Es bleibt also alles in der Familie.

 

Mit der Kontrolle der Fraktionsfinanzen wiederum ist der Bundesrechnungshof betraut. Dessen Arbeit aber darf seit dem 14. Juni 2013 nicht mehr von kritischen Geistern und Medien überprüft werden. Gerade noch 25 Parlamentarier waren an diesem Tag um 0.25 Uhr anwesend, genug jedenfalls, um dieses Verdikt in einer Ergänzung zum Ersten Gesetz zur Änderung des Finanzausgleichgesetzes zu verstecken.

 

Es ist ziemlich offensichtlich, dass Wirtschaft und Politik in Deutschland ein gut abgeschottetes Netz aus Bestechung, Vorteilsnahme und Kryptolobbyismus installiert haben. Möglicherweise ist das in vielen anderen Ländern ähnlich, aber sollten unsere Minister nicht trotzdem künftig etwas leiser auftreten? Man möchte ihnen in neudeutscher Bescheidenheit zurufen: Bitte ermahnt nie wieder eure Kollegen in Albanien, Montenegro oder Moldawien, die Korruption in ihren Ländern entschlossener zu bekämpfen. 

10/2020 

Dazu auch:

Guter Pharma-Onkel im Archiv dieser Rubrik (2019)

Spenden? Null Ahnung! im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2020)

 

  



Abhängig unabhängig?

 

Wie sollen wir es nur mit den klassischen Medien halten? „Lügenpresse“ tönt es von Rechtsaußen, „Systemkonforme Berichterstattung!“ monieren linke Kritiker. Fakt ist, dass wir auf die Information durch Tageszeitungen, politische Magazine und öffentlich-rechtliche Sender nicht verzichten können, Pflicht ist es aber auch, sich die Verflechtung der  maßgeblichen Publizistik mit der exekutiven Macht und der übergeordneten Wirtschaft stets bewusst zu machen. Auf (geistige) Nahrung kann man nicht verzichten, in diesem Fall aber sollte man das Vorgesetzte mit viel Vorsicht genießen.

 

Wer gibt die Richtung vor?

 

Die Pressefreiheit ist in vielen Fällen die Freiheit des Verlegers, die politische Tendenz seiner Blätter vorzugeben. Das muss nicht immer mit dem missionarischen Eifer eines Axel Caesar Springer geschehen, der die US- und Nato-Treue schon im Arbeitsvertrag für Redakteure festhalten ließ und einst jedem seiner Journalisten untersagte, die DDR ohne Gänsefüßchen zu schreiben, aber im Grunde werden die Besitzer der meisten Publikationen Profit anstreben und sich zu diesem Zweck möglichst zielgenau innerhalb eines Systems positionieren, das ihre Untergebenen tunlichst nicht in Frage stellen sollten.

 

Zu den weitverbreiteten Strategien der Gewinn abwerfenden Printmedien gehören die Reduzierung des journalistischen Personals, die Zusammenlegung von Redaktionen sowie das Outsourcen von Recherchen oder Unterhaltungsteilen. Von entscheidender Bedeutung ist aber das Werbeaufkommen – und damit auch die Frage: Wie halte es in der Berichterstattung mit der Kritik an potentiellen oder tatsächlichen Reklamekunden? Prangert eine Zeitung pausenlos die von der Automobilindustrie ausgehende Umweltzerstörung an oder attackiert den Größen- und Tempowahn der Kfz-Bauer, wird wohl kaum der neueste Porsche auf ihren Seiten in Glanzdruck beworben werden. Der SPIEGEL hat so einst bittere Erfahrungen mit der Rachsucht der von ihm kritisierten Konzerne machen müssen. Oft aber sorgt der drohende Verlust von Anzeigenerlösen in der freien Presse für eine gewisse Vorsicht bis hin zur freiwilligen Selbstkontrolle, für vorauseilenden Gehorsam oder die Bedienung unternehmerischer Vorlieben.

 

Keine Geldsorgen dürfte hingegen das einstige Flaggschiff des investigativen Journalismus in den USA haben: Die Washington Post wurde von Amazon-Besitzer Jeff Bezos, der als reichster Mensch der Welt gilt, gekauft. Man kann nur rätseln, ob Krösus sich ein neues Steckenpferd zugelegt hat oder ob er politisch-mediale Einflussnahme mit renommiertem Etikett plant. Weitere Superreiche betätigen sich ganz anders auf dem publizistischen Feld, diskret und gönnerhaft, in jedem Fall aber so undurchsichtig, dass ihr Gebaren sensible Menschen um die Unabhängigkeit der Redaktionen fürchten lässt.

 

So berichtete der SPIEGEL unlängst über das Panoptikum aus Neonazis, Reichsbürgern und Impfgegnern, die vor dem Reichstag randalierten. Die bunte Meute macht immer wieder Bill Gates für Corona und andere Geißeln der Menschheit verantwortlich – ein verschwörungstheoretisches Mantra, das im Artikel zu Recht als gefährlicher Unfug dargestellt wird. In einem Nachtrag erklärte das Magazin aber folgendes: Die Bill & Melinda Gates Stiftung unterstützt das SPIEGEL-Projekt „Globale Gesellschaft“ über drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Millionen Euro. Reporter des Magazins berichten online aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa. Die Stiftung hat keinerlei inhaltlichen Einfluss.

 

Zwar schob der SPIEGEL nach, der obenstehende Beitrag sei nicht von der Stiftung gefördert worden, doch bleibt ein flaues Gefühl. Gates bezuschusst zusammen mit seinem Co-Mäzen, dem Investor und Multimilliardär Warren Buffett, auch die WHO, doch bleibt der Microsoft-Tycoon beim Einsatz seiner und anderer Gelder durch die Gesundheitsorganisation nicht so ganz ohne Einfluss. Initiiert werden nämlich Impfaktionen und Vorsorgekampagnen, bei denen Produkte von Unternehmen zum Einsatz kommen, an denen er Anteile hält. Sollte er sich bei der Medienförderung plötzlich zum Altruisten gewandelt haben?

 

Stutzig macht auch, dass zu den Anschub-Financiers der Recherche-Plattform Correctiv, die bei der Aufdeckung des Cum-Ex-Steuerbetrugs Pionierarbeit leistete, nicht nur relativ unverdächtige Sponsoren wie die Bundeszentrale für politische Bildung, sondern auch die Open Society Foundations mit Beiträgen von mindestens 303.000 Euro gehören. Ausgerechnet diese Stiftung des steinreichen US-Investors George Soros, dessen Spekulationen ganze Volkswirtschaften an den Abgrund trieben, subventioniert ein Journalistenkollektiv, das die Manipulationen auf den Finanzmärkten aufdecken will. Bleibt die Frage, was das große Geld von den Aufklärern will; sicherlich nicht, dass sie in seinem eigenen Wohnzimmer unterm Teppich nachschauen.

 

Zöglinge des Neoliberalismus

 

Natürlich darf man nicht so tun, als würden redliche Journalisten ausschließlich von bösen Verlegern, erpresserischen Werbekunden oder dubiosen Mäzenen in die Mainstream-Schreibe gezwungen. Viele Redakteure im Politik- oder Wirtschaftsteil der Leitmedien von der Süddeutscher Zeitung über die Zeit bis hin zur Frankfurter Allgemeinen genießen und verteidigen den gesellschaftlichen Status aus eigener Überzeugung.

 

Sie gehören zu den Besserverdienenden, genießen ihr Renommee als gewiefte Börsenauguren, handverlesene Mitglieder in Think Tanks oder elegante Leitartikler mit der Mission, soziale Härten als unvermeidbar und Profitmaximierung als Naturgesetz darzustellen. Kriminelle Auswüchse des ökonomischen Apparats können ab und zu auch getadelt werden, das System an sich aber bleibt gottgewollt, schließlich nährt es auch seine Berichterstatter üppig.

 

Der Neoliberalismus hat scheinbar weltweit den Kampf um die Deutungsmacht gewonnen. In Stockholm werden die Nobelpreise für Wirtschaft an Ökonomen verliehen, die noch den ungerechtesten Macht- und Verteilungsverhältnissen und den abstrusesten Finanztaktiken maßgeschneiderte „Theorien“ überstülpen. In den außenpolitischen Redaktionen hierzulande gilt die NATO, das militärische Instrument westlicher Marktbeherrschung, als sakrosankt. Die neuerlichen Bestrebungen Deutschlands nach mehr Einfluss (für die Dritte Welt bedeutet dies mehr Ausbeutung) werden mit ungeduldigem Wohlwollen begleitet. Fragen nach dem Sinn einer Expansion um jeden Preis, nach der Verantwortung für eine gerechtere und damit friedlichere Welt werden – wenn überhaupt im Blatt existent – in die Feuilletons verschoben.

 

So ist es auch nicht verwunderlich, dass unlängst das markig geäußerte Wunschdenken des ehemaligen Kohl-Intimus und heutigen Organisators der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), Wolfgang Ischinger, kaum auf Resonanz oder gar Kritik stieß. Der forderte eine „deutsche Führungsrolle“ in der EU und empfahl, im Falle eines möglichen Vetos einzelner Mitglieder in der gemeinsamen Außen- und Militärpolitik künftig eine „Koalition der Entschlossenen“ voranschreiten zu lassen. Es fehle aber in der Bundesrepublik eine „gesellschaftliche Unbefangenheit im Umgang mit den Streitkräften“, was sich ändern müsse.

 

War da nicht was? Verdankte die Weltgeschichte nicht einem entschlossenen Deutschland, das mit seinen Armeen allzu unbefangen umging und sie gern über die Grenzen schickte, die größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts? Das Copyright für ominöse Koalitionen gebührt wiederum dem US-Präsidenten George W. Bush, der mit einer „Koalition der Willigen“ den Irak und in Folge den halben Nahen Osten verwüstete. Wo blieb nach Ischingers neo-imperialer Äußerungen der Sturm der Empörung im deutschen Blätterwald? War irgendwo ein medialer Aufschrei angesichts der expansionistischen und durchaus kriegerischen Intentionen zu vernehmen?

 

Wenn Enthüllungen folgenlos bleiben

 

Aber es gibt sie noch, die pedantisch nachbohrenden Journalisten, die Skandale aufdecken, Korruption beim Namen nennen, die (offiziell geleugneten) rechtsradikalen Strukturen in den Sicherheitskräften offenlegen oder als Lokalreporter der Armut im reichen Land die richtige Begrifflichkeit zuordnen: Ungerechtigkeit.

 

Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender bieten nicht selten gut recherchierte Beiträge an, in denen bürokratische Missstände angeprangert, die Leichen der Regierungspolitik ans Licht gezerrt und Gefahren für die Umwelt oder eine tolerante Gesellschaft deutlich gemacht werden. Aber solche Reportagen und Features, wie sie etwa der Deutschlandfunk, das ARD-Magazin Monitor oder ARTE ausstrahlen, nehmen selten gute Programmplätze ein. Sie verschwinden im Wust seichten Klamauks und abundanter Krimiserien, und wenn sie die offizielle Kultur attackieren oder politisches Handeln als gesetzeswidrig entlarven, löst selten öffentliche Entrüstung und so gut wie nie adäquate Reaktionen der Verantwortlichen oder der Exekutive aus.

 

Wenn die Bundesregierung offenbar gegen geltendes Recht verstößt und Waffenexporte in Kriegsgebiete genehmigt oder wenn Nazi-Seilschaften in der Polizei und Bundeswehr beim Namen genannt werden, reagieren Polit-Profis wie der selbsternannte internationale Moralapostel Heiko Maas oder der geübte Ignorant Horst Seehofer mit Beteuerungen von Ahnungslosigkeit im Amt oder kategorischen, aber irrigen Dementis. Weil so berechtigte mediale Vorwürfe stets relativiert und diffus geleugnet werden, gehen die einzelnen Mosaiksteinchen der Besorgnis im Einheitsbrei einer teils tendenziös, teils zu wenig informierten Gesellschaft unter. Der Medien-User ähnelt dann Innenminister Seehofer, der im Falle des latenten Rassismus in der Polizei den Wald vor lauter Bäumen, hier: die Strukturen vor lauter Einzelfällen, nicht sieht.

 

Der Presse und den Rundfunkanstalten pauschal Fake-Produktion zu unterstellen, wäre falsch. Auch in den bürgerlichen Organen findet man Einzelstücke des guten, weil aufklärerischen Journalismus, aber es macht arg viel Mühe, sie aufzuspüren und in den übrigen Beiträgen die Wahrheit gewissenhaft zwischen den Zeilen zu suchen. Die alternativen Medien können uns nicht flächendeckend mit Informationen versorgen. Sie sind als Ergänzung unverzichtbar, aber ohne SPIEGEL, SZ oder Monitor wäre unser Spektrum leider noch eingeschränkter als es so schon ist – auch wenn wir das uns Vorgesetzte kritisch prüfen und gegebenenfalls neu bewerten müssen. 

10/2020 

Dazu auch:

Pressefreiheit??? im Archiv dieser Rubrik (2014)

 

 

 

  



Unfairer Vermittler

 

Wir leben wahrhaftig in düsteren Zeiten: Ganze Länder gehen sich an die Gurgel, Bürgerkriege toben, und machtgeile Populisten stoßen wüste Drohungen aus. Nur unsere friedliche Republik steht integer, unbeteiligt und unparteiisch da und bietet sich als ehrliche Vermittlerin in den Konflikten der Welt an. So sieht oder äußert dies jedenfalls Bundesaußenminister Heiko Maas, und viele Medien kolportieren solche alternative Wahrheit ohne öffentlichen Widerspruch, obwohl ihre eigene Recherchen längst die Unredlichkeit der Aussage belegen.

 

Kriegsgewinnler auf Friedensmission?

 

Nachdem der libysche Despot Gaddafi dem Bau der Atombombe abgeschworen und damit die Welt vermeintlich ein wenig sicherer gemacht hatte, vergaßen die USA alle Vereinbarungen mit ihm und trugen zusammen mit ihren NATO-Kumpanen entscheidend dazu bei, sein wohlhabendes Land in einen bettelarmen failed state zu verwandeln. Seit nunmehr neun Jahren bekämpfen sich Warlords, Islamisten und Gangster, wobei sich im Laufe der Zeit der Armeegeneral Haftar und eine „Zentralregierung“, die mit fundamentalistischen Milizen kooperiert, als Hauptkontrahenten herauskristallisierten.

 

Weil Libyen über viel Erdöl und strategisch wichtige Häfen verfügt, mischen auf beiden Seiten regionale und internationale Mächte mit, etwa Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Ägypten auf Seiten Haftars, Qatar und die Türkei als Alliierte des Regimes in Tripolis. Immer mehr Waffen und Söldner wurden über die Jahre ins Land gebracht, Zehntausende starben, Hunderttausende wurden zu Binnenflüchtlingen und eine knappe Million von Elendsmigranten aus den Staaten südlich der Sahara irrte zwischen den Fronten hin und her, wurde interniert oder sogar versklavt.

 

Da klingt es vernünftig, wenn Außenminister Maas Verhandlungen und den Stopp von Waffenlieferungen fordert, um den Krieg in Libyen zu beenden. Nur endeten bereits zwei Friedenskonferenzen, eine in Moskau und die vom Januar dieses Jahres in Berlin, ohne greifbares Ergebnis. Und bei Heiko Maas ist es immer dasselbe: Er drängt sich vor und gibt im Brustton der Überzeugung Moralisches von sich, das sich aber nach eingehender Überprüfung als substanzloses Salbadern erweist. Im Fall Libyens liegt sogar der Verdacht der Vertuschung und des Gesetzesverstoßes durch das Auswärtige Amt (AA) und die Bundesregierung nahe.

 

Nach der Berliner Konferenz reiste Maas in die VAE und erklärte dort, alle „Länder mit Einfluss“ auf den Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land hätten sich dazu verpflichtet, keine Waffen mehr dorthin zu liefern. Ein wenig freilich schränkte er diese friedensstiftende Großtat ein: "Letztlich müssen wir uns darauf verlassen können, dass alle (…) sich an das halten, was sie unterschrieben haben." In pazifistischem Eifer beschloss im Mai der Bundestag, dass sich Deutschland an der EU-Mission Irini beteiligen werde, die das Waffenembargo vor der libyschen Küste überwachen soll – selbst auf die Gefahr hin, dass dort Kriegsmaterial made in Germany, das an die Türkei verkauft worden war, abgefangen würde. Doch Erdoğans Strategen hatten längst einen anderen Weg gefunden, Rüstungsgüter und in Syrien angeworbene Söldner auf die Schlachtfelder des nordafrikanischen Wüstenstaates zu werfen – mithilfe deutscher Logistik.

    

Wir wollen einen verzweifelten Versuch zur Ehrenrettung der Bundesregierung und ihrer dauerplappernden Nervensäge Heiko Maas unternehmen, indem wir unterstellen, die Berliner Politik sei in dieser Angelegenheit hoffnungslos naiv und frappierend unwissend gewesen. Nur so können wir es vermeiden, von der Beihilfe zu oder zumindest der Duldung von Vertragsverletzungen zu sprechen. Andernfalls hätte sich nämlich der Außenminister in den VAE und anderswo freimütig etwa so äußern müssen: „Liebe Freunde und Geschäftspartner, nehmt unsere Appelle, den Tod nicht mehr nach Libyen zu exportieren, nicht gar so ernst. Wir tun es selber aus Rücksicht auf unsere Wirtschaft ja auch nicht.“

 

Andere Region, gleiches Schema

 

In einer Sternstunde des investigativen Journalismus hatte nämlich eine Recherche-Kooperartion, an der u. a. die TV-Sender BR und ARTE sowie der Stern, die spanische Zeitung El Diario und die niederländischen Lighthouse Reports mitwirkten, herausgefunden, dass Airbus der Türkei Transportmaschinen geliefert hatte, um den Krieg mit Equipment und Milizionären weiter anzuheizen.

 

Der europäische Luftfahrtkonzern, in dem deutsche und französische Manager das Sagen haben, hatte neun Militärtransporter vom Typ A400M an das Erdoğan-Regime in Ankara verkauft, die Lieferung einer zehnten Maschine steht unmittelbar bevor. Mindestens elfmal flog die Türkei „kriegswichtige Fracht“ nach Libyen und unterlief damit das von den Vereinten Nationen über das Bürgerkriegsland verhängte Waffenembargo. Airbus übernahm auch die Wartung der Flugzeuge, und ein Unternehmenssprecher verteidigte den Deal mit einem Schulterzucken. Was die Türkei mit den Maschinen wohin transportiere, sei nicht Sache des Konzerns.

 

Höchst interessant ist, dass die Türkei bei diesem Rüstungsgeschäft gar nicht als Vertragspartner von Airbus auftrat. Für die Durchführung des Geschäfts war die internationale Beschaffungsorganisation Occar in Bonn zuständig, die den Einkauf von Flugzeugen für sieben Staaten, darunter Deutschland und die Türkei, realisiert. Und im höchsten Entscheidungsgremium von Occar sitzt wiederum Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer…

 

Man habe „keine Kenntnisse“ über die Nutzung der A400M durch die Türkei, tönte es gleichlautend bei Occar und aus dem Berliner Verteidigungsministerium. Da mochte Außenminister Heiko Maas, der kurz zuvor noch vollmundig Sanktionen für Unternehmen, die das Waffenembargo umgehen, gefordert hatte, nicht aus der Ignorantentruppe ausscheren und ließ sein AA blauäugig verkünden, man habe "keine über (presse-)öffentliche Hinweise hinausgehenden Erkenntnisse". Ist die Regierung dümmer als die Medien, oder toleriert sie stillschweigend einen internationalen Rechtsbruch?

 

Weiter östlich im Mittelmeer stehen die NATO-Verbündeten Griechenland und Türkei kurz vor einem Seekrieg um die Erdgasvorräte in der Ägäis. Laut German-Foreign-Policy soll es unlängst zum Zusammenstoß zwischen einer griechischen und einer türkischen Fregatte gekommen sein. Bei letzterer habe es sich um eins von vier Kriegsschiffen gehandelt, die von der Hamburger Werft Blohm & Voss für die osmanische Marine gebaut worden seien. Doch auch Griechenland wurde von deutschen Konzernen ausgiebig mit Rüstungsgütern beliefert. Als die Syriza-Regierung in Athen in der akuten Notlage nach der Bankenpleite von weiteren Waffenkäufen zurücktreten wollte, wurde sie von Berlin streng zur Vertragserfüllung verdonnert. Wieder einmal ist also die deutsche Kriegsindustrie mitten drin in einem Krisengebiet – statt nur dabei. Sollte es tatsächlich zu kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ägäis kommen, werden beide Seiten einander mit hochwertigen Produkten aus teutonischer Fertigung massakrieren.

 

Eine Regierung bricht ein Gesetz

 

Man wird doch wohl noch Waffen an NATO-Alliierte verkaufen dürfen, hört man die Rüstungs-Manager und -Lobbyisten sich moralisch entrüsten. Dabei unterschlagen sie allerdings die anders gelagerten Deals und die rechtlichen Verdikte:

 

-     In Libyen mischt sich nicht nur das NATO-Land Türkei ein, auch

      Ägypten und die VAE intervenieren massiv mittels  

      Waffenlieferungen an die Truppen des Generals Haftar, während

      Qatar das Regime in Tripolis aktiv unterstützt. Alle drei Länder

      aber, die nicht NATO-Partner sind, wurden mit dem Plazet der 

      Bundesregierung von deutschen Konzernen hochgerüstet. In

      Nordafrika lässt sich sicherlich wirklichkeitsnäher als auf dem

      firmeneigenen Schießstand beobachten, wie sich das Todesgerät

      im Felde bewährt.

-     Es gibt ein Kriegswaffenkontrollgesetz hierzulande, von dem

      Heiko Maas und seine Kollegen noch nie gehört zu haben

      scheinen. Der Paragraph 6 schreibt dort unmissverständlich vor,

      dass die Ausfuhrgenehmigung von Kriegswaffen zu versagen ist, 

      wenn diese „bei einer friedensstörenden Handlung (…) verwendet

      werden“ oder die Genehmigung des Exports „völkerrechtliche

      Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder deren

      Erfüllung gefährden würde“.

 

Ob diese gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden, soll der Bundessicherheitsrat, ein Neunerrat, prüfen, der quasi fremden Mächten die Lizenz zum Töten mit deutschen Mordinstrumenten erteilen kann. Diesem Ministergremium gehören neben Frau Merkel höchstpersönlich u. a. der konzernfromme Peter Altmaier als Chef des Wirtschaftsressorts und sein Kollege vom AA an. Heiko Maas müsste also wissen, dass dort permanent gegen geltendes Recht verstoßen wird – falls er den entscheidenden Paragraphen überhaupt kennt oder er in den Sitzungen nicht einfach durchschläft.

 

Man kann also der gegenwärtigen Bundesregierung (und den Vorläufer-Kabinetten) kaum völlige Ahnungslosigkeit oder lediglich Fahrlässigkeit in der Erteilung von Exportgenehmigungen unterstellen, und so kommt man zwangsläufig zu dem Schluss: Im Interesse seiner Rüstungskonzerne bricht Deutschland häufig und fortlaufend sein eigenes Gesetz.

 

Enttäuschend ist dabei, dass die Medien, die diese Sachverhalte oft minutiös recherchieren und die Heuchelei der Verantwortlichen aufdecken, vor dem Schritt zurückschrecken, die politischen Zusammenhänge herzustellen und die kriminelle Verantwortungslosigkeit, mit der über tödliche Exporte entschieden wird, namentlich der politischen Führungsspitze unseres Staates  zuzuordnen. 

09/2020 

Dazu auch:

Üble Deals mit Kalkül im Archiv dieser Rubrik (2018)

Krieg geht immer im Archiv von Politik und Abgrund (2020)         

 

 

 

  

Verfolgte Unschuld?

 

Dieter Nuhr, kabarettistischer Hansdampf auf allen möglichen TV-Kanälen, liegt im Streit mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), weil die erst ein Internet-Statement von ihm zu ihrem hundertjährigen Bestehen erbeten und dieses dann nach Protesten im Netz vorübergehend von ihrer Website „Für das Wissen“ entfernt hatte. Der Autor ist nun beleidigt, fühlt sich von „Diskussionsverboten“ bedroht, von Gutmenschen verfolgt und ausgegrenzt. Angesichts des hitzigen Disputs könnte man sich fragen, ob Nuhrs mit einem Seitenhieb gegen seine Lieblingsgegner gewürzte Banalität tatsächlich solche Aufmerksamkeit verdient – und wie die DFG überhaupt dazu kommt, mit einer Blog-Kampagne hundert Jahre des eigenen kontinuierlichen Wirkens für die jeweilige Macht im Staate zu feiern.

 

Idol der schweigenden Mehrheit?

 

Kabarett galt einst als Ausdrucksform der Kritik an den Regierenden, Reichen und Eliten in satirischem Gewande. Insofern ist Dieter Nuhr mit seinen seichten Pointen und der sich der vermeintlichen Volksmeinung anbiedernden Vernünftelei eher dem Berufsstand der Comedians zuzurechnen. Eine sonore Stimme und das sympathisch-joviale Auftreten à la George Clooney haben ihn zu einem Fernsehstar werden lassen, der allwöchentlich augenzwinkernd kleine Wahr- und Weisheiten (wenigstens hält er seine Sottisen für solche) zwecks Unterhaltung eines geneigten Publikums zum Besten gibt. Die Strukturen der Macht stellt Nuhr lieber nicht in Frage, gesellschaftliche oder ökonomische Analysen sind seine Sache auch nicht, aber Feindbilder pflegt er schon.

 

Als die Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt erreichte, outete sich Dieter Nuhr mutig als islamophob; er übte also nicht - durchaus legitime - Religionskritik, sondern überzog die muslimische Gemeinschaft hierzulande mit Klischees aus der Mottenkiste der gutbürgerlichen Fremdenfeindlichkeit. Wie sein bayerischer Kollege Helmut Schleich reiht sich Nuhr mittlerweile in die illustre Schar der Corona-Verharmloser sowie Klimawandel-Leugner ein und glaubt sich darin eins mit einer schweigenden Mehrheit, die seltsamerweise überwiegend weit rechts im politischen Spektrum siedelt. Über die etwas linkisch und stets übereifrig wirkende Greta Thunberg, deren Verdienst es gleichwohl ist, ein lange verdrängtes Schicksalsthema der Menschheit in den Fokus gerückt zu haben, reißt er gern primitive Witze, auf dass sich die Stammtischrunden deftig auf die Schenkel schlagen.

 

Als ihn aber die DFG um einige Gedanken zu Wissenschaft und Bildung bat, fielen ihm nur Plattitüden ein, die er allerdings mit einer Attacke gegen Fridays for Future aufpeppte.

 

Nichts Genaues weiß man nicht…

 

Die Nachdenklichkeit und Behutsamkeit, die Nuhr bei sensiblen Themen auf der Bühne abgeht, beschwor er nun in einem Text, der Tiefe vorgaukelt, in Wirklichkeit aber recht flach über die Klippen der Dialektik schwappt:

„Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu 100% sicher ist, sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben. Weil viele Menschen beleidigt sind, wenn Wissenschaftler ihre Meinung ändern: Nein, nein! Das ist normal! Wissenschaft ist gerade, DASS sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert. Wissenschaft ist nämlich keine Heilslehre, keine Religion, die absolute Wahrheiten verkündet. Und wer ständig ruft "Folgt der Wissenschaft!“ hat das offensichtlich nicht begriffen. Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig.“

 

Trotz Keppler, Galilei und wissenschaftlichen Konsorten können wir demnach nicht zu hundert Prozent sicher sein, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Auch wenn Darwin unverantwortlicherweise vollkommen überzeugt war, dass wir Menschen und unsere Brüder sowie Schwestern aus Flora und Fauna Kinder der Evolution sind, sollten wir vielleicht doch den evangelikalen Kreationisten eine Chance lassen, denen zufolge Gott vor ein paar tausend Jahren unsere Welt nach seinem Gutdünken zusammengebatzt hat. Schließlich ist laut Nuhr Wissenschaft „ja gerade, dass sich die Meinung ändert“. Und ein paar Gelehrte und kreative Fakten werden sich schon finden, die, von allen guten Geistern verlassen, die Geschichte der Menschheit und des Kosmos wieder ein bisschen mystischer umschreiben.

 

Dass tatsächlich häufig bloße Hypothesen als gesicherte Wahrheiten verkauft werden, lässt sich auf dem Feld der „Wirtschaftswissenschaften“ beobachten, und dass sich auch die „Rassenlehre“ der Nazis ein Forschungsmäntelchen umhängte, hätte Nuhr bei einem Blick in die Geschichte der DFG erkennen und benennen können (s. u.). Er aber warnt vor Schlüssen und Aktionen, die sich aus ziemlich harten metereologischen Fakten ableiteten.

  

Nahezu hundert Prozent aller ernstzunehmenden Klimaforscher haben unzählige Fakten zusammengetragen, deren Wechselwirkung untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass der Mensch die Klimaerwärmung und die Umweltverschmutzung maßgeblich beeinflusst. Nur die deutschen Autokonzerne und Dieter Nuhr sind da anderer Meinung. Deshalb denunzierte er die Jugendlichen, die zaudernden und korrupten Politikern „Folgt der Wissenschaft!“ zurufen, als Ignoranten. Das ist lächerlich und wäre nicht weiter diskutabel, würde sich der Comedian nicht plötzlich als Märtyrer der Meinungsfreiheit gerieren.

 

Nachdem ihm die geschmacklosen Scherze über Greta Thunberg einige aufgeregte und böse Stellungnahmen im Internet eingetragen hatten, erklärte Nuhr: „Heute kein Wort über Greta. Wer Witze macht, spürt heute die Macht der Inquisition.“ Der eingebildete Verfolgte wähnt sich im finsteren Mittelalter oder zumindest in der McCarthy-Ära, als in den USA der 1950er Jahre zur Hexenjagd (auf Linke!) geblasen wurde: „Das ist nicht nur erstaunlich, sondern ängstigt mich, da ich inzwischen eine McCarthyartige Stimmung im Land wahrnehme und im Zuge der Cancel culture auch die Freiheit des Denkens und der Forschung im Allgemeinen in Gefahr sehe.“

 

Damals verloren in den USA linksverdächtige Regisseure, Schauspieler und Autoren ihre Jobs oder Publikationsmöglichkeiten, einige, darunter Dashiell Hammett („Der Malteser Falke“) oder Folksänger Pete Seger, wanderten sogar wegen „Missachtung des Kongresses“ ins Gefängnis, weil sie niemanden denunzieren wollten. Und was die Inquisition, deren Macht der verfolgte Witzbold zu spüren meint, betrifft: Die Folterexperten der Katholischen Kirche entließen keinen unversehrt an Gliedmaßen und Seele aus ihren Krallen, und oft sorgten sie sogar für eine Feuerbestattung bei lebendigem Leib. Dieter Nuhr hingegen kann überall auftreten, der „Hysterie“ seiner Kritiker im Rampenlicht trotzen, seine Meinung wird auch allerorten in der Presse nachgedruckt.

 

In der Frankfurter Rundschau charakterisierte Stephan Hebel die selbstmitleidige Masche und das Kalkül dahinter: „Nur eine Frage ist offen: Warum tut Dieter Nuhr sich diese Heldentaten an? Warum verstößt er ständig todesmutig gegen ,Diskussionsverbote`? Nun ja, es ist ja auch ganz praktisch, dauernd im Fernsehen das zu erzählen, was angeblich verboten ist, um anschließend zu beklagen, das, was man gerade gesagt habe, sei verboten. Damit ist Nuhr nicht allein, das ist tägliche Übung von rechts bis rechtsextrem.“

 

Natürlich mag es einem seltsam vorkommen, dass die DFG ausgerechnet einen Flachdenker als Wissensanalytiker haben wollte. Felix Hutten fand es in der Süddeutschen Zeitung „grotesk“, dass jemand, der Klima- und Corona-Verharmlosern Munition liefere, als DFG-Botschafter den Wert von Spitzenforschung betonen solle. Ob es nötig war, nach Protesten aus der Öko-Szene den eigentlich belanglosen Text zu löschen, soll hier nicht geklärt werden, interessanter ist es zu beobachten, wie sich Nuhr zum Opfer hochstilisierte, selbst nachdem die Organisation eingeknickt war und ein Friedensangebot gemacht hatte: „Die DFG bietet Herrn Nuhr aber sehr gerne eine im Lichte der aktuellen Debatte kommentierte Wieder-Online-Stellung seines Statements an.“

 

Dieter Nuhr aber schmollt trotz Wiederveröffentlichung seines Textes weiter und fühlt sich „denunziert“. Da wird es Zeit, sich seinem einstigen Auftraggeber zuzuwenden, der DFG, die immerhin 3,4 Milliarden Euro an Bundes- und Ländermitteln jährlich zu verteilen hat. Wenn in Deutschland eine Institution auf hundert Jahre Tradition ohne nennenswerte Zäsur zurückblicken kann, beschleicht einen unversehens ein ungutes Gefühl.

 

Verein mit übler Vergangenheit

 

Die 1920 noch als Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gegründete und 1929 umbenannte DFG residiert in Bonn und fördert Studienprogramme, Forschungsprojekte oder wissenschaftliche Netzwerke mit Mitteln aus ihrem riesigen Etat. Das Mitgliederverzeichnis liest sich wie ein Who`s Who der deutschen Geisteselite: So ziemlich alle bedeutenden Hochschulen sind neben den nobelsten Forschungsinstituten von Helmholtz über Fraunhofer bis Max-Planck vertreten.

 

Eigentlich ist es ja zu begrüßen, dass Wissenschaftler über Gelder für die wissenschaftliche Grundlagenarbeit entscheiden und nicht chronisch inkompetente Politiker, doch scheint es dabei nicht immer ganz fair zuzugehen. So kritisierte u. a. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die DFG zeichne sich insbesondere durch fast völlige Intransparenz bei der Vergabe von Fördermitteln aus.

 

Hätte Dieter Nuhr die Geschichte der DFG einer kritischen Würdigung unterzogen, statt manisch auf Fridays for Future herumzuhacken, wäre er auf ein düsteres Kapitel gestoßen, das einen heute daran zweifeln lässt, ob man das Jubiläum der Organisation mit naiven Elogen auf Wissen und Wissenschaft feiern darf: Die meisten Mitglieder der DFG begrüßten 1933 die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Sogleich wurden die Fördermittel für das Forschungsgebiet „Rassenhygiene“ signifikant erhöht.

Später flossen 1,2 Milliarden Reichsmark in die „Volksforschung“, eine euphemistische Bezeichnung für die theoretische Vorbereitung des Massenmordes an der polnischen Intelligenz und den europäischen Juden. Historiker wie Götz Aly und Ulrich Herbert fanden heraus, dass die DFG entscheidend an der Erarbeitung des „Generalplans Ost“ mitgewirkt hatte, in dem die Vernichtung von Millionen Menschen in Osteuropa als „bevölkerungs-, betriebs- und volkswirtschaftlich“ notwendig legitimiert wurde.

 

Hier und nicht in Bezug auf die Klimaforschung hätte Dieter Nuhr Gefahren durch eine sich als Wissenschaft tarnende Rassistenideologie oder durch blinde Forschungsgläubigkeit thematisieren können. Doch als Narzisst sucht er sich seine Freunde und Feinde, wie und wo es ihm beliebt – und nicht, wie es gesellschaftliche Verantwortung vielleicht erfordern würde. 

08/2020 

Dazu auch:

Easy way out… (2017) und Comeback der Narren (2014) im Archiv dieser Rubrik  

 

 

 

 

  

Auf Trumps Spuren

 

Seit Donald Trumps Amtsantritt ist der ehedem von Wirtschaftsliberalen so hoch gepriesene freie Markt zu einem höchst willkürlich bespielten Trainingsfeld für Sanktionen geworden. Ob Iran, China oder Russland – bestraft wird, wer ökonomischen, strategischen und politischen US-Machtansprüchen zuwiderhandelt, wobei tatsächliche oder angebliche Menschenrechtsverletzungen in den betreffenden Staaten oft die Vorwände liefern. Was Donald recht ist, muss Brüssel billig sein, sagten sich die EU-Staaten unter deutscher Meinungsführerschaft und wollen nun auch einen globalen Sanktionsmechanismus einführen. Bei kritischer Betrachtung könnte man diesen auch als Eigentor-Fabrikation werten.

 

Die Konkurrenz bestrafen

 

Wenn Donald Trump sich über die Machtposition des Iran im Nahen und Mittleren Osten ärgert, wenn ihn sein letzter treuer Verbündeter Benjamin Netanjahu dazu anstachelt, dann bricht er einen internationalen Vertrag und überzieht das Land und alle, die mit ihm Handel treiben, mit Sanktionen. Da werden Gelder eingefroren und Einreiseverbote ausgesprochen, vor allem jedoch wird so die „feindliche“ Bevölkerung von wichtigen Importen wie Lebensmitteln, Medikamenten, Konsum- und Industriegütern sowie Ersatzteilen abgeschnitten. Ähnlich verfährt Washington derzeit mit Syrien und anderen „Schurkenstaaten“.

 

Wie effektiv diese Maßnahmen die Menschen in einem derart bestraften Land treffen können, zeigt sich am Beispiel Venezuelas. Der gegen das Maduro-Regime verhängte Boykott, dem sich auch die EU anschloss, hat seit 2017 nach Schätzung des Center for Economic and Policy Research in Washington über 40.000 Venezolaner das Leben gekostet. „Wir sehen die Zerstörung Venezuelas als Land und Gesellschaft“, beklagte der ehemalige US-Spitzendiplomat Thomas Shannon. Und auch UN-Generalsekretär António Guterres forderte, alle wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen Drittstaaten auszusetzen, um „Zugang zu Nahrung, zur notwendigen Gesundheitsversorgung und zu medizinischer Covid-19-Hilfe sicherzustellen“. Mit diesem Appell stößt er in den USA und in Europa allerdings auf taube Ohren.

 

Doch Trump verhängt auch Sanktionen, um die Exporterfolge des sozialistisch geschminkten chinesischen Staatskapitalismus auszubremsen oder um das Nordstream-2-Projekt zu sabotieren, auf dass Fracking-Konzerne aus den USA ihr Gas vom Schiff aus in Deutschland verkaufen können, und nicht die Russen über submarine Pipelines. Da geht es eindeutig um Profit, doch werden wie üblich finstere Machenschaften Moskaus als Begründung vorgeschoben.

 

Und gegen Menschen- und manchmal Völkerrecht verstoßen die beschuldigten Staaten ja tatsächlich des Öfteren, doch sind sie damit nicht allein. Ihre Ankläger in Washington erkennen ja nicht mal die Zuständigkeit des Gerichtshofs in Den Haag für amerikanische Bürger an. Dennoch scheint das US-Vorgehen Brüssel zu imponieren; seit vorigem Jahr arbeiten die EU-Außenminister an einem Gesetz, das pro forma Menschenrechtsverletzungen per Sanktion ahnden soll, dessen wahren Zweck der Online-Dienst German-Foreign-Policy indes so beschreibt: „Faktisch richtet es sich nur gegen Funktionsträger gegnerischer Staaten und schont verbündete Menschenrechtsverbrecher, dient also, wie sein US-Sanktionsvorbild, als Instrument im globalen Machtkampf.“

 

Im Programm für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird postuliert, „die Kapazitäten zur Verhängung und Umsetzung von Sanktionen zu erweitern“. Merkel und Maas wandeln also trotz ihrer Verbalkritik von einst auf Trumps Spuren und werden Strafen oder Absolutionen wohl ebenso geschmäcklerisch zu verteilen wissen wie er.

     

Böse und befreundete Halunken

 

Klar, Venezuela ist für die Bundesregierung und die EU böse, Russland auch, und China strebt die ökonomische Vormachtstellung an, die von den USA noch behauptet wird und die Deutschland sowie die Europäer gerne selbst innehätten. Staaten, die sich wirtschaftlich oder politisch widersetzlich zeigen, sind abzustrafen (soweit man dazu in der Lage ist, im Falle Chinas eher nicht). Die Menschenrechte spielen bei der Erwägung von Sanktionen eine untergeordnete Rolle, nur zur Begründung werden sie aus der Abstellkammer internationaler Moral gern ans Tageslicht gezerrt.

 

Neben diesen offensichtlichen Schurkenstaaten gibt es eine ganze Reihe von Schuften, die zum Teil noch brutaler mit ihren Untertanen umgehen, die aber von Bestrafung oder auch nur Vorhaltungen auszunehmen sind, da man gemeinsame strategische Interessen hat, beste Handelsbeziehungen mit ihnen unterhält oder sie im eigenen politischen Lager begrüßen möchte.

 

Diese Differenzierungen haben Tradition, aber auch Zukunft hierzulande. Man erinnere sich an die Zeiten, da deutsche Regierungen und Konzerne gedeihliche Beziehungen zu den mörderischen Militärjunten in Argentinien, Brasilien oder Chile pflegten und die Bundeswehr sogar guatemaltekische Folterknechte ausbildete. Und dann registriere man, wie sorgsam deutsche Unternehmen mit Billigung Berlins die Truppen Ägyptens, der Vereinigten Arabischen Emirate und der saudischen Fundamentalistendiktatur, die gerade ein völkerrechtswidriges Blutbad im Jemen anrichten, mit Waffen aller Art ausstatten. Wenn man seine Rohstofflieferanten und Geschäftspartner nicht verlieren will, muss man bei Prüfung der Menschenrechtssituation schon mal ein Auge zudrücken.

 

Insofern sollte man den Ruf Deutschlands nach einem EU-Sanktionsinstrumentarium à la Trump nicht unbedingt für eine humane Geste halten. Und man liegt wohl richtig, wenn man die Menschenrechtsbeschwörungen von Außenminister Maas, der immer wie der ehrgeizige Streber, dem in der Schule niemand zuhört, wirkt, irgendwo zwischen Schizophrenie und Verlogenheit einordnet.

 

Will Berlin Sanktionen gegen Deutschland?

 

Würde die Bundesregierung die eigene Menschenrechtsrhetorik ernst nehmen, müsste sie längst Sanktionen gegen das eigene Land beantragen. Auf den Philippinen, wo der wildgewordene Diktator Duterte Massaker an Drogensüchtigen anordnet, sind deutsche Paramilitärs, die in Spezialeinheiten der Bundeswehr ausgebildet wurden, im Einsatz. In Südamerika wiederum waren vor allem in den 1970er Jahren BRD-Botschafter und Residenten von Daimler, VW oder Siemens nicht nur Mitwisser, sondern manchmal auch Vertuscher, Unterstützer und Nutznießer der Massenmorde an Gewerkschaftern und Oppositionellen.

 

Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Völkerrecht verjähren nicht. Insofern dürfte die Bundesregierung beunruhigt sein über späte Enthüllungen, die eine Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes (BND) am Putsch indonesischer Militärs, der 1965 zu einem Massenmord an Kommunisten und Linksverdächtigen ausartete, nahelegen. Damals schlachteten die siegreichen Truppen des späteren Diktators Suharto zwischen 500.000 und drei Millionen politische Gegner ab.

 

Zuvor störte Präsident Sukarno, ein Volkstribun, der Indonesien ins Lager der Blockfreien geführt hatte und sozialistischer Tendenzen verdächtig war, die imperialen Kreise der USA im Südpazifik, die daraufhin mit rechten Generälen zu konspirieren begannen. Wie die beiden Autoren von T-Online, Jonas Mueller-Töwe und Johannes Bebermeier, nun aufdeckten, bot der BND den Putschisten 1,2 Millionen D-Mark, die „hauptsächlich für Sonderaktionen gegen KP-Funktionäre  und zur Durchführung von gesteuerten Demonstrationen benötigt“ würden, an. So stand es in einer unlängst veröffentlichten BND-Akte, und es spricht vieles dafür, dass diese Beihilfe zum Massenmord auch tatsächlich geflossen ist.

Involviert war wohl auch der damalige Staatssekretär Karl Carstens, der bereits anderorts an Waffengeschäften mit BND-Beteiligung mitgewirkt hatte. Nachdem er vom Botschafter in Jakarta erfahren hatte, „die Armee warte nur auf einen Vorwand, die Kommunisten zu vernichten“, gab er offenbar Gelder für die Verschwörer frei. (Zur Verantwortung wurde Carstens übrigens nie gezogen, dafür durfte er 1979 Bundespräsident werden.)

 

Lautstarke Empörung und offizielles Bedauern in Berlin? Fehlanzeige. Lediglich André Hahn, Sicherheitspolitiker der Linken im Bundestag, forderte „rückhaltlose“ Aufklärung von der Bundesregierung, denn: „Die jüngsten Enthüllungen bestärken den dringenden Verdacht, dass der BND mindestens in den 60er und 70er Jahren mit nachrichtendienstlichen Mitteln keineswegs nur Informationen gesammelt hat, um die Bundesregierung zu beraten – was sein gesetzlicher Auftrag ist -, sondern aktiv und mit höchst fragwürdigen Methoden in rechtswidriger Weise politische Entwicklungen in anderen Länder massiv beeinflusst hat.“ Und dabei Menschenrechtsverletzungen unterstützte, möchte man hinzufügen.

 

Doch Berlin wird die Leichen im Keller lassen wollen. Außenminister Maas aber wird damit fortfahren, zu moralisieren und (nur) unbotmäßigen Staaten mit ökonomischer Bestrafung zu drohen, ohne zu bemerken, dass er sich damit ins eigene Knie schießt. Würde er nämlich auch vor der eigenen Haustür kehren, stünde sein Land auf der Sanktionsliste. 

07/2020

Dazu auch:

Mörder und ihre Freunde (2017) und Service für Folterer (2015) im Archiv von Politik und Abgrund   


 

 

  



Teuer macht gut

 

In Gütersloh und anderswo holen sich in schäbigen Unterkünften zusammengepferchte Leiharbeiter aus Osteuropa das Corona-Virus, nachdem sie das erbärmliche Leben des Schlachtviehs beendet und die Kadaver zerlegt haben. Verantwortlich zu machen ist dafür zunächst einmal niemand, da sich hierzulande die Fleischbarone hinter einer Kette von kaum zu ermittelnden Sub-Sub-Sub-Unternehmern verschanzen können. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner verspricht Abhilfe, indem sie die Preise für Discount-Schnitzel und Billiggulasch anheben lässt, und die Medien diskutieren auch noch ernsthaft über eine solch dummdreiste Verschleierung von Ursachen, Schuld durch Unterlassung und Systemmechanismen.

 

Wird Tönnies zum Menschen- und Tierfreund?

 

Zunächst wäre es aus Umweltgründen gut, wenn generell weniger Fleisch konsumiert würde. Es fielen weniger Treibhausgas-Emissionen und Gülle sowie geringerer Landschaftsverbrauch an. Wer aber nicht gänzlich auf sein Kotelett verzichten mag, sollte hochwertiges sowie gentechnisch und antibiotisch unbelastetes Fleisch von Weiderindern oder freilaufenden Schweinen kaufen – wenn er es sich denn leisten kann.

 

Nach der enormen Aufregung infolge der Corona-Infektionen im Umfeld der Schlachtbetriebe in NRW fordert Julia Klöckner, rührige Lobbyistin des Großbauerntums und der Nahrungsmittelkonzerne im Ministerrang, dass Fleisch generell teurer werden müsse, und impliziert, die Verbraucher seien schuld daran, dass der unschuldige Markt Teile von totem Getier aus Qualzucht verramschen müsse, weil sie nach immer mehr für immer weniger Geld gierten. Und wie das neoliberale Märchen so geht, würde der freie Markt sich aufs Schönste selbst regulieren, wenn er nur ein bisschen höhere Erlöse auf seine Waren erzielte. Das Tierwohl wäre mit Hilfe einer vom Staat dekretierten Abgabe besiegelt, und vielleicht sprängen sogar noch menschenwürdige Unterkünfte für Leiharbeiter heraus.

 

Soweit die frommen Wünsche, aber nun zurück zur Realität: Besitzer der Fabrik in Rheda-Wiesenbrück, in der an die 1500 Covid-19-Infizierte arbeiteten, ist Clemens Tönnies, bis vor Kurzem im Nebenberuf Aufsichtsratsvorsitzender des Traditionsvereins Schalke 04. Der Milliardär, in dessen Unternehmen 17 Millionen Schweine im Jahr geschlachtet und verarbeitet werden, hat sich unlängst als Rassist geoutet. Vorher hatte der Mega-Verwurster, der auch über enge Polit-Kontakte verfügt (wie die Schmierspur seines Beraters Sigmar Gabriel belegt), immer wieder unter Beweis gestellt, dass er es mit Recht und Gesetz nicht so genau nimmt: So hatte er 2013 bei der Übernahme einer Konkurrenzfirma gegen kartellrechtliche Bestimmungen verstoßen, ein Jahr später hatte er sich laut Spiegel und Zeit bei Cum-Ex-Geschäften nie gezahlte Steuern zurückerstatten lassen. Als er 2016 eine Geldbuße von 128 Millionen Euro wegen verbotener Preisabsprachen hätte zahlen müssen, nutzte er eine Gesetzeslücke, die erst nach diesem Fall geschlossen werden konnte.

 

Vor diesem Hintergrund gewinnt der Text eines fröhlichen Liedes, das Tönnies auf einer Messe schmetterte, wie die Frankfurter Rundschau dokumentierte, einen ganz speziellen Sinn: „Ich mach mein Ding. Egal was die anderen labern, was die Schwachmaten einem so raten, das ist egal.“ Tönnies ist ohne Skrupel steinreich geworden, für die Verbesserung der Schlachtbedingungen und die Errichtung hygienischer Unterkünfte wäre also Geld vorhanden gewesen. Es gehört schon ein gerüttelt Maß an Naivität dazu, der Klöckner`schen Logik zu folgen und anzunehmen, 40 Cent Tierwohlabgabe pro Kilo Fleisch oder Wurst, gezahlt von den Verbrauchern, würden aus dem Schlachtbaron, seinen Großzüchtern und seinen Partnern von den Discounter-Ketten bessere Menschen und verantwortungsbewusste Arbeitgeber machen.

  

Wer lenkt den Markt?

 

Ebenso unsinnig ist es, zu behaupten, König Kunde bestimme via Nachfrage das Angebot. Seit vielen Jahrzehnten arbeiten ganze Armeen von Werbefachleuten, Lebensmittelchemikern, Konzern-Lobbyisten und Designern fieberhaft daran, vorhandene Bedürfnisse der Konsumenten zu intensivieren und am besten gleich neue unechte Bedürfnisse zu wecken. Sie tun dies, um den Absatz von Waren anzuheizen, neue Verdienstquellen zu kreieren, vor allem aber, um mehr Umsatz als die Konkurrenz zu generieren.

 

Ein Sechsjähriger empfindet nicht per se heftige Begierde nach einem Schoko-Ei namens Kinderüberraschung, sie ist ihm durch ständige Reklame eingetrichtert worden. Dazu animiert ihn zudem die Platzierung im Supermarkt, etwa als Stolperfalle vor der Kasse, dazu, die Mutter weich zu quengeln. Dass wir die in Plastik verpackte Wurst aus Formfleisch und Schlachtabfällen als wohlschmeckend empfinden, ist der gewissenhaften Arbeit mit künstlichen Aromastoffen zu verdanken, und die sind noch relativ harmlos, verglichen mit anderen Ingredienzien, etwa Zucker, Fetten, Antibiotika oder sogar suchterregenden Substanzen.

 

Damit Umsatz und Wachstum von Herstellern und Handelsketten permanent gesteigert werden können, erzieht man die Kunden zu Sinnesbehinderten, die auf einen gewissen Geschmack, eine bestimmte Form oder ein überdimensioniertes Quantum konditioniert werden, auch wenn sie dadurch ihrer Gesundheit oder der Umwelt schaden. Das gilt für den Erdbeer-Joghurt, in dessen Nähe nie eine Frucht kam, ebenso wie für den SUV, für den man in der Stadt kaum eine Parklücke findet, mit dem man aber auf der Suche danach die Luft verpestet. Das gilt auch für das Fleisch, nach dessen Herkunft oder Nährwert niemand fragt, das aber auch noch in größeren Mengen erschwinglich sein soll.

 

Nicht die Konsumenten bestimmen den niedrigen Fleischpreis, es sind die Produzenten und Verkäufer, die immer Dubioseres immer billiger offerieren, weil sie im „freien“ Wettbewerb des Marktes den maximalen Profit durch Niedriglöhne für prekäre Arbeitsplätze,

fragwürdige Produktion und bloße Quantität anstreben, indem sie ihre Konkurrenten unterbieten und damit überflügeln. Es ist das System, Frau Klöckner, nicht der Geiz unwissender Kunden!

 

Berliner Prinzip Ablenkung  

 

Natürlich könnte man Essentielles ändern, ohne den Kapitalismus zu überwinden, man müsste ihm solche Einschnitte aber abtrotzen. Nach Corona müsse alles anders werden, hieß es in den Medien, ein „Weiter so!“ dürfe es nicht geben. Die frohe Botschaft, die sich so leicht formulieren lässt, hört man wohl, allein es fehlt einem der Glaube an die etablierte Politik. Wie viele Parlamentarier wollten in Berlin schon ernsthaft den Kampf gegen Lebensmittel- und Pharmakonzerne, die Handelsgiganten und die Agrarindustrie aufnehmen und deren Lobbyisten Tür und Tor verschließen?

 

Vielleicht gelingt es Arbeitsminister Hubertus Heil tatsächlich, das Beschäftigungsgeflecht in der Fleischverarbeitung ein wenig zu entwirren, aber damit ist die Ära der riesigen zentralen Schlachthöfe, der Massentransporte von Rindern, Folter-Haltung von Schweinen und Mega-Hühnergefängnissen noch lange nicht vorbei. Da sei schon Kabinettskollegin Julia Klöckner vor, die stets gutgelaunte Ex-Weinkönigin und Fürsprecherin der Ernährungsoligarchen. Mit ihr ist nur ein unverbindliches Tierwohl-Label zu machen, nicht aber ein Subventionsstopp für Großzüchter und Anbauer von Monokulturen, noch nicht einmal die klare Kennzeichnung von Herkunft, Produktionsweise und Zusammensetzung eines Erzeugnisses, erst recht nicht die verständliche Warnung vor dessen potentieller Schädlichkeit.

 

Die deutsche Landwirtschaft müsse konkurrenzfähig bleiben, lautet Klöckners Mantra. Tatsächlich meint sie aber, für unsere Agrar- und Fleischindustrie sollten sich weiterhin die von der EU subventionierte Exporte in Drittweltländer, deren Kleinbauern ihr Auskommen verlieren, weil sie eben nicht konkurrenzfähig sind, lohnen.

 

Klar, man könnte die Landwirtschaft entzerren und diversifizieren, kleine Höfe fördern, auf denen das Vieh so gehalten wird, dass es ein Leben vor dem Schlachten hat, und die Gemüse wie Getreide in zertifizierter Bio-Qualität anbauen. Und man müsste die Massentierhaltung abschaffen, gleichzeitig den agrarischen Flächenfressern die Überdüngung und den Gebrauch von gefährlichen Insektiziden verbieten, aber man wird das nicht tun. Zu mächtig sind die Konzerne und Bauernverbände, und sie haben ihre Agenten längst in den Bundestag und die Regierung eingeschleust. Da lenkt Klöckners 40-Cent-Vorschlag doch angenehm von der Notwendigkeit grundlegender Maßnahmen ab.

 

Und so kann Frau Klöckner ihr Pferd von hinten aufzäumen und nach der Corona-Krise geschwind rückwärts in die profitable Vergangenheit der Versorgungsmonopolisten galoppieren. Nach Covid-19 wird dann wieder vor Covid-19 sein. Die allgemeine Empörung über die Behandlung der ausländischen Hilfskräfte ist längst der persönlichen Sorge, die tägliche Wurst auf dem Teller sei von Infizierten zusammengemantscht worden, gewichen. Als Upton Sinclair 1905 in seinem Roman „Der Dschungel“ die Zustände in den Schlachthöfen von Chicago anprangerte und feststellen musste, dass seine Mitbürger zwar gegen die hygienischen Verhältnisse bei der Produktion Sturm liefen, die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen sie jedoch kaltließen, schrieb er resigniert: „Ich habe auf das Herz der Amerikaner gezielt, aber nur ihren Magen getroffen.“  

Dazu auch:

Unser täglich Aldi in der Rubrik Helden unserer Zeit  

  



 

In Ungnade bei Wiki


Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat es derzeit nicht leicht. Im Zuge der Corona-Krise wurden ihr Versäumnisse und eine devote Haltung gegenüber China vorgeworfen, und nun verkündet Präsident Trump den Austritt seines Landes. Tatsächlich hat sich die WHO partiell in eine gewisse Abhängigkeit von Financiers mit dubiosen Zielen begeben, dennoch dürfte sie aufgrund der Gesundheitsarbeit für die Weltbevölkerung und des geo-sozialen Nachteilsausgleiches für ärmere Staaten die erfolgreichste UN-Sektion sein. Wikipedia Deutschland aber, so etwas wie der nationale Ableger des selbsternannten Menschheitsgedächtnisses, wertet die Organisation gnadenlos ab.


Beschrieben, aber dubios gewichtet


Die Zeit der umfangreichen Print-Enzyklopädien ist abgelaufen. Seit knapp zwei Jahrzehnten ist das Internet-Lexikon Wikipedia an ihre Stelle getreten und hat in dieser Zeit mit weit über zwei Millionen Artikeln allein hierzulande schon mehr Begriffe behandelt als der Große Brockhaus. Natürlich hat sich die interaktive Plattform Qualitätsstandards gegeben und bemüht sich, die Relevanz und den Wahrheitsgehalt der Einträge durch redaktionelle Gruppen prüfen zu lassen, doch noch stärker als für die früheren Kompendien in Buchform gilt die Einschränkung, dass Informationsquellen per se subjektiv ausgewählt, bearbeitet und bewertet werden. Und das kann – wie im Falle des Artikels über die WHO – zu Verkürzungen und Gewichtungen führen, die Verschwörungstheoretikern und Populisten wie Donald Trump in die Hände spielen.


Auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter der schweren Wälzer pflegten einst ihre Vorlieben und ergriffen (meist diskret) Partei, wenn sie nicht von aufmerksamen Lektoren gestoppt wurden. Bei Wikipedia jedoch können anonyme Autoren ein Sujet von der ihnen genehmen Seite her beleuchten, und ein Teil der Community, über dessen Qualifikation man nichts erfährt, wird sie gewähren lassen - oder eingreifen. Man darf das basisdemokratisch nennen, man darf aber auch einen ordentlichen Anteil Dilettantismus hinter den Entscheidungen vermuten. In der Tat tun sich die Amateurlektoren oft schwer mit automatisch generierten Texten oder „Verbesserungen“ von Beiträgen durch Profis, die für Parteien oder Konzerne arbeiten – inkognito, versteht sich.


Wenn eine enorm wichtige Institution wie die WHO unter schweren Beschuss gerät, sich die Kritik zu einem beträchtlichen Teil als gerechtfertigt, in der Summe aber als überzogen bis böswillig erweist, wäre es Aufgabe eines Organs, das sich größtmöglicher Wahrheitsdarstellung verpflichtet fühlt, die Informationen zu analysieren und entsprechend ihrer Validität einzuordnen. Dabei hat Wikipedia in diesem Fall versagt.


Kritik – teils berechtigt, teils überzogen


Irgendwie erinnert die WHO an Sisyphos, jenen altgriechischen Sagenhelden, der ein Felsstück einen steilen Berg hinauf wuchten muss. Immer wenn er am Gipfel anlangt, rollt das das Trumm wieder ins Tal zurück, und die Plackerei geht von Neuem los. Im Unterschied zur antiken Mär aber muss die WHO etliche Megasteine gleichzeitig verschiedene Hügel hinaufschaffen. Der Organisation gehören 194 Mitgliedsstaaten (demnächst minus USA) an, die von den Kampagnen profitieren, aber dafür nicht viel zahlen wollen. Obwohl sich die Aufgaben enorm vermehrt haben, sind die Beiträge der Länder seit 1993 eingefroren.


Und so stemmt die WHO die globale Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie Malaria, Seuchenvorbeugung, Impfprogramme, medizinische Hilfe für unterentwickelte Länder, international verbindliche Klassifikationen von Krankheiten und Behinderungen, die Auflistung „unentbehrlicher Arzneimittel“ und vieles mehr in einem gefährlichen Zustand chronischer Unterfinanzierung.


Da Ärzte, Pflegepersonal, Forscher, Statistiker oder Verwaltungsangestellte bezahlt werden müssen, ist es kein Wunder, wenn sich die WHO teilweise von dubiosen Mäzenen alimentieren lässt, ein Umstand, den Wikipedia mit Recht kritisiert. So erhält die Organisation fast zehn Prozent ihres Budgets von der Bill and Melinda Gates Foundation, die wiederum Maßnahmen von Unternehmen lanciert, an denen der Windows-Milliardär Anteile hält. Vor allem die Pharma-Riesen MSD, GlaxoSmithKline, Novartis und Pfizer kamen so an lukrative UN-Aufträge. Das riecht nach Hörigkeit und Korruption, doch macht die renommierte NGO Medico international in erster Linie die Mitgliedsstaaten für das Dilemma verantwortlich, weil diese seit fast drei Jahrzehnten die WHO regelrecht am langen Arm verhungern lassen.


Auch in der Pandemiebekämpfung unterliefen der WHO Fehler, von denen Konzerne profitierten, was nicht nur böse Zungen Unregelmäßigkeiten vermuten ließ. So löste die Organisation zweimal Fehlalarm aus, als sie vor einem weltweiten Seuchenzug der Vogel- und der Schweinegrippe warnte. Dieser blieb aus, aber die Schweizer Pharmahersteller Novartis und Roche scheffelten vorab Unsummen mit Impfseren.


Wenn Wikipedia aber die zögerliche Haltung der WHO beim Aufkommen von COVID-19 anprangert, ist eine relativierende Richtigstellung angebracht: Die Corona-Pandemie wäre ungleich glimpflicher verlaufen, wenn alle Mitgliedsstaaten ihre Hausaufgaben gemacht und die bereits 2004 von der WHO dringlich vorgeschlagenen und immer wieder angemahnten Maßnahmen ergriffen hätten. Wären ausreichend Schutzkleidung, Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel und Beatmungsgeräte angeschafft und für den worst case eingelagert worden, müsste Donald Trump heute nicht nach der Devise „Haltet den Dieb!“ die internationale Gesundheitsbehörde für die Toten in den USA verantwortlich machen.


Nur sieben Zeilen Erfolge


Ganz im Zeichen journalistischer Dialektik stellt Wikipedia der Kritik an der WHO deren Erfolge gegenüber - doch in fahrlässiger Unvollständigkeit und in einem eklatanten quantitativen Missverhältnis! Ganze sieben Zeilen lang weiß die Enzyklopädie Positives über die Organisation zu berichten, während allein Trumps manischen Verschwörungstheorien das Dreifache des Platzes eingeräumt wird, und der gesamte Punkt Kritik fünfzehn Mal mehr Raum einnimmt.


Es ist völlig korrekt, die unheilvollen Beziehungen der WHO-Spitze zur Pharma- und Lebensmittelindustrie offenzulegen. Wenn etwa ihr deutscher Impfdirektor Klaus Stöhr 2005 vorschnell vor einer weltweiten Grippe-Epidemie warnt (was den Herstellern von Tamiflu und Relenza  Hunderte von Millionen Dollar in die Kasse spült) und kaum zwei Jahre später mit fliegenden Fahnen zum Arzneimittel-Konzern Novartis wechselt, liegt mehr als nur ein Hauch von Korruption in der Luft. Doch dürfen als Kontrapunkt hierzu unbestreitbare Erfolge der WHO, die nicht nur unfähige oder käufliche Funktionäre beschäftigt, sondern auch Tausende engagierter Experten, nicht verschwiegen werden, will man nicht Trumps übles Geschäft besorgen.


Wikipedia billigt der Organisation auf knappstem Raum gerade mal zu, dass durch ihre Arbeit die Pocken ausgerottet wurden und diesen die Kinderlähmung bald ins Aus folgen wird. Zudem stehe die Wissenschaft mit UN-Hilfe kurz davor, einen Impfstoff gegen die weltweit verheerendste Infektionskrankheit, die Malaria, zu entwickeln.


Kein Wort wird indes darüber verloren, dass es der WHO gelungen ist, durch Klassifizierungssysteme für physische und psychische Leiden, Suchtkrankheiten und Behinderungen global verbindliche Definitionen zu schaffen, die es Ärzten, Psychologen oder Sozialpädagogen ermöglichen, sich im nationalen und internationalen Rahmen auszutauschen, ohne wie bisher Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Nur so ließen sich qualitative Standards schaffen, von denen letztendlich Patienten oder Menschen mit Handicap profitieren.


Der WHO ist auch die UN-Behindertenrechtskonvention zu verdanken, die 2008 sogar von der Bundesregierung ratifiziert wurde. Dass die damit de facto in Gesetzesrang katapultierte Inklusion hierzulande nicht so recht klappt, ist der Schwerfälligkeit der Behörden und dem Hang der Politik, lieber auf Etikettenschwindel zu setzen als auf nachhaltige (aber auch kostspieligere) Lösungen, zu verdanken, nicht den Autoren des internationalen Übereinkommens.


Die WHO hat ihre Experten nicht nur bei spektakulären Seuchenausbrüchen wie Ebola und SARS an die Front geschickt, sie hat durch permanente Impfkampagnen in der Dritten Welt weitere Katastrophen verhindert. Ihre Vorbeuge- und Hygieneprogramme, ihr Einsatz für den Zugang zu sauberem Wasser, der Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit haben unzählige Menschenleben gerettet. Mit Sicherheit hat die WHO in vielen Teilen der Erde wesentlichen Anteil daran, dass sich die Lebenserwartung auch in armen Ländern erhöht hat, was aufgrund der Erweiterung der Daseinsperspektive auch zu besserer Lebensqualität führt.


All das hätte im Sinne der Annäherung an eine (freilich nie zu erreichende) Vollständigkeit im Artikel erwähnt werden müssen. So aber zeigt sich wieder einmal: Wikipedia ist als Nachschlagewerk und Informationsbasis unentbehrlich geworden, aber die Texte sind mit Vorsicht zu genießen…

06/2020 

Dazu auch:

Inklusionslügen im Archiv von Politik und Abgrund (2016)    

 



Söders Faktenleck

 

Auch Corona muss als Beleg für teutonische Exzellenz herhalten: Deutschland ist Spitze in der Welt und wird nur noch von Bayern getoppt. Seit Wochen klopfen sich die Berliner Politiker auf die eigenen Schultern, weil sie die Pandemie angeblich so gut meistern. In Bayern hinter den sieben Bergen aber besieht sich Markus Söder im Pressespiegel und findet seine Krisenstrategie noch tausendmal besser. Die meisten Medien applaudieren höflich, obwohl sich die Bundeshybris und ihre bajuwarische Steigerung aufgrund der Faktenlage kaum rechtfertigen lassen.

 

Positive Beispiele „übersehen“

 

Klar, im Vergleich zu ignoranten Egomanen wie Donald Trump und Boris Johnson sieht Angela Merkel in der Covid-19-Bekämpfung gut aus, und tatsächlich scheint Deutschland mit weniger Opfern über die Pandemie hinwegzukommen als die in einer Klassen- und Rassenmedizin gefangenen USA oder Großbritannien mit seinem kaputtgesparten Gesundheitswesen. Auch Italien und Spanien schnitten zu Beginn der Krise schlechter ab, wurden sie doch schon früh von der Seuche kalt erwischt und mussten die Zeche dafür zahlen, dass sie in der Finanzkrise EU-Auflagen befolgt und ihre Kliniken an den Almosentropf gehängt hatten. Doch während Berliner Politiker gern auf diese Negativbeispiele deuten und das eigene Krisenmanagement über den grünen oder eher schwarz-roten Klee loben, verschweigen sie gern, dass in etlichen anderen Ländern konsequenter, stringenter und erfolgreicher gehandelt wurde.

 

Mit radikaler Überwachung und rascher Isolierung Kranker und Gefährdeter gelang es dem Milliardenreich China, seine absoluten (!) Infektionszahlen niedriger als die der BRD zu halten. Vor allem durch sofortiges und gut organisiertes Massentesten kamen auch die südkoreanischen Behörden wesentlich schneller in die Pötte als ihre deutschen Pendants. Mit Österreich, Neuseeland und den meisten skandinavischen Staaten werden Länder, die ökonomisch mit Deutschland vergleichbar sind, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl weniger Opfer zu beklagen haben. Aber auch das ungleich ärmere Griechenland ist im Vergleich mit dem selbsternannten EU-Primus wirklich spitze. Selbst die meisten lateinamerikanischen Nationen melden in der Relation weniger Fälle als das hochentwickelte Deutschland.

 

Da die triumphale Selbstdarstellung der Berliner Koalition in Sachen Corona von den Medien nicht genügend kritisch hinterfragt und analysiert wurde, sonnt sich jetzt die Union in einem Umfragehoch, obwohl ihre Politiker, allen voran Gesundheitsminister Jens Spahn, immer wieder zwischen Verharmlosung und Überreaktion, Sorglosigkeit und dilettantischem Aktionismus geschwankt haben. Wie sehr aber der hiesige Journalismus seine Kontrollfunktion vernachlässigt, zeigt das Beispiel Bayerns und seines Ministerpräsidenten, der es bei den Hymnen auf seine Heimat (und sich selbst) nicht sehr genau mit Zahlen und Fakten nimmt.

    

In Bayern stirbt sich`s leichter

 

Dass im Freistaat zwischen Alpen und Rhön proportional mehr Menschen mit Covid-19 infiziert wurden als in jedem anderen Bundesland, ist der Politik und den Behörden dort nicht unbedingt anzulasten, hatten doch zu viele Skifahrer, vor allem aus Südbayern, Wedelurlaube im schneesicheren Austria machen wollen und sich das Virus in den mondänen Seuchenpfuhlen Tirols eingefangen. Wenn allerdings Markus Söder keine Gelegenheit auslässt, seine Regierung als weise, konsequent und zupackend zu beschreiben und seine Heimat als Nummer Eins in deutschen Landen zu preisen, liegt er nach Regeln der Statistik und der Leistungsbeurteilung weit neben der Wahrheit.

 

Zu den wichtigsten Fragen während einer Epidemie gehört die nach der Letalität, also wie viele mit dem Erreger Infizierte in der Folge sterben. Die Beantwortung lässt Rückschlüsse auf die Qualität der medizinischen Versorgung in der entsprechenden Region zu. Ich habe mir die in der Süddeutschen Zeitung (SZ), Ausgabe vom 9./10. Mai, veröffentlichten Statistiken (Quellen: John Hopkins University, WHO, RKI, CSSE, Landesbehörden und SZ) vorgenommen, um sie dahingehend auszuwerten. Fazit: In Bayern waren zu diesem Zeitpunkt 2134 von 44295 Covid-19-Patienten gestorben. Der von Söder als Trutzburg gegen Corona angepriesene Freistaat liegt damit unter den Bundesländern auf dem drittletzten Platz, was das Überleben von Infizierten betrifft. Während in Bayern 48 von 1000 Corona-Patienten starben, waren es in NRW 40, in Rheinland-Pfalz 30, in Sachsen-Anhalt 29 sowie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sogar nur 26. Lediglich im Saarland und in Brandenburg gab es in Relation noch mehr Todesopfer unter Infizierten als in Bayern.

 

Wie in anderen Teilen der BRD hatte auch in Bayern die Politik die Kapitalisierung der stationären Gesundheitspflege vorangetrieben und – auch auf Betreiben großer Krankenhauskonzerne und ihrer Medienlobby (Bertelsmann-Stiftung u. a.) – kleine kommunale Kliniken für die wohnortnahe Versorgung geschlossen. Dies rächt sich nun ebenso wie die personelle Unterbesetzung aller Einrichtungen. Doch für die Nöte der schlecht bezahlten und überlasteten Fachkräfte hatte Markus Söder erst in der Krise ein paar warme Worte und ein kleines Taschengeld übrig, vorrangig aber musste der geborene Spitzenreiter das entschlossene Handeln der Staatsregierung zum Vortrag bringen. Da blieb keine Zeit für eine Revision des strukturellen Kahlschlags in der eigenen Gesundheitspolitik. Und ein bedenkenloser Privatisierer war der Nürnberger schon als Finanzminister gewesen, wie 2012 der Verkauf von 33.000 Sozialwohnungen in staatlichem Besitz an die Investorengesellschaft Patrizia bewies.

 

Wenn man etwas genauer hinsieht, entpuppt sich das vermeintlich konsequente Handeln Söders in der Corona-Krise als befremdlicher Schlingerkurs mit Verzögerungen und einigen Kehrtwenden, wurde keine Chronik des beherzten Agierens geschrieben, sondern eine des unsicheren Reagierens: Kurz bevor am 16. März Österreich Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen erließ, hatte Söder noch getönt, solches sei für Bayern nicht notwendig. Wenige Tage nach der Maßnahme der Wiener Regierung durften auch im Freistaat die Bürger nur unter Auflagen und „mit triftigem Grund“ ihr Heim verlassen. Als in Österreich am 14. April die Maskenpflicht eingeführt wurde, hieß es aus München, dies sei für Bayern nicht vorgesehen. Zwei Wochen später mussten auch die Bürger im Freistaat eine Larve beim Einkaufen und bei der Nutzung des ÖPNV tragen.

 

Statt die Schulen nach den bayerischen Faschingsferien geschlossen zu halten, schickte das Kultusministerium die Pennäler wieder in den Unterricht, nur um sie eine Woche später endgültig ins Elternhaus zu verbannen. Viele Gedanken machte man sich in der Staatsregierung offenbar auch über die Wiedereröffnung der Lehranstalten nicht. Auf schlüssige Sicherheitskonzepte für Klassenzimmer und Schulbusse sowie ausreichende Schutzmaterialien warten Schüler wie Personal bis heute.

 

Zu Beginn des Ausnahmezustands stellte Innenminister Joachim Herrmann, Bayerns wildgewordener Sheriff, sogar das Lesen eines Buches auf einer Parkbank unter Strafe, wovon er nach lauter Kritik allerdings ein paar Tage später abrücken musste. Weniger streng und genau ging es hingegen in einem hygienisch sensiblen Gewerbe zu: Als aus den Schlachthöfen anderer Bundesländer Infektionsketten unter den Mitarbeitern gemeldet wurden, wiegelte Söders stets etwas unbedarft wirkende Gesundheitsministerin Melanie Huml ab, im Freistaat gebe es keinen Anlass für Testungen in den Zerfleischungsfabriken. Nur Tage später ging die Zahl der Infizierten unter den in elend engen Unterkünften eingepferchten Mitarbeitern eines niederbayerischen Schlachthofs gegen hundert, und nun ordnete Huml plötzlich Massentests für gesamte Branche an.

 

Für all diese Petitessen hatte Markus Söder keinen Blick, er musste stattdessen als verantwortungsvoller Macher durch den Freistaat und die Rest-BRD touren. Seine eigenen Mahnungen, die Restriktionen vorsichtig abzubauen, konterkarierte er, als er mit der Wiedereröffnung aller Geschäfte dem Runden Tisch bei der Kanzlerin zuvorkam. Die Presse warf sich auf die wiederholt erteilte Auskunft des großen Freistaatsmannes, er habe noch keinen Termin in einem der gerade wieder lizensierten Friseursalons vereinbaren können. Söder hatte einfach keine Zeit, denn er musste der SZ in einem seiner zahllosen Zeitungsinterviews erklären: „Mein Tag ist rund um die Uhr mit Corona gefüllt.“

    

Trumps milder Bruder

 

In den letzten Wochen verging kaum ein Tag, an dem Markus Söder nicht in Funk und Fernsehen seine einfachen Botschaften verkündete, denen zufolge durch präsidential-bayerische Umsicht das Bestmögliche für ein gehorsames Volk erreicht werde. In jedem zweiten Statement suchte er den Vergleich mit den anderen Bundesländern, wobei Bayern stets vor dem als stand, wenn es um Komparative wie entschlossener, vorsichtiger oder besser ging. Da wäre einiges zu widerlegen oder berichtigen gewesen (s. o.), doch die Medienvertreter überließen die Bühne der Vaterfigur mit den narzisstischen Zügen. Wie ein Bulldozer, allerdings mit sonorem Motorenklang, überfuhr Söder Moderatoren, Reporter, Gesprächspartner – und ein paar unangenehme Fakten gleich mit.

 

Wann immer man den Fernseher oder das Radio anschaltete, eine Zeitung aufschlug oder Nachrichten im Internet hochlud – Söder war schon da. Kein Wunder, dass so mancher staunende Rezipient sich insgeheim fragte, ob er nicht gerade einem künftigen Kanzlerkandidaten beiwohne.

 

Im Grunde erzählt der Nordbayer, dem man bis vor kurzem vor allem Machtgier, politisches Rowdytum und Verschlagenheit nachsagte, seit sieben Wochen in gütig-warnendem Ton immer das Gleiche. Scheinbar sind es die überwältigende Omnipräsenz in den Medien und der sedative Wohlklang der Plattitüden, die seine Zuhörer nicht mehr auf die Redundanz der Inhalte, sondern nur noch auf das im Krisenmodus strahlende Gesamtkunstwerk achten lassen. Keiner fragt mal nüchtern nach, ob der Mann bei der Frequenz seiner Show-Auftritte überhaupt noch Zeit zum Regieren hat.

    

Pausenlos auf allen Kanälen zu allem etwas abzusondern, ist eigentlich das Markenzeichen des US-Präsidenten, der auch jetzt wieder seiner Bevölkerung täglich allerlei Widersinniges zumutet. Aber Trump kläfft, keift, beschimpft und lügt (für alle offensichtlich), während Markus Söder den treusorgenden Patronus Bavariae gibt und mit leicht fränkischem Akzent einschmeichelnd wie der Moderator einer Dauerwerbesendung Belangloses moduliert.

 

Angesichts des gewinnenden Charmes kommt in den Medien – von wenigen Kabarettisten und Querdenkern abgesehen – kaum mehr jemand auf die Idee, die Behauptungen des jovialen Franken auf Substanz und Realitätsgehalt hin zu überprüfen. Propaganda muss nicht blechern und ohrenbetäubend daherkommen, die ständige Wiederholung angenehmer Nichtigkeiten und gefühlter Wahrheiten tut es auch und kaschiert geschickt so manches Faktenleck im Rumpf des Staatsschiffs, das uns durch die Krise tragen soll - die Umfrageergebnisse des Ministerpräsidenten belegen es.

05/2020 

Dazu auch:

Wirres im Virenland im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2020)

Das Söder im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2012)

 

  



Das Orwell-Virus

 

Die Sonntagsredner der Republik nutzen Corona, um das Volk für seinen Gehorsam zu loben, die Seuche als „Chance“ zu diffamieren und staatliches Versagen zu entschlossenem Handeln umzudeuten. Aber auch die Überwachungsphantasien der Obrigkeit wurden durch das Virus beflügelt. Was einst George Orwell für 1984 romantechnisch vorhergesagt hatte, trat bislang nicht flächendeckend und offensichtlich ein, sondern eher dezent verdeckt, quasi als Beobachtung von Kritikern unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Covid-19 aber weckt nun den fatalen Wunsch der Politik, endlich den gläsernen, berechenbaren Bürger zu züchten.

 

Wie aus Versagern Idole werden

 

Die Präsidenten der Länder und des Bundes, zuständige sowie chronisch unzuständige Minister und natürlich die Kanzlerin – alle drängen sie an die Mikrofone und vor die TV-Kameras, um ihr Volk zu beruhigen, aufzurichten, zum Durchhalten zu ermutigen. Mit in der Maske angeschminktem Verantwortungsbewusstsein und tiefem Ernst sagen sie alle nur in Nuancen differierend das Gleiche: Wie toll die Bürger sich hielten, wie ernst und weitsichtig sie selbst die Lage beurteilten und wie durchsetzungsstark und umsichtig sie agierten, auf dass alles gut werde.

 

Tatsächlich haben viele Menschen, von der Krankenpflegerin bis zum Wohnungsnachbarn, solidarisch und mit gebotener Vorsicht gehandelt und sich auch nicht von den Verschwörungstheorien der Neonazis beeindrucken lassen. Als medial formbare Masse aber hat ein Großteil der Bevölkerung das latente Eigenlob der Söders, Spahns, Merkels und Steinmeiers für bare Münze genommen und sogar verinnerlicht. Wären aber ein Funken Einsicht und ein Quäntchen Ehrlichkeit vorhanden gewesen, hätten sämtliche „verantwortlichen“ Politiker, die sich jetzt als Retter des Vaterlandes gerieren, vom Teleprompter einen einzigen Text ablesen können, der in etwa so gelautet hätte:

 

Liebes Volk

wir entschuldigen uns bei dir dafür, dass wir fast zwanzig Jahre lang alle Warnungen von Wissenschaftlern vor einer Pandemie in den Wind geschlagen und die Aufforderungen der WHO, materielle und personelle Vorkehrungen zu treffen, ignoriert haben. Wir sind für den Mangel an Schutzkleidung, Beatmungsgeräten und Testoptionen voll verantwortlich. Wir haben unser Gesundheitswesen fahrlässig kommerzialisiert und damit riskiert, dass unzureichend geschützte Ärzte und Pfleger an der Corona-Front selbst zu Opfern ihrer Erschöpfung oder des Virus werden.

 

Wir bitten weiter unsere EU-Freunde Italien und Spanien um Verzeihung, dass wir der Troika aus IWF, EU-Kommission und Zentralbank die Kreditbedingungen diktierten, durch die sie gezwungen wurden, ihre medizinische Versorgung bis zum Systemkollaps herunterzufahren („zu kastrieren“ nannte das SZ-Kolumnist Heribert Prantl), damit sie unserer schönen kapitalistischen Vereinigung weiter angehören und ordentliche Zinsen zahlen durften. Ein paar Corona-Tote mehr sollten doch zu verschmerzen sein.

 

Natürlich wissen auch wir, dass ein Mund- und Nasenschutz im Supermarkt oder in der U-Bahn unbedingt notwendig ist. Wir haben ja auch nur so getan, als müssten wir die zwingende Einführung erst noch gründlich erwägen, weil wir zu wenige von den Dingern vorrätig haben, kaum welche im Inland produzieren lassen und auch auf dem Weltmarkt ein wenig spät dran waren. Wir bitten dich, teures deutsches Volk, trotz alledem dafür zu sorgen, dass unsere Umfrageergebnisse weiter durch die Decke gehen. 

Deine dich liebenden Regierenden 

 

Doch der Deutsche an sich scheint in der Not die starke Hand zu brauchen, hält verspätete Maßnahmen für mutige Taten und die Korrektur von Versäumnissen für innovative Führerschaft. Wenn das Bild von Markus oder Angela von der Mattscheibe in die gute Stube leuchtet, fühlt er sich geborgen und nicht ganz allein zu Hause.

 

Die Stunde der Autokraten

 

Im Gegensatz zu den euphemistischen bis optimistischen Prognosen der omnipräsenten Fachleute aus Politik, Wirtschaft und Meinungszunft muss man bei nüchterner Betrachtungsweise zu der Erwartung kommen, dass alles schlechter wird. Corona verstärkt negative soziale Trends, spielt Autokraten in die Hände und wird eine lückenlose und detaillierte Kontrolle der Gesellschaft wahrscheinlicher machen. Die Spitzen dieser Entwicklungen sind zwar vorerst in anderen Staaten zu beobachten, doch sanfte Ausläufer haben längst die Bundesrepublik erreicht.

 

In den USA mit Hundertausenden Infizierten, Zehntausenden Toten, der höchsten Arbeitslosenzahl ihrer Geschichte und Abermillionen Menschen ohne Kranken- und Sozialversicherung fühlt sich Donald Trump, der die Pandemie zunächst völlig unterschätzt und dann wie üblich erratisch reagiert hatte, durch Corona zu „allumfassender Macht“ legitimiert. Den Chef des wohl chaotischsten Krisenmanagements der westlichen Welt ficht dabei auch nicht an, dass die Armen und unter denen wiederum die mit schwarzer Hautfarbe bevorzugt sterben. Dafür nutzt Trump das inländische Desaster zu Schuldbezichtigungen gegen die Chinesen, die Europäer sowie die WHO und überspielt eigenes Versagen mit wirtschaftlicher wie militärischer Erpressung der ebenfalls schwer unter Covid-19 leidenden Feindesländer Venezuela und Iran. 

 

China scheint es gelungen zu sein, die Seuche mittels rigoroser Einschränkung von Rechten und fast lückenloser Überwachung der Bürger einzudämmen – was die Medien hierzulande zunächst verdammten und später im Gleichklang mit der Politik „demokratisch modifiziert“ auch für unsere Gesellschaft propagierten. Auch Südkorea war bei der Virenbekämpfung ziemlich erfolgreich, durch umfangreiche Testung und umfassende Kontrolle des Mobilfunkverkehrs. Für flächendeckende Tests hat die Bundesregierung weder genügend Material noch Geld, aber das mit der Erfassung der Smartphone-Daten scheint ihr doch sehr imponiert zu haben.

 

In der Türkei überträgt Präsident Erdoğan das Prinzip der Triage, der Wahl also, wer im Zweifelsfall behandelt werden soll und wen der Geier holen kann, auf das gesamtgesellschaftliche Leben: Wer über 60 Jahre alt ist und somit einer „Risikogruppe“ angehört, darf nicht mehr auf die Straße. Diese soziale Selektion und Separation potentieller Virenträger, die wohl den vitalen Volkskörper gesund halten soll, begrüßen in deutschen Wirtschaftskreisen Banker oder Unternehmensberater wie Alexander Dibelius ganz offen sowie in der Politik „Hoffnungsträger“ à la Bundesminister Jens Spahn mit zarten Andeutungen.

 

In Europa gönnt sich vor allem Viktor Orbán in Ungarn den weiteren Ausbau seiner präsidialen Macht, ein Notstandsregime ohne zeitliche oder kausale Begrenzung, und den endgültigen Abbau der bürgerlichen Freiheiten. Für fünf Jahre kann nun ein Journalist, der die Schutzmaßnahmen der Regierung mit „unwahren“ Behauptungen kritisiert, ins Gefängnis geschickt werden. Über die Validität der Recherche wiederum entscheiden von Orbán bestellte Richter. Zwar regte sich vehementer (verbaler) Widerstand im EU-Parlament, doch reichte auch die neuerliche Unterdrückung medialer Rechte nicht dazu aus, die ungarische Regierungspartei endgültig aus der EVP-Fraktion der Konservativen auszuschließen. Es waren die deutschen Christ-Unionisten, die bremsten, schließlich hat Orbán gute Freunde in Deutschland, besonders in der CSU.

 

Mit einem noch energischeren Wahrer von Ruhe und Grabesstille möchte es sich die Bundesregierung auch nicht unbedingt verderben. So genehmigte sie den Verkauf von 72 Raketen an den philippinischen Machthaber Rodrigo Duterte, der gerade erst seinen Vernichtungskrieg gegen Dealer und Drogensüchtige (bislang über 20.000 Tote) auch auf Menschen, die gegen die wegen Corona erlassenen Quarantäne-Vorschriften verstoßen, ausgeweitet hat. Landsleuten, die dagegen demostrierten, drohte Berlins Verbündeter unverblümt: „Ich werde euch ins Grab schicken.“

     

Testen, wie viel Big Brother sein darf

 

Im Grunde ahmt die Bundesregierung seit einigen Wochen nur die Maßnahmen anderer Staaten nach, mal imitiert sie die österreichischen Restriktionen, dann wieder sinniert sie, wie viel Abbau individueller Freiheiten nach chinesischem Modell möglich ist. Herausgefunden hat sie bisher, dass man relativ geräuschlos Grundrechte außer Kraft setzen kann, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regt.

 

Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, die individuelle Kontaktwahl oder das Recht, die eigenen Daten für sich zu behalten, stehen alle auf dem Prüfstand. Und bei der Abwägung durch forsche Politiker werden sie alle als zu leicht befunden angesichts der Pandemie. Irgendwie drängt sich einem der Verdacht auf, es mache den Verantwortlichen Spaß, auszuloten, wie weit sie gehen dürfen, ohne – ein bisschen Orbán muss sein! – verbindliche Kriterien und Termine für einen Ausstieg aus dem Repressionsszenario zu benennen, schließlich bespielen sie die Bühne der medialen Propaganda derzeit ganz allein.

 

Wenn Jans Spahn überlegt, ob man nicht die „Risikogruppe“ der Senioren wegen Selbstgefährdung entmündigen und aus der Öffentlichkeit wegsperren sollte, wenn Wolfgang Schäuble, der stets so wirkt, als halte er kontroverse Debatten und systemische Kritik für bloße Wirtschaftshemmnisse, ein Rumpfparlament mit möglichst wenig Diskussion und Außenwirkung vorschlägt, dann geht es langsam an die bürgerlich-demokratische Substanz.

 

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieb George Orwell in seinem düsteren SF-Roman 1984 den totalen Überwachungsstaat, in dem Big Brother, die allgegenwärtige Kontrollkrake, jede Bewegung und Äußerung der Menschen registriert und ihnen das Denken vorgibt. Ganz so schlimm ist es im realen Jahr 1984 nicht gekommen, und so hoffnungslos schaut es auch jetzt nicht aus. Aber ein Hauch Orwell liegt in der virengeschwängerten Luft. Die aktuellen Big Brothers, Facebook, Google oder Microsoft, setzen zwar mehr auf sanfte Manipulation, teilen aber ihre Erkenntnisse auch gern mit der NSA oder anderen Geheimdiensten. Im Roman biegt die Hauptfigur Winston Smith alles Geschehene und Geschichtliche im Auftrag des Ministeriums für Wahrheit so zurecht, dass es sich vorteilhaft für die herrschende Partei, als Bestätigung ihrer Doktrin und Arbeit erweist.

 

Scheinbar halten sich die hiesigen Regierenden im Bund und in den Ländern ähnliche Referenten. Anders ist es nicht zu erklären, dass eine Kakophonie von divergierenden, allerdings väterlich und mit pastoralem Ernst vorgetragenen Plattitüden ein so dankbares Publikum findet. Am Ende finden die Dissonanzen irgendwie zum gemeinsamen Tenor, welcher da lautet: „Wir haben alles richtig gemacht.“ Natürlich können Maßnahmen der Kontaktbeschränkung und der Beschneidung des öffentlichen Sektors in Seuchenzeiten sinnvoll sein. Wenn aber Journalisten gar nicht mehr prüfen, ob schon zuvor die nötigen Vorkehrungen getroffen und die Prioritäten richtig gesetzt wurden, sondern wie Groupies oder ferngesteuerte Claqueure agieren, scheint das fiktive 1984 doch näher als vermutet.

  

Alles wird schlechter

 

Es ist ja nicht verwerflich, der Bevölkerung in einer schwierigen Situation Mut zu machen, indem man nach positiven Aspekten der Misere sucht und Perspektiven (auch wenn sie noch so vage sind) für die Zeit danach aufzeigt. Dass beispielsweise Südkorea, derzeit achtgrößter Umweltverschmutzer der Welt, seine Wirtschaft nach der Corona-Krise in ökologischem Sinn reorganisieren will, ist angesichts des dort vorhandenen Know-how eine Botschaft, die zumindest anregend klingt. Dass Ursula von der Leyen, Chefin der EU-Kommission, zuvor nicht gerade als Naturschützerin, sondern eher als überforderte Kriegsministerin aufgefallen, den Green Deal deklariert und Europa bis 2050 klimaneutral machen will, gehört hingegen wohl eher ins Reich der frommen Wünsche. Aber die Menschen brauchen ein wenig Optimismus.

 

Viele deutsche Journalisten aber haben vom Nektar der guten Hoffnung etwas zu viel genascht und stimmen in die Zukunftsmelodien von Bischöfen, Wirtschaftsweisen und Gebrauchsphilosophen ein, denen zufolge trotz oder sogar wegen Corona nun alles besser werde. Ein kurzer Blick auf die politische Weltlage und die Forderungen von Unternehmen wie Bauernverbänden zeigt uns aber, dass – realistisch betrachtet – vermutlich alles schlechter wird.

 

Ungarn und Polen entledigen sich im Windschatten der Pandemie der Reste ihrer bürgerlichen Demokratie, seien es Gewaltenteilung, parlamentarische Kontrolle oder Pressefreiheit. Berserker wie Trump und Johnson genießen trotz eklatanter, ja tödlicher Fehleinschätzungen weiterhin den Ruf von tough leaders. Das Betrugskartell der deutschen Autobauer erhebt frech sein Haupt und wagt es, die Zulassung höherer CO2-Emissionen durch Brüssel zu fordern, während die Landwirte darauf bestehen, dass die neue Düngeverordnung wieder gekippt wird (in Bayern schon geschehen), obwohl das Grundwasser hierzulande bereits gefährlich verschmutzt ist. Klimawandel und Naturschutz sind erst einmal vertagt, wir haben virale Probleme, soviel zum Green Deal.

 

In einem Beitrag für die Deutsche Welle zitiert die Autorin Lisa Hänel die österreichische Demokratieforscherin Tamara Ehs: „Ich sehe eher mit Sorge, dass sich Bürger aus ihrer Angst heraus noch mehr Führungsstärke wünschen und weitere Beschränkungen ihrer Freiheit in Kauf nehmen." Sie habe in den ersten Wochen der Krise einen „irritierenden Konformismus“ erlebt, wenig Widerspruch der Opposition, kaum Kritik seitens der Presse. Was Ehs damit beschreibt, ist die altvordere Obrigkeitsgläubigkeit, der Hang der Menschen, nicht nur, aber besonders stark in Deutschland, sich in schweren Zeiten hinter Führungsfiguren zu versammeln, ohne deren Dekrete zu diskutieren, ihre Qualifikation zu prüfen und ggf. ihr Geschwätz zu entlarven.

 

Eine Situation, in der viele Politiker von Eseln in der Sache zu Helden gemäß eigener Rhetorik mutieren und tatsächlich vorübergehend zu Volkstribunen werden, in der nach den internationalen Konzernen nun auch die eigene Regierung ganz offen unsere Bewegungs- und Kommunikationsdaten will, in der irgendwann Menschen ohne Smartphones als nicht zu ortende, folglich unzuverlässige Elemente gelten könnten, Passanten als Virenschleudern verdächtigt werden, selbsternannte Blockwarte für Wohlverhalten sorgen und Alte möglicherweise bald von der Straße gescheucht werden, weil sich die Jüngeren wegen greiser Risikogruppen nicht mehr den Spaß verderben lassen wollen, taugt nicht als Startphase für eine solidarischere, bewusstere Zukunftsgestaltung. Ganz im Gegenteil: Was jetzt angeordnet wird, ist nach Covid-19 kaum mehr revidierbar, ob es sich um das Primat der Deutung, die Notstandsmethodik oder den Zugriff auf unsere Daten handelt. Wenn wir nicht aufpassen, wird das Regieren höchst bequem, denn Ängste lassen sich trefflich für eine weit autoritärere Spielart der Gesellschaftslenkung instrumentalisieren. 

04/2020 

Dazu auch:

Krieg geht immer in der Rubrik Politik und Abgrund    

 

 

 

 

  



Der Narr der Ringe


Seit dem vierten Jahrhundert vor Christus trafen sich im griechischen Olympia Athleten aus der damals bekannten Welt regelmäßig, um gegeneinander wettzulaufen, weitzuwerfen oder zu boxen. In den paar Tagen des Sportfests sollte Frieden auf Erden herrschen, was allerdings nicht für die Arena galt, wo der eine oder andere Teilnehmer nicht nur den Kampf, sondern auch sein Leben verlor. Auf Initiative des französischen Barons Pierre de Coubertin wurde der Brauch 1896 in Athen wiederbelebt und bis heute mit wenigen Unterbrechungen alle vier Jahre an anderen Orten durchgezogen. Der Mythos vom fairen und friedlichen Wettstreit war von Anfang an eine Farce, den Hohn auf die Spitze aber trieb in Covid-19-Zeiten der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach.


Diktatorenfreunde und Betrüger


Schon mit dem Friedensgebot während der Olympischen Spiele ging es in der Neuzeit gründlich schief: Während der beiden Weltkriege mussten die Multi-Turniere ausgesetzt werden, und während des Kalten Kriegs boykottierten 1980 die westlichen Länder Olympia in Moskau, worauf sich die östlichen Staaten vier Jahre später revanchierten, indem sie die Spiele in Los Angeles mieden. Es war leider nicht so, dass die Welt am Vorabend des Jugend-Events mit dem gegenseitigen Massakrieren und Befeinden aufhörte; vielmehr wich der so vielstimmig beschworene Sportsgeist vor der blutigen oder zumindest aggressiven Realität.


Nun war das Internationale Olympische Komitee (IOC) auch nicht gerade eine Gilde überzeugter Pazifisten und vorbildlicher Demokraten. Schon Baron de Coubertin, geistiger Urheber der modernen Spiele, hatte eigentlich ganz anderes im Sinne als Völkerverständigung. Weil sich die jungen Soldaten seines Heimatlandes im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als zu lasch und untrainiert erwiesen hatten, wollte er sie durch körperliche Ertüchtigung wieder auf Vordermann bringen. Erst später reifte in ihm die Idee, internationales Kräftemessen nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Stadion stattfinden zu lassen – Sport als Kriegsersatz sozusagen.


Coubertin amtierte zweimal als Präsident des IOC, ihm sollten gleich mehrere Vorsitzende mit skurrilen oder bedenklichen Ansichten folgen. So leitete zwanzig Jahre lang bis 1972 Avery Brundage das Komitee, ein US-Amerikaner mit einem Sehfehler, von dem außer ihm die ganze Welt wusste. Wo sich weltweit die Olympioniken für ihr Training entlohnen und ihre Erfolge von Sponsoren, Unternehmen oder dem Staat versilbern ließen, erblickte Brundage überall lupenreine Amateure. Sein Knick in der Wahrnehmung suggerierte ihm noch reine Kämpfe um die Ehre, als die sportlichen Schlachten um Geld, Material und politisches Primat längst in vollem Gange waren.


Für den Klartext brauchte es schon einen überzeugten Faschisten wie Juan Antonio Samaranch, der das IOC über zwanzig Jahre lang bis 2001 mit harter Hand führte und die Spiele endgültig derart kommerzialisierte, dass der Sport – wie im richtigen Leben – seine Nebenrolle als Mittel ökonomischer Profitmaximierung und politischer Imagepflege einnehmen konnte. Francos einstiger Sportminister Samaranch verleugnete nie seine Gesinnung und lobte den Diktator, der Hunderttausende hatte abschlachten lassen, auch nach dessen Tod noch als Begründer einer „Periode von Wohlstand und Frieden“.


Gleichzeitig begannen im Osten wie im Westen die Athleten damit, ihre Leistungen mithilfe wirksamer, aber verbotener Substanzen zu steigern, um sich so durch Betrug einen Vorteil gegenüber sauberen Konkurrenten zu verschaffen  – die einen zum Ruhme des sozialistisch-bürokratischen Systems, die anderen im Dienste der (für jede Art der Ausbeutung) freien Demokratie des Unternehmertums.


Vor sieben Jahren reihte sich endlich ein Deutscher in die illustre Gilde der Herren der Ringe ein. Unter Thomas Bach ging alles so weiter wie bisher, nur vielleicht noch ein bisschen leichter: das Geldscheffeln des IOC, die verbandsinterne Korruption, die Gigantomanie bei der Präsentation eines olympischen Sportfestes und das allgegenwärtige Doping. Dieser Tage aber zeigte Bach angesichts der Corona-Pandemie, dass er eine besonders tolle Nummer im Gruselkabinett des internationalen Sports ist.


Last Man Standing 


Frei nach den Asterix-Comics könnte man fabulieren: „Wir befinden uns im Jahre 2020 n. Chr. Die ganze Welt ist von einer Pandemie gelähmt ... Die ganze Welt? Nein! Ein unbeugsamer Deutscher hört nicht auf, die Gefahr zu ignorieren.“ 


Überall auf dem Globus werden wegen des Covid-19-Virus kulturelle, sportliche, politische Veranstaltungen abgesagt, Kontakt- oder Ausgangssperren verhängt, Produktion und Dienstleistungen heruntergefahren, kurz: die meisten Erscheinungsformen des öffentlichen Lebens auf null gebracht. Nur Thomas Bach wehrte sich bis zuletzt verzweifelt gegen die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio, allerdings fehlte ihm der Zaubertrank der Gallier für den erfolgreichen Widerstand.


Der gebürtige Würzburger gewann als Florettfechter mit der Mannschaft die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal. Danach widmete er offenbar sein Leben der gedeihlichen Vermengung leistungssportlicher und wirtschaftlicher Interessen. Er heuerte bei Adidas an, beriet u.a. die Holzmann AG und MAN. Besonders effektiv aber dürfte die Mitarbeit des Lobbyisten im Siemens-Konzern gewesen sein. Und hier gerieten die ersten dunklen Flecken auf die weiße Weste des Sportfunktionärs.


Der FDP-Mann Bach hatte sich 2006 zum Präsidenten der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer wählen lassen. Zwei Jahre später wurde ruchbar, dass Siemens einen schon länger existierenden Beratervertrag Bachs mit 400.000 Euro im Jahr dotierte und für die Kontaktanbahnungen im arabischen Raum noch 5000 Euro Spesen pro Tag drauflegte. Selbst die Aufsichtsräte des Unternehmens fanden diese zusätzliche Bezahlung „absolut unüblich“. Zudem wurde Kritik laut, Siemens profitiere durch Aufträge rund um den Sport, weil Bach die Tätigkeit als IOC-Funktionär für seine berufliche Tätigkeit instrumentalisiere.


Der Ruf des Unterfranken wurde nicht nur durch Bachs Passivität in Sachen Doping und seine Geheimhaltungspolitik gegenüber Medien getrübt, er erlitt auch wegen dubiosen Verhaltens in einem Korruptionsfall weiteren Schaden: Bach weigerte sich, im Zuge der Ermittlungen vor der brasilianischen Polizei gegen den berüchtigten Sportfunktionär Patrick Hickley auszusagen. Corona aber wollte er die Stirn bieten.


Mag sein, dass Bach, der das Fechten stets hinter einem großräumigen Mund- und Gesichtsschutz betreiben durfte, die Gefahr einer Vireninfektion nicht ernst genug einschätzte, doch wie beharrlich der Mann, dem doch eigene Prinzipien nicht unbedingt als unantastbar schienen, an der Ausrichtung der Spiele in diesem Sommer festhielt und nur ein Schrittchen zurückwich, als die Sportler und nationalen Verbände aufbegehrten, das zeugte von ehrlicher Angst um die schönen Gelder.


Bis zum bitteren Ende spielte er auf Zeit, wollte die Sponsoren, die Investoren, die Absahner im eigenen Komitee nicht enttäuschen. Corona bedrohte für ihn in erster Linie nicht die Menschen in fast allen Ländern, sondern sein IOC. Dann aber sprangen immer mehr nationale Komitees ab, mit Australien desertierte sogar ein ganzer Kontinent, so dass sich Bach nur noch als Herr der vier Ringe fühlen durfte. Doch erst als auch noch die japanischen Gastgeber, die bis dato stur an der Philosophie von Kommerz und Prestige festgehalten hatten, von seiner Position abrückten, stimmte er der Verschiebung der Olympischen Spiele in den Sommer 2021 zu. Das jedoch kam für einige Athleten zu spät…


Quali für die Quarantäne


Auch in den Niederungen des skandalträchtigen „Amateur“-Boxsports scheint der umtriebige Thomas Bach schon früh eine üble Duftmarke hinterlassen zu haben. In Stasi-Unterlagen, die vermutlich vom DDR-Sportfunktionär Karl-Heinz Wehr stammen, wird behauptet, dass er 1986 an Absprachen zur gekauften Wahl von Anwar Chowdhry zum Präsidenten des Weltverbands AIBA teilgenommen hat. Der Pakistaner wurde 2007 wegen Korruption lebenslang vom eigenen Verband gesperrt. Inzwischen ist die gesamte AIBA nach schweren Anschuldigungen aufgelöst wurden.


Bach scheint aber sein Interesse am Boxen nicht verloren zu haben. Sein IOC bestand mit Nachdruck darauf, dass vom 14. Bis 24. März, also zu einer Zeit, da in den meisten europäischen Staaten bereits Ausgangsbeschränkungen existierten, das europäische Qualifikationsturnier für Tokio mit 350 Athleten aus 40 Ländern in London stattfand. Der mittlerweile selbst an Corona erkrankte Premier Boris Johnson hatte damals noch die Trump-Linie der Covid-19-Verharmlosung gefahren, so dass England als Gastgeber bereitstand. Die Veranstalter schlossen zwar Zuschauer aus, schickten aber die Sportler ohne Bedenken in den Ring.


Im Gegensatz zu Fechtern, deren ganzes Gesicht durch ihre Maske abgedeckt wird, tragen Boxer nur einen Zahnschutz. Das ist zu wenig in einer Kampfsportart, in der ständiger Körperkontakt sowie Berieselung durch Schweiß, Blut und Speichel des Gegners zum Procedere gehören. Nach dem dritten Wettkampftag siegte die Restvernunft, und das Turnier wurde abgebrochen. Drei türkische Boxer kehrten infiziert in die Heimat zurück, und auch der kroatische Verband meldete Ansteckungen mit Covid 19.


Wie ein Narr hatte Bach an der Ausrichtung der Spiele festgehalten und die Vorbereitungsturniere stattfinden lassen. Er hörte weder auf Virologen noch auf nationale Verbände, die warnten oder gar den Boykott ankündigten; schließlich ging es um Milliarden – natürlich nicht Menschen, sondern Dollar. Als er jetzt einlenkte, hatte es die ersten Sportler schon erwischt.

04/2020

Dazu auch:

Hehre Heuchler im Archiv der Rubrik Medien (2013)

 

 

 


 



Der Corona-Bär

 

Die von Finanzjournalisten liebevoll Börsianer getauften Spekulanten, Zocker und Investoren bedienen sich einer bildhaften Sprache, um die Achterbahnfahrten der Kurse zu umschreiben: Fallen die Aktien in den Keller, ist der Bär am Werk, der Bulle hingegen symbolisiert einen längeren Aufwärtstrend. Die Börse gilt als Seismograph für die Erschütterungen in der Wirtschaft, doch am Ende, so behaupten wenigstens Analysten, Wirtschaftsweise und andere Astrologen, regle der Markt so ziemlich alles. Die Corona-Krise belegt nun wieder einmal, dass der Markt im Ernstfall hilflos ist und auch die mächtigen Konzerne nach der Hilfe des Staates schreien.

 

Das Unvernunftsprinzip

 

Nun ist der Stier als recht dummes Tier, das sich in spanischen Arenen durch ein flatterndes Tuch in den Tod locken lässt, bekannt. Auch der Bär gilt entweder als tapsiges Pelzknäuel oder als bedrohliches Ungetüm, aber nicht als sonderlich intelligentes Wesen. Und diese beiden unterbelichteten Kreaturen müssen als Symbole für das „natürliche“ Auf und Ab der börsennotierten Wirtschaft herhalten. Nur dass nun ein gefährlicher Parasit die konkurrierenden Tiere befallen hat, der eindeutig den Bären favorisiert: Das Virus Sars-CoV-2, das, obwohl unter dem Mikroskop eher einer Kastanie als einer Krone ähnelnd, Corona genannt wird – offenbar sind auch Virologen verkappte Poeten.

 

Das Coronavirus beschert uns fortlaufend schwarze Montage oder schwarze Donnerstage an den Börsen. Wurden allerdings früher die Kurse durch menschgemachte Hypes, Phobien, Bilanztricks oder Übernahmephantasien ins Chaos gestürzt, so werden sie jetzt von winzigen, aber tückischen Fremdkörpern in eine stetige Höllenfahrt getrieben. Riesige Unternehmen verlieren in Windeseile die Hälfte ihres (notierten) Wertes, weil weder Ärzte noch Politiker genau wissen, wie es weitergehen soll, und sich damit die Prognosen für goldene Beutezüge verdüstern.

 

Dabei waren uns die Auguren des Systems, die Wirtschaftswissenschaftler, doch immer als Koryphäen angepriesen worden, die - zumindest innerhalb des eigenen Denkschemas -  unfehlbar schienen. Das unbedingte Markt-Credo drückte sich in unzähligen Denkschulen und Fachbegriffen aus: Nachfrageorientierung, Angebotsorientierung, Keynesianismus, Monetarismus, Neoliberalismus, Spieltheorie etc. Einig waren sich die verschiedenen Propheten nur in einem: Die Allmacht des Marktes werde alle Probleme lösen und die Welt wieder in ihr kapitalistisches Lot bringen.

 

Und nun werden Billionen in der Börsenpanik verbrannt, Konzernchefs wissen nicht, wie sie ihre Mitarbeiter und (wesentlich wichtiger!) ihre Gewinne sichern sollen, Anleger sehen nicht nur die Dividenden, sondern auch das gesamte Wettkapital schwinden, Produktion und Absatz stocken. Ein Virus entzaubert den Kapitalismus in all seiner Omnipotenz: Der Markt regelt nichts, der von den Magnaten verachtete Staat soll bitteschön eingreifen.       

 

Der Reparaturbetrieb

 

Schon die klassischen Liberalen wollten den Nachtwächterstaat, Neoliberale wie Milton Friedman forderten, der Staat solle sich aus allem heraushalten, und Donald Trump degradierte seine Administration zur Anbahnungsagentur für Deals nationaler Konzerne. Jetzt aber mahnen Wirtschaftsverbände mehr Aktivität seitens der Regierungen an, und die stellen bereitwillig Milliarden zur Verfügung, um notleidende Betriebe zu retten.

 

Es ist durchaus sinnvoll, Ladenbesitzern, Wirten oder kleinen Selbständigen einen Teil des Verdienstausfalls zu kompensieren, um ihre berufliche Existenz zu sichern, kritisch wird es hingegen bei Branchenriesen. Diese haben Steuern vermieden, wo es ging, exorbitante Gewinne an jeder öffentlichen Teilhabe vorbei geschmuggelt und möchten jetzt zu erwartende Verluste von eben jener Öffentlichkeit (Mehrheit der korrekt Lohnsteuer Entrichtenden) ersetzt bekommen.

 

Auf dem Zenit der Maximalprofite denkt kein Konzernlenker an eine Absicherung für schlechtere Zeiten, frisierte Quartalsberichte ersetzen Nachhaltigkeitsstudien, die allgegenwärtige Konkurrenz zwingt zu ökonomisch fragwürdigem und ökologisch schädlichem Wachstum. Gerät die Blindfahrt wegen kollektiver Fehlkalkulation in obersten Kreisen (Bankenkrise) oder eines lähmenden Virus ins Schlingern, muss der bis dahin verachtete Staat eingreifen.

 

Nehmen wir die Fluggesellschaft Lufthansa, den Jet-Bauer Airbus oder den Tourismusgiganten TUI: Ihnen wurde durch Corona zumindest teilweise die Geschäftsgrundlage entzogen. Folglich warten sie auf Unterstützung durch den Staat, genau wie die Autokonzerne, die ihre Mitarbeiter via Kurzarbeitergeld durch eben die Solidargemeinschaft alimentieren lassen, an die in der Periode der Milliardengewinne kein zusätzlicher Cent als Präventiv-Bonus floss. Und man kann darauf setzen, dass solche Unternehmen nach dem Corona-Schock den Löwenanteil der öffentlichen Mittel abgreifen werden (beschäftigen sie doch Legionen von Anwälten und Lobbyisten), während für die kleinen Selbständigen und Ladenbesitzer nur Scherflein übrig bleiben dürften.

 

Normalerweise favorisieren die Champions des schnellen Geldes allerdings die Deregulierung, die Überführung medizinischer Infrastruktur in profitable Business-Zentren mit ärztlicher Begleitung. Dies führt nun dazu, dass viele Kliniken in Privateigentum, die sich auf lukrative (und bisweilen sinnlose) Eingriffe, etwa die Arthroskopie eines kaputten Knies, kapriziert und notwendige, aber schlechter vergütete sowie schwierigere Operationen den kommunalen Krankenhäusern überlassen haben, für schnöde Seuchenarbeit nicht gerüstet sind.

 

Nach der Krise weiter so!

 

Doch wie schlagen sich unsere Politiker im Angesicht der Pandemie? Seltsamer- oder eher logischerweise hörte man vom Polit-Prediger der Raff-Gemeinde, Friedrich Merz, nichts. Er hatte einfach nichts dazu zu sagen. Ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sich nicht durch finanztechnische Tricks lösen lässt, indem man es auf dem Bierdeckel herunter rechnet, entzog sich seinem Erfahrungshorizont. Dann allerdings schnappte sich das Virus den Friedrich, um ihm doch ein wenig Hintergrundwissen mit auf den Karriereweg zu geben.

 

Ganz anders tritt da Markus Söder auf, bei dem einen irgendwie das Gefühl beschleicht, Corona sei ihm gerade recht gekommen, um seine Eignung für ein ganz hohes Amt unter medialen Beweis zu können. Und so spricht der bayerische Staatsmann mit sonorer Stimme nach, was er vom Robert-Koch-Institut und der WHO aufgeschnappt hat, imitiert Maßnahmen, wie sie zuvor in Österreich impliziert wurden und gilt plötzlich als Vorreiter wider das böse Virus. Gut, Angela Merkel lispelt in etwa das Gleiche, aber aus Söders Mund klingt es einfach kanzlerischer.

 

Als Ikone kapitalistischer Brutalo-Ehrlichkeit, gepaart mit der geradlinigen Ignoranz eines John Wayne, präsentiert sich wieder einmal Donald Trump. Zunächst hält er das Coronavirus für eine Weichei-Krankheit, eine Art Grippe für Arme; dann macht er die bösen Europäer für die Ausbreitung des Virus dingfest, weil sie die bösen Chinesen haben einreisen lassen; am Ende aber versucht er in bester Desperado-Manier, das Patent für einen potentiellen Impfstoff von einer deutschen Firma zu ergattern, um diesen in America first – and exclusive einzusetzen. Das ist angesichts des Sozial-Salbaderns der politischen Vollstrecker von Konzernbefehlen hierzulande beinahe erfrischend menschenverachtend. Bei Trump steht wenigstens noch Nationalismus drauf, wo Kapitalismus drin ist.

 

Gesetzt den Fall, die Pandemie würde eingehegt und das Virus besiegt, was wird dann geschehen? Die Manuskripte der Sonntagsreden von Verantwortung und Solidarität verschwänden wieder in den Schubladen, gestärkt durch Steuersenkungen und staatliche Hilfen würden in den Chefetagen dieselben, die der Disruption so blauäugig begegnet waren, die Ärmel aufkrempeln und dasselbe tun wie vorher. Die Börsenkurse gingen auf dem Rücken des Bullen wieder durch die Decke, und die Welt würde gemeinsam mit dem Bären ein Stück tiefer in den Abgrund sinken. 

03/2020 

Dazu auch:

Der Markt ist blind im Archiv von Politik und Abgrund (2017)

            

   

  

Back dir ein Gesetz


Wenn die Bundesregierung Maßnahmen des Umweltschutzes oder des Kampfes gegen den Klimawandel ankündigt, kann sie sicher sein, dass ihren Vorhaben viel Aufmerksamkeit und Platz in den Medien eingeräumt werden. Wenn sich dann wie so oft herausstellt, dass diese Projekte bloße Versprechen waren, die leider doch nicht gehalten werden können, erregt das in Funk und Presse weit weniger Aufsehen – man hat sich ja schon daran gewöhnt. Dass Berlin aber künftig ohne breitere Öffentlichkeit, genauere Expertenprüfung und verbrieftes Widerspruchsrecht in der Landschaft schalten und walten kann, wie es die Regierenden wollen, ist einem Gesetzesentwurf von Andreas Scheuer, der als trauriger Maut-Clown verspottet wird, aber antidemokratische Vollzugsedikte erfolgreich an der bürgerlichen Wachsamkeit vorbeischmuggelt, zu verdanken.


Eine wenig beachtete Warnung


Wenn es um den Klimaschutz geht, verkündet die Bundesregierung wie weiland Väterchen Stalin optimistische Mehrjahresziele, nur dass es bei ihr gleich um Dekaden geht. Schadstoffemissionen werden (optativ) immens reduziert, grüne Energie löst die fossile Verpestung ab, der Straßenverkehr wird elektrifizierend entschärft oder flüchtet gleich freiwillig auf die Schiene, und überhaupt ist Deutschland wieder einmal Weltmeister, diesmal im Klimaschutz.  Klingt gut, liest sich gut, wird deshalb auch auf die Titelseiten gehievt und in der Tagesschau  an erster Stelle abgefeiert. Wenn sich dann die rosigen Nebel gelichtet haben und sich der Berliner Hype in seiner ganzen Schäbigkeit offenbart, müsste in ähnlich prominenter Aufmachung von Versagen, Irreführung, Euphemismus oder gar Vortäuschung falscher Tatsachen berichtet werden. 


Doch die wichtigsten Medien der Republik halten sich auffällig vornehm zurück. Dabei bestünde ihre wichtigste Aufgabe darin, gerade jetzt in dieser lebenswichtigen Angelegenheit aufzudecken, zu warnen und die Wahrheit einzufordern. Müssten sie nicht nachfragen, wie es möglich ist, dass Deutschland, in eigener Wahrnehmung Weltspitze bei der Klimapflege, im Ranking des von internationalen Instituten und NGOs erstellten Klimaschutz-Index nur an 23. Stelle liegt, hinter den skandinavischen Klassenbesten Schweden und Dänemark, aber auch hinter dem EU-Durchschnitt, Marokko, Indien und sogar Brasilien? Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist hierzulande derart krass, dass sie eigentlich das Thema eines umfassenden medialen Faktenchecks sein müsste.


Denn: Dieselbe Regierung, die sich selbst so vollmundig für ihr Engagement im Umweltschutz lobt, korrigiert nicht nur willkürlich die Fristen für die Erreichung ihrer Ziele, sie schwächt diese bei drohendem Scheitern auch zu bloßen Intentionen ab. Sie preist die eigenen Mobilitätskonzepte und Anstrengungen zur Verbesserung der Luftqualität, belässt aber den Frachtverkehr auf den Straßen, erschwert den Ausbau alternativer Energien, setzt immer noch auf Kohle, verhindert in Brüssel schärfere Emissionsrichtlinien (und nebenher noch ein generelles Glyphosat-Verbot) und treibt stattdessen so unsinnige Projekte wie Stuttgart 21 voran, die Steuermilliarden sowie Biotope vernichten und dem ÖPNV schaden, nur damit die Pariser zwölf Minuten schneller nach Ulm fahren können.


Zum Glück greift seit 2001 die Aarhus-Konvention, ein Übereinkommen der Wirtschaftskommission für Europa (UNECE), das den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten festschreibt. Durfte man bisher wenigstens annehmen. Tatsächlich haben hierzulande Umweltorganisationen mithilfe dieses Instruments überdurchschnittlich erfolgreich gegen Vorhaben geklagt, die von Konzern-Lobbyisten und deren Freunden in der Politik lanciert worden waren.


Doch damit soll nun Schluss sein. Wie Olaf Bandt, Vorsitzender des BUND, in einem Gastartikel für die Frankfurter Rundschau warnt, wird das „Verschleppen“ von wirksamen Maßnahmen „von Angriffen auf die Zivilgesellschaft …flankiert“.


Dilettantenentscheid statt Expertise


Nachdem kritischen NGOs der Reihe nach die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde, schränkt nun ausgerechnet der berüchtigte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer das Klagerecht von Verbänden und Einzelpersonen entscheidend ein – mithilfe der Berliner Abgeordneten von Union und SPD und ohne Widerspruch des zustimmungspflichtigen, aber wohl schläfrigen Bundesrates, begleitet bzw. geschützt vom Desinteresse der meisten Medien.


Das Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz (ein schon sprachlich fragwürdiges Konstrukt) sieht vor, dass künftig nicht mehr Fachbehörden über Projekte entscheiden, sondern die Bundestagsabgeordneten. BUND-Chef Olaf Bandt schreibt hierzu: „Statt von neutraler Stelle werden Entscheidungen künftig … entsprechend der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag getroffen. Behördenentscheidungen sind dagegen Verwaltungsakte und gerichtlich überprüfbar. Das ist gerade bei so komplexen Planungen wie Infrastrukturprojekten extrem wichtig, denn Fehler passieren hierbei häufiger.“


Die ausgekungelten Mehrheiten im Bundestag, Abgeordnete, die bestenfalls als Universaldilettanten, in sachlichen Kontroversen aber meist eher als Ahnungslose bezeichnet werden können, beschließen nun hochkomplexe Vorhaben, die niemand mehr fachgerecht überprüfen und notfalls juristisch stoppen lassen kann. Wir entsinnen uns der lauten Empörung der deutschen Regierung über die feindliche Unterwerfung der polnischen Richter unter das Diktat der Regierungspartei. Deutsche Richter hingegen bleiben formal unabhängig, nur können sie künftig bei für Infrastruktur und Lebensqualität entscheidenden Planungen nicht mehr angerufen werden.


Scheuers Trojanisches Pferd

 

Das gilt nur für zwölf Projekte, wiegelt das Verkehrsministerium vorsorglich ab. Doch dabei wird es nicht bleiben. Laut Olaf Bandt ist in den Gesetzesentwurf, dessen Annahme so widerstandslos flutscht, eine Klausel eingebaut, die weitere Vorhaben in beliebiger Menge ermöglicht. „Der Entwurf ist ein Trojanisches Pferd“, folgert der Umweltexperte. Im Klartext bedeutet das, dass die Bundesregierung immer dann ohne Prüfung und Expertise Gas geben kann, wenn die Wirtschaft es von ihr wünscht; die Legitimitätskontrolle durch die Judikative fällt dann ohnehin weg.


Geschähe Ähnliches in einem Drittwelt-Staat oder in Russland, würde Heiko Maas wie üblich seinen belehrenden Senf zur Gewaltenteilung in der bürgerlichen Demokratie dazugeben, so aber kann man allenfalls Peter Altmaier frohlocken hören, der immer, wenn er Ökologie hört, Konzerninteressen versteht. Über die Abholzung von Kieferbeständen für das geplante Tesla-Werk in Brandenburg fiel ihm auch sofort ein, dass es sich bei dem Fabrikbau  um ein „Umweltschutzprojekt“ handle, dessen Realisierung nicht durch irgendwelche Genehmigungsverfahren zu verzögern sei. Das sagt der Minister einer Regierung, die sich bislang vor allem durch Verschleppung von Maßnahmen zur Klimarettung hervorgetan hat. 


Ob der erratische Mogul Elon Musk mit seiner E-Vehikel-Produktion tatsächlich nachhaltige Naturentlastung bewerkstelligt oder nicht vielleicht  nur die Straßen mit anderweitig schädlichen und überflüssigen SUVs verstopfen wird, ist nicht klar – und wird auch nicht erörtert. In der Zukunft können aber ähnliche Projekte nicht mehr vorab auf die möglichen Folgen geprüft werden, jedenfalls nicht von neutralen Sachverständigen. Man muss sich halt nur ein Gesetz, das bisher geltendes Recht auf Information und Korrektur außer Kraft setzt, backen und es von ausgewählten Ignoranten oder Nutznießern verabschieden lassen, und es kehrt Ruhe ein an der Vergabefront.


Noch ein Wort zu Andreas Scheuer: Wo immer man auf üble Machenschaften in Sachen Verkehr und Umwelt stößt, taucht sein Name auf. Da es einem schwerfällt, diesem Minister von höchst bescheidenem intellektuellem Niveau so viele maliziöse Ideen und raffinierte Finten zuzutrauen, drängt sich langsam die Frage auf, wo wohl seine Ghostwriter und eigentlichen Auftraggeber genau sitzen. 

02/2020 

Rache des Staates im Archiv von Politik und Abgrund (2019)   

 

 

 

Die Anachronisten


Gewiss, die Nachrichten, die uns alltäglich aus Internet, Funk und Presse über den Zustand der Erde, die schreiende soziale Ungerechtigkeit, die Desintegration von Gesellschaften oder die militärischen Konflikte und Kriegsvorbereitungen erreichen, sind dazu angetan, um Beruhigungsmittel bzw. nette, seichte Informationen und Anregungen, die den Geist nicht überfordern, zu erflehen. Der Opiate (und Placebos), gäbe es wahrlich genug: Sport, TV-Unterhaltung, Romane mit garantierten Happyends und manches mehr könnten uns ein wenig von der allgegenwärtigen Malaise ablenken. Und die Medien verabreichen uns diese Sedativa auch großzügig, eins davon aber wirkt derart aus der Zeit gefallen, irreal und verblödend, dass man sich fragen muss, ob es sich nicht um eine exotische Droge aus alter Zeit handelt, die uns die paar Errungenschaften der neueren Zivilisation zur Gänze vergessen lässt; es handelt sich um Märchen aus Königshäusern.


Social Media vs. Old-School-Hype


Ein Mann tritt vor die Mikrofone und erklärt im reifen Alter von 35 Jahren, er wolle mit Frau und Kind aus dem elterlichen Haushalt ausziehen und den Unterhalt für seine Familie selbst verdienen, sich also nicht mehr wie bisher auf das üppige Taschengeld von daheim verlassen. Eine banale und keineswegs seltene Geschichte, die kaum Aufsehen erregen würde, handelte es sich bei dem alternden Berufsjugendlichen nicht um den englischen Prinzen Harry und bei seinem Hotel Mama nicht um den Buckingham-Palast (im Verbund mit anderen königlichen Herbergen).


Ein gefundenes Fressen für die Regenbogenblätter, die Kaffeekränzchen im Seniorenstift und diverse Wartezimmer von Geriatrie-Medizinern, möchte man meinen. Doch der Hype schlägt weit über die stillen Wasser einer geistig genügsamen Community älterer Menschen, für die noch Krone, blaues Blut und Adelsliebe  den Sinn des Universums ausmachen, hinweg Wellen: In den Prime-Time-Nachrichten wird an prominenter Stelle über die Nestflucht des noblen Paares berichtet, und in seriösen Gazetten wie der Süddeutschen Zeitung diskutieren Autor*innen mit sich selbst aus, ob es denn verwerflich sei, die Pläne der Queen für ihre Enkel zu durchkreuzen, oder eher verständlich, die Selbstverwirklichung im Jetset anzustreben und die bisher verborgen gebliebenen Talente dem Arbeitsmarkt der oberen Zehntausend zu Verfügung zu stellen.


Diese Problematik verdrängt in den alten Medien global bedeutende oder Krieg und Frieden berührende Themen wie die australische Befeuerung der Erderwärmung oder die Kriege in Libyen und im Jemen locker auf die hinteren Plätze. Denn die Verdrängung (von Unangenehmem, Blutigem und Unterlassenem) ließ sich früher schon bestens mithilfe des Glamours von Hochadel und Königshäusern in Gang setzen. Heute allerdings wirkt das Ausweichen in die Märchenwelt der per Geburt Privilegierten ein wenig altbacken, haben doch die social media im Internet neue Standards des Eskapismus in die schöne neue Warenwelt implementiert.


Idolisiert werden – zumindest von Menschen, die noch keine dreißig sind – vor allem smart und hip aussehende Influencer*innen, die wasserfallartig reden können und dabei Produkte bewerben, deren Nutzen und Nachhaltigkeit in der (fehlenden) Qualität mit dem Inhalt der privaten Botschaften ihrer Marktschreier konkurrieren. Immerhin haben diese jungen Vorbilder und Animateure bereits damit reüssiert, „Marken“ an leicht Beeinflussbare zu verkaufen und müssen sich nicht wie Prinz Harry Gedanken machen, ob sie auf Mutterns Groschen verzichten und womit sie gegebenenfalls ihr täglich Brot verdienen könnten. Unerreichbar, überflüssig und intellektuell irrelevant indes sind sie beide, die hypermodernen Plastik-Ikonen wie die Royals von der Old School.


Fast scheint es, als träten Printmedien und öffentlich-rechtliche Sender mit ihrer Hofberichterstattung zum letzten Gefecht gegen die hirnfressenden Aliens aus dem Internet an. Nur scheinen sie ihre Bataillone aus dem Fossilienfundus archaischer Epochen zu rekrutieren. Wenn die Qualitätsmedien ihre Daseinsberechtigung mit Features über die tapsigen Nachkömmlinge mittelalterlicher Sippen und die von diesen gepflegten überkommenen Rituale, die den essentiellen Macht- und Bedeutungsverlust überdecken sollen, beweisen wollen, müssen sie ins Kalkül ziehen, dass die neuen Manipulatoren über glänzendere Kulissen als schimmelnde Krönungssäle und schönere Stars als gesund, aber oft etwas dämlich dreinblickende Windsors verfügen.

      

Boulevardisierung der Edelmedien


Vor Jahren schon begannen etliche größere Zeitungen hierzulande, sich Gedanken um ihr Erscheinungsbild (nicht etwa um die Inhalte) zu machen. Die Print-Auflagen sanken, die Treue der Leser ließ nach. Man fand den Stein der Weisen nicht, handelte aber – um wenigstens irgendetwas zu tun. Statt sich auf die Relevanz der gedruckten News zu konzentrieren, neue, von der Politik wohlweislich totgeschwiegene Themen aufzutun oder gängige Sujets von anderer Warte her zu durchleuchten, wurden nach US-Vorbild auf der Titelseite drei bis fünf Spalten für ein Farbfoto mit einem hübschen, aber belanglosen Motiv freigeschlagen. Die Texte schrumpften, die Schlagzeilen wurden aufgebläht, die Korrespondentennetze ausgedünnt.


Bunt wie Boulevardblätter kamen SZ oder WELT nun daher, und „vermischte“ Text-Contents suggerierten , dass bei der Prioritätensetzung das Würfelprinzip dominierte. Nicht nur das Erklären, sondern auch das Begaffen der Welt sollte redaktioneller Schwerpunkt werden. Schöner Schein? Jawohl, aber mit Qualität.


Natürlich haspeln die Edelfedern nicht wie ihre Kollegen von BILD, Bunte & Co Seichtes für schlichte Gemüter, Spekulatives oder Halbwahres über gekrönte Häupter und deren Sorgen herunter, sie analysieren, kommentieren und wägen ab. Sie tun so, als ob eine rationale Berichterstattung dem wirren Treiben der vom Steuerzahler mit üppigen Apanagen ausgestatteten Kleiderpuppen an den europäischen Höfen gerecht werden könnte. Es wäre lohnender, die von Brutalität, Raffgier, Ignoranz und Inzucht gekennzeichnete Historie diverser Fürstengeschlechter unter die Lupe zu nehmen. Und wenn man es nicht so mit Geschichte hat, könnte man das bisweilen asoziale Verhalten der Exzellenzen in der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit eingehender würdigen.

    

Schrecklich nette Familien


Schon besagter Harry, ohnehin nicht für seine Geistesgaben bekannt, leistete sich den einen oder anderen Eklat (um es milde zu formulieren). So erschien er als Nazi verkleidet auf einem Kostümfest, was angesichts der Tatsache, dass es im Windsor-Clan einige Hitler-Sympathisanten gab, einen recht schalen Beigeschmack hinterlässt. Doch der Apfel fällt ohnehin nicht weit vom Stammbaum. Derzeit befindet sich Harrys Onkel Prinz Andrew in öffentlichem Bann, weil er mit dem millionenschweren Vergewaltiger Jeffrey Epstein befreundet war und auf dessen berüchtigten Partys auch selbst schmutzige Hand angelegt haben soll. Der Opa Prinzgemahl Philip hingegen fiel wiederholt durch unfallträchtiges Autofahren und rassistische Tiraden auf. Bei den Windsors handelt es sich offenbar um eine schrecklich nette Familie; das haben sie mit den Vorgänger-Clans auf dem englischen Thron gemein.


Der Monarch sei von Gott auserkoren, hieß es im Mittelalter. Wenn dem so ist, hat sich der Herr entweder einige deftige Fehlgriffe oder viele schlechte Scherze erlaubt. Heinrich VIII. ließ zwei seiner Gemahlinnen (neben etlichen Höflingen sowie Theologen) hinrichten und gründete zum eigenen Vorteil hienieden flugs eine neue Staatsreligion. Seine Tochter Elisabeth I. war so geizig, dass sie die Soldaten ihrer Flotte, die die spanische Armada geschlagen und ihr damit den Thron gerettet hatten, beinahe verhungern ließ. Skrupellos wie die Tudors präsentieren sich auch andere Königsgeschlechter Albions, etwa die Plantagenets, die sich untereinander um Land und Krone bringen wollten (die Brüder Richard Löwenherz und John Ohneland). Der Letzte dieser Sippe, Richard III., war ein verschlagener Gangster, der selbst vor Kindsmord nicht zurückschreckte, wenn wir Shakespeare Glauben schenken dürfen.


Die illustre Reihe fürstlicher Ganoven von der Insel ließe sich noch eine Weile fortsetzen, doch wollen darüber nicht vergessen, dass auch die Herrscher in Resteuropa ungezählte Leichen im Keller hatten. Man denke nur an den belgischen König Leopold II. und die unzähligen Massaker in seiner Privatkolonie Kongo oder an des Deutschen Reiches letzten Kaiser, der einen Weltkrieg vom Zaun brach. Vielleicht kann man den hiesigen Medienkonsumenten auch nur deshalb das Gewese um die Londoner Royals, die uns eigentlich gar nichts angehen, derartig aufdringlich vorsetzen, weil unser Hohenzollern-Spross Wilhelm II. so gar nicht medientauglich daherkam.


Doch für die ganz Jungen, die Halbstarken im besten Alter und die sich noch verzweifelt an cooler Unreife Festklammernden sind Reality-Soaps und feinsinnige Essays über die Königshäuser Schnee von vorgestern, chancenlos, wenn sportlich gestylte und windschnittig modellierte Hohlköpfe ohne Adelsprädikat zum Kaufrausch und damit verbunden zur Realitätsflucht einladen. Noch haben die Qualitätsmedien den Dreh nicht raus, wie sie den neuen Hype vereinnahmen könnten, sicher aber ist: Die kommerzielle Ausschlachtung des fürstlichen Panoptikums ist schlimm genug, aber es kommt nichts Intelligenteres nach. 

02/2020 

Dazu auch: 

Das wirklich Wichtige im Archiv dieser Rubrik (2017) 






Flugverbot für Blätter


Das Nürnberger Amtsgericht nimmt die weltweit wachsende Bedrohung durch Flugobjekte überaus ernst. So verurteilte vorletzte Woche Richterin Sabine Pilartz die Verantwortliche für eine Kundgebung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu einer Bewährungsstrafe. Die Demo-Teilnehmer*innen hatten im Juli 2018 zu Fliegern gefaltete Zettel mit unerhörten Parolen wie „Wir fordern gleiche Rechte“ oder „Lager abschaffen – Wohnraum für alle“, Flugblätter im wahrsten Sinne des Wortes somit, über den Zaun vor der Behörde gleiten lassen. Der energische Einsatz zweier Polizisten führte zur Ahndung dieser physischen wie geistigen Attacke auf Asylbeamte.


Fleißsternchen für Justiz und Polizei


Das BAMF residiert in einem roten Backsteinkomplex, der zuvor von der US-Army als Mannschaftsquartier genutzt wurde. Im Nürnberger Volksmund aber kursiert immer noch der von den Erstbeziehern abgeleitete alte Name für das riesige Gebäude, das Heinrich Himmler errichten ließ: SS-Kaserne. Keine 500 Meter Luftlinie vom BAMF-Domizil entfernt befindet sich im Wohnviertel Hasenbuck ein Lokal, das früher „Tiroler Höhe“ hieß und als Treffpunkt lokaler Neonazis berüchtigt war. Am 13. Juni 2001 hielten sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in der Gaststube auf und tätigten einen Handy-Anruf. Wenig später erschossen sie einen Kilometer weiter den Änderungsschneider Abdurrahim Özüdoğru in seinem Laden.


Dass die Ermittlungen gegen die NSU-Täter so lange im Sand verliefen, dass manche Medien mutwillig die Opfer diskriminierten (BILD: „Döner-Morde“) oder dass Kriminalbeamte angestrengt eingebildeten Fährten folgten („Mordkommission Bosporus“), können nur Übelwollende als Rechtsblindheit der Polizei interpretieren, wir indes wollen die von den Ordnungshütern bemühten Gründe, die Arbeitsüberlastung und den eklatanten Personalmangel etwa, für bare Münze nehmen.


Umso lobenswerter erscheint uns der Eifer der beiden Beamten, die wegen eines Angriffs mit ca. 50 Papierfliegern (vorab als „kreative Flugobjekte“ angekündigt) auf das Territorium einer Bundesbehörde sogleich die Staatsanwaltschaft einschalteten. Diese teilte die Einschätzung der Polizisten, die öffentliche Sicherheit sei „unmittelbar gefährdet“ gewesen und erhob Anklage. Angesichts der Konfrontation mit 40 anscheinend furchteinflößenden Frauen mit Kindern – es handelte sich vor allem um Mitglieder der Organisationen Women in Exile sowie 8. März Bündnis – und der Sorge um das Wohl zufällig im Freien wandelnder BAMF-Mitarbeiter, die von scharfen Faltkanten verletzt oder in ihrer Ablehnungsroutine manipuliert hätten werden können, muss man das beherzte Einschreiten verstehen.


Gewöhnlich haben es Polizisten bei Demonstrationen nämlich mit harmloseren Kunden, etwa ganz normalen Pegida-Anhängern, zu tun, die sich, von Tätlichkeiten gegen Andersdenkende, gelegentlichem Hitlergruß oder der Drohung, die fotografierten Gegendemonstranten demnächst zu besuchen, abgesehen, eigentlich kaum etwas zuschulden kommen lassen, zumindest nichts, was Ermittlungen rechtfertigen würde.


Wie die Polizei klagt auch die Justiz derzeit über den dürftigen Personalstand. Prozesse fallen aus, mutmaßliche Täter müssen aus der U-Haft entlassen werden, weil sich wegen hohen Krankenstands die Prozesseröffnung zu lang hinauszögert, Formfehler häufen sich wegen Überlastung. Da ist es beruhigend zu wissen, dass ein Amtsgericht genug Man(Woman)power und Zeit findet, zwei Verhandlungstage anzuberaumen, um die bislang unbescholtene Organisatorin einer Demo wegen Verstoßes gegen das bayerische Versammlungsgesetz zu 20 Tagessätzen à 15 Euro verurteilen zu können.


Große Gefahr fängt ganz klein an


Möglicherweise haben sich Polizei, Staatsanwaltschaft und Richterin auch von der Mahnung „Wehret den Anfängen!“ (der allerdings ein ganz anderer Sinn zugeschrieben wird) leiten lassen. Wer schon von klein auf mit Papier-Jets um sich wirft, wird vielleicht später ungeliebte Kontrahenten mit Drohnen beseitigen wie unser Verbündeter Donald Trump.


Und auch das NSU-Trio hat einmal ganz jung und bescheiden in Jena angefangen. Als es dann mit multipler Unterstützung zur Terrorbande gedieh, verloren es alle Sicherheitsdienste der Republik vom Radar oder übersahen es trotz Beobachtung oder beobachteten es und konnten nichts Schlimmes an den Drei finden.


Solche Präzedenzfälle legen nahe: Die Bewahrer der bestehenden Ordnung sollten impertinente Versuche, den Gang der Dinge unseres Rechtsstaates zu behindern, sogleich per Strafverfolgung unterbinden oder zumindest später rächen – selbst wenn der Frevel im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgt.


Bisweilen scheinen Exekutive und Judikative nach der Devise zu verfahren: Wenn wir schon auf der einen Seite rassistisch motivierte Gewalt nicht in den Griff bekommen, sollen wenigstens auf der Gegenseite Flüchtlingsfreunde und andere Gutmenschen nichts zu lachen haben. Wahrscheinlich verhindern deshalb Polizisten am Zaun des BAMF die verbale Herausforderung des Staates und seiner Behörden, während für den Schutz von Asylantenheimen oder Synagogen vor tödlichen Anschlägen das Personal fehlt.

 

Was macht man mit einem Flugblatt?


Seit 1488 ist das Flugblatt als erstes Massenkommunikationsmittel nachweisbar. Die damals kursierenden Papiere mit (meist kommerziellen) Infos werden bei Wikipedia als „Bild-Zeitung des Spätmittelalters“ bezeichnet. Dies wirft die Frage auf, welcher deutsche Polizist wohl heutzutage auf die Idee käme, die unkonventionelle Verteilung eines BILD-Artikels als „unmittelbare Gefährdung“ anzuzeigen.

 

Erst im 18. Jahrhundert kam die Bezeichnung „Flugblatt“ auf, zuvor sprach man meist von „fliegenden Blättern“ (!). Über Formvorschriften oder Verbreitungsmethoden ist nichts weiter bekannt, insofern könnte man den Demo-Teilnehmern zubilligen, ihrer buchstäblichen Interpretation des ikarischen Pamphlets stünde semantisch und gesetzlich nichts im Wege. Dieser Meinung schien sich auch der Verteidiger Marco Noli vor dem Amtsgericht anzuschließen, als er ausführte, Flugblätter seien bei Kundgebungen grundsätzlich erlaubt. Das in Frage zu stellen, gefährde „die im Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit“, argumentierte er und forderte vergeblich Freispruch.


In der deutschen Flüchtlingspolitik herrscht permanenter Notstand, gekennzeichnet von einer Ignoranz der Behörden, die Existenzen gefährdet und Familien zerstört. In den 1940er Jahren war die Not noch viel größer und statt Abweisung von Verfolgten drohte deren Liquidierung. Damals gefährdeten die Geschwister Scholl von der Widerstandsgruppe Weiße Rose die öffentliche Ordnung durch Flugblätter und wurden hingerichtet. Gewiss, beide Situationen sind nicht miteinander vergleichbar, und doch müsste sich aus der bitteren jüngeren Geschichte Deutschlands für die Gegenwart eine höhere Toleranz für unbotmäßige Meinungsäußerungen mit humanistischem Tenor ableiten lassen – auch und gerade von Seiten der Staatsanwälte und Richter.

01/2020

Dazu auch:

Im Zweifel rechts im Archiv dieser Rubrik (2018)

 

 

 





2019



Der Oberzensor


Verkehrte Welt: Während in den „sozialen“ Medien ungehindert Hassbotschaften und Fakes grassieren, zensiert ein deutscher Oberbürgermeister die inhaltlich korrekte Dokumentation einer französischen Fotografin. Nürnberg nennt sich gern „Stadt der Menschenrechte“, um aus dem Schatten brauner Vergangenheit herauszutreten, und es bewirbt sich derzeit um den Titel „Kulturhaupstadt Europas 2025“. Mit der Kunst- und Informationsfreiheit aber scheint es der oberste Kommunalbeamte nicht so ernst zu nehmen, ließ er doch unlängst ein ihm unbequemes Foto aus einer Ausstellung entfernen. Der Verdacht liegt nahe, dass ein Zeitdokument weichen musste, um den türkischen Generalkonsul nicht zu verärgern.


Darf gezeigt werden, was ist?


Im Südpunkt, einem städtischen Kulturladen in der Nürnberger Südstadt, wird derzeit eine Foto-Ausstellung mit dem Titel „Rojava – Schein und Sein“, gezeigt. Es geht um das nordsyrische Gebiet, in dem die kurdische YPG zusammen mit arabischen Verbündeten eine autonome Verwaltung aufgebaut hat und das nach der Vertreibung des IS bis zum Einmarsch der türkischen Armee weitgehend von den Kriegswirren verschont wurde. Die in Nürnberg lebende französische Fotografin Laurence Grangien, die bereits mehrmals aus Krisengebieten berichtet hatte, war in Rojava gewesen und hatte mit der Kamera das Alltagsleben in der Region dokumentiert. Inzwischen ist die Bilderschau allerdings nicht mehr vollständig.


Denn zunächst beschwerte sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in der Metropolregion Nürnberg über das Werbebanner für die Ausstellung im Internet, ein Foto, das eine kurdische Frau mit einer Kalaschnikow in den Händen, hinter der ein Plakat mit dem Konterfei des PKK-Chefs Abdullah Öcalan an der Wand hängt. Weitere empörte Stellungnahmen der türkischen Community erreichen Jürgen Markwirth, den Leiter des städtischen Amtes für Kultur und Freizeit (KuF), das für den Südpunkt, sein Programm und mithin für die Ausstellung verantwortlich zeichnet.

  

Das inkriminierte Foto wird aus dem Internet genommen, niemand will hier provozieren. Die 57-jährige Laurence Grangien erklärte den Nürnberger Nachrichten (NN), dass es ihr bei den Bildern nicht um Parteinahme für irgendeine Seite gehe, sondern allein „um den Kampf für Menschenrechte“. Sie beleuchtet die Seite des Konflikts, die von machtpolitisch spekulierenden Journalisten schon gar nicht mehr wahrgenommen wird: „Ich will Menschen eine Stimme geben, die sonst keine haben.“ Der türkische Gemeindevorsteher Bayraktar gibt sich mit der Löschung des Fotos in den sozialen Netzwerken jedenfalls zufrieden.


Und tatsächlich zeigen die in den weitläufigen Gängen des Südpunkts hängenden Bilder Alltagsszenen in einer Oase des brüchigen Friedens (der mittlerweile durch den türkischen Einmarsch beendet wurde) in einem Land, das andernorts keinen Alltag mehr kennt. Was aber von Weitem wie eine grüne Idylle wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als kurze Ruhephase nach einem Blutsturm, der Bewohnerinnen eines Frauendorfs ihrer Männer, kleine Kinder ihrer Eltern und ältere Menschen ihrer Gliedmaßen beraubt hat.

 

In sachlich gehaltenen, nie aggressiven Begleittexten werden die Besucher u.a. darüber informiert, dass auch die Frauen von Rojava gegen den IS kämpften. Insofern ist die abgebildete Hausfrau, die sich für die Verteidigung ihrer Siedlung am russischen MG hat instruieren lassen, kein sensationsheischendes Kameraobjekt – und erst recht keine Ikone des Terrorismus. Und dass sie den in der Türkei inhaftierten Öcalan an die Zimmerwand gepinnt hat, ist auch kein Wunder angesichts der Kooperation zwischen YPG und PKK. Einer Kooperation übrigens, von der etliche Menschen im Irak und Syrien sowie der Westen profitiert haben, war sie doch der Anfang vom Ende des Islamischen Staates (IS). Diese Zusammenhänge aufzuzeigen, gehört zur Informationspflicht einer Berichterstatterin.


Das ist Realität, das ist nicht Propaganda, das muss gezeigt werden dürfen. Oberbürgermeister Ulrich Maly aber entschied, das Foto abhängen zu lassen. Das Rechtsamt der Stadt hatte ihm auf Anfrage eine windelweiche Expertise voll vager Annahmen und Konjunktive zukommen lassen, der zufolge das Foto im Streitfall „eventuell als Werbung für eine terroristische Vereinigung ausgelegt werden könne“. Überspitzt gefragt: Ist ein Dokumentarfilm, in dem das Zimmer eines Kleinbürgers, der dort einen Hitler-Altar errichtet hat, abgelichtet wird, schon Reklame für den Nationalsozialismus? Oder realistischer: Was ist mit den allgegenwärtigen Che-Guevara-Shirts? Schließlich galt der Argentinier einst ebenso als Terrorist wie jetzt Öcalan.


Es darf in Nürnberg ganz einfach nicht gezeigt werden, was ist. Damit greift die Stadt in die künstlerische Freiheit und in die inhaltliche Gestaltungssouveränität einer Foto-Essayistin ein, und es  sieht ganz danach aus, als hätte der sich stets angestrengt tolerant gebende OB Maly die Zensurmaßnahme aus Gründen politischer Opportunität (und möglicherweise auswärtigen Drucks) angeordnet.


Vorauseilender Gehorsam


Ein klärendes Licht auf die Angelegenheit dürfte wohl der Umstand werfen, dass der neue Generalkonsul Serdar Deniz diesbezüglich beim Nürnberger Stadtoberhaupt vorgesprochen hatte. Das Rendezvous soll nur eine Minute gedauert haben, ist aber offenbar für Erdoğans Mann zufriedenstellend verlaufen. Malys Amtsleiterin Christine Schüßler erklärte zwar: „Das Gespräch fand nach der Entscheidung statt, das Bild abzuhängen.“ Doch lässt diese Einordnung durchaus den Schluss zu, der OB habe in vorauseilendem Gehorsam dem Gast entgegenkommen wollen und recht eilfertig an Grundrechten gerüttelt.


Diese Handlungsweise ist typisch für den populären Nürnberger OB Ulrich Maly. In der Öffentlichkeit tritt er eloquent für die Belange von Flüchtlingen ein, verleiht einen Menschenrechtspreis und äußert Solidarität mit politisch Verfolgten, in den Niederungen der Bürokratie, in die kein Scheinwerferlicht fällt, lässt er gleichzeitig zu, dass kaum eine Ausländerbehörde so viele abgelehnte Asylbewerber, selbst solche in Ausbildung und Arbeit, zur zwangsweisen Abschiebung meldet wie die Nürnberger Dienststelle. Wird der OB aufgefordert, in einem besonders krassen Härtefall einzugreifen, übt er den Schulterschluss mit dem zuständigen Einwohneramtsleiter Olaf Kuch, der selbst in seiner Partei, der CSU, als stramm rechts gilt. Dass auch die Medien Kuchs Behörde vorwerfen, sie agiere „ohne jedes Feingefühl“ (Bayerischer Rundfunk) und „inhuman“ (NN), ficht den OB nicht weiter an, er geht den Weg, der ihm in der schnöden Praxis – abseits publikumswirksamer Veranstaltungen – opportun erscheint.


Sicherlich mochte der oberste Dienstherr auch nicht den großen Bevölkerungsteil mit türkischem Migrationshintergrund in Nürnberg verprellen und die guten Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Frankenmetropole und der Partnerstadt Antalya stören, als er sich entschloss, das Bild des Anstoßes entfernen zu lassen. Er wollte schlicht den Weg des geringsten Widerstands (und bei seiner Entscheidung würde der nur von Stimm- und Rechtlosen kommen) gehen. Ulrich Maly ist übrigens Sozialdemokrat.

  

Ein Etikett, das nicht mehr zeitgemäß ist


Liest man die Texte der Ausstellung, prägt sich eine Zahl dem Gedächtnis ein: Über 11.000 kurdische Frauen und Männer starben im Kampf gegen den IS, gegen eine archaische Fanatikertruppe also, für deren Erfolge die US-Militärs, die den späteren Anführer al-Baghdadi ein Jahr lang in Gewahrsam hielten, angeblich ohne seine Radikalisierung zu bemerken, aber auch die Westeuropäer, die Konflikte im Irak und in Syrien schürten und die nötigen Waffen dazu lieferten, mitverantwortlich waren.


Es waren die alliierten Kämpfer der YPG und der PKK, die Zehntausende vom IS im Sindschar-Gebirge eingeschlossene Jesiden befreiten, während die grandiosen US-Bomber wirkungslos blieben und die deutschen Appelle für die globale Galerie verhallten. Damals nannte niemand die Retter von der PKK Terroristen. Und gemeinsam mit arabischen Verbündeten vertrieb die Schwesterorganisation YPG den IS und machte den syrischen Norden zum sichersten und am ehesten demokratisch regierten Landesteil, während die NATO noch Koalitionen mit starkem Islamisten-Anteil hofierte. Man hätte in Washington, Brüssel, Berlin oder Nürnberg der YPG, aber auch der PKK dankbar sein müssen. Stattdessen beobachtete man „besorgt“, aber passiv, wie der NATO-Partner Türkei den Krieg erneut in eine gebeutelte Region trug (nicht zuletzt, weil eine Quasi-Einladung durch Donald Trump zuvor erfolgt war). Nach offizieller Lesart handelt es sich jetzt wieder zumindest bei den PKK-Mitgliedern um Terroristen, und nicht nur für Oberbürgermeister Maly ist Abdullah Öcalan der Ober-Terrorist.


Als „Terror“ gilt gemeinhin die Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewalt zur Erreichung politischer Ziele. Zwang und Druck durch brutale Maßnahmen seitens einer Obrigkeit zählen ebenfalls zu den Merkmalen. Man könnte angesichts zahlloser von türkischen Militärs und Polizisten während der letzten 100 Jahre begangener Gewalttaten gegen die kurdische Minderheit durchaus von Staatsterror sprechen. Es ist aber hierzulande seit langem semantischer Usus, den Titel Terroristen nur vermeintlich machtlosen und marginalisierten Rebellen, Sezessionisten oder Guerilleros zu verleihen, nicht aber grausamen Uniformierten im Sold befreundeter Regimes. So reichten etwa Blutorgien, in die Lateinamerikas Putschgeneräle ihre Länder stürzten, nie dazu aus, die erfolgreichen Diktatoren, mit denen man ja auch gute Geschäfte machte, Staatsterroristen zu nennen.


Als Reaktion auf die Repression durch Ankara gründeten sich in den frühen 1970er Jahren mehrere kurdische Widerstandsorganisationen, darunter die PKK. Zunächst nationalistisch und in interne Kämpfe verstrickt, gab sich die Organisation später das progressivste Programm im gesamten Nahen Osten: Angestrebt werde eine „demokratisch-ökologische und auf Geschlechterbefreiung ausgerichtete Gesellschaft“. Staatsfixierte und nationalstaatliche Strukturen seien zu überwinden. Folgerichtig beharrt die PKK auch nicht mehr auf einem eigenen kurdischen Staat, sondern fordert einen Autonomie-Status für ihr Volk innerhalb der türkischen Grenzen. Es begannen ernsthafte Gespräche mit der Regierung in Ankara, und ein Waffenstillstand wurde erklärt. Die Verhandlungen schienen erfolgversprechend – bis Erdoğan sie platzen ließ und die Verfolgung kurdischer Politiker und Intellektueller von Neuem begann. Er hatte offenbar nur eine zeitweilige Ruhe an diesem Abschnitt der Front benötigt und offenbarte nun seine wahren Absichten.


Wie die Freiheitskämpfer oder Partisanen in allen Teilen der Welt hatte auch die PKK Attentate und Überfälle begangen, meist gegen Polizeistützpunkte und Armeekonvois, aber leider nicht ohne zivile Opfer. Die Strategie der Machtlosen ist nun mal der Guerillakrieg. Mandelas ANC hatte so angefangen, die mittlerweile in den nordirischen Friedensprozess eingebundene IRA sowie die heutigen Regierungsparteien in Vietnam, auf Kuba, in Algerien oder Mozambique desgleichen. Manche dieser heute oft als Wirtschaftspartner und strategische Verbündete geschätzten Regierenden haben nie eine basisdemokratische Theorie entwickelt wie die PKK, haben weder die Gleichstellung der Frau noch die Abkehr vom Nationalismus realisiert und nie so solidarisch und verantwortungsvoll gehandelt wie die linken kurdischen Kommandeure im Sindschar-Gebirge. Vielleicht wird es Zeit, den pauschalen Terrorismus-Vorwurf für die PKK zu überprüfen – viele Staaten weltweit haben dies bereits getan und nehmen eine andere Position ein.


Oberbürgermeister Maly aber macht sich die von den Regierungen in Berlin und Ankara verordnete Lesart zu eigen, die ignoriert, dass eine Frau für Selbstbestimmung und Sicherheit mit der Waffe kämpfen und sich vor dem Konterfei eines Verbündeten ablichten lassen kann, ohne dass dies Propaganda für Terroristen ist. Um seine eingeschränkte Sichtweise durchzusetzen, verwehrt er Ausstellungsbesuchern, sich selbst ein (möglicherweise kritisches oder ambivalentes) Bild über eine zeitgeschichtliche Situation zu machen, die von einer Fotografin dokumentiert wird, die im Gegensatz zu ihm viel Ahnung von der Situation in Nordsyrien und von Gedankenfreiheit hat.        

12/2019 

Dazu auch: 

Menschenrechtsstadt? unter Politik und Abgrund (2015)








Amerikanische Märchen


In den letzten Jahren erlebte Lateinamerika ein rechtspopulistisches Rollback, das von der US-Politik kräftig befeuert und von Berlin sowie den deutschen Medien wohlwollend begleitet wurde. Inzwischen leisten einige Länder Widerstand, doch zeigt das Beispiel Boliviens, dass alle Mittel recht sind, wenn das Resultat den wirtschaftlichen Interessen der westlichen Staaten entspricht. Den Menschen hierzulande wird passend dazu ein Bild des Subkontinents präsentiert, das mit der Realität ungefähr so viel zu tun hat wie die Mär vom bösen Rotkäppchen und dem edlen Wolf.


Die USA säubern ihren Hinterhof


In den letzten Jahren geriet Südamerika zunehmend in politische Turbulenzen, die im Rücktritt des bolivianischen Präsidenten Evo Morales kürzlich einen vorläufigen Höhepunkt fanden. Die Polizeiführung und eine Armee, die seit dem 19. Jahrhundert mehrere Grenzkriege gegen Chile, Paraguay und Brasilien geführt und sie allesamt verloren hatte, aber bei unzähligen Militärputschen erfolgreich war, hatten dem indigenen Politiker „nahegelegt“, zu seiner eigenen Sicherheit ins Asyl nach Mexiko zu fliehen.


Zur gleichen Zeit gehen Hunderttausende in Kolumbien auf die Straße, um gegen die Kürzungen des Mindestlohns durch die Regierung von Präsident Iván Duque, der enge Verbindung zu den rechtsextremen Todesschwadronen unterhält und nun den Friedensschluss mit der FARC-Guerilla sabotiert, zu protestieren. Duque ist ein bevorzugter Partner der deutschen Bundesregierung.


Deren Außenminister Heiko Maas, der sich eigentlich zu allem und jedem äußert, schweigt derzeit zu Massendemonstrationen in Chile, die bereits mehrere Todesopfer gefordert haben und sich gegen den milliardenschweren Unternehmer und Staatspräsidenten Sebastián Piñera richten, der das neoliberale Wirtschaftsexperiment, das Diktator Pinochet eingeführt hatte, mittels Privatisierungen der öffentlichen Infrastruktur, Lohn- und Rentenkürzungen gnadenlos durchzieht.

Maas aber hatte bei seinem Chile-Besuch 2018 erklärt, er wolle „die Zusammenarbeit mit Chile vertiefen, denn Chile ist ein Anker der Stabilität in Lateinamerika“. Und mit dieser Einschätzung befindet sich der Außenminister im Einklang mit der Trump-Administration, die an die „ehrlicheren“ Zeiten anknüpft, in denen der Subkontinent in Washington noch unverhohlen als „Hinterhof der USA“ bezeichnet wurde.


Nach einer kurzen Periode des Aufbegehrens in verschiedenen Ländern und dem reaktionären Rollback schien bis vor kurzem die Säuberung des Terrains von linken oder zumindest sozialen Bestrebungen durch die Wirtschafts-, Außen- und Geheimdienstpolitik des Großen Bruders im Norden (hierzulande kaschiert durch mediale Informationsselektion) allerorten zu gelingen: In Ecuador vollzog der als Linker gestartete Präsident Lenín Moreno einen radikalen Kurswechsel und reihte sich in die von der weißen Oberschicht bevorzugte Gilde der wirtschaftsliberalen Führer ein. Allerdings musste auch Moreno unlängst vor dem hier plötzlich aufflammenden Mehrheitszorn der Mestizen und Indigenen kuschen und eine Erhöhung der Benzinpreise zurücknehmen.


Inzwischen beginnt selbst in Brasilien das Volk gegen den faschistischen Präsidenten Jair Bolsonaro aufzubegehren, den es erst im vorigen Jahr gewählt hatte, nachdem der Richter Sergío Moro den eigentlichen Favoriten Lula da Silva von der Arbeiterpartei ins Gefängnis geschickt hatte. Mittlerweile ist Moro Justizminister, und der Verdacht keimt auf, dass das fadenscheinig begründete Urteil gegen Lula der Karriere des Juristen nicht gerade abträglich war.


Und in Argentinien wurde der US- und Weltbankgünstling Mauricio Macri soeben per Wählervortum in die Wüste geschickt. Zwar ächzt Venezuela weiterhin unter einem westlichen Handelsembargo, einem Verfall der Rohölpreise und Maduros ungeschickter Politik, doch weder hier noch anderswo läuft es derzeit rund für die Strategen Washingtons, die eine neue Pax Americana, eine Art Grabesruhe auf dem Friedhof der sozialen Emanzipation, implementieren wollen. Da kommt der restaurative Staatsstreich in Bolivien gerade recht. Der erinnert wiederum an die jahrzehntelange erfolgreiche Arbeit der Vorgänger in der CIA und in der Army, und wie damals wahren die Bundesregierung und die deutschen Medien ein freundliches Schweigen - ganz ohne die üblichen Lippenbekenntnissen zu Menschen- und Völkerrechten.


Schatten der Vergangenheit


Im Fokus steht derzeit Südamerika, doch soll nicht verschwiegen werden, dass die Hegemonialpolitik der USA im vergangenen Jahrhundert auch in Zentralamerika und Mexiko Gewaltorgien inszenierte, denen Menschen in mittlerer sechsstelliger Zahl zum Opfer fielen: In Nicaragua unterstützte und bewaffnete Washington den blutrünstigen Somoza-Clan; in El Salvador ließ die US-Administration die Mörder der Arena-Partei von der Kette, die auch den Erzbischof Romero liquidierten; in Guatemala stürzten CIA und Air Force in verdeckter Operation den Sozialreformer Jacobo Arbenz und lösten damit einen Bürgerkrieg aus, den Generäle wie Ríos Montt und Lucas García zum Völkermord an den Mayas nutzten.


Wer langwierige Recherchen scheut und sich im Rahmen aufklärerischer Unterhaltung ein Bild machen möchte, sollte den Thriller „Tage der Toten“ des US-Autors Don Winslow lesen. Zieht man die genreüblichen Brutalo-Szenen und die obligate Heldenstilisierung ab, lässt sich eine frappierende Charakteristik der CIA-Allianzen mit Drogenkartellen und italienischer Mafia zum Zweck der Auslöschung linker Politiker südlich des Rio Grande (und der damit einhergehenden Destabilisierung Mexikos) herausfiltern.


In Südamerika aber gelang der Meistercoup der US-Geheimdienste, die Operation Condor in den 1970er und 1980er Jahren. Nach einem diffizil konzertierten Einsatzplan wurden rechte Militärputsche (etwa gegen die Allende-Regierung) initiiert sowie die Verschleppung und Ermordung Zehntausender Linker, Gewerkschafter und Regimekritiker in Chile, Argentinien, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Brasilien organisiert. Es gibt Indizien, dass die Bundesregierungen und die Auslandsdienste eingeweiht waren, aber die hiesigen Politiker und mit ihnen die Medien über die eigentliche Urheberschaft und die barbarischen Folgen schwiegen (mit Ausnahme von Franz Josef Strauß, der lobende Worte für die Mörder in Chile fand). War doch  den Interessen der deutschen Wirtschaft durch die Konsequenzen der blutigen Eingriffe bestens gedient.


 Der UN-Primus wird abgestraft


Im Großen und Ganzen scheint das regime changing durch die US-Spezialisten in Südamerika heutzutage ein bisschen diskreter und weniger brachial vor sich zu gehen, doch sollte man genau hinschauen. Wenn es opportun erscheint, lässt Washington immer noch Krieg in anderen Ländern führen. Allerdings werden keine GIs entsandt, sondern Söldner von Academi (früher Blackwater), die Aggression wird also ganz im Sinne der Neoliberalen privatisisert. Dies geschieht beispielsweise in Kolumbien, wo die Vereinigten Staaten weiterhin in den einheimischen Killern der rechten Paramilitärs die natürlichen Verbündeten sehen.


In Bolivien lagen die Dinge anders. Die politische Karriere von Evo Morales begann, als er den Widerstand der Bevölkerung gegen die Privatisierung der Wasserressourcen organisierte. Er wurde 2006 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt und verhinderte, dass der US-Konzern Bechtel die Wasserversorgung übernahm und die Abnahmepreise um bis zu 300 Prozent steigerte. Heute haben 83 Prozent der Bolivianer Zugang zu Trinkwasser, 1990 war es nicht einmal die Hälfte. Zugleich verstaatlichte Morales die Erdgas- und Erdölförderung, obwohl IWF und Weltbank eine vollständige Privatisierung gefordert hatten. Auch den Abbau der weltgrößten Lithiumvorräte überließ er nicht den großen US-Konzernen, sondern beauftragte den badischen Mittelständler ACI Systems im Joint Venture mit einer nationalen Firma mit der Förderung. Die Deutschen kamen jedoch der Verpflichtung nicht nach, die einheimischen Gemeinden an den Erlösen zu beteiligen, so dass der Vertrag vor drei Wochen per Regierungsdekret gekündigt wurde.


Unter den Morales-Regierungen erlebte das bitterarme Bolivien einen wirtschaftlichen Aufschwung. Für UN-Experten ist das Land ein Musterbeispiel für positive Entwicklung, der Umgang mit Ressourcen gilt in der Dritten Welt als vorbildlich. Selbst die bürgerliche ZEIT attestierte dem linken Präsidenten, durch Steuerhöhungen und Verstaatlichungen seien die Staatseinnahmen bis 2013 um 430 Prozent gewachsen, woraus die Regierung diverse soziale Maßnahmen finanziert habe. Die Umverteilungspolitik habe auch den Konsum angeheizt. In anderen deutschen Blättern fand sich hierzu wenig. Wirtschaftswachstum ist zwar das Nonplusultra bürgerlicher Ökonomen, aber sie sähen dessen Früchte lieber als Profit in wenigen privaten Händen denn als Treibstoff für das Volkswohl.


Im SPIEGEL-Interview letzter Woche brachte Evo Morales dies in seinem mexikanischen Exil auf den Punkt: „Aber man verzeiht uns nicht, wenn das Modell einer sozialistischen, pluralistischen, linken und antiimperialistischen Nation funktioniert. Es ist ein Klassenkampf.“


Es ist in der Tat ein Kampf der weißen Elite Boliviens gegen die indigene Mehrheit, ein Kampf der globalen Konzerne gegen eine Regierung, die ihnen die Bodenschätze des Landes nicht überlässt, ein Kampf der US-Administration (und ihrer Alliierten, darunter die Bundesregierung) gegen eine aufmüpfige Nation, die sich dem Recht des Stärkeren und Reicheren nicht wehrlos unterwerfen will, ein Kampf, der in den deutschen Leitmedien keine Rolle spielt, da die Sympathien unbedarfter Bürger den Falschen zufliegen könnten, während doch die Wirtschaft auf ihren profitablen Auftritt wartet.


Wir malen uns ein Bild

    

Die Medien hierzulande wiesen lieber auf Vorwürfe wegen Wahlbetrugs hin, ohne deren Plausibilität zu prüfen. Tatsächlich hatten Beobachter der mittlerweile rechtslastigen Organisation amerikanischer Staaten (OAS) Unregelmäßigkeiten gemeldet, ohne allerdings den Vorwurf des Wahlbetrugs zu erheben. Doch ausgerechnet Experten in den USA zweifeln die Stichhaltigkeit der Vorwürfe an. In einer Analyse kam das Center for Economic and Political Research in Washington zu dem Schluss, es habe keine signifikanten Ungereimtheiten gegeben. Und der Wahlforscher Walter Mebane von der University of Michigan erklärte, es seien statistische Unregelmäßigkeiten lediglich in 274 der insgesamt 34.551 Wahllokale (0,8 Prozent!) aufgetreten. Auch gebe es keinen Zweifel, dass Morales` Vorsprung über zehn Prozent gelegen habe – eine Marge, bei der das bolivianische Wahlgesetz keine Stichwahl mehr zulässt.


Aber nach der möglicherweise politisch motivierten Aussage der OAS-Wahlbeobachter ging alles ganz schnell, wirkten die Reaktionen merkwürdig exakt orchestriert: Die Armeeführung forderte den Rücktritt des Präsidenten, die Polizei meuterte, Parlamentsvize Jeanine Añez kürte sich selbst zur Interimspräsidentin, stellte sogleich den Militärs eine „Lizenz zum Töten“ (German-Foreign-Policy) aus, indem sie ihnen per Dekret zusicherte, bei Operationen zur „Wiederherstellung der inneren Ordnung“ seien sie „von strafrechtlicher Verantwortung“ befreit. Zu diesem Zeitpunkt waren schon dreißig Morales-Anhänger getötet worden.


Als erstes Land erkannten die USA das neue Regime an, da durfte die deutsche Politik nicht hintanstehen. Während der spanische EU-Partner den offenkundigen Putsch verurteilte, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert, der erzwungene Rücktritt von Morales sei „ein wichtiger Schritt hin zu einer friedlichen Lösung“. Besonders eifrig aber wollten die Grünen ihr Scherflein zum neo-imperialistischen Coup beitragen. Ihr außenpolitischer Sprecher Omid Nouripour entblödete sich nicht, den Staatsstreich als basisdemokratischen Befreiungsschlag hinzustellen. Das Militär habe „die richtige Entscheidung getroffen, sich auf die Seite der Demonstranten zu stellen“.


Interessanterweise war zumindest die CSU nicht ganz unbeteiligt an dem Geschehen. Ihre Hanns-Seidel-Stiftung ist derzeit damit beschäftigt, einem Dachverband extrem rechter südamerikanischer Parteien mit Rat und Geld (aus dem Auswärtigen Amt) zur Seite zu stehen. Neben den beiden vorbelasteten Präsidenten Duque (Kolumbien) und Piñera (Chile) gehört auch Óscar Ortiz Antelo, früher IHK-Leiter von Santa Cruz im eher konservativen Tiefland Boliviens, der als Präsidentschaftskandidat antrat , aber nur gut vier Prozent der Stimmen erhielt, dem Verein in führender Position an. Ortiz, der auch beste Beziehungen zur FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung unterhält, gilt als kommender starker Mann in La Paz.


Und die Presse als vierte Gewalt, als Kontrollinstanz und kritisches Korrektiv den Reichen und Mächtigen gegenüber? In Südamerika teilen sich einige wenige Oligopole in den Zeitungsmarkt der meisten Länder, was dazu führt, dass beinahe ausschließlich rechte und systemerhaltende Meinungen und Darstellungen abgedruckt werden. Doch auch die deutschen Blätter hielten sich weitgehend an die Vorgaben der Politik: Während in Venezuela jeder brutale Polizei-Übergriff ausführlich in Wort und Bild dokumentiert wurde, erfuhr man nur wenig von den Opfern der rechten Militärs in Kolumbien oder Chile und nun in Bolivien.


ARD und Nobelpresse berichteten eher spärlich und geschmäcklerisch über das aktuelle Geschehen, etwa dass ein paar Kokabauern gegen den Putsch demonstriert hätten. Eine Meldung kann einen gewissen Wahrheitsgehalt aufweisen und dennoch irrige Vorstellungen wecken oder sogar falsche Fährten legen.  Aha Kokabauern, denkt sich der deutsche Normalbürger, Rauschgiftfabrikanten und Kokser also, eine feine Gesellschaft, die da ihrem früheren Kollegen Morales den Rücken stärkt. Er weiß ja nicht, dass die Kokapflanze seit undenklichen Zeiten in den Anden kultiviert wird, dass ihre Blätter als Medizin, für den Teeaufguss und – nicht gerade unwichtig in der Vergangenheit – als Mittel gegen Hunger, Höhenkrankheit und Erschöpfung in den Minen genutzt werden. Die Droge Kokain produzieren und konsumieren andere in anderen Ländern.

      

Krieg den Hütten


Nein, die wütenden Kleinbauern, die gegen den Staatsstreich protestieren, sind nur ein Teil der indigenen Majorität, deren ökonomische Situation sich unter Morales spürbar verbessert hat. Gleichzeitig wurden ethnische Identität und kulturelle Tradition durch die Anerkennung indianischer Völker als autonome Nationen qua Verfassungsänderung unter Schutz gestellt. Zu dieser Politik der Selbstbestimmung gehörte auch die Weigerung, die reichen Bodenschätze Boliviens den global agierenden Großkonzernen zur exklusiven Ausbeutung zu übereignen. Nach den Kriterien des internationalen Freihandels und der neoliberalen Marktphilosophie war dies das größte Verbrechen des Evo Morales.


Die Tageszeitungen und TV-Nachrichten vermitteln uns ein Bild von einem moderaten Machtübergang, bei dem allenfalls einige renitente Eingeborene stören. Darin gehen sie mit allen rechtsbürgerlichen Politikern in Deutschland (und dazu zählen auch die Grünen, sobald es sich um außenpolitische Sujets handelt) konform. Dass die schmale Geldelite mit ihren gekauften Helfern und die überschaubare Mittelschicht sich gerade daran machen, dem indigenen, manchmal schwarzen, in jedem Fall aber dunkelhäutigen Fußvolk die bescheidenen Errungenschaften und das erkämpfte Mitspracherecht wieder wegzunehmen, ist kein Thema für deutsche Korrespondenten, die sich oft genug von Mexiko City oder Rio de Janeiro aus die Expertise über die Andenregion oder den Gran Chaco anmaßen. Das gilt nicht erst seit gestern für Bolivien, aber auch für Kolumbien, Ecuador, Chile etc.


Die Unterstützung mörderischer Junten durch deutsche Konzerne (mit einfühlsamer Assistenz hiesiger Politiker) durfte bereits vor Jahrzehnten allenfalls in späten TV-Magazinen kurz behandelt werden. Dass Daimler während der Militärdiktatur in Argentinien mithilfe der Generale prächtig verdiente, dass Siemens und VW sich den rechten Putschisten regelrecht anbiederten, wobei das Wolfsburger Unternehmen den Folterern von Armee und Geheimdienst sogar Räumlichkeiten anbot, gehörte nicht zu den Essentials der deutschen Mainstream-Publizistik.


Und solch paradiesische Zeiten mit gewogenen Machthabern, verängstigten Arbeitern und verfolgten Gewerkschaftern sähe die deutsche Wirtschaft gerne wiederkehren, wie ihre Begrüßungselogen nach der Wahl des Faschisten Bolsonaro in Brasilien belegten. Dies scheint die Medien genauso wenig zu beschäftigen wie der Klassenkampf, den die mit ausländischen Konzernen verbündete hellhäutige Elite gegen ihre Landsleute in den favelas oder barrios de pobres, den Elendsvierteln alsoführt, ein Konflikt, in dem seltsamerweise die Stoßrichtung von unten nach oben geht. Denn in vielen südamerikanischen Großstädten bauen sich die Reichen ihre Villen im Talgrund, während die Armen die Hänge besiedeln, wo sie Erdrutschen, Sturzfluten oder Erdbeben völlig schutzlos ausgesetzt sind.


Weil der Deutsche an sich davon offenbar nicht hören oder lesen will, übergehen die westlichen Medien, deren ständige Mitarbeiter meist in klimatisierten Büros arbeiten und in von Wachleuten geschützten Vierteln wohnen, auch gern mit diskretem Schweigen die offenkundige Tatsache, dass die strukturelle Gewalt gegen die Menschen in Südamerika zumeist von einer einheimischen Oberschicht ausgeht, die ihre Privilegien bis aufs Blut (der anderen) verteidigt und dem internationalen Kapital den Treueeid schwört.


Lateinamerika wurde fünf Jahrhunderte lang als Rohstoffquelle ausgeschöpft, die letzten drei Jahrhunderte als Abnehmer minderwertiger Industrieprodukte, Pharmaerzeugnisse und „veredelter“ Lebensmittel übers Ohr gehauen und gilt seit einigen Jahrzehnten den Multis als idealer Fertigungsstandort mit niedrigen Löhnen und Steuern, geringen Arbeiterrechten und kulanten Politikern wie Militärs. Wer dort gesellschaftliche Veränderungen anstrebt, versündigt sich an der geheiligten Ordnung, die dem Unternehmer, Banker, Broker oder Investor den Ehrenplatz im Elysium des Freihandels zuweist.


Und so lesen wir in der von Legenden umrankten Vorweihnachtszeit: Es war einmal in einem Land im südlichen Amerika, da wollten die Polizei, das Militär, die weiße Oberschicht, die internationalen Konzerne, die US-Administration und an ihrer Seite die deutschen Politiker nur das Beste für die Menschen…

2012/2019

Dazu auch:

Lateinamerika-Dossier in der Rubrik Politik und Abgrund

Prima Klima in Rio (2019) und Service für Folterer (2015) im Archiv von Politik und Abgrund

  



 



Spätes Glück der APO?


„Enteignet Springer!“ Diese Forderung, die 1967 die Außerparlamentarische Opposition (APO) wegen der unsäglichen Berichterstattung der Zeitungen dieses Verlags und eines drohenden Presse-Monopols erhob, scheint ein halbes Jahrhundert nach dem Ableben der Studentenbewegung umgesetzt zu werden. Und zwar von den Eigentümern der rechten Kampfpresse selbst…


Ausverkauf in Raten


Bis Ende August dieses Jahres erwarb der New Yorker Finanzinvestor Kohlberg Kravis Roberts & Co. (KKR) 43,54 Prozent der Anteile am Axel Springer Verlag für knapp drei Milliarden Euro und ist damit größter Aktionär des ebenso legendären wie berüchtigten Medienkonzerns. Bereits 2014 hatte das Berliner Unternehmen unter der Springer-Witwe Friede etliche Blätter, darunter die Tageszeitungen Berliner Morgenpost und Hamburger Abendblatt, die TV-Illustrierte Hörzu oder die Damen-Postille Bild der Frau, für 920 Millionen Euro an die Funke Mediengruppe verkauft.


Der Verlag sieht offenbar keine lukrative Zukunft mehr für papiergestützte Produkte und benötigt für digitale Journalismus-Projekte ordentlich Geld – und davon steht KKR, nach dem Branchenprimus Blackrock einer der größten Kapitalverwalter weltweitmehr als genug zur Verfügung. „Das Ergebnis des Angebots ist ein sehr starkes Fundament für die geplante strategische Partnerschaft mit KKR“, flötete Konzernchef Mathias Döpfner.


Die Mitarbeiter werden wohl eher befürchten, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Zwar dürfte BILD als volksnahes Flaggschiff des publizistischen Rechtsdralls unantastbar sein, doch Die Welt, das Zentralorgan für den halbgebildeten Reaktionär, sieht der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler in Gefahr. Die Taktik von Finanzinvestoren wie KKR besteht nämlich darin, unprofitable Unternehmensteile zu schließen oder zu verscherbeln, Belegschaft abzubauen, notfalls die ganze Firma zu zerschlagen, mit den Einzelteilen Geld zu machen und nach fünf bis sieben Jahren und ordentlichen Gewinnen wieder auszusteigen.


Demnächst wird KKR den Springer-Verlag von der Börse nehmen, denn der Veröffentlichungszwang des Aktienmarktes stört die Private-Equity-Sachwalter generell bei ihrem undurchsichtigen Tun. Die Ausrichtung der Berliner Meinungsfabrik interessiert die US-Investoren dabei allenfalls hinsichtlich der kommerziell nutzbaren Massenakzeptanz. Dies widerspricht der Tradition des Hauses Axel Springer, denn dieser Verlag war nicht einfach ein Pressekonzern, er fungierte als ideologische Vorhut des rechtskonservativen Establishments.


Vorläufer der „sozialen“ Hass-Medien


Axel Cäsar Springer (1912 – 1985) war ein fanatischer Antikommunist und ein bedingungsloser NATO-Apologet. Die Verpflichtung zu pro-amerikanischer Gesinnung ließ er sogar in die Arbeitsverträge schreiben. Kein Wunder, dass seine Zeitungen die vorderste Propaganda-Front bildeten, als Polizisten am 2. Juni 1967 in Westberlin eine Demonstration gegen den iranischen US-Günstling Schah Reza Pahlavi niederknüppelten und der Beamte Karl Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg von hinten erschoss: BILD oder BZ nahmen nur skandalöse Ausschreitungen seitens der Demonstranten wahr.


Am 7. Februar 1968 forderte BILD: „Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!“. Zwei Monate später schoss der Hilfsarbeiter Josef Bachmann das APO-Idol Rudi Dutschke auf offener Straße nieder. Für die Aktivisten der Studentenbewegung wurde das Westberliner Springer-Hochhaus zum Hassobjekt Nummer eins. „BILD hat mitgeschossen“, skandierten sie.


In der Folge agierten die Boulevard-Blätter des Konzerns im Ton zwar ähnlich rüde, in der Sache aber subtiler. Clevere Schlagzeilen-Texter bedienten sich eines affirmativen Pidgin-Deutsches und verstanden es, die Aversionen der weniger denkfreudigen Bürger in die rechte Richtung zu lenken. Mochten Unternehmen den Fiskus um ungezählte Milliarden betrügen, Politiker sich bereits im Amt als Lobbyisten verdingen oder eine deutsche Regierung das Völkerrecht brechen – die Bösewichter der Nation blieben subversive Linke, finstere Kleinganoven mit Migrationshintergrund oder jener Hartz-4-Bezieher, der es nach Florida geschafft hatte.


Zwar behaupteten bei Umfragen beinahe alle Leser, sie würden nicht für bare Münze nehmen, was ihnen BILDung (so ein gar ziemlich zutreffender Spottname) tagtäglich vorsetze, doch bleibt von bösen Gerüchten immer etwas hängen. Keine andere Zeitung in Deutschland erhielt so viele Rügen des Presserates wegen unlauterer Berichterstattung, diskriminierender Kommentierung oder einfach wegen gedruckter Lügen. Durch bösartige Diktion, tendenziöse Desinformation und Minderheiten-Bashing avancierte die auflagenstärkste Zeitung der BRD zur Pionierin der rechten Facebook- und Twitter-Fakes, öffnete der Diffamierung Tür und Tor in die flächendeckende Verbreitung von Desinformation.

 

Wer nur ausgesuchte und sorgsam bearbeitete Facetten der Realität serviert bekommt, verliert auf Dauer den Überblick über das Ganze und wird sich nicht mit Hintergründen beschäftigen wollen. Insofern ist die Bedeutung der Springer-Presse für das reaktionäre und xenophobe Klima in der Bundesrepublik gar nicht zu unterschätzen. Und eine solch erprobte Meinungsschmiede soll nun von Kapitaljongleuren aus New York ohne fachliches Know-how dominiert und womöglich filettiert werden?

 

Die Heuschrecke kontrolliert den Verlag


„Es geht nichts ohne Friede Springer“, wies eine Konzernsprecherin darauf hin, dass laut Vereinbarung mit KKR keine Entscheidung ohne die Verlegerwitwe getroffen werden könne. Die US-Heuschrecke wird aber wohl schon im Vorfeld die Bedingungen mit den anderen Beteiligten geklärt haben, die ihr die größtmöglichen Gewinne garantieren. Und da die großen Finanzinvestoren äußerst geschickt im Schmieden von Bündnissen oder kurzfristigen Koalitionen sind, dürfte wohl auch der Umkehrschluss gelten: Ohne KKR geht bei Springer nichts mehr.


KKR ist nicht gerade dafür bekannt, Qualitätsjournalismus oder gepflegte Unterhaltung zu fördern, dennoch stieg der Finanzinvestor hierzulande wiederholt bei Medienunternehmen ein. Vor einigen Jahren kaufte er Anteile von ProSiebenSat.1, nur um kurze Zeit später seine Anteile mit einer halben Milliarde Gewinn zu verhökern. Kürzlich erwarb KKR u. a. den Sender Tele 5 sowie ein Filmarchiv, wo er kurzzeitig investieren wird, um dann die Firmen oder Teile davon wieder profitabel abzustoßen. Das Handeln einer Heuschrecke kennt keine sozialen oder kulturellen Verpflichtungen, und erst recht keine Nachhaltigkeit.


Die Belegschaft des Springer-Verlages wird die neue Geschäftspolitik vermutlich bald zu spüren bekommen, während die Leser inhaltlich wohl zunächst keine Änderungen bemerken werden, ist doch die bisher vorherrschende Mischung aus neoliberaler Marktideologie und erzkonservativ-hierarchischem Gesellschaftsbild ganz im Sinne eines Private-Equity-Unternehmens.

  

Es kommt nichts Besseres nach


Der Springer-Clan kann also im eigenen Haus nicht mehr uneingeschränkt bestimmen – ein Wunsch der Alt-Achtundsechziger, zumindest der wenigen, die bei ihrem Marsch durch die Institutionen nicht von diesen absorbiert und in Sold genommen wurden, scheint wahr geworden zu sein. Doch es ist Vorsicht angebracht.


Dass eine Familie, die das rücksichtslose Streben nach Profit und Pressekonzentration aufs Innigste mit nationalistischer Indoktrinierung verband, nicht mehr schalten und walten kann, wie sie will, mag man begrüßen; dass aber Verlage zu Spekulationsobjekten mächtiger Schattenbanken werden, die als Avantgarde bedenkenloser Wachstumsprofiteure agieren und keinerlei Interesse an der Qualität der Veröffentlichungen oder der Validität der Recherchen haben, ist höchst gefährlich.


Der manchmal als lateinisches Zitat, dann wieder als pessimistisches Statement eines Philosophen oder schlicht als skeptische Bauernregel gehandelte Satz „Es kommt nichts Besseres nach“ könnte den Einstieg eines im Auftrag diverser geldschwerer Raffkes handelnden Firmensezierers in ein Unternehmen, das sein Geld mit medialer Manipulation verdient hat, am zutreffendsten kommentieren. KKR, Blackrock und andere fidele Konsorten würden aber vielleicht mit einem modifizierten Spruch des angesichts aller Katastrophen widersinnig optimistischen Professors Pangloss aus Voltaires „Candide“ antworten: „Wir leben in der besten aller möglichen Medienwelten.“    

11/2019

Dazu auch:

Etwas bleibt hängen im Archiv dieser Rubrik (2018)







Irrsinn als Methode


Immer mehr Politiker in aller Welt brechen ethische Tabus, gerieren sich als Brutalos, lügen nach Herzenslust, leugnen wissenschaftliche Erkenntnisse, gefährden willkürlich Frieden wie Umwelt - und haben Erfolg damit. Die Medien, vorrangig die neuen sozialen, aber auch die klassischen wie Print und Funktragen wesentlich dazu bei, dass die vier Vorreiter dieser Entwicklung, die Angelsachsen Trump und Johnson, der Brasilianer Bolsonaro und der Italiener Salvini, mit kalkuliertem Irrwitz reüssieren.


Das Ende der Diskretion


Logik, Integrität oder Verantwortung sind Begriffe, die von der weltweiten politischen Agenda verschwunden zu sein scheinen. Wortgewaltig beklagen sich alle möglichen Kommentatoren in den Medien über die unberechenbaren, in Primitivsprache begründeten Entscheidungen eines Donald Trump oder die skrupellosen Tatsachenverdrehungen und üblen Tricks eines Boris Johnson. Der US-Präsident erkennt nur noch seine Wahrheit an, was bedeutet, dass er im eigenen Interesse auch mal –objektiv gesehen – lügt, gleichzeitig aber den Gegnern und der kritischen Presse prophylaktisch Unwahrheit unterstellt. Der jetzige britische Premier hatte vor der Brexit-Volksabstimmung systematisch Fake News verbreitet und versucht jetzt, das Unterhaus auszuschalten. Mit solcher Taktik werden die beiden vermutlich ihre nächsten Wahlen gewinnen, denn große Teile ihrer Untertanen halten sie für ganze Kerle, die – wie auch immer gearteten – Klartext reden.


Andernorts tauchen Figuren auf, die offen Sympathien für Militärdiktaturen bekunden oder den schlummernden Rassismus vieler Landsleute zu bedienen wissen. Die dünne Schminkschicht der Zivilisation fällt von den kameragerechten Antlitzen eines Jair Bolsonaro oder eines Matteo Salvini schneller ab, als die überlasteten Chronisten es festhalten können. Was einst politischer Selbstmord gewesen wäre, ist heute so etwas wie eine Erfolgsgarantie.


Der Anstand und die öffentliche Moral gingen verloren, barmen die Wortführer der Qualitätsblätter und meinen doch nur die Formen, nicht die Inhalte, denunzieren die Wirkung und lassen die Ursachen außen vor. Denn früher gab es ähnlich viel Betrug, Vorteilsannahme, Korruption und Unwahrheit (immanente Bestandteile eines auf gnadenloser Konkurrenz basierenden Systems), nur durfte man sich dabei nicht erwischen lassen, sondern musste den ehrbaren Bürger mimen; heute hingegen kann man sich wie ein Gangsta-Rapper seiner Schweinereien rühmen und erhält Beifall dafür, heiligt das Ziel doch inzwischen jeden Weg ohne Verbrämungen..


Richard Nixon stolperte im Zuge der Watergate-Affäre nicht über die Kriegsverbrechen, die er in Vietnam anordnete, sondern über ein paar dreiste Lügen und seine ordinäre Sprache. Donald Trump würde sich über solche Lappalien heute souverän hinweg twittern. Dass in der Nachkriegs-BRD alte Nazis auf Schlüsselpositionen in verschiedenen Ministerien saßen, störte den Journalismus damals nicht weiter, schließlich wussten die braunen Zombies sich zu benehmen und die bürgerliche Etikette zu wahren. Kein Thema waren (und sind) für viele Wirtschaftsredakteure die Allmacht der großen Konzerne, die Gesetze nach Herzenslust umgehen oder sie gleich selbst schreiben und sich Politiker als Erfüllungsgehilfen halten, und der vorauseilende Gehorsam ganzer Regierungen gegenüber dem militärisch-industriellen Komplex. Angesichts solcher Diskretion, wo Aufschreie nottäten, darf man sich jetzt nicht wundern, dass naive, machthörige Menschen dem Milliardär Trump gerade wegen dessen unverblümter Durchsetzung eigener Interessen große Sympathien entgegenbringen.


Nur Bayern war seiner Zeit immer schon weit voraus, und hätte bereits vor Jahrzehnten seinen Platz in der jetzigen Welt des enthemmten Neoliberalismus einnehmen können: Der CSU-Vorsitzende und Landesvater Franz Josef Strauß stolperte bei seinem Schulterschluss mit der Rüstungsindustrie von einer kriminellen Affäre in die nächste, ohne dass es ihm schadete. Wie das Maut-Debakel und die ungeschickte Verharmlosung der Autokonzern-Verbrechen zeigte, ist Andreas Scheuer heute geistesmäßig ähnlich gepolt, verfügt aber höchstens über ein Viertel des FJS-Hirns.


Die beste Waffe


Hinter den Kulissen ist also trotz Trump & Co alles beim Alten geblieben, könnte man sagen und sich gelangweilt abwenden. Gut, die Bühnenbilder sind greller, die Töne schriller, ansonsten aber business as usual. Leider prägen sich aber die äußeren Erscheinungsformen den Konsumenten/Usern intensiv ein, lassen diese süchtig nach Knalleffekten und plumpen Pointen werden, verändern ihre Erwartungshaltung an politische Botschaften insgesamt und ersetzen ihr Nachdenkpotential durch Nachahmdepots. In so manchen einfachen, aber bis dato unbescholtenen Verstand sickern rassistische Slogans oder Propaganda für die Waffenlobby ungehindert durch die Filter des Geschichtsbewusstseins und der Menschlichkeit ein und treiben ihn in einer Art dialektischer Wechselwirkung zu eigener action.


Die konventionellen Medien haben ihre „Kunden“ nicht gegen solche Manipulationen immunisiert, weil sie sich an deskriptive Berichterstattung hielten und systemimmanente Meinungen verbreiteten, selten aber die Machtstrukturen und Interessenlagen kritisch hinterfragten. Social Media hingegen überfluten ihre „User“ in einem derart irren Tempo mit Behauptungen, Dementis, Hassbotschaften, Verschwörungstheorien und – dazwischen mal – harten Fakten, dass diese kaum mehr nüchtern selektieren können. Im Stakkato aus widersprüchlichen Reizen sind Tatsachen und Fälschungen von unbedarften Nutzern kaum zu differenzieren, und dies kommt wiederum den Kampagnen der Chef-Populisten entgegen.


So streut Trump im Stundentakt Beschimpfungen, Beleidigungen, Lügen (in seinem Lager: alternative Wahrheiten) und Drohungen von geopolitischem Format via Twitter. Dass sich etliches binnen Kurzem als Fake herausstellt, dass den kriegerischen Ankündigungen bislang zum Glück kein Vollzug folgte, fällt kaum mehr auf, weil schon seine nächste Schimäre im Netz steht. Es darf keine Zeit zur Besinnung bleiben. Dem Einwand, der US-Präsident belle nur, aber beiße nicht, muss entgegengehalten werden, dass die Hemmschwelle, die seine Anhänger noch von rassistischer Gewalt oder Kriegstreiberei abhält, durch die radikal-verbale Aufrüstung immer intensiver abgehobelt wird (ähnlich wie seine Zwerg-Epigonen von der hiesigen AfD die propagandistischen Breschen für Neonazi-Gewalttaten schlagen).


Mit einer faustdicken Lüge über barbarisch hohe Zahlungen Großbritanniens an die EU hat Boris Johnson das Brexit-Referendum entschieden. Als er hinterher dieser Schweinerei überführt wurde, war ihm das kein Wort (erst recht keins der Entschuldigung) wert. Seiner Popularität hat diese Art von Cleverness jedenfalls nicht geschadet.


Lügen gehört für die vier genannten Protagonisten zum täglichen Geschäft, doch es gibt ein noch effektiveres Werkzeug: Passen bestimmte Erkenntnisse nicht ins eigene Weltbild und ist zudem die Faktenlage erdrückend, so leugnet man entschlossen den gesamten Sachverhalt. Der von Menschen gemachte Klimawandel findet schlicht nicht statt, auch wenn 98 Prozent aller Experten ihn beobachten und Belege für ihre Erkenntnis vorlegen. Und für Jair Bolsonaro, wie viele Trump-Anhänger ein evangelikaler Christ, wurde das All vor 6000 Jahren erschaffen, wie es in der Bibel steht – gleichgültig, was ihm die Wissenschaft an Gegenbeweisen vorlegt. Ein kreationistisches Welt- und Menschenbild harmoniert bestens mit seiner Überzeugung, die Aufteilung der Bevölkerung in Arm und Reich, minderwertige dunkle und höhergestellte helle Rassen, sei gottgewollt.


Früher wäre solcher Unsinn noch in gepflegten (wenn auch folgenlosen) TV-Diskussionen zerlegt worden, heute ist dank Social Media die Konzentration für eine sachliche, einigermaßen seriöse Argumentation bei Akteuren wie Konsumenten weitgehend verloren gegangen.

  

Vier Reiter der geistigen Apokalypse 

    

Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Politikern weltweit, die mit ähnlicher Taktik wie unsere vier Hauptpersonen Erfolg haben, man denke nur an Viktor Orbán, den türkischen Despoten Erdoğan oder die österreichische ÖVP/FPÖ-Riege; doch unsere Vorreiter einer geistigen Apokalypse setzen das Instrumentarium der gestreuten Desinformation und kruden Rabulistik in allen Variationen und besonders einfallsreich ein.


Allen vier sind maßlose Hybris, stupende Rücksichtslosigkeit, unbedingter Machtwille und eine plump-affirmative Rhetorik, die vor allem für die „sozialen“ Medien konzipiert scheint, zu eigen, ansonsten aber lassen sich in Haltung, Handlung und Vorgehen durchaus Unterschiede zu kennen. Für den Baulöwen und Immobilien-Investor Donald Trump ist alles – Politik , Geschichte, Bündnistreue oder außenpolitische Verbindlichkeit – ein einziger großer deal, ein Geschäft, bei dem er der Verhandlungspartner sein will, der den anderen über den Tisch zieht.


Boris Johnson ist weit gebildeter als Trump, soweit man dem Ruf der Bildungsinstitute von Eton bis Oxford, an denen er ausgebildet wurde, trauen darf. Seinen Willen zur Macht setzt der krankhafte Egomane bisweilen in Hasardspielen irgendwo zwischen Game of Thrones und Shakespeare um, wobei er die britische Kultiviertheit des geborenen Gentleman zugunsten vulgärer Rambo-Plattitüden aufgibt. Beide, Trump wie Johnson, neigen regelmäßig zu cholerischen Anfällen und wirken in ihrem Drang, alles sofort und ohne Abstriche haben zu wollen (andernfalls sie beleidigt bis hasserfüllt reagieren), ein wenig kindisch.


Anders steht es mit Jair Bolsonaro. Wo die anderen zunächst nur drohen, handelt er sofort und bedenkenlos. Der Ton wird von der Tat begleitet. Kaum im Amt, beruft er die Generäle in die Regierung, gibt den Amazonas-Regenwald zur Abholzung und die dort lebenden indigenen Völker zur Vertreibung frei und ermuntert die Polizei, Schlachtfelder aus den favelas zu machen. In seiner Konsequenz ist der Brasilianer wesentlich furchterregender als seine Erstwelt-Kollegen in London und Washington, nur fehlt ihm deren Unterhaltungswert für die permanente Doku-Soap in den neuen Medien.


Matteo Salvini, der sich durch eine misslungene Finte einstweilen selbst ins oppositionelle Abseits befördert hat, aber mögliche Neuwahlen wohl immer noch hoch gewinnen würde, verhindert mit seiner rassistischen Konstruktion „Italiener wehren sich gegen Migranten“ geschickt, dass sich die Landsleute der ursprünglichen Programmatik seiner Partei entsinnen. Einst forderte nämlich die Lega, die damals noch Lega Nord hieß, die Abspaltung Padaniens, also des wohlhabenden Nordens des Landes, von Italien. Attribute, mit denen damals ihre Politiker die Süditaliener beschrieben, etwa faul, kriminell oder schmutzig, lassen sich nun prächtig auf Flüchtlinge anwenden. Und auch Wähler aus Palermo oder Neapel stimmen heute für die Lega, was wiederum belegt, dass die mediale Reizüberflutung durch Fakes und Schmutz-Kampagnen das Gedächtnis beeinträchtigt und die historische Erinnerung löscht.


Wenn derzeit in Edel-Publikationen über die plötzliche Verrohung der politischen Sitten gejammert wird, so ist dies nur bedingt berechtigt. Die unheilvolle Verstrickung von Kapital und Politik, die zwangsläufig zu kriminellen Machinationen führen muss, gab es schon früher, und die schlummernden Aversionen gegen Andersdenkende, Andersgläubige, Andersartige waren nie verschwunden, nur wurden sie dezent verschwiegen. Die konventionellen Medien breiteten eine dünne Decke aus öffentlichem Konsens und moralisierender Beschwichtigung über den gärenden Unrat und berichteten nur, wenn sich allzu hässliche Flecken zeigten. Heute darf und soll alles ans Tageslicht, und siehe da: Das Unappetitliche findet Nutz- und Genießer. Das Übel war immer schon da, aber jetzt, da es sich ungeniert selbst feiern darf, findet es Fans und wird noch gefährlicher. 

10/2019 

Dazu auch: 

Antisocial Media im Archiv dieser Rubrik (2018)


       



Bürger zu den Waffen


Zum Glück für die AfD geben sich ihre meisten Wähler mit den verbalen Ausfällen von Höcke, Weidel oder Gauland sowie mit dem Fake-Overkill durch die rechten Netz-Propagandisten zufrieden und scheuen den Blick in die Programme der Partei. Die umworbenen kleinen Leute würden sonst feststellen, dass nicht ihre Interessen, sondern die der Wohlhabenden bedient werden, Rentner müssten um ihr spärliches Einkommen, das künftig im Fonds-Monopoly ausgewürfelt werden soll, fürchten und geprellte PKW-Besitzer könnten sich ob der Avancen gegenüber den Autokonzernen nur verwundert die Augen reiben. Wie erstaunt aber wäre mancher, der die AfD für eine Art bessere CDU hält, wenn er ihres Faibles für Waffen und militärische Expansion gewahr würde.


Vorn dran statt nur dabei


Unlängst verabschiedete die AfD ein Militärprogramm, das zu denken gibt und gewissermaßen das Fürchten lehrt. Dass die Partei gegenwärtige Bundeswehreinsätze im Ausland ablehnt, kann zu dem Fehlschluss verführen, sie sei nicht sonderlich militaristisch eingestellt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die AfD will die Streitkräfte aufstocken, schlagkräftiger machen, sie für Kriege in aller Welt (und zu Hause) fit machen und aus unseligen Zeiten bekannte Kommandostrukturen wieder einführen.


Größer soll sie werden, unsere Bundeswehr, ganz so, als würden nicht Einsätze und Ausstattung bei der jetzigen Mannschaftsstärke schon für Tohuwabohu in den Hirnen der Verteidigungspolitiker, ihrer McKinsey-Berater und der Generäle sorgen. Eine knappe Viertelmillion Soldaten möchten die Rechten, dazu noch 50.000 Mann Reserve, was die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, die jungen Männern/Frauen (?) ein paar sinnlos vertrödelte Monate bescheren würde, zur Folge hätte.


Wozu aber glaubt die AfD so viele Waffenträger zu brauchen. Warum nur in die Ferne schweifen, liegt das Böse doch so nah: Das deutsche Militär wird ausdrücklich „zum Einsatz im Inneren autorisiert“. Nun gibt es ein Grundgesetz, das im Artikel 87a Abs. 3 und 4 der Bundeswehr gestattet, im Verteidigungs- und Spannungsfall zivile Objekte zu schützen und den Verkehr zu regeln, auch darf sie im Katastrophennotstand helfen (Art. 35) und bei drohender Gefahr für die Demokratie (Art. 91) eingreifen, aber erst wenn sich Polizei und Bundesgrenzschutz als zu schwach erweisen. Ansonsten hat die Bundeswehr im Inland stillzustehen.


Warum fordern die AfD-Vordenker nun den Freibrief für das Militär, im eigenen Land tätig zu werden? Stellen sie sich vor, dass Soldaten Flüchtlinge jagen oder als Streikbrecher agieren könnten? Oder träumen sie davon, als künftige Regierungspartei die Bundeswehr, die ja bekanntlich schon jetzt unter den Mannschaftsgraden, besonders aber in den Spezialeinheiten und im Offizierskorps mit reichlich Sympathisanten durchsetzt ist, gegen politisch Andersdenkende einzusetzen? Ein im Programm formuliertes Postulat liefert vielleicht die Antwort: Eine „Restauration der Bundeswehr“ müsse stattfinden. Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück! In die guten alten Zeiten einer Wehrmacht, einer Führerarmee womöglich…


„ …und morgen die ganze Welt!“


Die AfD möchte nicht nur den guten alten deutschen Generalstab wieder installieren, was 1945 verboten wurde, sie erhebt auch den „Anspruch auf eine militärische Führungsrolle“ in Europa (was zwar die Militaristen in der Union, der SPD und bei den Grünen auch tun, was aber aus dem Mund rechtsradikaler Nationalisten noch einmal ganz anders klingt). Nur Menschen mit schwachem Gedächtnis oder historische Analphabeten können vergessen haben, welche Folgen die militärische Führungsrolle Deutschlands im letzten Jahrhundert zeitigte.


Aber damit sind Höcke und Konsorten noch nicht zufrieden, selbstverständlich müssen sie auch den Finger an den Drücker bekommen. Also habe die NATO Deutschland gefälligst die „Teilhabe“ an den „nuklearen Fähigkeiten“ zu gewähren. Schöne neue Welt, in der nach Trump in den USA nun auch marodierende Chauvinisten hierzulande Zugang zum roten Knopf am ultimativen Zerstäuber hätten…


„Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!“ hieß es in einem munteren, von Hans Baumann geschriebenen Nazi-Lied. So ähnlich müssen die AfD-Strategen gefühlt haben, als sie die künftigen internationalen „Aufgaben“ der Bundeswehr kühn umrissen. Die Partei hatte sich zwar den jüngsten deutschen „Militärmissionen“ widersetzt – es waren schließlich nicht die von ihr intendierten -, scheint aber in noch ganz anderen Dimensionen des militärischen Expansionismus zu denken. Die „Aufgaben im Ausland“ habe die Bundeswehr „an jedem Ort der Erde“ wahrzunehmen, selbst „gegen den Willen anderer Staaten“. Schließlich haben auch die großen deutschen Feldherren der Vergangenheit Polen, Frankreich oder die Niederlande nicht erst um Erlaubnis gefragt, bevor sie einmarschierten.  

Die deutsche Filiale der NRA


Schon bevor die ambitionierten Pläne des Neuen deutschen Militarismus von den Vordenkern der AfD zu Papier gebracht wurden, hatten die bayerischen Parteigänger in ihrem Wahlprogramm der archaischen US-Maxime With God and guns gehuldigt und quasi die individuelle Zivilistenbewaffnung gefordert. Eine Verschärfung der Waffengesetze wird dort abgelehnt und stattdessen erleichterter Zugang zu Waffen für die „ordentlichen Bürger dieses Landes“ propagiert.


Damit mutet die AfD wie die deutsche Filiale des ältesten, schrecklichsten und einflussreichsten Lobbyisten-Kartells der USA, der National Rifle Association, an. Nicht umsonst sympathisieren etliche ihrer Anhänger mit Donald Trump, der die Lehrer und am liebsten alle aufrechten Weißen bewaffnen würde, um potentielle Massaker im Blut zu ersticken.


Über das Militärprogramm der AfD könnte man angesichts ihrer derzeitigen bundespolitischen Einflussmöglichkeiten vielleicht noch lächeln (zumal sich einige Details abgeschwächt in den Vorstellungen „seriöser“ Bundestagsparteien wiederfinden), die Förderung des privaten Waffenwahns aber muss man todernst nehmen. Im rechten Lager wird seit geraumer Zeit massiv aufgerüstet, wie nicht nur die Wehrsportgruppe Hoffmann und die NSU-Morde belegen. Neonazis stehlen Bundeswehrwaffen, Angehörige von Spezialeinheiten wie dem Kommando Spezialkräfte (KSK) schließen sich dem braunen Widerstand an, die Prepper legen geheime Waffendepots an, und im Untergrund kursieren Todeslisten mit den Namen linker und anderweitig missliebiger Aktivisten, Politiker und Journalisten. Die menschenverachtende Polemik dieser gruseligen Szene ist nach Inhalt und Duktus nicht sehr weit von den Parolen der AfD-Anhänger entfernt.

09/2019

Dazu auch:

Die dümmsten Kälber im Archiv von Politik und Abgrund (2018) 

 

  




Themaverfehlung


Am 17. Mai dieses Jahres verurteilte der Bundestag mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und der meisten Grünen den Boykottaufruf der BDS-Bewegung gegen Waren, Dienstleistungen, Künstler, Wissenschaftler und Sportler aus Israel scharf. Damit trete das Parlament „jeder Form des Antisemitismus im Entstehen entschlossen entgegen“, hieß es selbstgerecht in der Begründung. Die Medien übernahmen diese Einschätzung überwiegend kritiklos. Doch auch wenn das Boycott-Divestment-and-Sanction-Movement (kurz BDS) bisweilen wenig Scheu im Umgang mit Judenfeinden zeigte, sollte in der deutschen Öffentlichkeit der historische Grund für seine Existenz nicht gänzlich ignoriert werden. Zudem ist der Begriff Antisemitismus in diesem Zusammenhang fehl am Platz.


Definition falsch, Ursachen vergessen


Die Linke im Bundestag wollte es besser machen und brachte (natürlich vergeblich) einen alternativen Antrag ein, in dem zwar auch BDS vorgeworfen wurde, das Existenzrecht Israels infrage zu stellen, der aber die Bundesregierung aufforderte, eine friedliche Lösung zu befördern und sich für zwei unabhängige, demokratische und miteinander kooperierende Staaten auf Basis der bisherigen UN-Resolutionen sowie der zwischen beiden Parteien abgeschlossenen Abkommen einzusetzen“. Immerhin wird hier an die Ursache der Kampagne, die völkerrechtswidrige Besetzung der Palästinensergebiete durch Israel, erinnert. Doch in der Begründung des Antrags war von Boykottaufrufen, die an „antisemitische“ NS-Positionen erinnerten, die Rede. Auch hier wird der Begriff zumindest missverständlich verwendet.


Wer die Existenzberechtigung des Staates Israel in den Grenzen von 1967 (also vor dem Beginn des „Sechs-Tage-Krieges“) anzweifelt, mag sich vielleicht auf koloniales Unrecht und dessen Folgen sowie ungeklärte Landrechte beziehen, realistisch und verantwortlich denkt er indes nicht. Überall auf der Welt wurden nach Abzug der europäischen Mächte die Grenzen ziemlich willkürlich gezogen. Würde man dies in Afrika oder Asien revidieren wollen, träte man eine Staaten wie Menschenmassen verschüttende Lawine los. Im damaligen Palästina siedelten sich während und nach der britischen Besatzung Juden, also Angehörige einer verfolgten und diskriminierten Ethnie, an, die erklärten, ins Land ihrer Vorväter zurückgekehrt zu sein. Sie bauten eine erfolgreiche Nation auf, die wohl nur zum Preis eines Weltkriegs wieder eliminiert hätte werden können. Folgerichtig erkannten die meisten Staaten Israel an.


Wenn Teile von BDS das Ende des jüdischen Staates und das Rückkehrrecht für fünf Millionen Palästinenser fordern, so ist das erste Postulat gefährlich und obsolet (wenn vielleicht auch vom Leidensdruck Betroffener her verständlich) und das zweite zwar aus menschlicher wie juristischer Sicht berechtigt, aber aus Gründen der Praktikabilität (wenn man etwa an das arg enge Territorium denkt) kaum durchsetzbar. Anders verhält es sich mit den nach dem Sechstagekrieg von 1967 völkerrechtswidrig annektierten Gebieten und der illegalen Besiedlung durch israelische Kolonisten dort. Ein Boykott der Produkte aus diesen Regionen ist legitim, schließlich verbieten auch unsere Gesetze, dass ein Bankräuber von den Zinsen aus seiner Beute profitiert.


Der Bundestag aber nimmt absichtlich nur die überzogenen, nicht aber die berechtigten BDS-Forderungen wahr, um die Boykotteure pauschal zu desavouieren und seinerseits zum Boykott der Bewegung durch Gemeinden und Saalvermieter aufzurufen. Die niederländische Regierung hingegen sah den Aufruf der Aktivisten durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Es scheint, als verleite das schlechte Gewissen ob der unsicheren Situation jüdischer Mitbürger in unseren Städten die deutsche Politik dazu, Judenhass kategorisch mit harter inhaltlicher Kritik am Gebaren des Staates Israel gleichzusetzen.

       

Übereifer trübt das Sehvermögen


Eine Diskussion über den immer noch latent vorhandenen (und sich allmählich lauter äußernden) Judenhass in Deutschland tut wahrlich not. Zwar distanziert sich die AfD-Spitze in staatsmännischer Zurückhaltung vom Antisemitismus und lobt sogar die Wehrhaftigkeit Israels, doch praktiziert sie ihn zumindest verbal, sind doch die arabischen Muslime ihre bevorzugten Hassobjekte, und die sind allesamt Semiten. Wenn man der palästinensisch dominierten BDS-Bewegung nämlich Antisemitismus vorwirft, wo man Antijudaismus meint, unterstellt man vielen Mitgliedern ungewollt Selbsthass oder einen Hang zur Selbstvernichtung.


Ungeteilten Antisemitismus (gegen Araber wie Israeliten) findet man hingegen beim Fußvolk der AfD, das sich an den Stammtischen lustbetont in den sattsam bekannten Verschwörungstheorien von der jüdischen Weltherrschaft ergeht und im gleichen Atemzug gegen Kameltreiber polemisiert. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs: In einem Land, dessen einer Teil (BRD) nach Kriegsverbrechen und Holocaust Schuld und Sühne in Form von Lippenbekenntnissen zur selben Zeit abarbeitete, da alte Nazis die Ministerien aufbauten, während der andere, die DDR, Antifaschismus von oben verordnete, ohne dass dies in Herz und Hirn der Bürger gedrungen wäre, äußert sich das schlechte Gewissen in devoter Tolerierung oder sogar Unterstützung aggressiver israelischer Politik (zumal sich letztere für viele deutsche Unternehmen auch lohnt).


Wenn man BDS zurecht dafür kritisiert, dass es nicht nur Waren dubioser Herkunft, sondern auch Künstler oder sogar linke Israelis, die Gemeinschaftsprojekte mit Palästinensern durchführen, boykottieren will, muss man auch der israelischen Regierung eine ganze Liste menschen- und friedensfeindlicher Maßnahmen und Absichten vorhalten. Dies tun aber hierzulande die Politiker nicht, und auch die Medien wagen nur laue Kritik, um danach gleich wieder ins Lager der Versteher eines Regimes zurückzukehren, dessen Chef Benjamin Netanjahu sogar von David Grossmann, dem wohl bedeutendsten lebenden Schriftsteller Israels, faschistische Tendenzen attestiert wurden.


Nicht nur die BDS-Bewegung, auch die Regierung in Jerusalem hat einiges auf dem Kerbholz: Sie wird geleitet von einem machtgierigen Politiker, der unter dringendem Korruptionsverdacht steht, und gerne im Dienste Trumps, aber gegen den Rat seiner Militärs und Geheimdienste den Iran bombardieren lassen würde. Während seiner Amtszeit wurden immer mehr Rechte der arabischen Bürger Israels kassiert, zerschnitten immer neue illegale Siedlungen das Westjordanland, so dass palästinensische Bauern, denen ohnehin schon die Wasserrechte vorenthalten wurden, nicht mehr zu ihren Feldern gelangen konnten. In Ostjerusalem und anderswo enteigneten die Behörden Häuser und Wohnungen nichtjüdischer Ansässiger ohne rechtliche Grundlage, und die Meinungsfreiheit wurde auch für israelische NGOs durch das generelle Verbot von Boykottaufrufen in Zusammenhang mit den okkupierten Gebieten eingeschränkt.


Dazu schweigen die Bundesregierung und die meisten hiesigen Medien, wissen sie doch nur zu gut, dass das den Palästinensern angetane Unrecht auch eine Spätfolge deutscher Verbrechen gegen die Menschheit ist, dass verständliche Existenzangst die Nachfahren der jüdischen Opfer zu zweifelhaften Maßnahmen gegen ein anderes Volk trieb, die sich inzwischen unter einem zynisch kalkulierenden Machtmenschen wie Netanjahu zu kolonialistischer Strategie verdichteten.


Zwar verhalten sich die deutschen Meinungsmacher nicht so aggressiv wie Donald Trump, aber im Grunde spielen sie dessen Spiel mit. Der Mann im Weißen Haus legitimierte entgegen allen UN-Beschlüssen den fortgesetzten Landraub nicht nur, indem er die US-Botschaft nach Jerusalem (das Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen offenstehen sollte) verlegte, er appellierte auch an seinen Komplizen Netanjahu, die beiden mohammedanischen Abgeordneten Rashida Thaib und Ilhan Omar, die im US-Kongress eine pauschale BDS-Verurteilung abgelehnt hatten, nicht nach Israel einreisen zu lassen. 

 

So krass reagieren die deutschen Außenpolitiker natürlich nicht, schließlich möchten sie als Vermittler zwischen den verfeindeten Parteien agieren. Nur dass niemand auf sie hört, Israels Regierung nicht, weil der große Freund Trump ihr bei allen Provokationen den Rücken stärkt, die Palästinenser nicht, weil Berlin alles andere als neutral ist und im Zweifel die Positionen des Netanjahu-Regimes präferieren würde. Also arbeitet sich die hiesige Polit-Elite lieber an den BDS-Verfehlungen ab – und genehmigt Waffenexporte nach Israel.

       

Mahner in der Wüste der Ignoranz


Würden die Abgeordneten des Bundestags und die Journalisten der deutschen Edelpresse doch nur den Beitrag lesen, den zwei prominente Israelis am 17. Juni in der Tageszeitung Haaretz veröffentlichten! Avraham Burg, Buchautor und von 1999 bis 2001 Präsident der Knesset, und der berühmte Skulpteur Dani Karavan, der u. a. das begehbare Mahnmal „Straße der Menschenrechte“ in Nürnberg schuf, stellen den BDS-Boykottaufruf in den historischen Zusammenhang und kritisieren dessen reflexhafte Verurteilung durch die Bundesregierung scharf.


Die beiden Autoren blicken zurück auf die Entstehung des Staates Israel und deren Folgen für die Palästinenser: „Juden und Nichtjuden in aller Welt einschließlich der Nichtzionisten unterstützten die Gründung Israels, weil sie darin einen Hafen für Juden in aller Welt sahen, in der Juden immer wieder als Sündenböcke angegriffen wurden. Doch derselbe Krieg zur Geburt des Staates Israel verursachte eine Katastrophe für die Palästinenser – die Nakba. Rund 750.000 Palästinenser flohen oder wurden aus der Heimat vertrieben, ohne dass sie zurückkehren durften. Hunderte arabische Dörfer wurden zerstört, die städtischen Zentren entleert und zerkrümelt.“


Burg und Karavan schreiben daher von einer „doppelten Verantwortung“ Europas und insbesondere Deutschlands. Doch diese Balance zwischen der Freundschaft mit Israel und dem Kampf für die Menschenrechte und gegen alle Formen des Rassismus sei zerstört worden: „Im vergangenen Monat (17. Mai) hat der Bundestag auf das verzichtet, was von der Balance zwischen den beiden Pflichten übriggeblieben ist, und das Ideal der Menschenrechte aufgegeben. Stattdessen opferte er es für die blinde Unterstützung der israelischen Regierung – der am weitesten rechtsgerichteten und populistischen Regierung, die Israel jemals führte. Ihre gegenwärtigen Werte stehen in direktem Gegensatz zu allen Werten, die Deutschland im 21. Jahrhundert zu unterstützen beanspruchte.“


Die beiden Mahner in einer Wüste der Ignoranz werfen dem Bundestag vor, er habe „willkürlich und falsch bestimmt, was Antisemitismus sei“. Und sie ordnen die inkriminierte Organisation und ihren Aufruf sehr viel realistischer als die Berliner Abgeordneten ein: „Es gibt an BDS an sich nichts Antisemitisches. Gewaltlose Volkskampagnen sind ein legitimes Mittel, um Staaten dazu zu bewegen, mit schwerer Diskriminierung und arger Verletzung der Menschenrechte ins Gericht zu gehen … Wir fragen die deutsche Regierung: Glauben Sie wirklich, dass es eine Ähnlichkeit zwischen dem Boykott einer Flasche Wein, die in den besetzten Gebieten auf von Siedlern gestohlenem Land, die von der stärksten Armee in der Region geschützt werden, produziert wurde, und dem Boykott eines Geschäfts in Nazi-Deutschland gibt?“


Die historische Lektion, die Avraham Burg und Dani Karavan den vorlauten, schlecht informierten und einseitigen Volksvertretern in Berlin erteilen, könnte diese zum Denken (und Bedauern) animieren. Aber möglicherweise würden die Abgeordneten die beiden israelischen Juden lapidar des Antisemitismus bezichtigen. 

09/2019 

Dazu auch:

Das andere Israel im Archiv von Politik und Abgrund (2018)               

 






Die AfD dankt


Die entsetzliche Tat im Frankfurter Hauptbahnhof, der ein achtjähriger Junge zum Opfer fiel, wurde aus nicht ganz verständlichen Gründen bundesweit zum absoluten Medien-Schocker hochgepuscht. Warum? Schon vorher starben Menschen, weil sie vor Züge gestoßen wurden, doch nur selten erregten diese tragischen Geschehnisse eine ähnliche überregionale Aufmerksamkeit in der Presse, im Fernsehen, natürlich im Netz – und auf eine wenig überlegte Weise in der Politik. Nun bleiben Fragen: Ist die Aufregung mit geradezu alarmistischen Untertönen der Tatsache geschuldet, dass der Täter ein aus Eritrea stammender Schwarzer ist? Arbeiten Journalisten und Entscheider, die den Frankfurter Fall als symptomatisch für die „Flüchtlingskrise“ bewerten, nicht direkt den Rechten und Neonazis zu?


Täter, die aus dem Schema fallen


In der Straße von Hormus droht ein bewaffneter Konflikt, der Handelsstreit zwischen den USA und China eskaliert, nach Trumps Aufkündigung des INF-Vertrags droht ein neuer Kalter Krieg mit Europa als Schlachtfeld – all diese global enorm wichtigen, wenn auch nicht schönen Nachrichten wurden für Tage von den Titelseiten der Zeitungen und den ersten Plätzen der Rundfunk- und TV-News verdrängt durch die Berichterstattung über die Bluttat von Frankfurt. Und diese überdimensionierte mediale Gewichtung wurde in einigen Kreisen mit hysterischem Überschwang zur Beschwörung der wegen der „Flüchtlingswelle“ dräuenden Gefahren genutzt.


Im Hauptbahnhof der hessischen Metropole stößt ein 40-jähriger Mann einen Jungen und seine Mutter vom Bahnsteig vor den einrollenden Zug. Eine alte Frau kann sich befreien, verletzt sich dabei aber. Das Kind wird überrollt, die Mutter entkommt knapp dem Tod. Der Mann ist Eritreer, ein aus der Schweiz eingereister anerkannter Asylant – Wasser auf die Mühlen jener, die Flüchtlinge generell als Verbrecher, Fanatiker, Schmarotzer diffamieren.


Gewaltverbrechen finden meist in einem Umfeld statt, in dem Opfer und Täter gleichermaßen beheimatet sind, in der Familie etwa, im Bekanntenkreis oder im Bandenmilieu. Man kennt sich, man hasst sich, man möchte den anderen berauben oder aus Rache töten. Mögen die Motive auch noch so fieser Art sein, sie weisen doch so etwas wie eine innere Logik auf. Menschen aber, die ihnen Unbekannte scheinbar ohne jeden Grund von der Bahnsteigkante stoßen, sind uns unheimlich. Doch so selten sind solche schrecklichen Vorfälle gar nicht.


Im Januar dieses Jahres wurden zwei Sechzehnjährige auf einem Nürnberger Vorortbahnhof von zwei Siebzehnjährigen in den Tod geschubst. Es hatte zuvor eine Rangelei gegeben, möglicherweise war Alkohol im Spiel. Aus reiner Wut und Aggressivität stieß 2018 ein Siebzehnjähriger in Köln einen Mann auf die Gleise der U-Bahn, Ähnliches tat eine betrunkene Frau in München. Beide Opfer konnten sich retten. Neun Tage vor Frankfurt wurde eine Frau in Voerde (NRW) von der Regionalbahn tödlich überrollt. Ein Achtundzwanzigjähriger hatte sie im Drogenrausch vor den Zug gestoßen.


Suff, Rauschgift und Brutalität sind üble, aber kognitiv erfassbare Auslöser einer Tat; was aber, wenn der Täter ohne eigenes Verschulden nicht mehr Herr seiner selbst ist? Wenn er aufgrund einer psychischen Erkrankung unter Wahnvorstellungen leidet, sich verfolgt fühlt, glaubt, sich gegen unbeteiligte Menschen brachial verteidigen zu müssen. Dann passt er in kein konventionelles Täterschema mehr, und sein „Verbrechen“ eignet sich auch nicht als Beleg für einen soziologischen Trend, etwa die angeblich gestiegene Gewaltbereitschaft von Migranten.


Ein Paranoiker, der 2016 in Berlin eine Abiturientin getötet hatte, indem er sie vor die U-Bahn stieß, wurde denn auch vom Gericht für nicht schuldfähig gehalten. Der Mann war kurz zuvor aus einem psychiatrischen Krankenhaus entlassen worden.


Die Hyänen des Internet


In der Schweiz galt der Täter von Frankfurt lange Zeit als Vorbild für gelungene Integration. Der Eritreer, ein Christ, war nicht vorbestraft, hatte Familie, arbeitete geschickt und fleißig bei den Verkehrsbetrieben Zürich und wurde von Vorgesetzten wie Bekannten als „freundlich“, „zurückhaltend“, „integer“ und „zuverlässig“ beschrieben. Er verfügte über persönliche Eigenschaften und Schlüsselqualifikationen, wie sie die AfD oder andere Rechtsextremisten Flüchtlingen eigentlich generell absprechen. Bis eine (von Schweizer Ärzten diagnostizierte) Psychose, eine Seelenkrankheit, vor der niemand gefeit ist, sein Leben verdüsterte, seinen Verstand verwirrte und ihn in eine grauenhafte Reaktion trieb. Jetzt konnten Rechtsradikale, aber auch konservative Politiker sein Schicksal medienwirksam ausschlachten.


Millionen von Deutschen leiden unter psychischen Erkrankungen. Öffentlich wurde dieser lange tabuisierte Tatbestand erst erörtert, nachdem der frühere Fußball-Nationalspieler Robert Enke sich 2009 wegen schwerer Depressionen vor einen Zug geworfen (und damit zwar niemanden unmittelbar physisch verletzt, aber möglicherweise einen Lokführer schwer traumatisiert) hatte. Der Fall warf damals Fragen zu latenten seelischen Störungen auf, weckte Empathie in weiten Kreisen der Bevölkerung und wurde in den Medien eingehend und durchaus einfühlsam durchleuchtet. Und heute? Die schwere Krankheit des Eritreers spielt in den meisten Publikationen kaum eine Rolle, das Feld wird den Chauvinisten überlassen, die aus dem Geschehen Profit schlagen und darüber hinaus auch noch die Trauer der betroffenen Familie instrumentalisieren wollen.


Aus den Hasstiraden in den „sozialen“ Medien ragten wieder einmal Beiträge der WortführerInnen einer Partei heraus, mit der sich Teile der Brandenburger CDU durchaus eine Zusammenarbeit vorstellen können. Den Anfang machte – wie so oft – die AFD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel. Wenige Stunden nach der Frankfurter Tragödie hatte der Eiserne Engel der extremen Rechten auf facebook gepostet: „An Entsetzlichkeit ist diese Tat nicht mehr zu überbieten. Was muss noch passieren? Schützt endlich die Bürger unseres Landes - statt die grenzenlose Willkommenskultur!“ Welche „grenzenlose Willkommenskultur“ sie meinte, die normalerweise ziemlich engherzige der Schweiz oder die ein wenig verlogene einer Angela Merkel blieb im Dunkeln, die Nationalität des Täters wurde im ersten Satz des Posts triumphierend präsentiert – wie eine Trophäe aus dem afrikanischen Herz der Finsternis.


In einem Tweet, der zwar wenig später gelöscht wurde, aber genügend Unheil angerichtet haben dürfte, machte die AfD-Bundestagsabgeordnete Verena Hartmann die Kanzlerin persönlich für die Tat verantwortlich und schrieb ganz dem archaischen Blut- und Rache-Kult unsäglicher Polit-Vorgänger verpflichtet: „Ich verfluche den Tag Ihrer Geburt.“


Da durfte natürlich Bernd Höcke, der hiesige Shooting Star der politischen Restauration nicht fehlen: „Der Mord in Frankfurt war kein Einzelfall, das ist die Folge eines - und das mag jetzt etwas zynisch klingen - menschengemachten Klimawandels.“ Klingt in der Tat nach Schmalspur-Zynismus, entbehrt aber nicht eines Hauchs von Wahrheit, verborgen in der spiegelverkehrten Version. Den „menschengemachten Klimawandel“ gibt es tatsächlich, einmal in meteorologischem Sinn und ökologischer Konsequenz, zum anderen im Sinn einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der sich auch infolge der menschenverachtenden Propaganda von Höcke und Konsorten Menschen mit dunkler Hautfarbe nicht mehr in bestimmte Regionen und  Viertel trauen können. Einen Wandel, der ein Klima generiert, in dem man sich als gebürtiger Eritreer derzeit in Deutschland nicht sehr sicher fühlen dürfte.


Zutritt verboten für Kranke und Schwarze?


Auftritt nun der unvermeidliche Horst Seehofer kurz vor dem Ende seiner politischen Karriere! Weil nicht alle Migranten an den Grenzen bei der Einreise kontrolliert worden seien, will er Deutschland nun auch im Südwesten abschotten: "Diesem Umstand müssen wir begegnen, durch eine erweiterte Schleierfahndung und anlassbezogene, zeitlich befristete Kontrollen auch unmittelbar an der Grenze - auch an der Grenze zur Schweiz."

 

Er bezieht sich ebenfalls auf die Tat des schizophrenen Asylanten. Seehofers Allheilmittel Grenzkontrolle hätte aber in diesem Fall gar nichts genutzt. Der Eritreer durfte sich von seinem Status her im Schengenraum frei bewegen. Er war zwar wegen psychotischer Ausbrüche kurz vor der Ausreise von den Schweizer Behörden gesucht, aber nur landesintern zur Fahndung ausgeschrieben worden.


Wen will Seehofer, der das nationalistische Spektrum durch Aktionismus beeindrucken möchte, eigentlich von der Bundesrepublik fernhalten? Die biederen Schweizer Grenzgänger auf ihren Butterfahrten nach Konstanz? Deutsche Geldwäscher auf ihrer Rückreise in die Heimat? Wohl eher dunkelhäutige Personen oder Einreisende mit arabischem Gesichtsschnitt. Seelisch Behinderte, die sich ruhig verhalten, dürften die Grenzschützer übrigens gar nicht aussortieren, hat die BRD doch 2008 das Behindertenrechtsabkommen der Vereinten Nationen unterzeichnet, das jede Diskriminierung von (auch psychisch) behinderten Menschen strikt verbietet. Wer aber länger als sechs Monate unter einer schweren seelischen Erkrankung leidet, gilt nach SGB IX § 2 Abs. 1 als behindert.  Wieder einmal scheint Seehofer also ohne Legitimation allein für die Galerie, die diesmal allerdings reichlich braun besetzt ist, gegen Windmühlen kämpfen zu wollen.


Statistiken al gusto


Bayerns Sheriff Joachim Hermann setzt in der seinem Intellekt angemessenen plump-dreist vereinfachenden Art noch einen drauf und nimmt die Tat eines psychisch und womöglich geistig Kranken zum Anlass, vor erhöhter Gewaltbereitschaft bei eingereisten Migranten zu warnen: „Jetzt kommen unübersehbar Menschen aus anderen Kulturkreisen zu uns, in deren Heimat die Gewaltlosigkeit, wie wir sie pflegen, noch nicht so selbstverständlich ist“, sagte er der Passauer Neuen Presse. Dass Pazifismus in Afrika nicht so selbstverständlich ist wie in XY (von Deutschland kann ja wohl nicht im Ernst die Rede sein), verdankt sich auch der Versorgung mit Qualitätswaffen made in Germany, diversen Interventionen von NATO-Staaten und einer im Süden Elend und brutalen Überlebenskampf kreierenden EU-Handelspolitik.


Dennoch scheinen die Zahlen Hermann zunächst recht zu geben: Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2018 weist den immensen Anstieg der von Zuwanderern (also Asylbewerbern, Schutz-  und Asylberechtigten, Geduldeten, Kontingentflüchtlingen und sich unerlaubt Aufhaltenden) verübten Verbrechen von 8,5 auf 8,6 Prozent an allen Straftaten aus. Dies ist bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von rund zwei Prozent tatsächlich ein hoher Wert. Nur ist das mit Statistiken so eine Sache, sie dokumentieren nackte Zahlen, offenbaren aber (zumindest auf den ersten Blick) nicht die personellen Auswahlkriterien und den sozialen Hintergrund der Erhebungen.


Die Presse wiederum war zwar ihrer Informationspflicht nachgekommen und hatte über die Tat von Frankfurt berichtet, diese dabei aber aufgebauscht und in einen dubiosen Kontext gestellt, wodurch die Schlammlawine im Internet erst richtig losgetreten wurde. Ein Schizophrener, der eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz hatte, taugt nicht als Exempel für die angeblich wachsende Bedrohung durch in Deutschland lebende Asylbewerber. Zum Glück relativierten nun einige Zeitungen das vermeintliche statistische Menetekel (wenn sie auch nicht allzu gründlich differenzierten): Sie wiesen darauf hin, dass über alle Gesellschaften und Kulturen hinweg junge Männer zwischen 14 und 30 Jahren im Verhältnis die meisten Gewaltverbrechen begehen. Das Statistische Bundesamt stellte Ende 2018 aber fest, dass das Durchschnittsalter der Schutzsuchenden bei 29,4 Jahren (deutscher Bevölkerungsdurchschnitt: 45,4 Jahre) lag und 63 Prozent von ihnen Männer waren (Deutschland: 49 Prozent).


Die statistische Ermittlung bezog sich bei den Asylbewerbern also auf eine Gruppe, die überall auf der Welt als überproportional impulsiv und gewaltbereit gilt. In die gesamtdeutsche Erhebung hingegen wurden Kleinkinder und Greise, die kaum zu Vergehen fähig sind, sowie gesetztes Mittelalter, das kriminelle Energie, so einst vorhanden, längst hinter sich gelassen hat, mit einbezogen. Was in den Medien fehlte, war der Hinweis, dass Flüchtlinge häufig traumatisiert ankamen, in Deutschland unter deprimierenden Wohnbedingungen, oft genug mit Schicksalsgenossen, mit denen aus ethnischen oder religiösen Gründen Differenzen und Spannungen bestehen, auf engem Raum untergebracht wurden und ihre Zeit hier ohne Hoffnung und sinnvolle Beschäftigung verbringen müssen.


Vielleicht wäre es sinnvoller, eine andere Gruppe in unserer Gesellschaft statistisch zu scannen: Würde man alle Deutschen, die in den letzten Jahren wegen rassistischer, nationalistischer und neonazistischer Aktivitäten in Wort, Schrift und Tat aufgefallen sind, zu einem Untersuchungsobjekt zusammenfassen, stieße man sicherlich auf ein höheres Kriminalitätspotenzial als unter den Asylbewerbern, vor denen die Populisten, die „besorgten Bürger“ und die AfD so eindringlich warnen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in den letzten Jahrzehnten fast 200 Menschen (vorsichtig geschätzt) von Rechtsextremisten, übrigens weit mehr als von Islamisten, Flüchtlingen und Linksterroristen zusammen, ermordet oder totgeschlagen wurden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, etwa den NSU-Morden oder dem Oktoberfestattentat, geschah dies ohne das pompöse Medieninteresse, das die verhängnisvolle Tat eines kranken Eritreers erfuhr.

    

Vielleicht kündigt Horst Seehofer ja als Konsequenz einer solchen statistischen Erhebung dann an, dass künftig an den Binnengrenzen zur Sächsischen Schweiz, am Rande des Erzgebirges oder gewisser Viertel in Dortmund strenger kontrolliert würde. 

 

08/2019

 

Dazu auch:

Nazi und Gendarm im Archiv dieser Rubrik (2016) 

                              




Die Unterweltreporter


Wie wurden sie früher um ihren Job beneidet, die Sportredakteure in der Presse und die Fußballreporter in Funk und Fernsehen. Während ihre Kollegen sich durch den Dschungel der Politik oder die Verflechtungen der Wirtschaft kämpfen mussten, konnten sie spannendes Geschehen kommentieren, sich im Licht der Stars sonnen und einen Broterwerb aus ihrem Hobby machen. Jetzt aber stehen die Jünger der leichtesten Muse vor einem Scherbenhaufen: Wohin sie auch blicken, sie sehen nichts als Betrug, Korruption und Manipulation – und verstehen nicht, dass das alles ganz normal ist.


Gut bezahlte Fans


In den Zeitungen galten sie immer schon als Leichtgewichte, die Sportredakteure, die jedes Geschehen auf dem grünen Rasen, dem Tennis-Court oder der Aschenbahn tags darauf minutiös rekapitulierten, kommentierten und gleich darauf noch einen Blick in die Zukunft riskierten. Allerdings vergaßen die „seriösen“ Kollegen, dass nichts in unserem Land so ernsthaft diskutiert und als so schicksalhaft empfunden wird wie ein „wichtiges“ Fußballspiel – und zur gediegenen Debatte am Montagmorgen gehört es nun einmal, Wiedergekäutes im Sportteil zu verinnerlichen. Die Live-Reporter in Radio und Fernsehen genossen ohnehin mitunter nationalen Kultstatus.


Die Journalisten, die gutes Geld mit der publizistischen Aufbereitung der schönsten Nebensache der Welt verdienten, dabei Idole interviewten, Klatsch und Tratsch aus den Umkleidekabinen kolportierten und sich im Bereich der B- bis C-Prominenten, die chronisch sportliche Events bereichern, umhören durften, hatten stets den Ruf, Luftikusse und Herolde der Banalität zu sein. Kritik, so sie denn überhaupt stattfand, galt meist dem Spiel oder der Schiedsrichterscheidung, selten dem Charakter und der Abwicklung des circensischen Geschehens selbst.


So trug der Sportjournalismus klaglos die Kommerzialisierung in vielen Sportarten mit, schließlich können reiche Vereine bessere Akteure verpflichten, und Erfolg heiligt selbst maßlose Investitionen. Auch die Professionalisierung, sozusagen die Umwandlung von Spiel und Leibesübung in Lohnarbeit, fand ungeteilte Zustimmung. Nachdem zuvor noch mit dem nackten Zeigefinger auf die „Staatsamateure“ des Ostens gedeutet worden war, wurden die bundesdeutschen „Sportsoldaten“ oder die auf den Lohnlisten des Grenzschutzes geführten Athleten, die ganztags fürs Vaterland trainierten, wohlwollend als echte Sportler akzeptiert.


Dann kamen immer mehr Unappetitlichkeiten ans Tageslicht. Spiele, Rennen und Kämpfe wurden verschoben. Die Wett-Mafia manipulierte nach Herzenslust, am Boxring oder auf der Pferderennbahn regelten oft kriminelle Hintermänner den Kampfverlauf bzw. die Reihenfolge des Zieleinlaufs. Berichtet wurde darüber schon, schließlich macht sich ein bisschen Crime immer gut, vor allem im Boulevard-Journalismus. Eine ganze Sportart oder das System in toto stellte aber niemand ernsthaft infrage.


Kapitalisierung des Sports


Auch auf der Seite der Aktiven wurde fleißig betrogen – oft genug auf Kosten der eigenen Gesundheit. Hier leisteten vor allem TV-Rechercheure beachtliche Aufklärungsarbeit. Aufgrund ihrer Enthüllungen wissen wir heute, dass nicht nur der Osten professionell dopte, sondern auch hierzulande verbotene Elixiere zur Leistungssteigerung konsumiert wurden. Die Berichterstattung über infizierte Disziplinen tangierte dies höchstens kurzfristig. Wenn heute der Sender Eurosport die Tour de France live überträgt, fällt kein kritisches Wort über die medikamentösen Manipulationen der Physis und der Psyche. Möglicherweise nehmen die Reporter den weitverbreiteten Branchenspott für bare Münze: „Die Tour de France ist das fairste Sportereignis der Welt. Hier ist jeder gedopt.“


All diese schmuddeligen Aspekte des Hochleistungssports sind aber lediglich Symptome einer langanhaltenden Entwicklung, die in den Medien schon deshalb kaum thematisiert wird, weil sie selbst ein anderer Teil desselben Systems sind. Die Peinlichkeiten und Delikte, die von zu Zeit an die Oberfläche gespült werden, handelt man zwar pflichtschuldig in Text und Bild ab, räumt solchen „Vorkommnissen“ aber nur wenig Zeit und schlechte Sendeplätze ein. Dass die Fußball-WM 2022 nach Qatar vergeben wurde, weil etliche Millionen an Schmiergeldern flossen, dass in dem Wüsten-Emirat bislang schon Hunderte von Bauarbeitern aus Nepal oder Indien an Hitze und Überlastung krepiert sind, wird wohl dokumentiert. Doch wenn der Ball erst rollt, werden die negativen Begleiterscheinungen schnell ausgeblendet.


Eine Mehrheit interessierter Bürger würde der Behauptung, der Präsident des Weltverbandes FIFA, Gianni Infantino, gebärde sich wie ein Mafia-Boss mit diktatorischen Ambitionen, zustimmen. Was die Kritiker bei diesem Vergleich übersehen: Infantino ist ein typischer Protagonist der freien Marktwirtschaft. So wie er seine FIFA dominiert, regieren CEOs auf dem ganzen Globus die wichtigsten (börsennotierten) Konzerne. Es geht um Marktbeherrschung, Gewinnmaximierung und Manipulation der konsumierenden User. Die vielen Millionen kickenden Akteure und ihre Fans sind für die FIFA-Oberen ebenso Manövriermasse, wie es die eigene Belegschaft für den Vorstandsvorsitzenden eines DAX-Konzerns ist.

 

Das Schweigen der Reporter


Der Sport mit seinem spielerischen Besser, Höher, Weiter, Erfolgreicher passt bestens in den Überbau des Kapitalismus. Betont dieser doch immer, dass durch Konkurrenz die innovativsten Kräfte der Gesellschaft entfesselt werden. Dass aber die Voraussetzungen für die Individuen, Gemeinden oder Länder höchst unterschiedlich sind und sich die freie Marktwirtschaft, die Heilige Kuh des Wirtschaftsliberalismus, längst in ein Schlachtfeld von Oligopolen und Monopolen verwandelt hat, wird von den Medien tunlichst verschwiegen. Der freie Wettbewerb als ideologisches Konstrukt des Wirtschaftsliberalismus ist eine ebensolche Schimäre wie das ewige Leben in der christlichen Religion. Aber darüber redet oder schreibt man nicht.

 

Warum sollten ausgerechnet die Sportreporter aus der Bruderschaft des Schweigens ausscheren? Das Credo des windschnittigen Journalismus lautet: Bilde gewissenhaft die Oberfläche ab, der tiefere Sinn hat niemanden zu interessieren. Und es gilt für die Wirtschafts- und Politikressorts in gleichem Maße wie für die Sportredaktion.


Fairness mag – dank klarer Regeln – manchmal noch auf dem Spielfeld oder in der Sporthalle walten (sieht man vom allgegenwärtigen Doping ab), in den nach dem Vorbild von Konzernen geführten Sportorganisationen indes hat es sie wohl noch nie gegeben. Schließlich geht es um viele Milliarden. Dass in der Champions League ab dem Viertelfinale nur noch die reichsten Vereine den Sieger unter sich ermitteln, untermauert den lakonischen Spruch: Geld schießt eben doch Tore.


Vier englische Vereine, die arabischen Fürsten oder anderen Magnaten gehören und von den TV-Sendern zusätzlich noch Milliarden für die Übertragungsrechte kassieren, bestritten die Endspiele der beiden europäischen Pokalwettbewerbe. Auch in Deutschland fordern die großen Clubs wie Bayern München, mit dem sozial denkenden Ehrenmann Uli Hoeneß an der Spitze, mehr Geld von Rundfunk und Fernsehen, den Medien mithin, die mittels Dauerberieselung den Aufstieg des Profi-Fußball zur Profit-Maschine überhaupt erst ermöglicht hatten. Und in den Schubladen liegen bereits Pläne, wie durch irgendwelche Super-Ligen noch mehr Gewinn gerafft werden könnte. Neidisch blicken einige nach Nordamerika, wo die Eigentümer ihre Basketball- oder Football-Vereine freihändig verkaufen oder von einer Stadt in eine andere umsiedeln können.


Sprechen wir von Exzessen? Mitnichten, einige Sportarten sind einfach im real existierenden Kapitalismus angekommen, und die Funktionäre haben seine schlichte Ideologie inzwischen verinnerlicht. So wie der freie Markt im Grunde wie die Unterwelt funktioniert, arbeiten auch im Sport Wirtschaftmacht und Wirtschaftskriminalität Hand in Hand. Aber das vertieft man besser nicht. Schlechte Zeiten für fidele Sportreporter… 

07/2019 

Dazu auch:

Armutsfalle Sport im Archiv dieser Rubrik (2013)

FIFA lässt sterben im Archiv von Politik und Abgrund (2013)  

 

 

                          


Goldenes Schweigen


Von den Bildschirmen in den U-Bahn-Stationen leuchtete es herab, für die Telekom-News war es der skurrile Aufmacher: „Milliardäre fordern höhere Steuern für Superreiche“. Die Ströer-Mediengruppe, führend in der Aufbereitung medialen Fastfoods für die Liebhaber knackiger Infos ohne gedanklichen Tiefgang, schaffte es, den entrückten Moguln der Finanzwelt menschliche Antlitze zu verleihen. Allerdings nur den redseligen aus Nordamerika, ihre deutschen Klassenkameraden verharren derweil in luxuriösem Schweigen.


Spinnen die Amis?


Den US-Reichen per se glaubten wir seit unserer Kindheit zu kennen. Onkel Dagobert war ein geiziger, gieriger und rücksichtsloser Schwimmer in den Fluten seines Geldspeichers. Der Gedanke, dass ein solcher Yankee-Krösus für sich und seine  Clique eine höhere Besteuerung verlangt, wirkt so abwegig, dass man fürchten könnte, die pekuniäre Elite der Welt sei von einem Masochismus-Virus infiziert worden. Doch es stimmt: Zwanzig US-Milliardäre fordern in einem gemeinsamen Aufruf bei offenbar klarem Bewusstsein: „Besteuert uns stärker!“


Wortführer ist – wieder einmal – George Soros, jener einst als übelster Zocker auf den Finanzmärkten gehasste, dann plötzlich als Philanthrop gefeierte Verwandlungskünstler. „Amerika hat eine moralische, ethische und wirtschaftliche Verantwortung, unser Vermögen stärker zu besteuern“, erklärte Soros, eifrig sekundiert u.a. von Facebook-Mitbegründer Chris Hughes und – Dagobert wird im Grab rotieren – den Disney-Erben. Der Moralphilosoph Soros erntete Meriten, als er eine Uni in Budapest gründete, die von seiner privaten Stiftung finanziert wurde, und sich dabei mit dem unappetitlichen Viktor Orbán anlegte. Ewigen Ruhm aber errang er als der Mann, der mit seinen Wetten gegen das britische Pfund und den thailändischen Baht zwei Volkswirtschaften an den Rand des Abgrundes brachte und damit Hunderttausende menschlicher Existenzen gefährdete.


Die zwanzig Gutmenschen wollen alle US-Bürger, die derzeit mehr als 50 Millionen Dollar jährlich an Abgaben zahlen, höher zur Kasse bitten und berufen sich dabei auf den wohl weltweit reichsten Finanzinvestor Warren Buffet, der einst beklagte, dass seine Sekretärin mehr Steuern bezahlen müsse als er selbst. Der besorgte Multimilliardär kauft sich gern in Unternehmungen ein, zwingt Geschäftsführer zur Veräußerung oder Verlagerung ganzer Produktionszweige und auch schon mal zu Massenentlassungen, um den Börsenwert der Firma und damit seiner Anteile zu steigern.


Weiter so, aber mit Zartgefühl


Nein, lupenreine Menschenfreunde sind die superreichen Propagandisten ansatzweiser Steuergerechtigkeit sicherlich nicht. Sie repräsentieren jene Fraktion des Kapitalismus, die zwar die Welt ohne Rücksicht auf Verluste unter sich aufteilen möchte, sich dann aber publikumswirksam um einige der Opfer kümmert. Aus ähnlichem Kalkül stecken Magnaten wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg einen Teil ihres Vermögens in soziale Stiftungen. Man tut Gutes, redet viel darüber, behält aber die Kontrolle, bestimmt, was oder wer unterstützt wird und wie dies zu geschehen hat. Neue Steuereinnahmen etwa sollen einer US-Regierung zugutekommen, deren Zusammensetzung man im besten Fall exklusiv bestimmt und auf die anschließend jede Menge Einfluss und Druck ausgeübt werden kann.


Diese „liberalen“ Kapitalisten stehen in einem verzweifelten Abwehrkampf der anderen großen Fraktion aus Monetaristen, Marktfanatikern und Wirtschaftsimperialisten gegenüber, einem zu allem entschlossenen Haufen, der längst die zivilisatorische Maske des „verpflichtenden Eigentums“ fallengelassen und in Trump ihren wirkungsvollen Lautsprecher gefunden hat. Was soll in dessen Augen die diskrete Instrumentalisierung von Politikern, wenn man alles durch Drohung, Verleumdung und Gewalt ganz offen bekommen kann?


Was die unverhohlene Gier und die unverhüllte Skrupellosigkeit angeht, ähnelt der Rambo Donald Trump viel mehr als der raffinierte George Soros dem archetypischen Raffke Dagobert Duck. Von der Disney-Legende her könnte der ja auch sein Onkel sein.  


Die SPD müsste auf die Straße gehen


Wie reagieren nun die Superreichen in Deutschland auf den Vorstoß ihrer Vettern in Übersee? Vermutlich überhaupt nicht. Soziale Aktivitäten sind Mangelware, wenn man davon absieht, dass SAP-Hopp sich den Retortenverein TSG Hoffenheim leistet oder das Haus Reemtsma, Urheber unzähliger Lungenkrebserkrankungen, via Stiftung gesellschaftspolitisch forschen lässt. Die Quandts, Albrechts oder Ottos begnügen sich allenfalls mit dem Verteilen von Almosen und frönen ansonsten ihrem Hobby, der Abgabenvermeidung. Eine höhere Besteuerung ihrer Milliardenvermögen könnten sie schon deshalb nicht guten Gewissens fordern, weil sie damit einem alten Verbündeten in den Rücken fallen würden.


Die Regierung Schröder schaffte 1997 die Vermögenssteuer ab und half damit Deutschlands Reichen, ihr schweres Bündel ohne Minderung des Inhalts durchs Leben zu tragen. Vor allem die SPD-Genossen vom rechten Seeheimer Kreis müssten eigentlich empört auf die Straße gehen, wenn irgendwelche durchgeschossenen Milliardäre plötzlich wieder höhere Abgaben forderten, die womöglich den freien Kapitalismus in seinem Lauf hemmen würden.


Was von dem Ganzen bleiben wird? Vermutlich nichts als heiße Luft. Hierzulande werden die Superreichen der Regel, wonach Schweigen Gold sei, huldigen. Die Vertreter des patriarchalisch-liberalen Kapitalismus in den USA haben noch einmal einen Moment medialer Aufmerksamkeit verbucht, und am Ende wird Donald Trump wahrscheinlich wiedergewählt.

06/2019

Dazu auch:

Reiche sind gut!  im Archiv dieser Rubrik (2014)     





Die EU lässt sterben


In den Jahren 2015 bis 2018 kamen laut Angaben der Internationalen Organisation für Migration mindestens 11.897 Menschen bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten, ums Leben. „Die tödlichste Migrationsroute der Welt“ (so German-Foreign-Policy) wurde wegen einer  EU-Maßnahme, die vor allem Deutschland gefordert und durchgesetzt hatte, zur letalen Falle. Am vergangenen Montag haben die Anwälte Shatz und Branco Anzeige vor dem Haager Strafgerichtshof gegen die EU und ihre Mitgliedsstaaten erstattet. Kein großes Thema für die Medien hierzulande.


Italienische Marine zu eifrig?


Im Oktober 2013 hatte die italienische Regierung, damals noch nicht vom Lega-Innenminister Salvini, für den Asylbewerber auf hohe See zurück und private Retter ins Gefängnis gehören, dominiert, angesichts etlicher Bootsunglücke mit Hunderten von Opfern beschlossen, human zu handeln. Sie startete die Seenotrettungsoperation Mare Nostrum, in deren Verlauf die Marine des Landes binnen eines Jahres mehr als 150.000 Menschen rettete, die sich vor Verfolgung, Krieg und Elend in Sicherheit bringen, also nach Europa fliehen wollten. Zu viele, wie die EU-Partnerstaaten offenbar meinten…


Vor allem auf Betreiben der Bundesregierung wurde Mare Nostrum durch die von der Europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex durchzuführende Operation Triton ersetzt. Künftig durfte nur noch innerhalb der 30-Meilen-Zone vor der italienischen Küste aus Seenot gerettet werden. Selbst hartgesottene Frontex-Mitarbeiter warnten, es werde „viel mehr Tote“ gaben, doch die EU-Regierungen wollten den Migrantenfluss mit allen Mitteln stoppen und die Flucht-Routen möglichst „unattraktiv“, unpassierbar und tödlich machen.


Überspitzt ausgedrückt, wurden durch Triton nur noch jene aus dem Meer gefischt, die es bis kurz vor einen italienischen Hafen geschafft hatten; die anderen durften ungestört absaufen. Der Tod von fast 11.000 Menschen aufgrund dieser Art von unterlassener Hilfeleistung wurde zwischen 2015 und 2018 dokumentiert, die Dunkelziffer könnte um ein Mehrfaches höher liegen. Und die  Opferzahl wäre noch höher, hätten sich nicht italienische und maltesische Behörden der EU-Anordnung widersetzt und allein im Februar 2015 mehr als 2700 Flüchtlinge außerhalb der 30-Meilen-Zone gerettet.


Die Menschenrechtsanwälte Omer Shatz, der an der Yale Law School in den USA und an der Pariser Sciences Po lehrt, und Juan Branco, der u. a. für das französische Außenministerium gearbeitet und WikiLeaks beraten hatte, haben nun Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) gegen die EU und ihre Mitgliedsstaaten eingereicht. Die Anzeige richtet sich gegen jene Schreibtischtäter und regierenden Planer im Hintergrund, die Tausende hilfloser Menschen dem nassen Tod überantworteten, um Europa so frei wie möglich von Flüchtlingen zu halten. Doch der Anfangsverdacht einer „fahrlässigen Tötung“ auf See ist nur ein Grund für die Anrufung des IStGH, sie hat auch die Förderung der Inhaftierung, Folterung und Ermordung von Flüchtlingen in libyschen Lagern durch die EU zum Inhalt.


Hilfe beim Aufbau libyscher KZs


Am einfachsten wäre es, Asylbewerber und Elendsflüchtlinge gleich in einem Transitland, ganz egal unter welchen Bedingungen, festzuhalten, dachten sich die Strategen der europäischen Migrationsabwehr. Also begannen sie 2013 mit dem Aufbau einer Küstenwache in Libyen, von wo besonders viele Verzweifelte aus Schwarzafrika sich nach Norden einschifften. Unglücklicherweise flammte aber wenig später der einst von der NATO losgetretene Bürgerkrieg wieder auf, zerstörte die letzten Reste von Gemeinwesen und machte das Land zu einem von zahllosen Milizen heimgesuchten Territorium ohne Recht und Verwaltung.


Es oblag dem deutschen UN-Sondergesandten Martin Kobler, 2015 eine der marodierenden Banden als (machtlose) „Übergangsregierung“ in Tripolis zu installieren, um zumindest formaljuristisch eine „Autorität“, mit der die europäische Flüchtlingsabwehr pro forma verhandelte, vorweisen zu können. Wieder wurde der paramilitäische Haufen, der unter dem Decknamen „Küstenwache“ operierte, von der EU mit Waffen, Geld und Know-how ausgestattet. Er sollte die boat people schon in libyschen Hoheitsgewässern abfangen und mitten im Chaos eines Krieges aller gegen alle internieren. Die „Wächter“ wurden u. a. von der Bundesmarine während der EU-Operation Sophia trainiert, erhielten Zugriff auf die sensiblen Daten der Migrantenbewegungen -  und erwiesen sich erwartungsgemäß als brutale Gangster.


Die Menschen, die von den „Küstenwächtern“ im Auftrag der EU aufgegriffen wurden, landeten in Camps, in denen Folter und Vergewaltigung business as usual waren, nicht wenige wurden in die Sklaverei verkauft oder sogar ermordet. Mitarbeiter der deutschen Botschaft im Niger stuften in einem internen Bericht diese Knäste als Konzentrationslager ein. Nach der Schätzung des Menschenrechtsanwalts Branco nahm die Küstenwache allein zwischen 2016 und 2018 mehr als 40.000 Menschen auf diese Weise gefangen.


Legt Den Haag die Scheuklappen ab?


Der damalige Außenminister Frank Walter Steinmeier muss allein schon durch die Berichte der eigenen Diplomaten von den Gräueln gewusst haben. Doch der Mann, der bereits eine tragende Rolle beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien gespielt hatte, reagierte darauf mit euphemistischer Routine, ähnlich der, die schon Mitverantwortliche oder Mitwisser so manchen Massakers im Dritten Reich nach dem Zweiten Weltkrieg an den Tag gelegt hatten.


Als am 19. April 2015 ein Boot außerhalb der 30-Meilen-Zone, in der auf deutsches Geheiß gerettet werden durfte, kenterte und rund 700 Flüchtlinge ertranken, kündigte das heutige Staatsoberhaupt ungerührt an, „Schlepperorganisationen das Handwerk“ zu legen. An die Stelle jedes lokalen Menschenschmugglers, der aus dem Verkehr gezogen wird, treten zehn neue, solange Kleinbauern und Geflügelzüchter durch die EU-Freihandelsdiktate von ihrem wertlos gewordenen Land gejagt werden.


Man sollte meinen, unser Land hätte seine Schlüsse aus den Verbrechen der Vergangenheit gezogen. Aber wieder will man in der politischen Klasse nichts gehört und vor allem nichts falsch gemacht haben. Und das (vermeintliche) Korrektiv der Presse bringt ein paar müde Zeilen über die erste in Den Haag eingereichte Anzeige gegen die Friedensnobelpreisträgerin EU, die eine Ohrfeige für eine selbstgerechte Gemeinschaft darstellt, die den Terminus Menschenrechte in inflationärer Weise verbal gebraucht, ihn aber bei eigenem Handeln bisweilen missachtet.


Brav und kommentarlos zitiert etwa der Tagesspiegel Regierungssprecher Steffen Seibert, der jede Mitverantwortung der Bundesregierung für die Leiden und den Tod Tausender von Migranten in Libyen kategorisch ausschloss, zugleich aber „schlimme Zustände“ in den Sammellagern des failed state in Nordafrika einräumte. Wie jetzt? Man hat es also gewusst, sah aber keinen Grund zum Handeln. Menschenrechtsverletzung und Mord gibt es zwar in den Flüchtlings-KZs, aber die Initiatoren, Geldgeber und Nutznießer können nicht das Geringste dazu.


Bislang befasste sich der IStGH in Den Haag vor allem mit afrikanischen Warlords, nicht mit „zivilisierten“ Rechtsbrechern aus dem Westen, was ihm Vorwürfe wegen Einseitigkeit eintrug. Die Anzeige der beiden Menschenrechtsanwälte könnte eine Kehrtwende bedeuten: Würde gegen die verantwortlichen Politiker der EU ermittelt, sähen sich die bisherigen Auftraggeber des Gerichts und zugleich selbsternannten moralischen Instanzen in der Rolle von eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit Bezichtigten. Die Anzeige bezieht sich nicht nur allgemein auf EU-Verantwortlichen sie nennt auch ausdrücklich Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien, die Vertragsstaaten des IStGH sind.


„Mitarbeiter und Repräsentanten der EU und ihrer Mitgliedstaaten unterscheiden sich in nichts von jeder anderen nicht-europäischen Person. Sie verdienen dieselbe strenge Behandlung.“ Mit dieser Feststellung ermahnen die Menschenrechtsanwälte Shatz und Branco den Haager Gerichtshof, nicht nach zweierlei Maß zu urteilen.


Ob IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda tatsächlich ernsthafte Ermittlungen aufnimmt, ist zweifelhaft. Mit dieser Anzeige aber wurde erstmals der Versuch unternommen, den Opfern, über deren Schicksale von den Medien zum Teil ausführlich berichtet wurde, ohne dass nach den Verantwortlichen für die Tragödie gefragt wurde, ein wenig Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich hierzulande die Schreibtischtäter, die Organisatoren und Handlanger des Holocausts mehrheitlich entspannt zurücklehnen – es hatte ja niemand Näheres gewusst.


Diesmal weiß man eigentlich alles, kennt die Verantwortlichen namentlich; folglich könnte man sie – nicht wegen Mordes, aber wegen der Verweigerung von Hilfe in höchster Not, grober Fahrlässigkeit mit Todesfolge, vorsätzlicher Gefährdung von Menschenleben oder ähnlicher Vergehen gegen die Menschheit – zur Rechenschaft ziehen.


Es wird nicht geschehen.


06/2019

Dazu auch:

Retten verboten! im Archiv dieser Rubrik (2018)






Göttlicher Gottfried


Trotz millionenfacher Fake-Präsenz bei Facebook und eines Herzens auf dem rechten Fleck, das für Diesel statt Asyl schlägt, dümpelt die AfD derzeit höchst medioker im Pool der Umfragewerte herum. Auch eine viel ältere und noch viel größere Institution hierzulande, die Katholische Kirche nämlich, schwächelt deutlich, nachdem vielen Geistlichen die Nächstenliebe zu den Ministranten vergällt wurde und nun auch noch fromme Frauen in den Barmherzigkeitsstreik getreten sind. Doch ein Bericht der WELT aus unserem Nachbarland könnte den deutschen Rechtsextremen wie den Hütern einzig seligmachender Wahrheit einen göttlichen Fingerzeig geben. Die Rettung naht aus Austria.


Wie einst auf dem Berge Sinai


Im Jahre des (seinerzeitigen) Herren 2019 begab sich aber die Apotheose des niederösterreichischen Landesrates Gottfried Waldhäusl. Wie weiland Moses auf dem Berg Sinai den ein kurz zuvor aus ägyptischer Gefangenschaft Geflohenen die von Gott HIMSELF in Stein gemeißelten Zehn Gebote aushändigte, kündigt nun der Ressortleiter seines Gaus für Tierschutz, Gemeindeärzte, Asyl und Mindestsicherung (tatsächlich in dieser Reihenfolge) an, den Flüchtlingen unserer Tage zehn neue Gebote aus höchster (= seiner) Hand mit äußerstem Nachdruck ans Herz zu legen bzw. via „Integrationskurs“ ins Hirn hämmern zu lassen.


Die „Zehn Gebote der Zuwanderung“ (Waldhäusl) beinhalten Allgemeinplätze wie die Pflicht, Deutsch zu lernen und die Gesetze des „Gastlandes“ zu befolgen. Schwieriger wird es schon bei dem Dekret, das eigene Verhalten und die Kindererziehung an „österreichischen Werten“  zu orientieren. Gehören zu den vaterlandsspezifischen Werten nun die skrupellose Bauernschläue, mit der FPÖ-Urgestein Jörg Haider den tumben Bayern die Pleitebank Hypo Alpe Adria angedreht hat oder die emsige Geschäftstüchtigkeit, die der FPÖ-Vorsitzende Heinz Christian Strache neulich an den Tag legte, als er einer vorgeblichen russischen Oligarchin öffentliche Aufträge gegen Wahlkampfhilfe anbot – oder doch eher der gut verborgene Antifaschismus, den das Volk (spät) erklärter Hitler-Gegner plötzlich an sich entdeckte, als es gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten aus deutscher Hand befreit wurde (der aber leider– siehe FPÖ – nicht lange anhielt)?


Da Waldhäusl auch für den Schutz der stummen Kreatur zuständig ist, gebietet er weiter, „Tiere vor unnötigem Leid zu bewahren“. Im Auge hat der gestrenge Herr dabei vor allem das von Moslems (und Juden) praktizierte Schächten der für den Spieß vorgesehenen Lämmer und Kälber, denn dies entspricht nicht der Tradition Niederösterreichs. Keine Sorgen müssen sich indes einheimische Schlachthöfe oder Vieh-Speditionen machen, die sedierte Schweine quälend lange auf das Abmurksen warten lassen oder ganze Rinderherden auf engstem Raum einpferchen und durch halb Europa zum Keulen kutschieren.


Die Quintessenz der himmlischen Flüchtlingsdressur aber legte der gottgleiche Gottfried im Zehnten Gebot nieder: „Du sollst Österreich gegenüber Dankbarkeit leben.“ Vermutlich für die freundliche Aufnahme, die exzellente Unterbringung und raue, aber von Herzen kommende Sympathie, die den Asylbewerbern von der Volksmehrheit  Austrias, vor allem aus den bekannt toleranten Reihen der Regierungskoalition aus FPÖ und ÖVP entgegenschlugen. 

  

Mit Stacheldraht und Hunden


Schon bevor Gottfried Waldhäusl sich daran machte, die unangepassten Neuankömmlinge mittels steinerner Tafeln Mores zu lehren, war er für seinen pragmatischen, wenn auch manchmal ein wenig inhumanen Umgang mit den Ungeliebten bekannt. Ende 2018 erregte er einiges Aufsehen, als er anwies, „auffällig gewordene minderjährige Flülinge“ in Drasenhofen nahe der tschechischen Grenze in einem Lager zu internieren. Als er die Kinder und Jugendlichen auch noch mit Stacheldraht einzäunen und von Hunden bewachen lassen wollte, ging seiner ÖVP-Regierungschefin, der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, dieser „Schutz der Öffentlichkeit“ (Waldhäusl) – möglicherweise in Erinnerung an gewisse andere Lager, die der Konzentration Auffälliger gedient hatten – doch etwas zu weit und sie ließ das Quartier schließen.


Aufschlussreich auch, dass der heutige Landesrat für Asyl eben dieses Sujet bei einer Pressekonferenz im Herbst 2014 als vernachlässigbaren Kurzzeit-Zustand einordnete. Integration von Asylbewerbern sei „idiotisch“, führte er damals aus, wenn man wisse, dass sie bald wieder weg sein würden. Schon damals schimmerte ein göttlicher Absolutheitsanspruch durch, der eine Anerkennung oder Duldung Verfolgter nicht vorsah. 

Andererseits erklärte Waldhäusl, Asylbewerber bräuchten eine „Sonderbehandlung“, und bediente sich damit rein zufällig des Begriffs, mit dem die Nazis einst die Ermordung von Menschen umschrieben.


Es gab kein Pressebeben in Austria. Zwar berichteten Blätter wie der Standard mit kritischem Unterton über Waldhäusls Selbstermächtigung, ansonsten aber scheinen die Medien im Nachbarland Ähnliches längst gewohnt zu sein. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die zynische Antwort des österreichischen FPÖ-Innenministers Herbert Kickl auf die UN-Kritik an der Flüchtlingsunterbringung in seinem Land: Es sei klar, „dass wir keinen Vier- oder Fünf-Sterne-Standard anbieten“. 

 

Aus frommer Quelle schöpfen


Die Katholische Kirche könnte Waldhäusls Selbsternennung als Blasphemie geißeln und darauf hinweisen, dass sie selbst erste Wahl sei, wenn es gälte, den Schöpferposten neu zu besetzen. Doch der Vatikan ist zögerlich und dröge; viel rascher könnten die fixen Rechten der Idee nacheifern und die Welt mithilfe jener paradiesischen Rabulistik, die amerikanische Evangelikale „Intelligent Design“ nennen, erklären und maßregeln.


Es ist ja nicht so, dass die AfD generell gegen Ausländer wäre, manche mag sie sogar ganz arg. Sie nimmt beispielsweise gern erhebliche Summen und mediale Hilfe von rechtsradikalen Freunden aus der Schweiz an und lässt sich auch von Kampagnen der FPÖ, die als Partei eine Art Vorbildfunktion für deutsche Nationalisten innehat, inspirieren, ob es nun um den Kampf gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder für eine chauvinistische Front in der EU geht. Warum sollte man sich hierzulande nicht die von Waldhäusl so genial ins Spiel gebrachte Instrumentalisierung des Alten Testaments in neuer Auslegung zu eigen machen?


Käme nicht etwas Pfeffer in die Wahlkämpfe dieses Jahres, wenn die AfD ihre Hasstiraden gegen die privaten Seenotretter im Mittelmeer mit Verweisen auf die Bibel unterfüttern würde? Schließlich hatte Noah auf Gottes Befehl seine Arche mit allem möglichen Viehzeug gefüllt, seine Nachbarn und andere vor der Flut flüchtende Menschen aber ersaufen lassen. Berechtigt die archaische Fabel nicht zu der an rechten Stammtischen ausgesprochen beliebten Feststellung: Das Boot ist voll? Mit Geboten täten sich Gauland und Konsorten allerdings ein wenig schwer: Zum einen fehlt der AfD eine göttliche Erscheinung wie Gottfried Waldhäusl, und dann hat auf diesem Gebiet die CSU, die bereits vor Jahren den Asylbewerbern in Bayern einen strengen Verhaltenskodex apodiktisch um die Ohren schlug, das Copyright inne.


Nachdem die AfD der CSU die Oberhoheit zumindest über die bayerischen Stammtische  überlassen musste und sie statt dessen das Meinungsmonopol bei Facebook übernommen hat, müsste es doch möglich sein, nicht nur simple Xenophobie, sondern auch religiöse Hysterie anzustacheln. Im Mittelalter wurde mit sehr viel primitiverer Hype-Technik der Veitstanz-Wahn entfesselt. Danach kamen die Juden dran… 

Dazu auch:

Schaut auf Österreich im Archiv dieser Rubrik (2018)  

                   






Wo bitte ist die Mitte?


Wohlmeinende Journalisten und Politiker grämen sich in Kommentaren und Stellungnahmen ob der Ergebnisse einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Erhebung: Rechte Einstellungen würden von fast der Hälfte der Befragten geteilt, seien somit in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen. Eine Überraschung? Sicherlich nur für die „Beobachter“, denen die Scharfsicht im trüben Dunst bundesdeutscher Politik abhanden gekommen ist.


Rassismus wird gesellschaftsfähig


Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Bielefelder Uni hatte im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung fast zweitausend Deutsche, die das Gros der Bevölkerung möglichst genau abbilden sollten, zur Verbreitung rechtsextremer, menschenfeindlicher und antidemokratischer Einstellungen befragt. Dabei kristallisierte sich heraus, dass zwei bis drei Prozent der Interviewten offen rechtsradikal dachten, weitere zwanzig Prozent rechtspopulistische Meinungen teilten und zweiundvierzig Prozent chauvinistisches Gedankengut zumindest als „normal“ empfanden.


Die Autoren dieser sogenannten „Mitte-Studie“ erklären den Rechtspopulismus durchaus realistisch mit Demokratie-Enttäuschung, dem Gefühl politischer Machtlosigkeit und Globalisierungsängsten. Die Presse reagierte reflexartig auf die Ergebnisse: Von „nichtliberalen“ Einstellungen ist da die Rede und von der Dezimierung der „politischen Mitte“, wobei die beiden politischen Einordnungen im Vagen bleiben, weil ihre inhaltliche Substanz (oder auch begriffliche Korrektheit) nicht geklärt wird.

Der Aufschrei der Journalisten hätte nicht so fassungslos und panisch geklungen, wäre man in den letzten Jahren mit mehr Aufmerksamkeit und analytischem Impetus dem Trend der Meinungsstereotypien im Land nachgegangen. Letztere kannten in ihrer lauten Form nämlich nur eine Richtung: nach rechts.

 

Entsetzen über Altbekanntes


Vor sechseinhalb veröffentlichte besagte Friedrich-Ebert-Stiftung bereits einmal die Resultate einer Untersuchung mit ähnlicher Fragestellung. Damals wurde neun Prozent der Bevölkerung ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ und weiteren fünfundzwanzig Prozent immerhin noch Ausländerfeindlichkeit attestiert. Damals äußerte ich in dieser  Homepage die Vermutung, dass die Zahlen zu niedrig gegriffen seien. Gleicht man beide Erhebungen ab, soweit dies aufgrund leicht variierender Fragen möglich ist, so kann man annehmen, dass 2012 vierunddreißig Prozent der Deutschen nationalistische und chauvinistische Positionen zumindest ansatzweise goutierten, 2019 aber schon fünfundvierzig Prozent.


Das erscheint mir schon näher an der Wirklichkeit. Mag sein, dass die durch Medien-Boulevard, Politiker-Parolen  und Stammtisch-Faschismus zur Existenzfrage hochgejuxte Flüchtlingsproblematik noch mehr geistig Arme in die Intoleranz gescheucht hat; vielleicht geht es heutzutage aber auch einfach leichter über die Lippen, sich zur ersten Strophe der Nationalhymne und zur ethnischen Reinheit des Germanentums zu bekennen. En vogue im Mainstream ist nicht mehr die verschämt xenophobe Eröffnung „Eigentlich habe ich ja nichts gegen Ausländer, aber…“, sondern die mannhafte Feststellung „Es gibt einfach zu viele Kanaken bei uns“.


Und ich fürchte, für solche Haltungen ist das Potential noch lange nicht ausgereizt. Sind doch Parteien und Gewerkschaften, Behörden und Medien in hohem Maße davon infiziert. In der Christenunion darf recht unverblümt gegen Asylrecht oder Flüchtlingsrettung polemisiert werden, die SPD stößt auf ihrem Marsch ins rechtsbürgerliche Lager etwas gedämpfter ins selbe Horn, die Grünen verfügen über Vorzeige-Chauvinisten wie Kretschmann oder Palmer, und Sahra Wagenknecht von der Linken findet AfD-Plattitüden neuerdings bedenkenswert.


Gewerkschaften wie die IG Metall oder die IG Bergbau Chemie zeigen ihren Mitgliedern, dass man in kritischen Fragen, etwa Rüstungsexporte oder Umweltschutz betreffend, flugs auf die Rechtsaußen-Position wechseln kann (warum dann nicht in der Flüchtlingsfrage, wie es laut Studie sehr viele organisierte Arbeitnehmer getan haben?). Die Ausländerämter in München und der selbsternannten Menschenrechtsstadt Nürnberg wetteifern miteinander um die höhere Zahl von abgeschobenen Afghanen, und BILD verkauft sich einfach besser, wenn die Schlagzeile von deutschen Frauen, die von Asylbewerbern vergewaltigt wurden (ein schweres Einzel- oder Gruppenverbrechen), kündet, als wenn schon wieder über einen Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim (kollektive Pogrom-Vorstufe!) berichtet werden muss.

      

Mimikry der Politik, Ende der Toleranz


Die Erosion der Mitte wird also in den Edelmedien beklagt. Leider versäumen es die Kolumnisten dabei, die politische „Mitte“ der Gesellschaft zu definieren oder wenigstens ansatzweise zu charakterisieren. Man findet sie nämlich nicht in den Villenvierteln von Grünwald oder Blankenese, ja nicht einmal auf dem gentrifizierten Prenzlauer Berg; sie kauft nicht auf der Düsseldorfer Kö ein, lehrt nicht in Waldorfschulen und lernt nicht Französisch auf der Volkshochschule. Sie sitzt in den Büros kleiner Firmen, steht hinter Ladentheken, montiert, bedient Maschinen und fertigt „Kunden“ in Amtsstuben ab, sie hat Angst um den Job, vor der Globalisierung, vor der Anonymität der Macht, vor dem Neuen und den Fremden.


Mit gnädiger Hilfe der Presse gaukelt die Politik dieser Mitte die Alternativlosigkeit des gegenwärtigen Handelns vor. Wie sich in der Natur Insekten so an die Umgebung anpassen, dass sie Opfer oder Feind per Mimikry täuschen, verschleiern die Meinungsführer von Wirtschaft und Staat die systemische Ungerechtigkeit und machen sie durch wohlgesetzte Worte und selektive Informationen derartig unsichtbar und unausweichlich, dass Ausbeutung, Spekulation oder Lobbyismus wie natürliche Voraussetzungen für das Gemeinwohl wirken. Das instinktive Unbehagen, das bleibt, äußert sich bei den Fremdbestimmten in Aggressionen gegen Schwächere sowie Andersdenkende und –farbige. 


Juso-Chef Kevin Kühnert mag einige Naivität bei seinen wirtschaftspolitischen Forderungen offenbaren, aber er ist absolut im Recht, wenn er von "25 Jahren neoliberale Beschallung“ spricht. Und die Vergesellschaftung von Industrie-Giganten oder Wohnungskonzernen war immer schon eine Forderung der Linken, während die (rechte) Mitte beharrt oder gar die Privatisierung der gesamten Infrastruktur präferiert.


In diesem abgeschotteten, neuen Gedanken nicht zugänglichen Raum wird Meinung gebildet, d. h. berufene Moderatoren oder „Wirtschaftsexperten“ geben die Begrifflichkeiten und die Grenzen des Denkens vor. Da wird einer Kanzlerin Merkel ein Linkskurs zugeschrieben, da ist unreflektiertes und wenig nachhaltiges Wirtschaftswachstum die heilige Kuh des Kultes vom Allmächtigen Markt, und der Börsenzockerei wird Gesetzeskraft verliehen.


Mit politischen Termini wie links, rechts oder Mitte wird so lange jongliert, bis das passive Publikum jeden Durchblick verliert, sich verschaukelt fühlt und so bösartig wird, wie es die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung für fast die Hälfte der Befragten dokumentiert. Über andere Perspektiven, etwa eine (teilweise) Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, auch nur nachzudenken, ist strengstens verboten – die Shitstorm-Kampagne gegen Kühnert zeigt es.


Und die Mitte, die den bürgerlichen Kommentatoren so sehr abgeht? Die war immer schon durch gedankenloses oder berechnendes Festhalten am sozialen Status quo gekennzeichnet. Ein bisschen Nationalismus findet da jederzeit sein warmes Plätzchen. 

Dazu auch:

Lechts und rinks (2017) und Nur 25 Prozent? (2012) im Archiv dieser Rubrik 

                          




Reif für den Krieg

 

Kinder und Heranwachsende werden seit Menschengedenken in Kriegen eingesetzt, als Handlanger zumeist, manchmal aber auch als Killer. Das Schicksal der „Kindersoldaten“ in Afrika etwa empört die deutsche Gesellschaft und sorgt für routiniert mahnende Politiker-Statements. Dass hierzulande aber junge Menschen, die noch nicht voll geschäfts- oder straffähig sind und nicht wählen dürfen, mittels raffinierter Werbung zur Bundeswehr, also zu einer auf tödlichen Waffengebrauch spezialisierten Truppe, gelockt werden, scheint die wenigsten Bürger zu stören. Widerspruch erntet da eher die Berliner SPD, die militaristische Reklame an Schulen untersagen möchte.

 

Schön ist das Soldatenleben

 

Produktwerbung ist der methodische Versuch, bei einer Personengruppe „unechte“, da bislang noch nicht vorhandene, Bedürfnisse zu wecken, die Gedanken potentieller Kunden zu steuern und eine verkaufsfördernde Atmosphäre oder Identifikation zu suggerieren. Es handelt sich in jedem Fall um Manipulation, oft auch mit Kollateralschäden für Körper und Geist, wenn etwa in der Zigarettenreklame ein Suchtmittel als unverzichtbares Utensil für Abenteuer und Freiheitsgefühl angepriesen wird oder raffinierte Verpackung, perfide Platzierung und verführerische Slogans die Anfütterung ahnungsloser Kinder zu adipösen Kleinmonstern in die Wege leiten.

 

Werbung kann auch der Bundeswehr helfen, im Blick auf umstrittene Auslandseinsätze ihre Kontingente zu füllen. Und die Strategen einer Armee, die den Großmachtträumen rechtsbürgerlicher Regierungen die militärische Note verleihen soll, wenden sich dabei bevorzugt an Menschen, denen der Staat noch nicht allzu viel zutraut, weil er sie für noch nicht mündig, freie Entscheidungen in allen Lebensbereichen zu treffen, hält: Kinder und Jugendliche. Rund 340 Jugendoffiziere waren zuletzt in der Republik unterwegs, um fast 120.000 Schüler in den Klassenzimmern, vornehmlich an Gymnasien,  zu „informieren“ und für den „abwechslungsreichen“ Dienst mit der Waffe zu ködern. Auf Projekttagen und Jobmessen erreichte die Bundeswehr weitere 370.000 Minderjährige, denen das Wählen der für die Rekrutierung verantwortlichen Verteidigungspolitiker verwehrt wird, die aber bereits in zartem Alter einen Berufsweg einschlagen dürfen, der die Gefahr des frühen Ablebens und der Indoktrinierung durch nationalistische Offizierskorps beinhaltet.

 

Und jetzt will also die Berliner SPD diese Aktivitäten, bei denen sinnentleerte Werbung und rigorose Propaganda eine innige Verbindung eingehen, an den Schulen der Hauptstadt untersagen. Sofort tobt die Allianz der AufRechten: Dies sei ein "Schlag ins Gesicht aller Soldatinnen und Soldaten", schrie die betongeföhnte Kriegsministerin Ursula von der Leyen leidvoll auf und lobte, ganz Mutter der Kompanien, ihre Schutzbefohlenen in höchsten Tönen: "Sie halten bei jedem Einsatz den Kopf dafür hin, dass in Deutschland Frieden und Freiheit herrschen." Man könnte natürlich auch abweichend konstatieren, dass die potentiell Kopflosen ihr Leben in Mali für französische Uran-Interessen und in Afghanistan für eine gescheiterte Interventionspolitik riskieren. Doch schon sprang Thomas Oppermann, der versierte Umfaller der SPD-Fraktion im Bundestag (Snowden, NSA etc.), dessen Sturz durch den Stuhl des Vize-Parlamentspräsidenten abgefangen wurde, der Koalitionskollegin bei und zeigte sich „entsetzt“ über den Beschluss der Berliner Genossen. Sie trauten den Schülern „zu wenig zu“. Heißt das nun, die Pennäler könnten die Rattenfängerei problemlos selbst entlarven, oder wird damit auf den Heldenmut angespielt, mit dem sich junge Deutsche bisweilen freiwillig in sinnlose Kriege stürzten?

 

Action gegen Nachdenken

 

Ein Hauch von Heldentum durchweht tatsächlich das Prunkstück der Rekrutierungskampagne, die dreißigteilige Video-Staffel Mali auf YouTube. Schon im Vorspann sieht man ein martialisches Triumvirat, das dem Kinoplakat eines Avengers-, Batman- oder Bond-Films entsprungen sein könnte. Dann folgen Szenen, in denen sympathische und verantwortungsbewusste junge Männer (plus eine Quoten-Soldatin), angeleitet von väterlichen Offizieren, das Lagerleben wie eben in einer Doku-Soap vorexerzieren, mutig auf Patrouille durch die westafrikanische Landschaft pirschen und von süßen Eingeborenenkindern gefeiert werden.

 

Was Martina Schmerr von der GEW im Januar vor der Kinderkommission des Bundestages äußerte, trifft auf die „Jugendarbeit“ per YouTube nur bedingt zu: "Die Bundeswehr zeigt sich an Schulen als normaler Arbeitgeber, wie jeder andere. Das ist sie aber nicht - die Gefahren oder beispielsweise posttraumatische Störungen der Soldatinnen und Soldaten werden nicht erwähnt." Immerhin warnt ein Offizier im Video eindringlich vor den Skorpionen im Lager und die beiden Soldaten, die 2017 beim Absturz eines Helikopters ums Leben kamen, werden ausgiebig betrauert. Natürlich wird nicht thematisiert, wer dafür verantwortlich war, dass die Männer mit schrottreifem Gerät in die Wüste geschickt  wurden. Selbstredend zeigt man keine Veteranen, die, etwa aus Afghanistan, fürs Leben gezeichnet ins zivile Dasein zurückkehrten. Gefahr und Tod sind in der Serie so vorsichtig dosiert, dass sie nicht abschrecken, sondern von abenteuerlustigen Geistesträgen als Belege dafür, dass es sich nicht um Kinderspiel, sondern um echte Action handelt, rezipiert werden können.

 

Die militärische Führung gilt in der Selbstdarstellung gemeinhin nicht als besonders geschickt und überzeugend, die von ihr beauftragten Werbe-Profis, die im vergangenen Jahr 31 Millionen Euro kassierten, verstehen hingegen ihr Handwerk: Seit die Bundeswehr 2016 ihre Aktivitäten an Schulen und sogar in Kindergärten, wie der SPIEGEL berichtete, intensivierte, steigt die Zahl der minderjährigen Rekruten. Als Erweckungserlebnis realitätsferner aber effektiver PR kann eine 2014 geschaltete Anzeige im Teenie-Magazin Bravo, die mit Fotos von Meer, Strand und Sonne für ein Adventure Camp der Luftwaffe auf Sardinien warb, gelten.

 

Wie aggressiv darf Verteidigung sein?

 

Nun erwischt es also die letzten Pazifisten in der SPD, der Rest der Genossen drischt ordentlich auf sie ein. Neben Andrea Nahles und den üblichen Verdächtigen an der Spitze einer Partei, die ja immerhin veritable Schlächter wie Gustav Noske in ihrer Ahnengalerie hegt, tut sich Generalsekretär Lars Klingbeil hervor. Der erfahrene Rabulist möchte es den Drückern der Bundeswehr auch weiterhin gestatten, „sicherheitspolitische Diskussionen an den Schulen“ führen zu können, denn „Jugendoffiziere machen keine Werbung“. Mit solch euphemistischer Chuzpe lässt sich militaristische Propaganda, die nur ein Ziel hat, blendend umschreiben und leugnen. Eine sicherheitspolitische Diskussion mit Open End ist nämlich nicht vorgesehen, die Konsequenz muss lauten: You`re in the army now.

 

Die Berliner SPD hatte argumentiert, Minderjährige müssten ihre zentralen Lebens- und Wertvorstellungen erst noch entwickeln. Sie seien daher „anfällig für militärische Propaganda und Verharmlosung realer Gefahren eines militärischen Einsatzes“.

 

Nix Propaganda, kontert da ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, die Bundeswehr habe einen in der Verfassung verankerten Auftrag. Hat sie, und der lautet im Artikel 87 des Grundgesetzes so: Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf…(1) und Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt (2)

 

Ob dieser Auftrag die Vorwärtsverteidgung der „Handelswege“ (Ex-Bundespräsident Köhler) am Hindukusch, das Wüstenabenteuer in Mali oder den Einsatz im Kosovo infolge der von Berlin angestifteten Zerstückelung Jugoslawien zulässt? Oder die Verführung naiver Minderjähriger?

 

04/2019

 

Dazu auch:

 

Lustige Kriegsspiele im Archiv dieser Rubrik (2017)

  

 

 

 

 

 

                    

Unerwünschte Themen


Jedes Jahr stellt die Initiative Nachrichtenaufklärung e. V. gemeinsam mit der News-Redaktion des Deutschlandfunks eine Liste mit Themen, die in den hiesigen Medien zu kurz kommen, nicht debattiert oder aber einseitig beleuchtet werden, vor. Zu diesen Top Ten der „vergessenen Nachrichten“ 2019 zählen nicht nur Sujets, die den wichtigsten Print- und Funk-Redaktionen wohl zu peripher erschienen oder das Sachwissen in den Ressorts schlicht überforderten, sondern auch kontroverse Inhalte, deren Diskussion und Veröffentlichung als nicht opportun angesehen wurden.


Mutwillige Omerta


In der Bundesrepublik werden Nachrichten nicht unterdrückt, eine Zensur findet nicht statt, zumindest keine staatliche. Tatsächlich können Publizisten nominell frei recherchieren und ihre Meinung veröffentlichen. Allerdings setzen sie sich damit bisweilen einem (anfangs) subtilen Druck von administrativer oder wirtschaftlicher Seite aus, der vom diskreten Entzug finanzieller Mittel bis hin zur brachialen Existenzgefährdung reichen kann: Mal wird Organisationen mit missliebiger Öffentlichkeitsarbeit die Gemeinnützigkeit abgesprochen, mal schalten Unternehmen keine Anzeigen mehr in allzu kritischen Zeitschriften, dann wieder sehen sich investigative Journalisten und Whistleblower strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt.


Doch nicht immer ist eine von Politik oder Wirtschaft inszenierte Gängelung für das Schweigen zu brisanten Themen verantwortlich. Ein häufiger Grund dafür, dass relevante Informationen das Licht der Öffentlichkeit nie erblicken, liegt in der subjektiven Einschätzung von Redaktionen, welches Thema die Leser interessieren könnte, respektive in der Unfähigkeit, die Bedeutung bestimmter Fakten zu erkennen und kompetent einordnen sowie aufbereiten zu können.


So dürfte Top 4 der vergessenen Nachrichten , dem zufolge das Leitungswasser in Deutschland so hoch mit Arzneimittelrückständen belastet ist, dass alle Kläranlagen nachgerüstet werden müssten, die Möglichkeit mancher Redaktionen zur differenzierten Recherche überfordert haben. Vielleicht wurde die Info auch schlicht übersehen, wie es wohl auch mit den good news aus Botswana geschah (Top 7). Ein schwarzafrikanischer Staat, in dem die Bevölkerung nach demokratischen Regeln und in bescheidenem, aber wachsendem Wohlstand lebt, geht in einer Agenda, die von Ebola-Epidemien, Kindersoldaten im Kongo oder anderen Horrorszenarien in dieser Weltregion dominiert wird, leicht unter.


Dass Senioren massenhaft Medikamente verabreicht werden, die nicht altersgemäß sind und Organe schädigen können, ein Thema also, das die Sicht auf Pflegeheime und Pharmakonzerne gleichermaßen schärfen müsste (Top 8), ist den meisten Medien ebenso wenig einen Beitrag wert wie die Aushebelung des Datenschutzes durch das Fluggastdatengesetz der EU (Top 2) oder das deutsche Stiftungs(un)wesen, das Reiche und Politgrößen nutzen, um Einfluss auf Bildung, Wissenschaft und Politik zu nehmen und dazu auch noch flankierende Subventionen durch die Steuerzahler abzugreifen (Top 5).


Wenn wir beide Augen zudrücken, können wir die oben genannten Unterlassungen der Ahnungslosigkeit, Nach- und Fahrlässigkeit leitender Redakteure anlasten, anders aber sieht es mit den Tops 1 und 3 aus: Hier ist die freiwillige Omerta offensichtlich einem vorauseilenden Gehorsam systemrelevanten Taktgebern gegenüber geschuldet.


"Freihandel" naht auf leisen Sohlen


„Wir haben gelernt“, tönte es aus der EU-Kommission, als der Unmut über das intransparente Freihandelsabkommen TTIP in Europa Hunderttausende auf die Straße trieb. Künftig wolle man ehrlich informieren und der Öffentlichkeit Einblick in die Verhandlungen gewähren. Doch dann schienen sich die europäischen Unterhändler Ray Bradburys Gruselmärchen „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ zur Gebrauchsanweisung erkoren zu haben. Noch verschwiegener als jemals zuvor kungelten sie mit Japan das umfassendste Freihandelsabkommen aller Zeiten aus: Die Menschen in der EU erfuhren kaum etwas davon, wie JEFTA durch die Parlamente  gewunken wurde und welch schaurige Passagen es enthielt. Für die Juroren war es Top of the Pops in der Hitliste der vorenthaltenen Informationen.


Alles, worüber sich die Menschen bei TTIP und CETA noch aufgeregt hatten, floss nun in eine Vereinbarung ein, ohne dass dies in den Medien ausreichend thematisiert, geschweige denn diskutiert wurde: Anonyme private Schiedsgerichte sollen über Klagen von Unternehmen gegen Staaten, deren Souveränität dadurch etwa in Fragen des Umweltschutzes eingeschränkt werden kann, entscheiden; profitorientierte Investoren dürfen sich Hoffnung auf Filetstücke lebenswichtiger gesellschaftlicher Infrastruktur, von Schulen bis zur Wasserversorgung, machen. Die Legislative eines „Partnerstaates“ wird es künftig aus Angst vor Strafen nicht mehr wagen, Gesetze zu erlassen, die den Interessen multinationaler Großkonzerne zuwiderlaufen.


Die „Qualitätsmedien“ in der Bundesrepublik haben nicht versehentlich oder aus Unkenntnis dazu geschwiegen, ihre Wirtschaftsredakteure zählen längst zu einer publizistischen Creme, die den Bestrebungen neoliberaler Eliten, den Staat zurückzudrängen und wesentliche Teile der für das Gemeinwohl wichtigen Versorgung zu privatisieren, ihre Federn leihen.


Nun sind die Propagandisten der Markt-Allmacht in der Regel keine abgefeimten Schurken, die den Bürger belügen wollen, aber sie verdienen gut, pflegen den Lebensstil des gehobenen Mittelstands und werden zu Verteidigern eines geistigen Status quo, in dem sich das Denken in andere Richtungen von selbst verbietet. Wachstum um jeden Preis und eine klare Parteinahme für Produzenten oder Investoren, die an der Börse etwa für die Senkung von Beschäftigtenzahlen belohnt werden, haben sie zur Apotheose einer zutiefst menschenfeindlichen Ökonomie hochgeschrieben.


Sie sind Ideologen der systemischen Macht (obwohl sie sich für vollkommen ideologiefrei halten), denn sie haben die Maximierung von Kapital und Profit als Weltgesetz verinnerlicht, das von kleinlichen Bedenken gegen ein schönes Freihandelsabkommen wie JEFTA nicht angekratzt werden darf.


Ähnlich gelagert sind die Unterlassungen der Kollegen in den Politikredaktionen, wo die wohlwollende Interpretation (oder das Verschweigen) der Machtspiele der NATO, der EU und der USA zum vorrangigen Handwerkszeug gehört.

  

Venezuelas Krise durch Scheuklappen


Die Situation in Venezuela ist derzeit ein heikles Thema, auch für die Linke. Man kann nicht sagen, dass in Presse und Funk nicht ausführlich über das Land berichtet wird, doch gestaltet sich die Auswahl der Bilder und Meldungen von dort derart selektiv, dass die Jury der Nachrichtenaufklärung einen wichtigen, aber unterschlagenen  Aspekt der gefährlichen Krise zu Top 3 der vergessenen Nachrichten wählte: Die USA und in ihrem Schlepptau etliche westliche Staaten, darunter die Bundesrepublik, haben den selbsternannten Juan Guaidó als neuen Präsidenten Venezuelas anerkannt. „Völkerrechtlich ist die Anerkennung jedoch höchst fragwürdig.“


Man mag Nicolás Maduro für einen Holzkopf halten, ihm vorwerfen, dass er die Wirtschaft des Landes nicht diversifiziert, sondern blind auf die Erdölexporte vertraut hat, man kann ihn autoritär und seine Methoden brachial nennen, aber man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass Juan Guaidó und sein politischer Ziehvater Leopoldo López im Verdacht stehen, das Geschäft der alten Eliten, die Venezuela etliche Jahrzehnte lang ausbeuteten, und der stets interventionswilligen USA zu betreiben. Es sei daran erinnert, dass sich López bereits 2002 für den damals von der CIA inszenierten Putsch gegen Hugo Chávez aussprach, und dass Versorgungsengpässe, wie sie nun auch die Mittelschicht schmerzlich erlebt, unter den alten Regimes zu den normalen Lebensbedingungen der besitzlosen Bevölkerung gehörten.


Doch, da wäre noch einiges mehr zu berichten aus und über Venezuela. Etwa, wie heuchlerisch die Sorge Trumps um das darbende  Volk dort wirkt angesichts der Tatsache, dass sich noch keine US-Regierung in der Geschichte je einen Deut um das Wohlergehen der Menschen in Lateinamerika, einem Gringo-Tauschladen für Ressourcen-Import und Ramsch-Export, geschert hat. Wie Hohn mutet es an, wenn Washington der Weltöffentlichkeit ein paar hundert vom Maduro-Regime zurückgewiesene Tonnen Lebensmittel und Medikamente in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta präsentiert,  nachdem es in den vergangenen Jahren den Handel mit venezolanischen Staatsanleihen verbot und der staatlichen Ölfirma PDVSA den Zugriff auf das Geld für Erdöllieferungen verweigerte – die Mittel also, die für die Einfuhr lebensnotwendiger Güter notwendig gewesen wären. Neun Millionen Lebensmittelpakete und 300.000 Einheiten Insulin sollen allein durch die von der New Yorker Citybank organisierte Blockade des Devisenverkehrs in ausländischen Häfen zurückgehalten worden sein.


Das ist die Trump`sche Version des bei US-Administrationen so beliebten Regime Change: Stranguliere dein Opfer, aber benetze ihm publikumswirksam die Lippen dabei. Außenminister Heiko Maas, der im internationalen Diskurs immer ein wenig wie der Streber in der Schule wirkt, auf dessen eifrig vorgetragene Plattitüden niemand hört, hat nun endlich eine Möglichkeit gefunden, sich mitsamt dem Gros seiner europäischen Kollegen dem Klassenlehrer Donald auf  dessen Kreuzzug für die Menschenrechte à la Americaine anzuschließen.


Die deutschen Medien berichten pflichtschuldig über die Probleme und das Elend in Venezuela, aber sie gehen dabei nicht dialektisch vor, zeigen also nur eine Seite der Medaille, und zwar die eines bedrängten und hart reagierenden Regimes, während die vom gierigen Griff der US-Wirtschaft nach den unermesslichen Erdölvorkommen des Landes und dem Versuch hegemonialen Rollbacks geprägte Rückseite im Verborgenen bleibt.


So wurde immer wieder die permanente Präsenz des US-Senators Marco Rubio in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta erwähnt, ohne dass sich die meisten Reporter und Kommentatoren die Mühe gemacht hätten, dessen dubiose Rolle als „Samariter“ zu durchleuchten. Am Anfang von Rubios Polit-Karriere stand eine Legende: Seine Eltern seien vor Castro geflohen – damit hatte er sich zum Sohn von Heimatvertriebenen ernannt; tatsächlich waren Vater und Mutter bereits zwei Jahre vor der kubanischen Revolution in die USA ausgewandert. Die Finanzbehörden kamen ihm auf die Schliche, als er eine Kreditkarte seiner Republikanischen Partei für eigene Zwecke missbrauchte, aber für solche Vorteile keine Steuern abführte. Der Mann, der nach Gastspielen bei den Mormonen und den Baptisten in den Schoß der Katholischen Kirche zurückkehrte, wiederholt seit Jahren fanatisch das Mantra, die Regierungen von Kuba, Nicaragua und Venezuela müssten hinweggefegt werden. Seine engsten Verbündeten in der Region sind der kolumbianische Präsident Duque, der den Friedensprozess im eigenen Land stoppen möchte, und der brasilianische Faschist Bolsonaro.


Als Rubios Allierte im weiteren Sinne darf man aber auch Heiko Maas, Angela Merkel oder die verantwortlichen Redakteure, die sich ihre Sicht auf die Welt in neoliberalen Think Tanks schärfen lassen, sehen. Das Vergessen von Nachrichten kann scheinbar als konformistischer Bewusstseinsprozess begriffen werden.

03/2019

Dazu auch:

Pressefreiheit??? (2014) und Wiederholungstäter (2017) im Archiv der Rubrik Medien

  

    



 Tierischer Todernst

 

Wenn der Elferrat des Aachener Karnevalsvereins, ein Riege dauerlustiger (meist) älterer Herren den Orden Wider den tierischen Ernst verleiht, ist ihm mediale Aufmerksamkeit quer durch die Republik sicher. Es gibt in diesen Zeiten ja nicht allzu viel zu lachen, und die geistige Nähe von Politikern zu Narren gibt einiges für routinierte Glossen in den Medien her. In diesem Jahr aber entging den Humorfunktionären ebenso wie den Gesellschaftskolumnisten die eigentliche Pointe: Zur Ritterin (Rittersfrau?) wurde nämlich die CDU-Bundesministerin Julia Klöckner geschlagen, die sich um den tierischen Todernst im Schweinestall kümmern soll, sich aber vorzugsweise mit der industriellen Quälerei dort arrangiert.

 

In vino vanitas

 

Sie ist blond, wirkt fotogen und hält ihr strahlend weißes Gebiss in jede TV-Kamera. Julia Klöckner hat es zur deutschen Landwirtschaftsministerin und, in Nachfolge einer zunehmend an Glamour verlierenden Ursula von der Leyen, zum Covergirl der CDU gebracht. Aufgrund ihrer beredten Unverbindlichkeit und ihres Sendungsbewusstseins in eigener Sache war die rheinland-pfälzische Unionsvorsitzende sogar schon als mögliche Merkel-Nachfolgerin gehandelt worden, ehe sie 2016 als Spitzenkandidatin gegen die SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer krachend unterlag und ihrer Partei mit knapp 32 Prozent der Wählerstimmen eine historische Flaute bescherte.

 

Wenn man viel in Mikrofone spricht und dabei wenig Inhaltliches zu sagen hat, dies aber mit Verve und Charme tut, wird man schnell zum Liebling des deutschen Polit-Infotainments. Und in diesem Sinne zitierte der Kölner Stadt-Anzeiger auch den Aachener Oberkarnevalisten Werner Pfeil. Julia Klöckner sei „eine gradlinige und meinungsstarke Politikerin, die ihre Amtsführung mit Humor und Menschlichkeit verbindet”. Nun ist der Pfälzerin eine gewisse Stringenz in der Gestaltung ihrer Karriere nicht abzusprechen, ihre Meinungen indes sind mit Vorsicht zu genießen, da nicht sonderlich stark fundiert.

 

Früh schon zeichnete sich ab, dass Klöckners Vorliebe der Landwirtschaft gehört, und dort wiederum dem Beackern sonniger Hänge über den malerischen Flüssen ihrer Heimat, dem Weinbau also. Neun Jahre lang diente sie der Önologie als Redakteurin und Chefin der Fachzeitschriften Weinwelt und Sommelier-Magazin, schon vorher wurde die Winzertochter 1995 zur Deutschen Weinkönigin gewählt. Sie scheint schon bald mit einer bedeutenden Sammlung belangloser Titel begonnen zu haben.

 

Da die Liebe zum Rebensaft allein noch nicht den Aufstieg in die politische Hierarchie garantiert, absolvierte Klöckner das Young Leader Program, ein Gemeinschaftsprojekt der Think Tanks Atlantik-Brücke und American Council on Germany, also von Elite-Schulen, in denen hoffnungsvolle Polit-Parvenüs das stromlinienförmige Denken in den Kategorien des multilateralen Neoliberalismus erlernen und gleichzeitig die unerlässlichen Beziehungen zur wirtschaftlich-militärischen Elite knüpfen.

 

Es bot sich angesichts ihrer Zielstrebigkeit und dem ererbten Hang zur Scholle geradezu an, Julia Klöckner mit der Leitung des Ministeriums für Ernährungssicherheit und Landwirtschaft zu betrauen. Schon ihre Vorgänger im Amt fielen durch großes Verständnis für die Agrarindustrie auf und wirkten bisweilen eher wie staatlich anerkannte Lobbyisten in der ersten Reihe. Klöckner wurde denn auch sogleich aktiv und machte deutlich, dass sie Nutztierschutz und Bio-Anbau energisch ins Ungefähre voranzutreiben gewillt sei.    

 

Tierwohl nach Belieben

 

So lehnte die Blondine, die auch ein Herz für Glyphosat hat, gegenüber der FAZ Markierungen auf Nahrungsmittelverpackungen, die den Gehalt von Salz, Zucker und Fett in Rot, Gelb und Grün und damit den Grad der Gesundheitsgefährdung signalisieren sollen, mit einer kryptischen Begründung ab: „Die vereinfachte Ampelkennzeichnung bringt Verwirrung“. Zwar hat diese Maßnahme in anderen Ländern das Kaufverhalten positiv (also gesundheitsfördernd für die Verbraucher) beeinflusst, doch für die deutschen Landsleute glaubt die Ministerin, die natürlich auch die Interessen von Nestlé, Südzucker oder REWE schützen möchte, kompliziertere, dafür aber zwanglose Methoden implizieren zu müssen, wie die nicht nur die geplante „Tierwohl“-Etikettierung nahelegt.

 

Vorletztes Jahr sprach sie sich als kommende Agrarministerin in einem Presseinterview dafür aus, im ökologischen Landbau in bestimmten Situationen Pestizide zuzulassen. Seitdem rätseln die Experten, ob die das hemmungslose Spritzen und Sprühen von Kind auf gewohnte Weinbauerntochter die Bio-Farmer vor Insektengewusel schützen oder sie eher im Auftrag von Chemie- und Landwirtschaftsindustrie unglaubwürdig machen wollte.

 

Überhaupt scheint sich das die Fauna betreffende Wissen der zwischen Rieslingtrauben agrikulturell sozialisierten Pfälzerin auf die Reblaus zu beschränken, anders lässt sich ihre weltfremd unterfütterte Ankündigung, größeren Tieren in menschlicher Obhut ein besseres Dasein besorgen zu wollen, nicht interpretieren.

 

Man muss kein fanatischer Vegetarier oder Veganer sein, um die Einkerkerung unserer Fleisch-, Milch- und Eierlieferanten in engsten Käfigen und kahlen Zellen krank zu finden. Selbst Julia Klöckner, von Amts wegen Schutzpatronin des bundesdeutschen Nutzviehs, sieht sich nun durch die öffentliche Meinung zum Handeln gedrängt, und sie wird auf homöopathischer Basis aktiv. Statt einfach die diversen Spielarten der Tierquälerei zu verbieten, die Schweine mit verkrüppelten und abgefressenen Schwänzen, geschredderte Küken und rachitische Rinder und mit Antibiotika vollgestopftes Geflügel hervorbringt, setzt sie auf die „Selbstheilungskräfte“ des Marktes und die jähe Einsicht bislang völlig verroht anmutender Züchter und Händler.

 

Ab 2020 wird es ein staatliches Tierwohl-Label geben, zunächst im Bereich der Schweinezucht. Von artgerechter Haltung ist dabei nicht die Rede, sondern von drei Stufen, die das erbärmliche Schlachttier-Dasein um Nuancen weniger grausam machen sollen, was Aufzucht, Mast, Transport und Schlachtung angeht. Für diese Minimalkorrekturen soll der Verbraucher zahlen, der seine Skrupel schlafenlegt, indem er mehr Geld für eine Lebendware hinlegt, die auf ein paar Quadratzentimeter mehr Beton- oder Gitterboden, mit drei Strohhalmen gepolstert, auf den Abtransport wartet. Die Tierzucht-Industrie und der Discount-Handel dürfen zufrieden sein, können sie sich doch für winzige Verbesserungen staatlich gesiegelten Ablass sichern und die dabei entstehenden Kosten auf die Käufer umlegen. Das Beste für die Profiteure aber ist: Wenn sie dennoch nicht wollen, müssen sie nicht! Die Teilnahme am Gutfleisch-Wettbewerb ist nämlich nicht verpflichtend.

 

Ein Tusch auf die Freiwilligkeit

 

Selbstverpflichtungen der Textilindustrie bezüglich sklavenähnlicher Produktionsbedingungen in der Dritten Welt, freiwillige Reduzierung des Schadstoffausstoßes, versprochen von den Autobauern – die Mär der verantwortungsvollen Selbstregulierung des „freien“ Marktes ist eine endlose Kette von Täuschungs-, Betrugs- und Manipulationsmanövern. Das weiß natürlich auch Frau Klöckner, aber sie möchte Massentierzüchtern, Großschlachtern und Handelsriesen zu verstehen geben, dass sie ihnen durch laxe Empfehlungen ein Eselsbrücklein bauen will, um sie so vor folgenschwereren Forderungen von Seiten der Tierschützer und Ökologen zu schützen. Zugleich verschafft sie dem Käufer und Endverbraucher ein ruhiges Gewissen: Wo Tierwohl draufsteht, muss schließlich Fleisch von glücklichen Schweinen drin sein, hofft er.

 

Für die Herren des Marktes schafft die von Aachener Narren Geadelte mit dem Tierwohl-Siegel in der Tat eine bequeme Situation: Wenn man es will, nimmt man in Ställen und Schlachthöfen ein paar kosmetische Veränderungen vor, die man sich vom Verbraucher honorieren lässt. Strenge Prüfungen, Verbote und Sanktionen hat man beim Verramschen der animalischen Produkte bis auf Weiteres nicht zu befürchten.

 

Wir neigen ja dazu, Tiere zu „vermenschlichen“ (wenn wir sie nicht gerade essen), sie also in der Phantasie mit unseren Eigenschaften und Verhaltensweisen auszustatten. Zwar ist dies, wissenschaftlich gesehen, blanker Unsinn, aber die Klamauk-Auszeichnung der Ministerin, deren Empathie sich in den Grenzen der Blitzlichtgewitter hält, verführt dazu, dem Schlachtvieh, so es denn Kenntnis vom Flachsinn des deutschen Karnevals hätte, in seiner tödlichen Bedrängnis eine anthropomorphe Gefühlsäußerung anzudichten: Es würde in seiner tödlichen Bedrängnis weinen angesichts des Paradoxons, dass Julia Klöckner ausgerechnet ein Orden „wider den tierischen Ernst“ angeheftet wurde.

 

02/2019

 

 

 

                      

 

Lob des Papiers

 

Von der flächendeckenden Substitution des gedruckten Wortes durch den digital generierten Text ist schon lange die Rede. Beim Buch hat es bislang nicht geklappt, Print-Schmöker verkaufen sich weiter, E-Books werden immer teurer, und der Absatz von Lesegeräten wie kindle oder tolino hält sich in bescheidenen Grenzen. Anders sieht es bei den Zeitungen aus: Gerade im ohnehin nicht gerade üppigen linken Spektrum verschwinden peu à peu papierbasierte Ausgaben, und bisweilen erinnert die Art, wie sich die Verantwortlichen gleichzeitig "überzähliger" Mitarbeiter entledigen, an die Methoden profitorientierter Medien des Mainstreams.

 

Haptisches Vergnügen und Konzentration

 

Dass Fußball-Bild, Tageszeitung für Spielsüchtige aus dem Hause Springer, Ende des letzten Jahres als Printausgabe eingestellt wurde, dürfte die kulturelle Vielfalt dieses Landes nur peripher beeinträchtigt haben. Wenn aber die Tageszeitung (taz) ankündigt, in drei Jahren werktags aus dem Markt der gedruckten Blätter in den der Online-Medien zu wechseln und nur für das Wochenende ein opulentes Papierformat anzubieten, ist dies schon ein Hinweis auf eine bevorstehende Veränderung unserer Lesegewohnheiten und Informationsrezeption, eine Veränderung, die viele nicht wollen, die durch ökonomischen Druck auf die Verlage zustande kommt und bei der wir uns fragen: Ist das gut?

 

Natürlich liegt zumindest für die Älteren von uns in dem Ritual, sich zum Frühstück oder nach dem Abendessen mit der Zeitung an den Tisch zu setzen, ein subjektiver Wohlfühlfaktor begründet, der – objektiv gesehen – keinen Supremat  des „analogen Lesens“ gegenüber der Lektüre am PC oder Smartphone rechtfertigt. Allerdings sind einige selektive Tätigkeiten damit verbunden: Es wurde eine bestimmte Zeitung ausgewählt, deren Seiten man durchblättert, ehe man sich je nach ursprünglichem Interesse oder geweckter Neugier auf den einen oder anderen Artikel konzentriert. Vielleicht werden Passagen angestrichen oder ganze Seiten ausgeschnitten und archiviert.

 

Geht alles im Internet auch und noch viel besser, werden viele jüngere News-User sagen. Man klickt einen Artikel an, im Idealfall sogar in einer Online-Ausgabe, für deren Nutzung man bezahlt hat, markiert wichtige Inhalte und speichert sie ab (und wird sie im unendlichen Wust des so bequem Konservierbaren noch seltener ein weiteres Mal aufsuchen als der Analog-Leser seine Scherenschnitte). Vor allem aber kann man im Netz zwischen unzähligen Beiträgen zum gleichen Thema hin- und herspringen (von den Social Media mal ganz zu schweigen). Oberflächlich betrachtet, sind das faktische Vorteile, doch liegt die Tücke in der weltumspannenden Beliebigkeit und in den beschränkten Rezeptionsmöglichkeiten des Menschen verborgen.

 

Zu viel lenkt ab, zu bunt verwirrt die Sinne, zu schrill stört beim ernsthaften Diskurs. Um die digitale Vielfalt, die eher dem Chaos ähnelt, geistig einigermaßen durchdringen, somit Angebotenes nach Wertigkeit und Glaubwürdigkeit einstufen zu können, muss man Recherche betreiben. Das Internet aber erleichtert die Recherche (Verfügbarkeit von Infos) und erschwert sie gleichzeitig (Mangel an Überprüfbarkeit). Der Leser sieht sich hier mehr noch als bei Meinungsartikeln in den Printmedien gezwungen, auf eigene Faust die Validität von Texten zu eruieren (oder schlicht zu glauben). Die Methoden aber, die er dazu anwenden kann, basieren im Wesentlichen wieder auf den Recherchewerkzeugen von Journalisten in den Printmedien.

 

Noch etwas spricht für das analoge Lesen: Schwarzweiß auf flachem Papier, das ist ein zweidimensionales Stillleben, bei dem die Konzentration höchstens vom Anheben der Kaffeetasse gestört wird. Ein Text auf dem Bildschirm ist hingegen ein platter Fremdkörper in räumlicher Kulisse, Unnötiges lenkt ab, die technischen Möglichkeiten verführen zum Scrollen oder beim Handy zum Wischen. Die Aufnahmefähigkeit des Lesers ist reduziert, verlangt nach kürzeren (was nicht immer schlecht sein muss), vor allem aber oft den inhaltlichen Gehalt verkürzenden Artikeln, die später auch schlechter memoriert werden als Gedrucktes. Zudem mahnen auch immer die Ärzte, nicht allzu lange vor dem Screen zu verweilen, während ich noch nie vor mehrstündigem Lesen in Buch oder Zeitung gewarnt wurde.

 

Inzwischen fahren etliche Medienverlage zweigleisig, wobei manche kurz- oder mittelfristig die Chance sehen, die Herstellungs- und Personalkosten zu senken, indem sie nur noch ein Gleis, nämlich das digitale, benutzen. Zwangsläufig wird mit dem Papier so mancher Qualitätsanspruch verschwinden, und leider liebäugeln auch linke und bürgerlich-aufklärerische Blätter mit dem technologischen Fortschritt, der eine kognitive Regression bedeutet. 

 

Was geht verloren?

 

Immer mehr papiergestützte Publikationen werden vom Markt verschwinden. Leider betrifft diese Entwicklung weniger die Regenbogenpresse, die ihre vergreisende Leserschaft weiter mit Glanzdruck bei Laune hält, als vielmehr die zur differenzierten Information wichtigen Blätter. Wer zur gründlichen Lektüre und Analyse in Zukunft auf seine griffige Tageszeitung bauen möchte, könnte bald in die Röhre  gucken (auch das ein überholter Ausdruck) – vor allem wenn er nach Infos und inhaltlichen Positionen außerhalb des halbrechten Mainstreams sucht.

 

Die taz will also in drei Jahren auf Käufer, die sich nicht dem flächigen Minimalismus der Smartphone-Screens unterordnen wollen, verzichten. In den Szene-Cafés und Treffpunkten der Grünen-Schickeria werden dann, von einer behäbigen Wochenendausgabe abgesehen,  keine Zeitungsteile und keine Kommentarfetzen mehr zwischen den Tischen ausgetauscht werden. Ein ähnlicher Weg scheint für das Neue Deutschland (nd) vorgezeichnet. Trotz ihres unglücklichen Namens (die DDR-Patin galt nun wirklich nicht gerade als Paradebeispiel des investigativen, unabhängigen und kritischen Journalismus) ließen sich in der Berliner Tageszeitung des öfteren wider den Strich gebürstete Hintergrundartikel oder Debattenbeiträge als Korrektiv zu den Think-Tank-Verlautbarungen von FAZSZ oder SPIEGEL finden.

 

Auch beim nd, dessen Schmusekurs mit der Linkspartei  bisweilen ein wenig penetrant ist, das aber immerhin den glänzenden Kolumnisten Otto Köhler oder den Nonkonformisten und einstigen DDR-Dissidenten Friedrich Schorlemmer zu seinen Autoren zählt, stehen die Zeichen mittelfristig auf Abschied vom Printmedium. Ab Herbst 2018 wurden „die gedruckten Ausgaben von Montag bis Freitag auf 16 Seiten geschrumpft, dafür aber die Wochenendausgaben aufgehübscht. … Zudem "werden sie vom täglichen Nachrichtengerümpel befreit“, spottete die junge Welt (jw) und mutmaßte, dass das nd aufgrund der neuen Beliebigkeit seiner Themen keine dreieinhalb Jahre mehr als händisches Medienprodukt überleben würde. Die jw, die unbedingt an Druck und Papier festhalten will, wäre dann die letzte linke Tageszeitung, die man falten kann, in Deutschland.

 

Die Vorbereitung der Digitalisierung in Planung und Herstellung geht meist mit Personalabbau einher, und hier zeigt sich, dass Zeitungen sozialistischer Couleur sehr wohl von bürgerlichen Blättern lernen können. Die „Gesundschrumpfung“ des Betriebs geht dort nämlich stets mit möglichst wenig Lautstärke vor sich, fast verschämt, ja so leise, dass die Betroffenen erst ganz zum Schluss von ihrem „Schicksal“ erfahren. Dementsprechend bekamen die drei langjährigen Karikaturisten des nd, Rainer Hachfeld, Harald Kretzschmar und Christiane Pfohlmann (die inzwischen aber offenbar wieder mittun darf) erst sehr spät mit, dass ihre Dienste künftig nicht mehr erwünscht seien. Noch 2004 galt das Zeichnerteam in einem Editorial als eine der „vier stabilen Säulen“ des nd.

 

In einem ziemlich peinlichen Brief an Hachfeld, der mittlerweile gegen die Kündigung klagt, begründete der interimistische Chefredakteur Wolfgang Hübner die Kündigung mit einem Potpourri aus zeitgeistigen und geschmäcklerischen „Argumenten“: „Wir müssen uns immer wieder neu erfinden. Im Spätsommer haben wir das linke Online-Lifestylemagazin Supernova gestartet, um Anschluss an eine jüngere Generation linker Menschen mit ganz anderen Gewohnheiten der Kommunikation und Information zu bekommen.“ Also habe man sich die Frage gestellt, „ob wir nicht auch an dieser Stelle etwas Neues versuchen wollen. Das mag ganz unterschiedliche Gründe haben – inhaltliche Kritik an einzelnen Zeichnungen, Geschmacksfragen, der Wunsch nach Veränderung und neuen Ideen“. Nur ganz am Rande werden der Druck, „wirtschaftlich zu arbeiten“,  und die Überlegung, die  wochentäglichen Printausgaben womöglich ganz einzustellen, erwähnt.

 

Über die Karikaturisten und ihre Arbeit wurde also offenbar ausgiebig gesprochen, mit ihnen hingegen nicht. Dieses Geschäftsgebaren belegt, dass das nd zumindest bezüglich seiner Personalpolitik in der Mitte der bürgerlichen Medienlandschaft angekommen ist. Wenigstens fast, denn den Fauxpas des leitenden Redakteurs, die Zeichner nach dem Rausschmiss zu einem „persönlichen Gespräch“ einzuladen,  hätte sich ein Verantwortlicher von Welt oder FAZ wohl nicht erlaubt. 

 

Eine Protestnote der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union Berlin-Brandenburg zu Händen des nd hätte übrigens auch gleich an Jakob Augsteins Wochenzeitung Der Freitag weitergereicht werden können. Auch dieses linke Blatt, das sich zunehmend digital zu orientieren scheint, entließ im Dezember seine Karikaturisten Klaus Stuntman und Hogli mit der Begründung, die Neugliederung des Layouts ließe keine Cartoons mehr zu… 

 

Sackgasse statt Rettung?

 

Doch von den Folgen der „digitalen Modernisierung“ für die Mitarbeiter zu den Auswirkungen auf die Konsumenten: Vor Jean-Jacques Rousseau wurden Kinder als kleine Erwachsene gesehen, als solche auch behandelt und (etwa zur Arbeit) eingespannt. Erst der Genfer Aufklärer verdeutlichte seinen Zeitgenossen, dass die Jüngsten einen Freiraum für Spiel und Entwicklung bräuchten. Umgekehrt allerdings ist es sicherlich nicht falsch, wenn man viele Erwachsene als große Kinder bezeichnet – man denke nur an ihre naive, öffentlich zelebrierte Logorrhoe am Smartphone, den geisttötenden Dauerklatsch via Social Media oder ihre Spielsucht vor der Game-Konsole.

 

Nun hat die Bielefelder Neurobiologin und Hirnforscherin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt in einem Interview mit der jw eindringlich vor dem Einsatz digitaler Medien im Kleinkindesalter gewarnt. Nach dreißigjähriger Forschung kommt sie zu dem Schluss, dass der verfrühte Kontakt mit Cyber-Techniken auf die Kleinen einerseits in etwa so wirkt, als setze die Mutter der Milch Mohn zu, andererseits aber per Reizüberflutung die Versorgung des Stirnhirns mit dem Botenstoff Dopamin beeinträchtigt. So kann das Kind wechselweise wie nach Opiumgenuss verdämmern oder nach Schädigung seines Arbeitsgedächtnisses aggressiv und lernbehindert werden.

 

Leider hat sich Frau Teuchert-Noodt wissenschaftlich nur mit kindlichen Entwicklungsphasen beschäftigt, sonst wäre sie vielleicht bei Untersuchungen im Erwachsenenumfeld auf ein von einer Volks- und Binsenweisheit abgeleitetes Theorem gestoßen: Was Hänschen schadet, nutzt Hans nimmermehr. Dies wäre dann nicht als Plädoyer gegen das Internet an sich zu verstehen, sondern als Aufforderung, dieses Instrument wenigstens im vorgerückten Alter systematisch nutzen und zu gegebenen Anlässen fürchten zu lernen. Immerhin kann sich die emeritierte Forscherin – im Gegensatz zur Gedanken durch Links ersetzenden Masse – ein weitgehend selbständig erarbeitetes Bewusstsein  noch vorstellen: „Natürlich könnte jeder es schaffen, privat ausschließlich analog unterwegs zu sein. … Ohne Handy und Homebutler der Sorte Alexa wird der Geist für Ideen und Kreativität neu erweckt. Das Leben bekommt dann erst seinen Sinn zurück.“

 

Und nun soll uns ein Mittel, die Welt analog, d.h. anhand von Vergleichbarkeit und nachzuvollziehenden Schritten, zu begreifen, eben das gute alte bedruckte Papier, entzogen werden? Die Herren Verleger scheinen es so zu wollen. Vielleicht liegt es im Wesen der Cyber-Dominanz, dass sie nicht dosierbar zu sein scheint, und so schaffen ihre Vorteile, was Verfügbarkeit von Information und Übermittlungszeit betrifft, meist nicht die Voraussetzungen zu kritischem Wissen (seltene Anregungen wie – hoffentlich - diese Website ausgenommen), sondern erzeugen einen kognitiven Overkill.

 

Es ist schon richtig: Mit dem Internet lässt sich trefflich recherchieren, die Evaluation der Recherche aber muss man in kleiner Runde oder im stillen Kämmerlein vornehmen. Belesen und nachdenklich wird man nicht per tour de force durch eine digitale Unendlichkeit, sondern durch konzentrierte, ruhige Lektüre und Reflexion. Und dazu sollten sie uns das bedruckte Papier lassen. 

01/2019 

Dazu auch:

Schöne neue Kindheit im Archiv dieser Rubrik (2017)

 

 

                           

 

2018



Ein Leben gegen die Macht

 

In Buenos Aires starb am Heiligen Abend einer der wichtigsten Zeitzeugen der neueren lateinamerikanischen Geschichte, der Schriftsteller, Journalist und Historiker Osvaldo Bayer. Der „ultra-pazifistische Anarchist“, wie er sich selbst nannte, kämpfte mit publizistischen Mitteln unablässig gegen die Mächtigen in seinem Heimatland Argentinien, wurde inhaftiert, verfolgt und musste 1975 nach Deutschland fliehen. Er war ein freundlicher, sanfter, aber unbeugsamer Mann, den die Generäle hassten und die Unterdrückten, denen er in seinem Werk ihre Identität zurückgab und die er mit praktischen Initiativen unterstützte, schätzten.

 

Auf Abruf im Exil

 

Ich begegnete Osvaldo Bayer zum ersten Mal 1982, wenige Tage vor dem Ausbruch des Krieges um die Malvinas (Falklands), in Berlin. Einige Monate zuvor hatte ich über seinen Übersetzer Willi Zurbrüggen angefragt, ob er zu dem Buch „Hoffnung in der Hölle – Lateinamerikanische Skizzen“, einer Sammlung von Essays und Geschichten, die ich gerade zusammenstellte, etwas beisteuern wolle. Bayer überließ mir zwei „dokumentarische Erzählungen“: „Des Siegers einzige Niederlage“ und „Der Todesengel“ aus seinem berühmtesten Werk „La Patagonia rebelde“ („Aufstand in Patagonien“), das damals noch nicht ins Deutsche übertragen worden war.

 

Am Abend dieses Tages in Berlin lasen wir in einer Buchhandlung aus „Hoffnung in der Hölle“ vor Kameras des ZDF. Geraume Zeit später wurde im Abendprogramm ein Film gesendet, der Bayers Leben in Deutschland und seine Rückkehr nach Argentinien dokumentierte. Letztere war bereits ein Jahr später, nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur 1983, möglich, was für ihn aber nicht überraschend kam. Osvaldo Bayer, ebenso empathischer Mensch wie analytischer Denker, hatte den Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien sowie dessen Ausgang vorausgesehen. Obwohl er die Legitimität der britischen Territorialansprüche bezweifelte, rechnete er damit, dass als Folge der Auseinandersetzung die Junta in Buenos Aires hinweggefegt würde – was dann auch geschah und ihm ermöglichte, sein deutsches Exil zu verlassen.     

 

Chronist der patagonischen Rebellion

 

Bayers Großeltern waren aus Tirol nach Südamerika ausgewandert. Von seinem Vater, einem Sozialisten, der 1921 am Aufstand der Landarbeiter in Patagonien, dem kalten Süden Argentiniens, teilgenommen hatte, hörte er erstmals von der Not, dem Streik der Rechtlosen, ihrer Niederlage und ihren 1500 Toten am äußersten südlichen Rand der bewohnten Welt. Die Tragödie in der dünn besiedelten Pampa zwischen dem Atlantik, Anden und Feuerland sah er als Metapher für den ewigen Kampf um soziale Gerechtigkeit auf dem Subkontinent. Dreizehn Jahre lang recherchierte Osvaldo Bayer für das vierbändige Werk „La Patagonia rebelde“, das von 1972 bis 1975 erschien – und prompt von der Staatspräsidentin Isabel Perón verboten wurde.

 

Als Journalist schrieb Bayer über die fortdauernde Ausbeutung der Landarbeiter im Süden, wurde aus der patagonischen Stadt Esquel ausgewiesen, musste auch einmal für zwei Monate ins Gefängnis, deckte die Verbrechen historischer „Volkshelden“ an den Indianern auf und eckte ständig an, wo Menschenrechte mit Füßen getreten wurden, also fast überall. Schon bevor sich 1976 die Militärs an die Macht putschten, erhielt er bitterernste Morddrohungen. Er beschloss gerade noch rechtzeitig, sich mit seiner Familie abzusetzen. Ein aus der Art geschlagener deutscher Diplomat, der Kulturattaché der Botschaft in Buenos Aires, half organisatorisch bei der Flucht und begleitete Bayer zur Sicherheit sogar zum Flughafen. Erwähnenswert ist dieses Verhalten eines Konsularbeamten in einem an sich klassischen Asylfall vor allem deshalb, weil das Auswärtige Amt die Bonner Vertretungen in Südamerika großteils mit Altnazis und jüngeren Sympathisanten der Militärregimes bestückt hatte.

 

Auch im Exil arbeitete Bayer unermüdlich gegen die argentinische Junta. Die Verfilmung von „Aufstand in Patagonien“, zu der er das Drehbuch geschrieben hatte, war bereits 1974 mit dem Silbernen Bären der Berliner Filmfestspiele ausgezeichnet worden. Jetzt musste der Exilierte in der Stadt seines künstlerischen Triumphes leben, während das Werk selbst in seiner Heimat verboten war. Der tollkühner Plan Bayers, ein Flugzeug zu chartern und zusammen mit Großschriftstellern, u. a. Gabriel García Márquez, Juan Rulfo, Julio Cortázar und Günter Grass, in Buenos Aires zu landen, um vor Ort gegen die Verbrechen der Generäle zu protestieren und so die Weltöffentlichkeit aufzuwecken, scheiterte 1981, schon weil Cortázar „nicht in den Kopf geschossen“ werden wollte.  

 

Auf der Seite der Verdammten

 

Dreißig Jahre nach unserer ersten Begegnung traf ich Osvaldo Bayer noch einmal. Zusammen mit seiner Frau Marlies Joos war er nach Nürnberg gekommen, um über die aktuelle Situation Argentiniens in der Kirchner-Ära zu sprechen. Der über Achtzigjährige wirkte agil, scharfsinnig und dabei warmherzig wie früher, als habe sein rückhaltloses Engagement die geistigen Versteinerungen des Alters ausgesperrt.

 

Nach seiner Rückkehr aus dem Exil war Bayer sofort wieder als Anwalt der Verdammten dieser Erde (Frantz Fanon) aufgetreten und hatte sich Feinde im aus Rechtsperonisten und neoliberalen Unternehmern gebildeten Establishment Argentiniens gemacht. Er unterstützte inhaltlich und organisatorisch die Madres de Plaza del Mayo, jene Mütter (und Großmütter), die bis heute seit 41 Jahren jeden Donnerstag im Zentrum von Buenos Aires demonstrieren, um Aufklärung über das Schicksal ihrer vom Militär verschleppten Kinder und damit von mindestens 30.000 während der Diktatur „Verschwundenen“, mutmaßlichen Mordopfern, zu fordern. Zudem kämpfte er dafür, dass die Generäle für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt würden. Erst in der Regierungszeit von Nestor Kirchner, ein Vierteljahrhundert nach den Folterungen, Massakern und Entführungen der Kinder von Oppositionellen, wanderten einige der führenden Putschisten, darunter ihr erster Chef, General Videla, für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis.

 

Osvaldo Bayer engagierte sich auch mit aller Kraft für die ewig Betrogenen Lateinamerikas, die indigenen Völker. Der in einem Film unterbreitete Vorschlag von ihm, die argentinischen und chilenischen Teile Patagoniens zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenzufügen, um die künstliche Teilung des Gebietes der Mapuche-Indianer aufzuheben, wurde vom Parlament in Buenos Aires als „unpatriotisch“ denunziert. Wie er bei seinem Besuch in Nürnberg erzählte, arbeitete er auch mit Aktivisten der indigenen Bewegung im Chaco, dem riesigen Trockenurwald im dürren, heißen Norden Argentiniens, zusammen.

 

Was in den letzten Jahren in seiner Heimat geschah, kann Bayer nicht gefallen haben. Der Neoliberale Macri gewann 2015 die Präsidentschaftswahl, die zaghaften Sozialreformen der Kirchner-Ära wurden liquidiert, Argentinien öffnete sich wieder den Hedgefonds, den Währungsspekulanten und den Austeritätspredigern des IWF, der Bevölkerung geht es mittlerweile so schlecht wie seit etlichen Jahren nicht mehr. Und wie überall, wo in Lateinamerika die Ultrarechten an die Macht zurückkehren, geht es den indigenen Völkern an den Kragen. Bei Bariloche, der größten patagonischen Stadt, erschoss im November 2017 die Polizei einen Mapuche-Aktivisten, der mit Genossen traditionelles Indianerterritorium, das wegen seiner Bodenschätze staatlich requiriert worden, besetzt hatte. Der uniformierte Täter blieb auf freiem Fuß. Vor wenigen Wochen, also ziemlich genau ein Jahr nach der Bluttat in Argentinien, erschossen chilenische Sicherheitskräfte auf der anderen Seite der Grenze aus ähnlichen Gründen erneut einen Angehörigen des Mapuche-Volkes. Indianische Aktivisten werden auf beiden Seiten der Grenze zu oft langjährigen Haftstrafen verurteilt.

 

In seiner auf Fakten beruhenden Erzählung „Des Siegers einzige Niederlage“ schildert Bayer, wie sich 1921 Soldaten, die an den Massenhinrichtungen streikender Landarbeiter und anarchistischer Sympathisanten teilgenommen haben, von ihrer schweren, blutigen Arbeit im Bordell La Catalana in San Julián erholen wollen. Die fünf Huren dort aber „streiken“ und vertreiben die siegreichen Krieger schließlich mit Besenstielen und Latten. „Mit Mördern gehen wir nicht ins Bett“, schreien die „ehrlosen“ Frauen. In mühsamen Recherchen eruierte Bayer die Namen der Huren (drei Argentinierinnen, eine Spanierin, eine Engländerin) und überlieferte sie der Nachwelt als die „einzige Huldigung an all die getöteten Arbeiter“.

 

Kein Widerstand gegen die Brutalität der Mächtigen, wirke er noch so unbedeutend und bliebe er am Ende auch erfolglos, darf jemals vergessen werden. Dies war bis zuletzt eine Maxime im Leben und Arbeiten Osvaldo Bayers. Er wurde 91 Jahre alt. 

12/2018 

Dazu auch:                   

Lateinamerika-Dossier in der Rubrik Politik und Abgrund






Roter Fleck in Afrika


Den deutschen Zeitungen war die Unicef-Nachricht allenfalls ein paar Zeilen wert: In der Zentralafrikanischen Republik, dem Land, dessen Bevölkerung weltweit die kürzeste Lebensspanne aufweist, sind aufgrund militärischer Konflikte derzeit 1,5 Millionen Kinder auf Hilfe angewiesen, viele von ihnen vom Hungertod bedroht. Hintergrundberichte oder Kommentare zu diesem Fakt blieben weitgehend aus, obwohl sich hier eine Analyse der verlogenen EU-Deklarationen, insbesondere auch des BRD-Ministers Gerd Müller, zu Afrika sowie der hegemonialen Strategien ehemaliger Kolonialmächte in ihrer fatalen Konsequenz dringend angeboten hätte.


Menschenfreunde mit böser Absicht


Immer wenn Entwicklungshilfeminister Müller oder Kanzlerin Merkel durch Schwarzafrika touren, haben sie die frohe Kunde von der enormen Entwicklungsfähigkeit und den menschlichen Ressourcen dieser Weltregion auf den Lippen und einen ganzen Pulk deutscher Manager im Tross. Während die Politiker diversen Ländern südlich der Sahara Freihandelsverträge schönreden, die den EU-Staaten freie Hand beim Absatz qualitativ minderwertiger Waren lassen, Einfuhren aus Afrika aber Restriktionen auferlegen, zeigen die mitgereisten Wirtschaftsleute klare Kante: Was sie interessiert, ist nicht das Wohlergehen der Menschen in der Sahelzone oder am oberen Nil, sondern deren (allerdings geringes) Konsumenten-Budget sowie deren Brauchbarkeit und Gefügigkeit als Rohstofflieferanten und Giftmüll-Abnehmer.


Eigentlich ist kein Volk arm genug, um nicht als Profitquelle ausgebeutet werden zu können; um einen failed state schlagen die deutschen „Entwicklungshelfer“ aus Politik und Big Business dennoch einen großen Bogen. Die Zentralafrikanische  Republik (ZAR) steht für die deutschen Industriellen und Wohltäter nicht auf der Agenda, und das obwohl gerade Unicef wieder gewarnt hatte, dass anderthalb Millionen Kinder, die mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, dort humanitärer Hilfe bedürfen. Das UN-Kinderhilfswerk macht den permanenten Bürgerkrieg in dem zwischen dem Tschad im Norden und der Demokratischen Republik Kongo im Süden eingeklemmten Land auch für die desaströse Tatsache verantwortlich, dass sich rund 1,2 Millionen Menschen innerhalb der Grenzen auf der Flucht befinden.


Der Staat mit dem sperrigen Namen hält mehrere traurige Rekorde: Nirgendwo auf der Welt sind die Lebenserwartung so niedrig und die Existenzperspektiven so düster. Die ZAR gilt als ärmstes Land auf dem Globus und konkurriert mit Pakistan um Platz eins bezüglich der Säuglingssterblichkeit. Wenn man also tatsächlich die Menschen in der Dritten Welt unterstützen wollte, gäbe es keinen Ort auf Erden, an dem sofortige und nachhaltige Hilfen nötiger wären. Doch die deutschen Wirtschaftsvertreter und die Humanismus-Rhetoriker aus Berlin sehen dazu – ähnlich wie im Jemen – keinen Anlass, verfügt doch die Region im Herz der Finsternis (Joseph Conrad) mit Ausnahme von ein wenig Edelmetall und teuren Mineralien sowie einem für Militärs und AKW-Betreiber segensreichen, für den Rest der Menschen indes lebensgefährlichen Stoff kaum über nennenswerte  Rohstoffe. Und da ein anderer Global Player aus Europa dort das Sagen hat, lassen sich nicht einmal Waffen made in Germany in gewohntem Umfang in den Busch verkaufen.


Ein Land im Würgegriff Frankreichs


Holz aus dem Urwald, ein paar Diamanten, ein bisschen Gold und das als Handelsware geächtete Elfenbein – mehr hat die ZAR fast nicht zu bieten. Industrie ist kaum vorhanden, von Kleidung über Maschinen bis zu Chemikalien muss alles importiert werden, genügend Lebensmittel waren zudem noch nie in jüngerer Zeit vorhanden. Doch den früheren Kolonialherren Frankreich interessiert neben der strategischen Lage, die zur permanenten Militärpräsenz genutzt wird, ein Rohstoff, mit dem die Einheimischen ohnehin nichts anfangen könnten: Uran.


Auch nachdem Paris seine Kolonie 1960 „in die Unabhängigkeit entlassen“ hatte, blieb stets französisches Militär vor Ort. Zunächst installierten die einstigen Herren und jetzigen Drahtzieher ihren Günstling Dacko als autoritären Präsidenten in der ZAR-Hauptstadt Bangui. Dann unterstützten sie den Putschisten Jean-Bédel-Bokassa, der sich selbst später zum Kaiser ernannte und durch blutige Verfolgung aller Oppositionellen aus dem weißen Fleck auf der Weltkarte endgültig einen blutroten machte.

 

Dass es französischen Politikern nicht immer nur um Geostrategie und die Ausbeutung von Bodenschätzen durch Firmen wie den AKW-Betreiber Areva ging, sondern manchmal auch um persönliche Bereicherung, zeigt das Beispiel Giscard d`Estaings: Als Pariser Finanzminister ließ er sich von dem mörderischen Despoten Bokassa mehrmals zur Jagd einladen und reich beschenken, noch als Staatspräsident nahm er wertvolle Gaben aus Diamanten und Elfenbein entgegen (ebenso übrigens wie Henry Kissinger). Erst als der Diktator in Bangui an die hundert demonstrierende Schüler foltern und ermorden ließ, wurde er für Frankreich untragbar.


Für zwei Jahre kehrte nach der Absetzung Bokassas der frankophile Dacko an die Macht zurück, entsprach aber offenbar nicht mehr den hohen Erwartungen, die eine ehemalige Kolonialmacht an ihre Marionetten stellt, worauf sie einen weiteren Militärputsch inszenierte. Danach wechselten die Regimes, marodierte die Armee, entglitt die Kontrolle den jeweils in Bangui Residierenden. Französische Truppen aber mischten immer mit, schon um den Zugriff des Areva-Konzerns auf das strahlende Gold der ZAR, das Uran, zu sichern. Auch Soldaten und Söldner aus anderen afrikanischen Staaten, etwa aus Libyen oder Angola, tauchten nun im Land auf und trugen zum allgemeinen Chaos bei. Hilflose Befriedungsbemühungen von UN-Blauhelmen und Streitkräften der Afrikanischen Union verkomplizierten die Situation weiter, zumal sich die "neutralen" Besatzer mit den französischen Okkupanten absprachen und sich wie diese vor allem durch Vergewaltigungen und Schmuggel auszeichneten.


Als 2013 die bis dahin besonders geschundene muslimische Minderheit aufbegehrte und die von ihr dominierte Rebellentruppe Séléka die Hauptstadt eroberte, erweiterte sich der diffuse Konflikt um eine religiöse Dimension. Nun kämpften auch noch christliche Milizen mit Unterstützung der Franzosen gegen Mohammedaner, die letzten staatlichen Strukturen gingen verloren, und der jetzige Präsident in Bangui kontrolliert nicht einmal mehr ein Fünftel des Landes. Hunderttausende von Vertriebenen, Hungernden und Kriegswaisen (Alte gibt es kaum) irren zwischen den zahllosen Fronten hin und her. Das einzige Kontinuum in der ZAR blieb die militärische Präsenz der Grande Nation, vor allem zum Nutzen und Frommen von Areva.


Deutsche Komplizenschaft


Der hiesigen Presse war die tragische Geschichte Zentralafrikas kaum eine Notiz wert, obwohl sie doch die durchaus absehbare Entwicklung anderer failed states, etwa Libyens und des Jemens, vorzeichnete. Auch hätte man die – besonders zugespitzte – Genese eines postkolonialen Traumas trefflich analysieren können. Doch schien Deutschland ausnahmsweise mal nicht seine Hände mit im schmutzigen Spiel zu haben - und wenn es sich um Desaster ohne „lokalen“ Bezug handelt, zeigen sich viele Journalisten eher desinteressiert.


Ganz so einfach ist es nicht. Zwar sind in der ZAR für deutsche Konzerne kaum Profite zu machen, und ein Einsatz der Bundeswehr wäre schon aus diesem Grund nicht lohnend, doch leistet Berlin in einem ähnlich gelagerten Fall der französischen Hegemonialmacht Schützenhilfe im wahrsten Sinne des Wortes: Im westafrikanischen Mali sind Soldaten aus der Bundesrepublik stationiert, um als  Teil einer „Friedenstruppe“ vor allem die Interessen des notorischen Atomenergie-Konzerns Areva zu wahren, der auch dort Uran abbaut.


Jahrzehntelang hatte Frankreich in Mali instabile Regimes je nach Gusto geduldet oder ausgetauscht, wohl wissend, dass eine starke nationale Regierung den fremden Zugriff auf Bodenschätze erschweren würde. Als dann Tuaregs und Islamisten sich verbündeten und die Hauptstadt Bamako bedrohten, wurde Paris die Situation zu prekär und es holte Alliierte mit ins Boot, welche den Nachschub für die französischen Meiler sichern sollten.

So gerne sich die Bundesregierung bei ihren Erpressungen ostafrikanischer Staaten per Freihandelsdiktat den Rücken von EU-Partnern freihalten lässt, so bereitwillig unterstützt sie den französischen Explorationsimperialismus in Mali und schickt dazu sogar Soldaten in ein Land, in dem sie wirklich nichts zu suchen haben. In Afrika gilt für europäische Verbündete bis auf Weiteres die folgende Umkehrung einer bekannten Redewendung: Eine Hand beschmutzt die andere.


Weit weg wird Sterben uninteressant


In Goethes Faust sinniert ein satter Bürger in seiner sicheren Stube über den Krieg, der, wenn er weit weg von deutschen Landen stattfindet, der angenehmen Unterhaltung dienen kann:


Nichts bessres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen 
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, 
wenn hinten, weit in der Türkei, 
die Völker aufeinander schlagen.
 


So zynisch uns diese Voyeurshaltung erscheinen mag – sie wird trotz wachsender Sensationslust der Bevölkerung fremdem Scheitern  gegenüber bei unseren Zeitgenossen eher selten anzutreffen sein. Man liest und hört nämlich nicht mehr sehr oft und vor allem nicht viel Erhellendes von grausigen Auseinandersetzungen oder bedrohlichen Hungersnöten, aber auch nicht von positiven Entwicklungen in Ländern der Dritten Welt. Dafür sind vor allem zwei Umstände dingfest zu machen, die auf ein Medienproblem und auf den herrschenden politischen Willen zurückzuführen sind.


Man könnte meinen, die medialen Möglichkeiten hätten sich in den letzten Jahren nur potenziert, um sogleich von der quantitativen Klimax auf einen intellektuellen Tiefststand reduziert werden zu können. Das Internet macht es leicht, Informationen weltweit zu verbreiten und zu empfangen, doch nutzen wenige User die Chance zu Recherche und Reflexion, weil die globalen Digital-Dienstleister, allen voran die „sozialen Netzwerke“, das kritische Bewusstsein der Mehrheit mittels Propagierung drittrangiger Bedürfnisse, raffinierter Werbung und Fake News systematisch „entschärft“ haben.


Gleichzeitig dünnen selbst Printmedien, die sich selbst seriös nennen, ihre Korrespondentennetze aus und entsenden die Redakteure lieber in Think Tanks, wo sie sich die rechte Sichtweise von den Lobbyisten und Teilhabern der Macht diktieren lassen. Um Goethes Bild aufzugreifen: Wenn weit hinten in der Türkei oder im afrikanischen Busch Völker aufeinander einschlagen, erfährt unser Bürger das gar nicht mehr. Das Elend von Staaten wie Uganda oder der ZAR wird nur dann für kurze Zeit publik, wenn exotische Despoten vom Schlage Idi Amins oder Bokassas für grelle Schlagzeilen sorgen.


Und das kommt der Realpolitik sehr zupass. Die EU hat kein Interesse daran, ihr prominentes Mitglied Frankreich nach der Legitimation militärischer Interventionen in einer früheren Kolonie zu fragen, und die Bundesregierung möchte in der Öffentlichkeit nicht wegen der staatlich unterstützten Ausbeutung afrikanischer Länder durch die deutsche Wirtschaft  oder der Anheizung von Genoziden durch Waffenexporte gerügt werden. Man schaut lieber dezent weg, wenn weiße Flecken sich voll Blut saugen.

12/2018

Dazu auch:             

Vorsicht: Hilfe! (2014) und Die Erpressung (2015) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund 




Abstinenz der Elite


Sind die neuen Herren der öffentlichen Meinung, die Digital-Dompteure des Internet, nun durchgeknallte Freaks, die ihre Omnipotenz-Phantasien lukrativ Wirklichkeit werden lassen, oder schlichte Geschäftsleute, die User erst anfixen und dann die Süchtigen ausbeuten? Ein Insider aus dem Silicon-Valley hat das in einem SPIEGEL-Interview zwar nicht erschöpfend beantworten können, aber höchst beunruhigende Aspekte ins Spiel gebracht, die weitere Fragen nach sich ziehen.


Die Vergiftung der Information


Jaron Lanier, Cheftechnologe von Microsoft, ist nicht der der erste Software-Guru, der vor der manipulativen Allmacht der eigenen Branche warnt. So hatte im vorigen Jahr der Co-Gründer von Facebook, Sean Parker, sein früheres Unternehmen scharf dafür kritisiert, dass es Menschen in die Internet-Falle lockt und den Boykott aller Social Media propagiert. Manche Kinder des Silicon Valley, so scheint es, würden am liebsten ihre eigene Revolution fressen.


Die jungen Wilden aus Kalifornien hatten in Hippie-Attitüde Garagen-Startups aufgezogen, mit deren Output sie die globale Kommunikation, die Masseninformation und die Möglichkeiten der PC- und Handy-Nutzer in ungeahnte Dimensionen beamen wollten. Gut vorstellbar, dass einige zu Beginn wirklich Ideen von Transparenz, Chancengleichheit und Teilhabe im Kopf hatten, doch lehrte sie der real existierende Kapitalismus bald, welche ungeheuren Einflusspotenziale (und Geldsummen) ihnen aus der medialen Überflutung der Gesellschaft und der sich daraus zwangsläufig ergebenden Verhaltensmanipulation zufließen würden.


Jaron Lanier, der eine „Charakterdeformierung“ bei Usern von Sozialen Medien diagnostiziert, macht Facebook, Twitter & Co für die Wahl von krankhaften Egomanen wie Trump oder ausgewiesenen Faschisten wie Bolsonaro in Brasilien mitverantwortlich. Es scheint so, als unterwürfe sich die ganze Welt dem Unterhaltungs- und Desinformationsdiktat in Schwarz-und Weiß-Kategorien denkender und fabulierender net-communities. Die ganze Welt? Nein, ein kleines Tal in der Bay-Area, von dem aus einst der globale Feldzug der hysterischen Geistfeindschaft gestartet wurde, wehrt sich tapfer gegen die universale Gleichschaltung, allerdings in einem eher familiären Rahmen.


Wie man die gute Stube rein hält


Lanier kennt sie alle persönlich, die Zuckerbergs (Facebook), Dorseys (Twitter), Pichais (Google) und die anderen Häuptlinge der ehrenwerten Gesellschaft, die alles über ihre Kunden wissen will, nicht nur um deren Daten zu versilbern, sondern auch um in eigener Machtvollkommenheit deren individuelles Verhalten zu verändern, zu steuern, marktkompatibel zu machen. Dass bei politischen Kampagnen etwas aus dem Ruder läuft, dass die rechtspopulistischen Rattenfänger die künstlich erzeugte Unfähigkeit zu kritischer Analyse und humanistischem Widerstand besonders effektiv nutzen könnten, lag vielleicht gar nicht in Zuckerbergs Absicht, aber dieser Nebeneffekt ist plötzlich zur Hauptbedrohung geworden.


Über Forderungen der Politik, die Social Media sollten doch ihre Plattformen überprüfen und Hass- wie Fake-Mails entfernen, kann Lanier nur lachen. „Facebook kann das Problem nicht lösen“, sagte er dem SPIEGEL. „Facebook ist das Problem.“ Wer mit Perversionen dealt, taugt nicht zu Zensurinstanz, wer der Gülle die Schleusen öffnet, ist als Schleusenwärter fehl am Platz. Eine Personengruppe allerdings wird sorgsam vor der omnipräsenten Mediendroge behütet: die Kinder der Internet-Macher. Lanier berichtet, dass die Magnaten des Silicon Valley ihrem Nachwuchs den Gebrauch von Smartphones oder Tablets verbieten, ihn von den eigenen Sozialen Netzwerken fernhalten.


Das Bewusstsein, wie viel Gefahr im simplen Austausch von Grüßen, Sympathiebezeugungen oder kleinen Geheimnissen via Kontaktbörse für Jugendliche steckt, bewegt die ansonsten skrupellosen Manipulatoren dazu, die eigene Brut vor dem latenten Eingriff in Herz und Hirn zu schützen. Dieses Verantwortungsgefühl ist in unserem System weder neu noch eine sentimentale Marotte. Schon immer reproduzierten sich Eliten, indem sie bedenkenlos ihre Interessen durchsetzten, wenn es gegen das Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheit ging, gleichzeitig aber den eigenen Sprösslingen die ungestörte geistige Entfaltung im gediegenen Bildungskokon der Oberschicht ermöglichten.


Beutezug im Sumpf


Es ist nicht üblich, dass Manager und Inhaber großer Rüstungsfirmen ihre Söhne in Kriegsgebiete entsenden, um sie dort die Durchschlags- oder Widerstandskraft eigener Produkte sozusagen in Feldstudien ermitteln zu lassen. Die Hersteller umstrittener Psychopharmaka werden alles tun, um die Medikamente auf dem Markt unter möglichst viele Leute zu bringen, zugleich aber ihren Kindern jeglichen Zugriff verwehren. Und die Führungskräfte von Monsanto investieren viel Geld, um die Unbedenklichkeit eines Glyphosat-Einsatzes vorzutäuschen, halten aber das Pflanzengift mit Sicherheit vom Landschaftsgarten der Familienvilla fern.


Die Taktgeber wirtschaftlicher Expansion beglücken die kaufkräftigen (oder kreditwürdigen) Länder und Individuen mit allerlei nutzlosen, schädlichen oder sogar mittelfristig tödlich wirkenden Waren, achten aber strikt darauf, dass sich die Mitglieder ihrer Kaste nicht an dem Schund infizieren. Beute wird vorsichtshalber nur im Sumpf der Dritten Welt und in den niederen Schichten der technologisch entwickelten Gesellschaften gemacht.


Nach diesem Prinzip funktioniert offenbar auch die Infiltration der Smartphone-Suchtgemeinde von New York über Berlin bis Sao Paulo. Allerdings geht es hier nicht um handfesten Warenkonsum, sondern um immaterielle Güter, die angeblich so freien Gedanken nämlich. Eine einigermaßen fundierte Meinung können sich nach Ansicht von Pessimisten (Realisten?) bald nur noch die Abkömmlinge der Masters of Hate and Fake bilden, denn sie müssen sich ihre Informationen aus den verschiedensten Quellen zusammensuchen; ihre Väter verbieten ihnen die allwissenden Sozialen Netzwerke, obwohl diese ihnen Macht und Kapital verschaffen – auf der Grundlage massenhafter Verblödung.

11/2018  

Dazu auch:

Antisocial Media in dieser Rubrik        

Schöne neue Kindheit im Archiv dieser Rubrik 





Antisocial Media


Während sich hierzulande noch Experten, Skeptiker und Opfer sorgen, die notorischen User von Facebook und anderen sozialen Netzwerken gäben zu viel von ihrem Äußeren, ihrem Innersten und ihren geheimsten Kontakten wie Vorlieben preis, nutzen bedenkenlose Politstrategen in aller Welt die neuen Boulevard-Medien längst als Steigleitern zur Machtübernahme. Krass wirkte der Einsatz einseitiger Beeinflussung im vierdimensionalen Gewande bereits im US-Wahlkampf, erschreckend aber sind die im Netz in Gang gesetzten Verrohungs- und Abstumpfungsmechanismen, die Brasilien einen Präsidenten jenseits zivilisatorischer Vorstellungskraft bescherten.


Militarist, Chauvinist, Rassist


Dem größeren Teil des Volkes, der sich aus Frauen, Schwarzen, Indigenen, Armen und Schwulen zusammensetzt, drohen Gewalt, Beraubung und Folter, die Natur dürfte bald weitgehend Axt und Feuer zum Opfer fallen. Ein Land, in dem solche Zukunftsvisionen öffentlich verkündet werden, scheint vor einem totalen Krieg oder der Apokalypse per se zu stehen. Doch nein, es handelt sich lediglich um die Absichtserklärungen des gerade aus demokratischen Wahlen als Sieger hervorgegangenen Ex-Militärs Bolsonaro. Zwar hatte man Ähnliches vor ein paar Jahren auch schon von den Philippinen gehört (und Machthaber Duterte hat etliches auch blutig umgesetzt), aber damals ging es um ein Inselreich ganz hinten in Südostasien. Jetzt aber entwickelt sich Brasilien, der Fläche und Bevölkerungszahl nach das fünftgrößte Land der Erde, zur Dystopie, und die Sozialen Medien, allen voran WhatsAppFacebook und Twitter, dürfen dies als ihren Triumph feiern.


Brasilien ist mit Abstand die wichtigste Wirtschaftsmacht des südamerikanischen Subkontinents, es verfügt über immense Bodenschätze und ein beträchtliches industrielles Know-how. Noch bedeutender dürften in globaler Perspektive aber die ökologischen Reserven sein, die immensen Urwälder im Einzugsbereich der Amazonas-Wasserscheide. Durch sie wird das Weltklima nachhaltig beeinflusst und erträglich gehalten – aber sie werden immer weniger.


Wenn ein Mann, der öffentlich eine Kontrahentin als nicht vergewaltigungswert bezeichnet, Schwulen Prügel androht und sich für seine Söhne verbürgt, sie seien viel zu gut erzogen, als dass sie eine Schwarze heiraten würden, seinen politischen Gegnern Knast oder Vertreibung in Aussicht stellt, die brutale Militärdiktatur von 1964 bis 1985 rühmt und den Ausstieg aus dem Weltklimavertrag ankündigt, Präsident eines so gewichtigen Landes wird, verändert dies nicht nur die gesellschaftliche Atmosphäre in ganz Lateinamerika, es wird sich auch auf die politischen Entwicklungen rund um den Globus auswirken. Und viele Beobachter fragen sich in noch besorgterem Ton als nach Trumps Wahlsieg, wie solches geschehen konnte. 

     

Brutaler Gag statt Inhalt


Die europäischen Zeitungen werden nicht müde, die menschenverachtenden Statements des Jair Messias Bolsonaro zu zitieren, nachdem diese längst in den sozialen Netzwerken breitgetreten worden sind. Was fehlt, ist eine gründliche Analyse der Akzeptanz von Paradoxien, wie sie der Hauptmann der Reserve und glühende Militarist von sich gibt, der hirnerweichenden propagandistischen Effizienz der schönen neuen Medienwelt sowie der Absichten von Bolsonaros Hintermännern und Nutznießern; denn dass der politisch wie rhetorisch eher einfach gestrickte Populist, der sogar TV-Duellen mit seinem Widersacher Haddad auswich, höchstselbst eine Plump-Ideologie, für die der Begriff faschistoid noch zu harmlos wäre, kreiert hat, darf als unwahrscheinlich gelten.


Eigentlich hätte ein Kandidat, der sich gegen die (allerdings heterogene) Bevölkerungsmehrheit stellt und nur mit der weißen Wirtschaftselite, evangelikalen Eiferern und putschwilligen Militärs sympathisiert, niemals 55 Prozent der Stimmen erhalten dürfen. Zwar konnte er das tatsächlich allgegenwärtige Phänomen der Korruption, das ihm – ähnlich wie hierzulande der AfD die Migration – als Feindbild jegliche Programmatik und Analyse ersetzt, für seine Kampagne instrumentalisieren, und die Brasilianer sind des permanenten Betrugs müde; doch verstrickte er sich in eklatante Widersprüche und disqualifizierte sich durch skandalöse Hasstiraden. Man könnte allerdings den Eindruck gewinnen, dass vielen Landsleuten eine contradictio in eo ipso nicht weiter auffällt, weil sie im Wirbel der „sozialen“ Netzwerke die Orientierung verloren haben und nicht mehr wissen, was ihnen nützt und was die eigene Existenz gefährdet.


So konnte Bolsonaro über den Ex-Präsidenten Lula da Silva, den Mann, der locker Wahlsieger geworden wäre, hätte er denn kandidieren dürfen, ungestraft höhnen: „Lula – du wirst in deiner Zelle verrotten.“  Die Majorität der Wähler nahm auch keinen Anstoß daran, dass der Wutbürger noch letztes Jahr den Oberst Brilhante Ustra, Leiter des berüchtigten Folterzentrums DOI-CODI, wo auch die abgesetzte Präsidentin Dilma Roussev einst gequält worden war, als Helden feierte. Roussev, die der Arbeiterpartei PT angehörte, wurde wegen angeblicher Verstöße gegen Haushaltsgesetze des Amtes enthoben, ihr Parteifreund Lula sitzt wegen Vorteilsannahme ein, obwohl internationale Juristen die Stichhaltigkeit der Anschuldigungen gegen beide anzweifeln. Die brasilianischen Wähler focht dies mehrheitlich ebenso wenig an wie der Fakt, dass der fanatische Korruptionsbekämpfer Bolsonaro, der achtmal die Partei wechselte, künftig im Parlament mit Politikern der Rechten koalieren muss, denen Raub und Unterschlagung von riesigen Summen nachgewiesen konnte, die sich aber selbst Straffreiheit zubilligten. Auch hassten die meisten Brasilianer die Militärdiktatur, dulden es aber heute, dass der Berserker an der Spitze den General Hamilton Mourấo, der offen mit einem Putsch liebäugelt, als Vizepräsident nominieren will.


Leiden die Brasilianer an kollektiver Amnesie? Haben sie Caipirinhas bis zur Besinnungslosigkeit geschlürft oder zu viele Linien Kokain die Nase hochgezogen? Nein, die aktuelle geistige Umnachtung ist Folge einer permanenten medialen Berieselung, die jedes Nachdenken verunmöglicht und den brutalen Gag, die diskriminierende Sottise, den zügellosen, aber sinnesarmen Hassausbruch zur Krönung der kommunikativen und informativen Schöpfung erhebt. Kritisches Rekapitulieren, dialektische Abwägung oder gar inhaltliche Nachfrage gehören seit kurzer Zeit zum verstaubten Inventar politischer Auseinandersetzung – nur der plakative Effekt und die unwiderlegbare, da auf bloßer Phantasie begründete, Behauptung zählen mittlerweile. Die schmissigsten Verbalinjurien und Verleumdungen bringen die auf Unterhaltung und Sensationen konditionierte Menge dazu, gegen ihre sozialen Interessen und die eigene Zukunft zu stimmen.


Mögen die Russen, rechtsradikale Parteifreunde oder die Lobbyisten interessierter Konzerne die Netnews zugunsten Trumps manipuliert haben, die entscheidenden Impulse erhielt seine Wahlkampagne durch die jegliche Differenzierung als Zeitverschwendung ausschließende Wirkungsmacht der Social Media selbst: Twitter als das pausenlos Salven pointierter Plattitüden verschießende Maschinengewehr und Facebook als virtuelle Gefühlsblase, die sorgsam in eine Richtung gedehnt werden kann, ersetzten die zaudernden, ab und zu noch nachdenklichen „alten Medien“ bravourös. Und im Internet wird immer der glamouröseste und spektakulärste Schwachsinn von der Community geliked.


Dahinter steckt immer ein fieser Kopf


Der Wahlkampf in Brasilien belegt, dass die Beeinflussung durch die (a)sozialen Netzwerke eine neue – vermutlich von den Machern selbst nicht erahnte „Qualität“ erreicht hat. Während Algorithmen entwickelt werden, mittels derer die User zu gläsernen Objekten mutieren, zur gleichen Zeit, da latente Manipulation und der Verkauf von Daten forciert werden, entsteht als potentes Nebenprodukt eine Art Amok-Stimulanz, die Smartphone-Süchtige überrumpelt und in einer Art aversiver Geisterbahn durchrüttelt, bis sie dem selbsternannten (und oftmals korrupten) Jäger von Vampiren, Intellektuellen und vermeintlich Korrupten (des anderen Lagers) willenlos zu Füßen liegen.


In seinem Weltbestseller „The Circle“ beschreibt der US-Romancier Dave Eggers einen Social-Media-Giganten, als dessen Vorbild sich unschwer Facebook ausmachen lässt. Er schildert, wie der Konzern die Konsumenten so lange betört und ausspäht, bis er ihre Bedürfnisse und Handlungen steuern kann, als seien sie willenlose Zombies. Im Falle Brasiliens wird noch ein ganz anderes Potential des Internet-Hype sichtbar, das vermutlich nicht einmal Mark Zuckerberg in seinem Ausmaß erkannt hat: Mittels permanentem Trommelfeuer aus konzertierten Hassbotschaften und stereotypen Heilsparolen können Regierungen und ganze Systeme gestürzt werden. Reflexion und Recherche sind in solcher Reizüberflutung nicht vorgesehen, ein neuer Höhepunkt medialer Geistfeindlichkeit ist erreicht.


Aber es müssen nicht unbedingt die Herren des Silicon Valley sein, die als treibende Kraft hinter solchen Umwälzungen stehen. Wenn Jair Bolsonaro erklärt, Minderheiten- und Arbeiterrechte kappen, soziale Bewegungen kriminalisieren und Regenwälder abholzen zu wollen, spielt er den Großkonzernen im eigenen Land und den ausländischen Spekulanten in die Hände – eine Planung, die allerdings nicht auf seinem braunen Mist gewachsen ist. Als graue Eminenz zeichnet nämlich sein künftiger Superminister  für Wirtschaft, Industrie und Handel, Paulo Guedes, für das ökonomische Programm verantwortlich. Und der kommt aus Milton Friedmans neoliberaler Kaderschmiede in Chicago und war während der Pinochet-Diktatur in Chile als Dozent tätig. Die dort angewandten Strategien, die u. a. die Privatisierung des Rentensystems, dessen Einlagen anschließend von den Chicago Boys an der Börse verzockt wurden, umfassten, möchte er nun auf Brasilien übertragen.


Die brasilianischen Oligarchen blicken also hoffnungsfroh in eine Zukunft, die für die Massen am anderen Ende der Sozialpyramide neue Härten bereithält. Und auch der Lateinamerika-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (LADW) und der hiesige Industrieverband BDI, die bereits die putschartige Ablösung  von Dilma Roussev begrüßt hatten, frohlocken, dass es demnächst „ultraliberal“ in Brasilia zugehe. Für VW-Vorstandchef Renschler war die Wahl des schrecklichen Populisten mithilfe sozialer Netzwerke laut einem LADW-Rundschreiben gar „ein Grund für Zuversicht“. So viel Optimismus kommt nicht von ungefähr. Bereits während der Militärdiktatur hatte VW do Brasil eng mit den Folterern zusammengearbeitet und eigene Mitarbeiter, die in der Gewerkschaft aktiv waren, ans Messer geliefert.


Eigentlich wollten Zuckerberg (Facebook), Page und Brin (Google) oder Bezos (Amazon) die Welt ja klammheimlich beherrschen, und zwar nach friedlicher Unterwerfung. Doch sie haben dafür die Instrumente geschaffen, mit denen andere jetzt den offenen sozialen Krieg lostreten. 

11/2018

Dazu auch:          

Schöne neue Kindheit im Archiv dieser Rubrik (2017)





Schaut auf Österreich!

 

Argwöhnisch beäugen die EU-Gremien in Brüssel die Abschaffung der Gewaltenteilung durch die polnische Regierung und den Angriff auf bürgerliche Freiheiten in Ungarn. Na ja, Ex-Ostblock mit seiner langen autoritären Tradition halt, mag mancher meinen. Doch beinahe unbemerkt  vollzieht sich in jenem Idyll zwischen blauer Donau, Tiroler Bergseligkeit und Burgenländer Heurigen-Romantik, das sich Austria nennt, eine politische Entwicklung, die nicht nur dem repressiven Rechtstrend im erwähnten Teil Europas ähnelt, sondern sogar als Menetekel für die künftige Einflussnahme auf Medien und öffentliche Meinung in ganz Europa interpretiert werden könnte.

 

Infos: Wie aufbereitet und für wen?

 

Um die Pressefreiheit und die Unversehrtheit ihrer Protagonisten ist es in der EU derzeit wahrlich nicht gut bestellt: Auf Malta, in der Slowakei und in Bulgarien wurden investigativ arbeitende JournalistInnen ermordet, in anderen Ländern werden unbotmäßige Medien von den Regierungen gemaßregelt oder per Liebesentzug durch die werbende Wirtschaft in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. So krass, grob und offensichtlich geht im Walzerland mit seinem gut geschmierten Beziehungsapparat und dem Faible für charmante, wenn auch nicht ganz legale Geheimabsprachen beim Heurigen nicht einmal eine ausgewiesen rechtsradikale Bundesregierung wie die jetzige aus ÖVP und FPÖ vor. Das Innenministerium sorgt sich lieber um den Schutz der Österreicher vor kritischer Information, indem es den Datenfluss in die rechte Richtung lenkt bzw. den Falschen vorenthält und Benimm-Regeln aufstellt, wie Journalisten was vorgesetzt bekommen dürfen.

 

Das Wiener Innenministerium hatte die österreichischen Landespolizeidirektionen vor ausgesuchten Medien gewarnt und empfohlen, die Kooperation mit den drei Zeitungen Kurier, Falter und Standard auf ein Minimum zu beschränken. Als Grund für diese Mahnung wurde „eine sehr einseitige und negative Berichterstattung über das BMI beziehungsweise die Polizei“ in einer vom Ministeriumssprecher Christoph Pölz verantworteten Mail angegeben. Zudem erhielten die Öffentlichkeitsbeauftragten  der Landespolizeistellen die Anweisung, stärker über Sexualdelikte zu berichten und die Staatsbürgerschaft sowie den Aufenthaltsstatus von Tatverdächtigen in Pressemitteilungen zu erwähnen. Pölz bittet zudem darum, "vor allem Taten, die in der Öffentlichkeit begangen werden, besondere Modi Operandi (zum Beispiel Antanzen) aufweisen, mit erheblicher Gewalteinwirkung oder Nötigungen erfolgen oder wenn zwischen Täter und Opfer keine Verbindung besteht, auch proaktiv auszusenden".

 

Das Innenressort ist fest in der Hand der FPÖ, und diese aus rechtsradikaler Schmuddelecke in die Regierungskoalition aufgestiegene Partei weiß sehr wohl, mittels reißerischer Präsentation ihrer „Lieblingsverbrechen“ und gleichzeitiger Informationsblockade unliebsamer Presseorgane Angst und Fremdenhass in der Bevölkerung zu schüren sowie kritische Gegenrede auszutrocknen. Zwar ruderte Innenminister Herbert Kickl postwendend zurück, führte ein „klärendes Gespräch“ mit seinem Sprachrohr Pölz und sang das Hohelied der Pressefreiheit, doch belegt schon seine Vita, dass a bisserl Intoleranz, Zensur und Einschüchterung Tradition in den Reihen der Freiheitlichen hat.

  

Kickl avancierte einst zum Redenschreiber des bräunlich schillernden Jörg Haider, ehe er nach der Parteispaltung zum Kampfgefährten des braun leuchtenden neuen FPÖ-Chefs Heinz-Christian Strache wurde. Der Feder des mehrfach abgebrochenen Studenten entsprangen so zündende (zündelnde?) Wahlkampfslogans wie „Wiener Blut – zu viel Fremdes tut niemand gut“. Als die Einsatztruppe zur Bekämpfung von Straßenkriminalität die Räume des offenbar nicht ganz angepassten Nachrichtendienstes BVT durchsuchte, fungierte nach Presseberichten der Innenminister als entscheidender Drahtzieher, der politischen Druck auf die Staatsanwaltschaft ausgeübt habe. Die Chefredakteure von vier österreichischen Zeitungen äußerten im Juli 2018 als Reaktion auf einen Kommentar Kickls zu den Ermittlungen ihre Sorge um die Meinungsfreiheit in Austria. Einen Monat später entschied das Oberlandesgericht Wien, dass die Hausdurchsuchungen rechtswidrig gewesen seien, was Kickl zu der flapsigen Bemerkung veranlasste, der Richterspruch sei „vorsichtig formuliert, etwas weltfremd“.

 

Die Mahnung der Chefredakteure kam nicht von ungefähr. Die FPÖ hatte schon in früheren Jahren Journalisten, die in den Printmedien oder in den öffentlich-rechtlichen Sendern Kritik geäußert oder allzu genau recherchiert hatten, mit Konsequenzen gedroht. Andererseits schaltet die Koalitionsregierung regelmäßig Anzeigen in rechtsextremistischen Blättern. Dass Beobachter nicht ohne Grund vor einer „Einschränkung der Pressefreiheit nach ungarischem Vorbild“ warnen, zeigt eben der jüngste Versuch, drei unbequeme Zeitungen von der Information durch die Behörden abzuschneiden.

 

Pioniere des Chauvinismus

 

Bei den drei in Ungnade gefallenen Publikationen handelt es sich um zwei Tageszeitungen (Kurier und Standard), die eher liberal als links einzustufen sind, sowie um das medienkritische Wochenblatt Falter. Dass in Österreich die Freiheit der Presse immer auch die Freiheit der Mächtigen und Reichen, die Richtung vorzugeben, ist, erfuhren der Kurier, als er eine Zeit lang seine Ausrichtung ändern musste, weil er vorübergehend unter die finanzielle Kontrolle der ÖVP geraten war, und der Falter bereits früher. Letzterer wurde auf Antrag des Bundespräsidenten und Alt-Nazis Kurt Waldheim beschlagnahmt, als er eine Strafanzeige gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher publizierte.

 

Natürlich mochte Innenminister Kickl nicht brachial wie ein Orbán oder ein Erdoğan gegen die missliebigen Blätter vorgehen. Selbstverständlich schrieb sein Sprecher Pölz den österreichischen Journalisten nicht apodiktisch vor, worüber sie in welcher Form künftig zu berichten hätten; aber unter dem sanften Schlagobers des wohlgemeinten Rates lauert doch ein tiefbraunes Gebräu latenter Gleichschaltungsintention.

 

Und so wusch auch Minister Kickl genant die Hände in Unschuld und betonte, die dubiose Mail seines Adlatus Pölz gehe nicht auf eine Weisung von ihm selbst zurück. Zugleich ließ er aber das Vorgehen in einer offiziellen Mitteilung subtil verteidigen: "Was den besonders achtsamen Umgang mit den erwähnten Medien betrifft, so basieren die Erläuterungen auf teils jahrelangen Erfahrungen vieler Kommunikationsmitarbeiter im BMI." Der Hinweis, über bestimmte Delikte vermehrt aufzuklären, diene wiederum dazu, dass die verschiedenen Polizeidirektionen einheitlicher auftreten. Einheitliche Informationen also, ohne Differenzierung und Kontradiktion, per einheitlich mediale Verarbeitung zur völkischen Einheitsmeinung kondensiert – der feuchte Traum jedes Rechtspopulisten.

 

Die FPÖ ist nicht irgendeine unbedeutende Organisation in einem kleinen EU-Land, sie nimmt mittlerweile eine Vorbildfunktion für die deutschen Abendlandsretter ein. Man könnte sie und die rechtsradikale Schweizer Volkspartei als Zieheltern der AFP bezeichnen. Und die deutschen Chauvinisten vertreten die gleichen medienpolitischen Positionen wie ihre alpenländischen Idole: Hinweg mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk! Schluss mit gesellschafts- und systemkritischem Enthüllungsjournalismus! Her mit martialischer und anti-humanistischer Rhetorik: Der Migrant an sich zerstört unsere Heimat.

 

Die wirklich wahre Wahrheit

 

Zu den Merkmalen rechtsradikaler Publizistik zählen das Ausklammern des sozialen, ökonomischen oder spezifisch biographischen Hintergrunds bei Tatbeständen jedweden Genres und eine Art plakative Pseudo-Dialektik, die keine Nuancen zwischen Schwarz und Weiß kennt und das Weiße/Positive zielsicher im engen eigenen Überzeugungsradius verortet.

 

Differenzierung ist dem rechtsextremen Meinungsspektrum ein Gräuel, Zweifel sind verboten, Geschichte bleibt verpönt, solange man sie nicht zu eigenen Zwecken uminterpretieren kann. Nun ließe sich diese Erkenntnisreduzierung oft auch in der wirtschaftsliberalen und konservativen (und leider auch oft der linken) Medienpolitik auf höherem Niveau feststellen, doch streben die Neochauvinisten von vornherein keinerlei Diskurs, keine ideologische Vorwärtsverteidigung systemischer Ungerechtigkeiten, an, sie erklären vielmehr ihre selektive Wahrnehmung zur wirklich wahren Wahrheit, die auf direktem Wege in Affekt umgesetzt, zu Diskriminierung, Hass und – im schlimmsten Fall – Gewalt führt.

 

Im Osten dieser Republik beginnt innerhalb der Union der Widerstand gegen die AfD bereits zu bröckeln. Eine Regierungsbeteiligung der Rechtspopulisten auf Landesebene scheint nicht mehr für alle Zeiten ausgeschlossen. Möglicherweise lässt sich dann beobachten, wie gelehrig ein AfD-Innenminister in Dresden, Potsdam oder Erfurt die medienpolitischen Anregungen einer ÖVP/FPÖ-Regierung in Wien hierzulande umsetzt.

10/2018

Dazu auch:

Gefährder aus Austria im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

 

                           

                                         

Im Zweifel rechts


Als in Dresden das Kamerateam des ZDF-Magazins Frontal 21 in seiner Arbeit, der Berichterstattung über eine rechtsextreme Demo, behindert wurde, als sich ein sonnenbebrillter Pegida-Anhänger, der später als Mitarbeiter des LKA Sachsen identifiziert werden sollte, drohend vor den Journalisten aufbaute, als ein anderer sie abzudrängen versuchte, griff endlich die Polizei ein, allerdings anders als erwartet. Die ZDF-Mitarbeiter wurden eine Dreiviertelstunde lang arretiert und kontrolliert (angeblich nur zur Feststellung ihrer Personalien), ihrem Auftrag konnten sie in dieser Zeit nicht nachkommen. Es hagelte böse Medienkommentare angesichts der offenkundigen Verletzung der Pressefreiheit, in einer beunruhigenden Tradition deutscher Exekutivorgane mochte freilich kaum jemand den Vorfall sehen.


Das devote Verhalten der Medien


Es ist derzeit nicht opportun, polizeiliche Methoden zu kritisieren. Trotz gesunkener Kriminalitätszahlen fühlt sich der Normalbürger zunehmend unsicher und möchte gern mehr Uniformierte auf den Straßen sehen. Die beiden Polizeigewerkschaften monieren die Überlastung und fordern Neueinstellungen en masse. In der Tat wäre es durchaus wünschenswert, wenn mehr Beamte gründlicher gegen das organisierte Verbrechen, gegen Cyber- oder Wirtschaftskriminalität vorgehen könnten. Doch bleibt die Frage, welche neuen Polizisten wir bekämen: Gewissenhafte Gesetzes- und Menschenschützer mit einem Faible für Aufklärung und Deeskalation oder – wie so oft in der Vergangenheit – harte Jungs mit überentwickeltem Standesbewusstsein und Herz auf dem rechten Fleck?


Die Medien verschweigen das Fehlverhalten von Bundes-, Landes-, Bereitschafts- oder Kriminalpolizei in vielen Fällen nicht, aber sie weigern sich beinahe unisono, die einzelnen Steinchen zu einem Mosaik, das stellenweise doch einen recht bräunlichen Farbton aufweist, zusammenzufügen. Ein kurzer Blick in die Historie der BRD-Polizeioperationen würde genügen, um das Dresdner Vorkommnis als ein weiteres Indiz für die althergebrachte Rechtslastigkeit vieler Ordnungshüter (und ihrer Vorgesetzten) hierzulande zu bewerten.

    

Volle Härte gegen Linke


Über die ersten geistige Verfassung der Freunde und Helfer in den ersten Jahren der Republik sei gnädig der Mantel des Schweigens gedeckt – zu flächendeckend waren damals Ämter, Dienste und Institutionen bis in die höchsten Kreise von ehemaligen Parteigenossen der NSDAP okkupiert. Doch als man damit rechnen konnte, dass sich der braune Ungeist langsam verflüchtigt hätte, zeigte sich, dass auch der Nachwuchs in den Reihen der Polizei mit einem regelrechten Hass auf linke und regierungskritische Demonstranten infiziert war.


Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg in Berlin von der Polizei erschossen. Zuvor war der Befehl „Knüppel frei! Räumen!“ an die Einsatzkräfte ergangen, die sich denn auch sogleich auf Menschen, die gegen den Staatsbesuch des iranischen Diktators Reza Pahlavi demonstrierten, stürzten. Als mit Schlagstöcken und Stangen bewaffnete Geheimpolizisten, Leibwächter und Spitzel des Schah („Jubelperser“) brutal gegen die Regimegegner vorgingen, übten sich die Berliner Polizisten hingegen in wohlwollender Neutralität. Der Tod Ohnesorgs bildete den Auftakt zur geistigen Revolte gegen den autoritären Staat und seine Institutionen, die als 68-er Bewegung in die Annalen einging.


Im September 1969 demonstrierten an die 20.000 Bürger auf dem Nürnberger Egidienberg gegen eine Wahlkundgebung, auf der Adolf von Thadden, seinerzeit Bundesvorsitzender der NPD, sprechen sollte. Die Rede wurde verhindert, obwohl die Polizei mit massivem Wasserwerfereinsatz gegen Kundgebungsteilnehmer und Schaulustige ihr Äußerstes gegeben hatte, die Verbreitung der Neonazi-Propaganda zu ermöglichen.


Am 5. März 1981 nimmt die Nürnberger Polizei im selbstverwalteten Kulturzentrum KOMM die Massenverhaftung von 141 Personen vor, die sich an einer spontanen Demo, bei der Bagatellschäden entstanden, beteiligt hatten. Den fünf Ermittlungsrichtern, die unter dem Druck der Anklagebehörde stehen, werden Fakten vorenthalten, am Ende reichen hektographierte Haftbefehle. Schon die Gerichtsverhandlung gegen die ersten Angeklagten geriet zur Farce: Es stellte sich heraus, dass die Aussagen von Polizisten von der Staatsanwaltschaft frisiert worden waren, Entlastungsmaterial ging auf dem Weg vom Polizeipräsidium zur den Anklagevertretern verloren. Der erste Prozess platzte und wurde nie mehr wiederaufgenommen, so wie auch die folgenden Verfahren – gegen den ausdrücklichen Wunsch der Staatsregierung – im Vorfeld eingestellt wurden.

 

Immer wieder wird das kleine oberfränkische Gräfenberg zum Schauplatz von Aufmärschen von Neonazis, die das dortige Kriegerdenkmal auf einer Anhöhe über dem Ort zum Ziel haben. Mit viel Engagement und persönlichem Mut wehren sich die Einheimischen, allen voran Bürgermeister Wolf von den nicht gerade links-verdächtigen Freien Wählern, gegen das rechtsradikale Treiben.  Das Bürgerforum Gräfenberg erhält deswegen den Bürgerkulturpreis des Bayerischen Landtags. Als das Städtchen die Auszeichnung am 25. Juli 2008 die Ehrung mit einem Friedensfest feiern will, melden die Neonazis für denselben Tag eine Demonstration an, die erstaunlicherweise vom Landratsamt Forchheim genehmigt wird. Wieder verlegen Gräfenberger den angereisten Extremisten den Weg und setzen sich auf die Straße, wo sie prompt von der Polizei eingekesselt werden. Eineinhalb Stunden lang halten die Beamten etwa 100 Menschen, darunter die evangelische Dekanin, Mütter, kleine Kinder und auch Journalisten fest. Träger des Bürgerkulturpreises, die der Umzingelung entkommen wollen, erhalten später Strafbefehle über 700 bzw. 900 Euro. Die Kripo versucht, mit Fotos in Kneipen die Identität der aufsässigen Sitz-Demonstranten zu ermitteln. Die Neonazis dürfen hingegen ungehindert Drohungen ausstoßen und ihre Gegner fotografieren.


Aus einer Nürnberger Kaserne der Bereitschaftspolizei erklingen nächtens Nazi-Lieder, bei einer Feier wird auch der Hitler-Gruß gezeigt. Berliner Polizeischüler tun es ihren fränkischen Kollegen gleich. Vielleicht erhellen solche Meldungen das offenbar in vielen behelmten Köpfen virulente düstere Gesellschaftsverständnis und erklären, warum gegen Linke und kritische Geister mit aller Vehemenz vorgegangen wird, während Rechtsradikale - wie unlängst in Chemnitz - ungeahndet, manchmal sogar unter Duldung durch die Exekutive, Juden- und Ausländerhetze verbreiten, verbotene Insignien zeigen und Gewalttaten gegen Angehörige von Minderheiten begehen dürfen.

    

Zarte Ermittlungen im rechten Milieu


Wenn sich deutsche Polizisten doch einmal bemüßigt fühlen, gegen braune Radikale vorzugehen, wie beim Neonazi-Festival im ostsächsischen Ostritz geschehen, ist das der Presse eine lobende Erwähnung wert: „Beherzt, abgeklärt und entschlossen verwiesen sie Rechtsextreme in die Schranken und drangen unvermittelt auf deren Festgelände vor, als der Verdacht einer Straftat vorlag.“ (Nürnberger Nachrichten). Offenbar liegt bei der Jagd auf Migranten, bei rassistischer Volksverhetzung oder der beinahe tagtäglichen Zurschaustellung von Nazi-Symbolen kein Tatverdacht vor, sodass die Beamten meist beherzt wegschauen können.


Natürlich tummeln sich in den Reihen der deutschen Polizei nicht nur Sympathisanten, sondern auch Mitglieder rechtsradikaler Organisationen, was die Einsatzkräfte bisweilen nicht vor Wurfgeschossen schützt, erkennen doch die Exoten der Neonazi-Szene, die Reichsbürger etwa, die BRD und ihre Exekutive gar nicht an. In jedem Fall verlaufen Ermittlungen im braunen Milieu gern im Sand.


So hielt nach dem Oktoberfest-Attentat die Kriminalpolizei trotz abweichender Zeugenaussagen und Indizien an der Einzeltäter-Hypothese fest. Die Spuren des angeblichen Solisten Gundolf Köhler ließen sich bis zur Wehrsportgruppe Hoffmann zurückverfolgen, was für diese jedoch keine besonderen Konsequenzen und auch keine erhöhte Fahndungstätigkeit seitens der Ermittler zur Folge hatte. Erst als wegen einer möglichen Verstrickung in den Doppelmord an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin gegen ihn ermittelt wurde, musste der Neonazi Karl Heinz Hoffmann wegen ganz anderer Verbrechen, die dabei ans Tageslicht kamen, in den Knast einrücken. Die Mordakte Lewin hält der Verfassungsschutz bis heute unter Verschluss.


Die Kripo-Ermittlungsarbeit während der NSU-Mordserie erschöpfte sich  in Verdächtigungen der Opfer-Angehörigen, ausländerfeindlichen Gedankenspielen und „originellen“ Wortschöpfungen wie Mordkommission Bosporus, obwohl Profiler relativ früh die Täter im rechtsradikalen Untergrund vermuteten.


Vor fünf Jahren berichteten die Zeit und der Berliner Tagesspiegel nach langwierigen Recherchen, dass in Jahren 1990 bis 2012 rechte Gewalttäter 152 Menschen umgebracht hätten. Die Verantwortlichen winkten ab: Nur 63 seien es in diesem Zeitraum gewesen, die NSU-Opfer inklusive. Dann nahmen sich Kriminalisten 3300 bereits in den Asservatenkammern abgelegte Fälle aus den Jahren 1990 bis 2011 nochmals vor und stießen auf 301 Tötungen aus rechtsextremen Motiven. Weder die Polizei noch die Politik mochten dieses sensationelle und erschütternde Ergebnis an die große Glocke hängen, desavouiert es doch die Aufklärungsarbeit und Transparenz der Dienststellen in toto.


Eine Tradition bleibt gewahrt


Und nun werden also Pegida-Anhänger vor Gegendemonstranten behütet. Fast könnte man denken, wer Hass sät, erntet in Deutschland Polizeischutz. Beim Skandieren justiziabler Parolen, Verleumdungen oder Drohungen können Rechte auf die Nachsicht der Beamten zählen.


Schlachten schlägt die Polizei heute vornehmlich gegen gewaltbereite Autonome, die sich der Linken zurechnen (Nun ja, für die Definition „links“ existiert kein Copyright, selbst die SPD darf sich ungestraft so nennen.), während Neonazis weitgehend in Ruhe gelassen werden, obwohl bei jedem ihrer Treffen Dutzende von Rechtsbrüchen anfallen. Ein linker Demonstrant hingegen, der sich mit dem Ellbogen vor Schlägen schützen will oder dem ein ehrenrühriger Begriff entfährt, muss mit der vollen Härte des Gesetzes rechnen, zumal ihm meist eine im Dienst geschulte Phalanx von Ordnungshütern gegenübersteht.


Natürlich gibt es auch Anwärter/innen, die aus Interesse an der Arbeit oder mangels lukrativer Job-Alternativen die Polizeiuniform anlegen, aber bei manchen Beamten glaubt man, eine Freude am autoritären Gebaren und ein Faible für rechtes Gedankengut zu erkennen. Ein Gegengewicht in der Truppe scheint zu fehlen. Linke und selbstkritische Polizisten findet man eigentlich nur in skandinavischen TV-Krimis.

09/2018

Dazu auch:

Blind mit System und „Reichsbürger“ im Archiv dieser Rubrik (2017)

 

 

 

         

Etwas bleibt hängen


Dass Rechtspopulisten und Nationalisten die neuen Medien flächendeckend und hochintensiv nutzen, um qua FakesShitstorms sowie Verschwörungstheorien ihr krudes Weltbild in den Köpfen unbedarfter Nutzer zu verankern, ist weithin bekannt. Ein Blick in die Schmuddelecken des Blätterwalds zeigt allerdings, dass insbesondere die AfD auch das klassische Print-Medium als Propagandainstrument entdeckt hat und sich in Form und Stil an altgedienten Postillen orientiert. Wie gefährlich und nachhaltig sich diese Art der Streuung manipulativ aufbereiteter „Nachrichten“ auswirken wird, lässt sich derzeit noch gar nicht abschätzen.


Bunt, fett und reißerisch


Der Boulevard in seiner eher an die Gosse erinnernden Form stand Pate, als sich der Stuttgarter „Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten“ im Sommer letzten Jahres dazu entschloss, so etwas wie ein Zentralorgan der AfD zu kreieren. Der Berliner Kurier, ein Revolverblatt der DuMont-Mediengruppe, das vom einstigen Chefredakteur Buschheuer einschlägigen US-Vorbildern mit fetten Schlagzeilen und mehrspaltigen Farbbildern für Lesefaule angepasst wurde, lieferte dem Deutschland-KURIER der rechten Sinnesverkürzer die Layout-Vorlage, BILD inspirierte den Text-Stil und die höchst selektiven Inhalte.


An den Deutschland-KURIER  zu kommen, ist gar nicht so einfach, zirkuliert er doch vornehmlich in rechtsradikalen Kreisen oder solchen, die es werden wollen – vor allem zur Stärkung bereits vorhandener Vorurteile und zur gegenseitigen Bestätigung. Angeblich wird er zwar für 30 Cent an Kiosken verkauft, doch findet man ihn dort kaum. Daher musste ich für meine Inhaltsanalyse auf ein älteres Exemplar zurückgreifen, wohl wissend, dass sich solches Niveau nie hebt.


Die Ähnlichkeit mit der gängigen yellow press und die Affinität zur von anderen erzreaktionären Parteien gepflegten Verleumdungskultur sind nicht rein zufälliger Natur, schreibt doch der ehemalige BILD-Chefredakteur Pater Bartels ebenso eifrig wie die Ikone des Blut-und-Boden-Revanchismus, Erika Steinbach, und einige Abgeordnete der xenophoben FPÖ Austrias für das Blättchen, dessen Gestaltung übrigens von einer Agentur, die auch schon die Wahlwerbung für die rechtsextreme Schweizerische Volkspartei konzipierte, verantwortet wird. Chefredakteur David Bendels verließ übrigens einst die CSU, weil die ihm offenbar nicht chauvinistisch genug agierte.

 

Die einfache Welt des rechten Bürgers


Auf der Titelseite posiert die „25-jährige Studentin Carolin Matthie“ in knappem Trikot, dafür mit Pistole und Halfter ausgestattet, neben der alarmierenden Zeile „Aus Angst vor Migranten – deutsche Frauen bewaffnen sich“.  Den Wandel ihrer Lebensweisheiten und der gefühlten Realität kommentiert die Berlinerin so: „Lebe, liebe, lache! Und wenn das nicht geht: Lade, ziele, schieße!“ Wer bekäme angesichts der Verhärtung dieser hübschen jungen Frau nicht Angst vorm Schwarzen Mann? Und Angst ist ein Pfund, mit dem die Ultrarechten trefflich zu wuchern verstehen. Mögen die Statistiken auch einen Rückgang der Kriminalität signalisieren – der Bürger fühlt sich unsicher, und die AfD rät dazu, in Trump`scher Manier erst zu schießen, dann zu fragen.


Die Methode der Nationalisten, nach den sozialen Netzwerken im Internet auch das bedruckte Papier in Sachen ungeschminkter Propaganda und verstümmelter Information einzusetzen, überrascht nicht. Zum einen ist nicht jeder Anhänger digital ausgerüstet, und dann trägt die Zeitungsschiene ja auch der Tatsache Rechnung, dass die deutsche Urmutter der getürkten Wahrheiten BILD war, jenes Blatt, von dessen Pionierarbeit die Faker auf allen Gebieten bis heute zehren. Die Philosophie der Springer-Zeitung lässt sich – grob vereinfacht – so zusammenfassen: Man kann mit Bruchstücken von Fakten, mit veralteten Zahlen, fragwürdigen Statistiken, aggressiven Behauptungen und fragwürdigen „Experten“-Meinungen arbeiten – wichtig ist nur, das Empörungspotential der Masse zu bedienen und zu lenken. Genau diese Vorgehensweise werfen Medienfachleute laut Wikipedia auch dem Deutschland-KURIER vor.


Wesentlich für den Erfolg solcher Strategien ist nicht das Generieren von Glaubwürdigkeit (gibt doch die Mehrzahl der BILD-Leser an, vieles im Blatt für fragwürdig zu halten), sondern die Implementierung greller Themenfetzen in die Hirne der Leser, das Schüren von Aversionen gegen Minderheiten mittels inhaltlicher Brandbeschleuniger. Während sich der Text des erwähnten Artikels im Deutschland-KURIER relativ sachlich mit Pfefferspray und Schreckschusspistolen als legalen Verteidigungsmitteln beschäftigt, suggerieren Foto, Bildzeile und Überschrift, dass sich deutsche Schönheiten wegen der brutalen Migranten nur noch schwerbewaffnet  auf die Straße wagen können. Diese Vorstellung wird verinnerlicht werden und in Wirtshausdiskussionen einfließen. Es kann ein Fake noch so plump konstruiert sein, etwas bleibt immer hängen. Dass Gewalt gegen Frauen zuallererst in der (deutschen) Familie droht, wird als inopportun verschwiegen.


Natürlich braucht die AfD-Postille auch ein Idol, und hat es in Viktor Orbán gefunden, der nicht mehr von „Flüchtlingen“ sprechen mag, sondern nur noch von „Invasoren“. Der ungarische Verächter der bürgerlichen Demokratie wird in seiner Anti-Migranten-Politik zwar mittlerweile verschämt von den meisten EU-Staatschefs kopiert, doch kann wohl nur ein rechtspopulistisches Organ auf die Idee kommen, ihn für seine Intoleranz auch noch ehren zu wollen: „Orbán verdient den Karlspreis der Stadt Aachen, den höchsten Preis für wahrhaftige Europäer.“


Der Papst als Sektengründer


Nach einigen Heiligen Vätern, denen die absolutistische Machtentfaltung und die theologische Dogmen-Oberhoheit des Vatikan wichtiger waren als das Schicksal der Menschheit (darunter der Deutsche  Ratzinger, als früherer Chef der Glaubenskongregation geistiger Erbvollstrecker der berüchtigten Inquisition), wollte mit Franziskus endlich ein Papst ein kleines Zeichen zur Versöhnung zwischen den Religionen und zur Wertschätzung Gehetzter und Getretener setzen. Das kam aber bei der AfD und ihrem Kurier gar nicht gut an: „Seine peinlichste Anbiederung an den Islam leistete er sich am Gründonnerstag 2016, als er die rituelle Fußwaschung an zwölf muslimischen Asylbewerbern vornahm.“


Diese einfache Geste der Menschlichkeit und des Respekts vor den Ärmsten missfiel den Einpeitschern des rechten Randes derart, dass sie in ihrem Kampfblatt eine Verschwörungstheorie daraus filterten: „Machtkampf im Vatikan – Papst Franziskus baut die Katholische Kirche zu einer linken Sekte um“.  Hier wird von Geistern, die vielleicht gar nicht wirr, sondern skrupellos berechnend sind, das Gespenst einer kommunistischen Großsekte, die demnächst unter Söders Kreuzen agitiert, beschworen. Solch absurder Unsinn erinnert zwar fatal an die kruden Fieberphantasien der Reichsbürger, aber er liefert Stoff für besonders originelle Stammtischparolen.


Wie wird die gezielte Realitätsverzerrung in der Kombination von Internet-Attacken, Talkshow-Plattitüden und Zeitungsparodie von den Konsumenten rezipiert? Belastbare Untersuchungen gibt es noch nicht, doch darf man vermuten, dass auch hier das BILD-Kalkül der sorgsam dosierten Giftverabreichung in bunter Dragee-Form greift. „Es mag vieles übertrieben sein“, wird der rechts-geneigte User in einem Differenzierungsversuch erklären, „aber es ist doch etwas dran an der Sache“.

08/2018

Dazu auch: 

„Reichsbürger“ im Archiv dieser Rubrik 





Retten verboten!

 

Die AfD diktiert der Bundesregierung und den Ländern die Ausrichtung und das Tempo in der Flüchtlingspolitik. Scheinbar gibt sie jetzt auch den Ton in manchen Qualitätsmedien vor. Die Zeit, einst Flaggschiff des stilsicheren großbürgerlichen Journalismus, lässt jedenfalls ungerügt Mitarbeiteräußerungen zu, die symptomatisch für die Verrohung der Sprache und des Denkens sind.


Das völlig falsche Format


Endlich geht es einmal volle Pulle gegen die Gutmenschen, die Flüchtlingsversteher, die Humanitätsfasler: „Menschen ertrinken auf der Suche nach einem besseren Leben zu Tausenden im Mittelmeer – also muss man sie retten. Das ist, in einer Nussschale, die Legitimation der privaten Helfer, die an den Küsten Nordafrikas unterwegs sind. Not kennt kein Gebot – so einfach ist das für sie.“ Diese Sätze von Mariam Lau sind keinem AfD-Pamphlet entnommen, sondern einem Beitrag in Deutschlands Nobel-Postille Die Zeit. Zwei Autorinnen des Wochenmagazins bezogen in der Rubrik Pro & Contra Stellung zu Sinn oder Unsinn der Seenotrettung durch NGOs und private Boote vor der nordafrikanischen Küste.


Während Caterina Lobenstein die Aufnahme von Flüchtlingen durch Schiffe von See-Watch und anderen Hilfsorganisationen sehr sachlich als Notwendigkeit angesichts staatlicher Untätigkeit bezeichnete und unter Berufung auf Wissenschaftler der Universität Oxford, die „keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Zahl der privaten Rettungsschiffe und der Zahl der Überfahrten“ eruieren konnten, die Mär widerlegte, die NGOs motivierten die Menschen erst zur gefährlichen Flucht, zog Mariam Lau polemisch vom Leder und stempelte die Helfer quasi als Hauptverantwortliche für den Exodus der Armen aus Afrika ab.


Der Tobak der Zeit-Korrespondentin, die ihre chauvinistische Sozialisierung offenbar zwischen 2004 und 2010 bei Springers Welt erfahren hatte, war einigen Lesern und Kollegen denn doch zu stark, so dass die Verantwortlichen in Hamburg sich bemühten, die Wogen zu glätten, nicht ohne die eigene fragwürdige Haltung nochmals zu verteidigen. Im Zeit-Blog bekräftigten Bernd Ulrich und Sabine Rückert von der Chefredaktion , dass die Zeit "die private Seenotrettung an sich infrage stellt und diese Position in einem Für und Wider als diskussionswürdig erachtet". Sie bedauerten allerdings, dass der Eindruck entstanden sei, die Zeit oder Autorin Mariam Lau "würden einer Seenotrettung generell eine Absage erteilen“.


Eine wunderbar rabulistische Argumentation. Niemand unterstellt der Zeit, dass sie alle Schiffbrüchigen unserer Ozeane ersaufen lassen wolle (schließlich sind auch ihre Redakteure auf Kreuzfahrten unterwegs). De facto aber dürfen nach ihrer Logik Flüchtlinge friedlich im Mittelmeer versinken, denn nach dem Rückzug der Rettungsschiffe von NATO, FRONTEX und Anrainerstaaten sind nur noch „private“ Boote übrig, um sie aus dem Wasser zu ziehen.


Auch die Form des Pro & Contra ist diesem todernsten Thema nicht angemessen. Das Für und Wider kann ein dialektischer Schlagabtauch sein, um die verschiedenen Aspekte einer strittigen Angelegenheit zu beleuchten (der allerdings heutzutage meist in einen polemisch-plakativen Hahnenkampf abgleitet), für ein Sujet wie die Flüchtlingsrettung, das durch unverrückbare inhaltliche Determinanten, etwa die Genfer Konvention, das internationale Seerecht oder die Pflicht zur Hilfeleistung, bestimmt wird, taugt aber kein rhetorisches Duell.

   

Menschenverachtung mal ganz flapsig


Schon Überschrift und Unterzeile des Pro & Contra weisen auf ein seltsames Verhältnis der Zeit-Redaktion zum (ausländischen) menschlichen Leben hin: „Oder soll man es lassen? Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim?“ Da wird eine höchst zynische Wahlfreiheit propagiert, und da hält man es für möglich, dass die Rettung von Menschen ein Vergehen sein könnte.


Contra-Verfechterin Mariam Lau aber treibt die verbale Kriminalisierung einer Menschenpflicht auf die Spitze: „Das Ertrinken im Mittelmeer ist ein Problem aus der Hölle, ein politisches Problem, zu dessen Lösung die private Seenotrettung null und nichts beizutragen hat.“ Und wenn der Politik nichts einfällt, muss man die Leute halt untergehen lassen. Heribert Prantl, das soziale Gewissen der SZ, bringt es mit einer rhetorischen Frage auf den Punkt: „Gebieten die Zeichen der Zeit weniger Humanität, gebieten sie Abschreckung durch den nassen Tod?“ Auch die Interdependenz von Ursache und Wirkung stellt Frau Lau spielerisch auf den Kopf. „Je mehr gerettet wird, desto mehr Boote kommen – so einfach ist das, und so fatal.“ Fragt sich bloß, woher vor 2015, also bevor die Rettung durch die NGOs so langsam anlief, die ganzen Flüchtlingsboote kamen. Zudem unterstellt man den Schleusern mit Recht Skrupellosigkeit und Brutalität. Es dürfte ihnen also relativ egal sein, ob ihre „Klienten“ im Notfall gerettet werden oder ertrinken, vorausgesetzt, sie haben die Überfahrt bezahlt.


„Wer in Not ist, muss gerettet werden, das schreibt das Recht vor und die Humanität. Beide schreiben allerdings nicht vor, dass Private übernehmen, was die Aufgabe von Staaten sein sollte.“ Mit schier übermenschlicher, ja fast unmenschlicher Logik folgert Mariam Lau, dass für die NGOs das Verdikt Retten verboten! gilt. Was aber, wenn die Staaten ihre Aufgabe nicht wahrnehmen, so wie es derzeit zu beobachten ist? Tja lieber Flüchtling, leider Pech gehabt…


Dann aber entlarvt Lau die Menschenretter als die eigentlichen Urheber der geistigen und sprachlichen Verrohung: „Leider wirken die Aktivisten aber auch an der Vergiftung des politischen Klimas in Europa mit. In ihren Augen gibt es nur Retter und Abschotter; sie kennen kein moralisches Zwischenreich.“ Nicht der ungarische Chef-Rassist Viktor Orbán oder der italienische Minister für Inneres und Asylantenhetze, Matteo Salvini, nicht die AfD und auch nicht Söder, Seehofer und ihr österreichischer Darling Kurz (insgesamt eine würdige Equipe, in die sich Mariam Lau mit ihrem Artikel nahtlos einreiht) haben die völkischen Hass-Kampagnen entfesselt. Die NGO`s sind es, die uns unser schönes „moralisches Zwischenreich“ kaputtmachen.


Eine biografische Anmerkung, die einen betroffen und ratlos macht: Mariam Lau ist die Tochter des iranischen Autors Bahman Nirumand, der 1965 vor den Schergen des Schah und 1982 vor der Glaubenspolizei der Mullahs in die Bundesrepublik floh.


Verstaatlichung andersherum


Nun gibt es außer den NGOs noch andere „private“ Retter, die Frachter und Tanker der Handelsmarinen nämlich. Es hat den Anschein, als wollten die Staaten der EU die Seeleute zwingen, bei Begegnungen mit schiffbrüchigen Flüchtlingen öfter mal wegzuschauen und damit gegen die International Convention for the Safety of Life at Sea zu verstoßen. Schon 2015 veröffentliche laut Pro-Autorin Caterina Lobenstein der Verband deutscher Reeder einen Hilferuf, in dem er warnte, die Seeleute seien für die Flüchtlingsaufnahme „nicht trainiert“, und mehr staatliche Rettungsschiffe forderte. Doch die EU fuhr die Seenotrettung zurück, und die Mittelmeeranrainer verweigerten in den Häfen den Landgang von Flüchtlingen. Zehntausende ertranken, und es wären noch viel mehr gewesen, hätten nicht die „privaten“ NGOs eingegriffen. Nun wurde auf Betreiben Italiens auch noch die EU-Rettungsmission Sophia gestoppt.


Die besorgten Bürger, die zu diesem absurden Zeitpunkt die „Verstaatlichung“ der Seenotrettung fordert, gehören in der Regel zu jenem Teil der Gesellschaft, der die Privatisierung des Gesundheitssystems, der sozialen Dienste, am besten der gesamten Infrastruktur propagiert. Sie scheinen dem neoliberalen Credo Die Gewinne der Wirtschaft, die Bedürftigen und Leichen dem Staat zu folgen. In der Zeit-Redaktion scheint diese Maxime mehrheitsfähig zu sein.


Der eigentliche journalistische Sündenfall besteht nicht darin, eine üble Polemik zu einem traurigen Thema veröffentlicht zu haben (was notfalls mit dem Gebot der Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden könnte), er offenbart sich vielmehr in deren inhaltlicher Verteidigung und euphemistischer Relativierung durch die Chefredaktion.

07/2018

Dazu auch:

Lechts und rinks im Archiv dieser Rubrik  

 

 

 

 

Sisyphos hat Ruhe

Zum Tod Hermann Glasers


Gleich mehrere Freunde haben mich informiert, dass Hermann Glaser am Montag der vergangenen Woche gestorben ist. Die Nachricht erreichte mich im spanischen Nordwesten, in Galicien, wo ich derzeit unterwegs bin. Eigentlich musste man aufgrund seines Alters und seines  Gesundheitszustands mit dem Schlimmsten rechnen, aber man hat wegen seiner rastlosen Tätigkeit und seines wachen Geistes eigentlich nie damit gerechnet. Einige Sätze, kein Porträt und keine umfassende Würdigung, sondern Skizzen und Facetten aus der persönlichen Begegnung möchte ich zum Bild einer außergewöhnlichen Persönlichkeit beisteuern – auch um die eigene Trauer nicht zu isolierter Verbitterung werden zu lassen.


Über seine Verdienste als Nürnberger Kulturreferent, als Professor und Dozent an verschiedenen Hochschulen, Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der deutschen Kultur und des deutschen Ungeistes (genannt sei nur sein aufsehenerregendes Werk „Spießer-Ideologie“), führendes Mitglied des PEN-Clubs und vor allem als Vater und Vordenker der Soziokultur, jenes kulturpolitischen Ansatzes, der die Aufklärung und die Bildungsvielfalt in die Stadtviertel einsickern lassen, sie den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung nahebringen wollte, wird in den deutschen Medien genug zu lesen und zu hören sein. Hoffentlich wird auch sein Kampf um eine fundamentale Aufarbeitung der braunen Ära in einer noch jungen Bundesrepublik, die allzu viele Mumien und Relikte aus dieser Zeit hegte und pflegte, angemessen gewürdigt. Ich vermute aber, dass selbst Politiker aus der Union, die ihn einst erbittert bekämpften, und aus der SPD, „seiner“ Partei, von der er sich am Schluss recht enttäuscht zeigte, ihn nach Kräften lobpreisen werden. Also will ich mich lieber mit dem Menschen in seinem geistigen Unruhestand beschäftigen, so wie ich ihn spät kennen und schätzen gelernt habe.


Über mehrere Jahrzehnte hinweg gab es (eher zufällige) Überschneidungen seines kulturpolitischen Wirkens und meiner Tätigkeiten (die Kulturläden, das Nürnberger KOMM, das Stadtmagazin Plärrer, für das wir – allerdings in unterschiedlichen Zeiten – tätig waren), zu intensiveren persönlichen Kontakten, aber kam es erst vor fünf Jahren. Rudolf Schwinn, ein Kollege von mir in der Redaktion der längst verblichenen linken Berliner Tageszeitung Die Neue, der häufig mit Glaser korrespondierte, hatte diesen auf das Dossier Tatort Indochina auf dieser Homepage hingewiesen, da er wusste, dass der damalige Kulturreferent gemeinsam mit seiner Frau eine vietnamesische Kriegswaise adoptiert und den Krieg der USA in Südostasien verurteilt hatte. Glaser waren einige Informationen neu („Ich war erschüttert!“), und er lud mich zu einem Mittagessen in einer Nürnberger Trattoria ein. Aus diesem ersten Treffen wurde eine kleine Serie von Gesprächen, an denen meist auch Schwinn, der dann aus Bonn anreiste, teilnahm.


Im Herbst 2016 fragte mich Glaser – die Begegnungen fanden zu diesem Zeitpunkt stets in seinem Haus in Roßtal, einem Dorf zwischen Nürnberg und Ansbach statt – , ob ich nicht einen Beitrag zu der von ihm herausgegebenen Reihe Buchfranken, in der Bände über die Kunst, die Politik oder die kulturelle Ausstrahlung der Region (ohne Ausklammerung der trüben Flecken ihrer Vergangenheit) in regelmäßigen Zeitabständen veröffentlicht werden sollten, liefern könne. Mir fielen spontan die problematischen, aber auch bisweilen fruchtbaren Beziehungen Frankens zum lateinamerikanischen Subkontinent ein, auf dem ich bei ziemlich langen Aufenthalten einige lebensbestimmende Erfahrungen gemacht hatte – und so kam der Band 13 der Buchfranken-Reihe, „Ich kann nicht mehr zurück…“, zustande.


Am 9. April war ich zum letzten Mal in Roßtal. Glaser, der sich etliche Jahre bereits stark vornübergebeugt mit einem Rollator behelfen musste, kam aus eigener Kraft nicht mehr aus dem Sessel an seine Gehhilfe. Der Bewegungsradius war so stark eingeschränkt, dass er das legendäre Archiv aus dem Dachboden seines Hauses ins Erdgeschoss verfrachten ließ. Aber sein Geist war ungebrochen. Er plante bereits ein neues Projekt über die Geschichte des Nürnberger Künstlerhauses und lud mich für diesen Juli zu einem weiteren Gespräch bei Reibekuchen, den seine Pflegekraft (und Haushälterin in Personalunion) hervorragend zuzubereiten verstünde, ein.


Er sei sein ganzes Leben lang Optimist gewesen, sagte Glaser bei diesem Abschiedstreffen, in letzter Zeit aber werde er immer pessimistischer. Nun dürfte diese Stimmungslage bei vielen Menschen eintreten, die bei zunehmendem Alter die Einschränkung der physischen Belastbarkeit, eine letzte Grenze ihrer Lebensperspektive und die Verlangsamung ihres Auffassungsvermögens wahrnehmen. Bei Glaser indes war die Sache doch ein wenig anders gelagert. Zwar beklagte auch er an diesem Nachmittag ein Nachlassen seiner Erinnerungsfähigkeit, aber sein Gedächtnis war noch immer enorm, wirkte fast weltumspannend. Was ihm zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er seine Jahre  im Kampf für kulturelle Sensibilisierung, Aufklärung, für eine sozial gerechtere und humanere Welt verbracht hatte und nun registrieren musste, dass sich doch etliche gesellschaftliche Bedingungen national und global zu verschlechtern schienen. Man frage sich manchmal, wofür man gearbeitet habe, meinte er in einem seltenen Augenblick der Resignation. Zudem fehle ihm seine vor einigen Jahren verstorbene Frau sehr.


Zum Aufgeben allerdings war er nicht bereit, auch wenn ihm klar war, wie viel an Besserem, wenn es denn einträte, er nicht mehr erleben würde. Er kam auf Albert Camus zu sprechen, dessen Essay Der Mythos des Sisyphos ihm eine Art von Trost lieferte. Der antike König von Korinth hatte laut Homer die Götter herausgefordert und dem Tod getrotzt, zur Strafe musste er bis in alle Ewigkeit einen Felsblock den Berg hinauf wuchten, der dann jedes Mal kurz vor dem Gipfel wieder ins Tal zurückrollte. Einige Philosophen haben dies – wohl zutreffend – als Parabel auf die Absurdität des menschlichen Lebens gedeutet und daraus das Recht auf die Befreiung durch Selbstmord abgeleitet. Camus hingegen erklärt das Absurde, das vergebliche Bemühen, zum notwendigen Bestandteil der menschlichen Existenz, ja des Lebenssinnes: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“. An diesem Nachmittag im April stimmten wir überein, dass wir alle gleich Sisyphos das Felsstück weiter hochrollen müssten. Vielleicht gelänge es ja, irgendwo einen Pflock einzuschlagen, der verhindern könnte, dass es wieder bis ganz nach unten gelangte. In jedem Fall hätten wir es dann versucht…


An himmlische Erlösung glaubte Glaser nicht, aber als Agnostiker hielt er sich die vage Aussicht auf eine bessere diesseitige und jenseitige Welt frei. Mehrmals zitierte er Martin Luther Kings Vision von einer Gesellschaft ohne Rassenhass und soziale Diskriminierung: „I have a dream.“ Ganz ohne Hoffnung auf positive Veränderung geht es auch im auf strenge Logik getrimmten Intellektuellenhirn nicht. Nach den zwei Stunden unseres Gesprächs hatte er sich so jedenfalls selbst wieder in eine angenehmere Stimmung versetzt.


Hermann Glaser war kein Radikaler im streng politischen Sinn. Er gehörte dem (einst noch wahrnehmbaren) linken Flügel der SPD an, auch wenn er zuletzt bisweilen Unverständnis über den Weg dieser Partei äußerte. Radikal war er in seinem Humanismus und seinem Kampf für eine Bildung, die alle gesellschaftlichen Klassen wie Schichten erreicht und durchdringt. Um sich diesem Ziel zumindest nähern zu können, bediente er sich als Kulturreferent der Fähigkeiten seiner Mitarbeiter bis zu deren Belastungsgrenze. Und er benötigte ihre Kenntnisse, da nicht die Detailarbeit in der praktischen Umsetzung, sondern der große Entwurf seine Sache war. Glaser war – um es vorsichtig auszudrücken – nicht ganz uneitel, manche seiner Vorgehensweisen habe ich früher kritisiert; aber er setzte er sich rückhaltlos für progressive Ideen ein und hielt denen, die sie an der Basis erprobten und realisierten, den Rücken frei. Er war ein Bildungsbürger im besten Sinne, ein (freiwillig) in eine kulturelle Administration eingebundener Geistesriese und einer der Letzten der – aufgrund einer datengestützten Wissenspotenzierung jenseits menschlicher Maßstäbe – aussterbenden Gilde von Universalgelehrten.


Und er war rastlos, wollte bis zum Ende gestaltend auf seine Umwelt einwirkend, wie verschwindend gering die Möglichkeiten einer nachhaltigen Veränderung auch sein mochten. Es war einfach wesentliches Element seines Menschseins, den trägen Felsbrocken, ähnlich wie Sisyphos, Zentimeter für Zentimeter weiter zu bewegen. Am 28. August wäre er 90 Jahre alt geworden. 

06/2018

Lektüre zu Glaser-Projekten:

Das Wintermärchen im Archiv dieser Rubrik

Über den Atlantik in der Rubrik Eigene Schreibe           

 

 

       

 

 

Hire a Staatsdiener


Was waren wir naiv! Hatten wir doch gedacht, ein Heer von Lobbyisten belagere arme deutsche Politiker, bis diese sich ergäben und die Gesetzesvorlagen von der Wirtschaft verfassen ließen, um als Kompensation für solche Duldsamkeit ein Vorstands- oder Aufsichtsratspöstchen für später in Aussicht zu haben. Nicht, dass dies falsch wäre, doch ist die gedeihliche Kooperation mittlerweile schon so viel weiter gediehen, dass hochrangige Beamte aus Ministerien nonchalant an Konzerne ausgeliehen werden – ein interaktiver Liebesdienst, der jedem Bananenstaat gut zu Gesicht stünde.


Prosit! Zum Wohle des Volkes


„Für einen Beamten des Bundes gelten eine ganze Reihe an Maßgaben. So hat er dem ganzen Volk zu dienen, das Wohl der Allgemeinheit zu beachten und Vorbild zu sein – selbst in seiner Freizeit.“ Dies war Teil einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Schneider, Domscheidt-Berg und Ernst. Die Mitglieder der Linken-Fraktion hatten wissen wollen, warum und wie viele Bundesbeamte für Jobs in der Wirtschaft beurlaubt wurden.


Spitzenbeamte aus Bundesministerien wandern mit höchster Genehmigung für geraume Zeit in Konzerne ab – manch einer mag sich verwundert die Augen reiben ob dieser innigen Verflechtung maßgeblicher Politik mit den Wirtschaftskreisen, die das Maß vorgeben. Dass die Konzerne und Business-Verbände ihre Interessenvertreter mit imperativem Mandat in die Parlamentsbüros, Ressorts und Parteien entsenden, war man schon gewohnt, dass sich die Lobbyisten aber immer öfter den Weg sparen können, weil die Staatsdiener freiwillig (und gegen ordentliches Entgelt) in die Firmen kommen, hat noch einmal eine andere Qualität.


Im Bundestag sitzen die gewählten Vertreter des Volkes, in der Regierung wiederum dessen oberste Repräsentanten. Wenn nun die Minister jene Beamte, auf deren Erfahrungen, Sachkenntnissen und Planungen ihre Entscheidungen und Maßnahmen beruhen, an Unternehmen ausleihen, könnte sich das Volk fragen, ob seine Vertreter nicht eher den Partikularinteressen einer Branche genügen wollen als den Bedürfnissen und Wünschen der Bürger.


Die Sonderurlaubsverodnung (SUrlV) schreibt vor, dass für die Freistellung eines Bundesbeamten für eine Tätigkeit in der Wirtschaft ein wichtiger Grund vorliegen muss, und begrenzt die Ausleihe: „Für mehr als drei Monate kann Sonderurlaub nur in besonders begründeten Fällen … genehmigt werden.“


Mindestens 41 Beamte machten seit 2004 „wichtige Gründe“ geltend und wanderten für bis zu sieben Jahre in die Wirtschaft ab – mit dem Plazet der jeweiligen Regierung, die doch ein wenig Expertise und Sachverstand dringend nötig gehabt hätte. Und die Liste der statt der Volksvertreter von deren Insider-Wissen profitierenden Unternehmen liest sich wie ein Who`s Who des deutschen Konzernadels.


Gedeihlicher Austausch


Die Internet-Aktivisten von Abgeordnetenwatch haben einige der markantesten Fälle zusammengestellt:


Noch zwei Jahre lang wird ein Beamter des Bundesverkehrsministeriums beim Baukonzern Bilfinger sein Brot verdienen. Da ist es sicher nicht verkehrt, wenn der Mann sich an die in Berlin einst geplanten Projekte und Ausschreibungen für Straßen-, Brücken- oder Autobahn-Bau erinnert.

Zwei Jahre lang fungierte ein „Staatsdiener“ aus dem Wirtschaftsministerium als Leiter einer Repräsentanz in der Automobilbranche. Sicherlich waren die Verbindungen des Beamten zu Politikern und Entscheidern nicht von Schaden. Bei Siemens wiederum steht seit 2016 ein Experte aus dem Auswärtigen Amt (AA) auf der Gehaltsliste. Überhaupt scheinen AA-Mitarbeiter den Unternehmen besonders wert und teuer zu sein: Auch Daimler und die Telekom leisteten sich jeweils einen für das Sachgebiet „Internationale Beziehungen“.


Man darf davon ausgehen, dass die sonderurlaubenden Spitzenbeamten ihr Wissen und ihr Gedächtnis nicht beim Verlassen des Ministeriums an der Pforte abgeben und dass andererseits die Vorstandsetagen in der Wirtschaft nicht wegen ihrer hübschen Gesichter an ihnen interessiert sind. Die Kenntnis von regierungsinternen Vorgängen, die guten Beziehungen zu ihren gewählten und bestellten Vorgesetzten (Ministern sowie Staatssekretären) und die Erfahrung mit so manchem Hintertürchen machen sie für DAX-Konzerne so wertvoll. Umgekehrt dürften sich die Behördenflüchter, die einst geschworen hatten, dem Volk zu dienen, als kleinen Teil des Volkes verstehen, dem ein hohes Gehalt für ein paar Jahre durchaus dienlich ist. Nach dieser lukrativen Zeit können sie als U-Boote der Industrie ins jeweilige Ministerium zurückkehren und dort die kreativen Ideen ihrer zeitweiligen Gönner in die tägliche Arbeit einfließen lassen.


Am Beispiel eines für die Dienste von VW freigestellten Beamten zeigt sich, wie fadenscheinig die Genehmigungsgründe für die Beurlaubung sind und dass die Große Koalition nicht gewillt ist, dieses für die Bevölkerung nachteilige Win-Win-Verhältnis zwischen der Wirtschaft und ihren Politikern zu korrigieren.

 

Die Medien erschüttert nichts mehr

 

Die drei Abgeordneten der Linken wollten von der Bundesregierung wissen, ob es für sie eine Rolle spiele, dass ein hoher AA-Beamter (einen Namen hat er auch: Jens Hanefeld) als direkter Informant von Dr. Thomas Steg, dem Ex-Generalbevollmächtigten der VOLKSWAGEN AG (im Konzern damals zuständig für Außen- und Regierungsbeziehungen) fungiert habe, einem Mann, der im Zuge der Abgasaffäre zurücktreten musste. Die Antwort des Kabinetts klingt wirklich putzig:


Die Übernahme der Tätigkeit als Leiter Konzern Außenbeziehungen International (jetzt Leiter Internationale und Europäische Politik) durch einen Beamten des Auswärtigen Amtes ist im besonderen Interesse der Bundesregierung. Es handelt sich um eine herausgehobene Position im Bereich der Außenbeziehungen eines global tätigen deutschen Unternehmens. Diese Tätigkeit dient der Steigerung der Kompetenzen im Außenwirtschafts- und Managementbereich, der Außenwirtschaftsförderung sowie dem besseren gegenseitigen Verständnis von Wirtschaft und Bundesregierung.“


Sie haben sich ohnehin schon lieb, aber sie wollen sich noch besser verstehen, die federführende Politik  und die Chefetagen in diesem Land. Vielleicht kann der in Diplomatie und Reisetätigkeit erfahrene AA-Beamte auch einige Auslandstermine der VW AG wahrnehmen, falls deren Vorstandsmitglieder, Manager und Aufsichtsräte verhindert sein sollten, weil sie in diversen Ländern mit internationalem Haftbefehl wegen Software- und Verbrauchswerte-Manipulationen gesucht werden.


Um den Staatsdiener auf kommerziellen Abwegen von Fehltritten abzuhalten, bekam er sogar eine fürsorgliche Belehrung erteilt: „Im Vorfeld wurden mögliche Interessenskonflikte ausgeschlossen, indem der Beschäftigte über die Einhaltung seiner Verpflichtung zur Wahrung von Dienstgeheimnissen belehrt wurde.“  Na, dann ist ja alles paletti; fragt sich nur, ob er nun eher über die kriminellen Geheimnisse von VW oder über die dubiosen Machenschaften seiner Regierung Schweigen bewahren soll.


Allerdings ist kaum anzunehmen, dass den Konzernen ein neuer Mitarbeiter mit versiegelten Lippen üppige Gehälter wert ist.

Erstaunlich (oder besser: bezeichnend) ist angesichts dieser absurden Vorgänge nur das Schweigen der Medien. Zwar war die Kumpanei zwischen Ross und Reiter (oder Regierung und Wirtschaft) dem ZDF-Magazin Frontal launige zweieinhalb Minuten wert, ansonsten aber ist sie kein Thema für Presse und Rundfunk. Vielleicht halten einige Journalisten den „Austausch“ für ein systemimmanentes Übel, das keinen Kommentar mehr lohnt, während andere (möglicherweise mit BWL-Vergangenheit) den Vorrang der Konzernstrategen und deren Anspruch auf Serviceleistungen durch die Politik als völlig legitim erachten. Kann ja sein, dass es sich nur um eine skurrile Fußnote im real existierenden Kapitalismus handelt, doch sollte den Untertanen wenigstens die Möglichkeit gegeben werden, sich darüber klar zu werden.


Die neue Bundesregierung erklärte immerhin, sie sehe in puncto Beamten-Transfer keinerlei Handlungsbedarf.

05/2018

Dazu auch:            

Lobbykratie BRD im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund






Überwachungsfreistaat


Der Freistaat Bayern scheint sich vom Rest der Republik abnabeln zu wollen, zumindest was Gesetzgebung und Exekutive betrifft: Schon unter Seehofer wurde das Polizeiaufgabengesetz (PAG) geändert, jetzt sollte ein neues Psychiatriegesetz kommen, und zudem kündigt Söder die Aufstellung einer eigenen Grenzpolizei an. Bundes-, Europa- und Menschenrechte spielen bei den Bestrebungen der CSU, einen Hochsicherheitsstaat zu errichten, keine Rolle mehr. Fragt sich nur, was die Extrem-Konservativen zu dieser Kontroll- und Repressionsrallye getrieben hat.


Neue Qualität rechter Monokultur


Kein deutsches Bundesland stand nach dem Zweiten Weltkrieg je unter so rigider Kuratel einer Partei wie der Freistaat zwischen den Alpen und der Rhön. Die CSU herrschte (meist mit absoluter Mehrheit) seit 1958 in Bayern nach Belieben und dem Prinzip offener Vetternwirtschaft. Die Korruptionsfälle und kriminellen Vergehen, in die führende Christsoziale involviert waren, sind Legion. Vor allen anderen zeichnete sich der noch heute von vielen verehrte Landesvater und gescheiterte Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß dadurch aus, einen oft nicht regelkonformen Kurs zu fahren und dennoch nicht zu belangt zu werden. Ob FIBAG-, Onkel-Aloys- oder SPIEGEL-Affäre – FJS überstand mehr Skandale, betrafen sie nun unsaubere Geschäfte, Waffenschmuggel oder Vorteilsannahme, als jeder andere deutsche Politiker, und das relativ unbeschadet.


Aber auch seine Parteifreunde konnten sich diesbezüglich sehen lassen: Friedrich Zimmermann („Old Schwurhand“) wurde 1960 wegen Meineids in der Spielbankenaffäre verurteilt, ein Jahr später aber wegen eines Attests, das ihm verminderte geistige Leistungsfähigkeit wegen Unterzuckerung bescheinigte, freigesprochen. Zum Glück genas Zimmermann körperlich wie geistig so weit, dass ihn Helmut Kohl 1982 zum Bundesinnenminister berufen konnte.


Otto Wiesheu fuhr im Vollsuff einen polnischen Kleinwagenlenker tot, konnte aber nach einer gewissen Karenzzeit als Minister für Wirtschaft und Verkehr ins bayerische Kabinett resozialisiert werden. Dazu die dubiosen Geschäfte der Herren Tandler und Streibl, der anrüchige Hypo-Alpe-Adria-Deal der von schwarzen Aufsichtsräten „kontrollierten“ Bayerischen Landesbank mit dem Kärntner Rechtsextremisten Jörg Haider und immer so weiter…


Strauß behandelte die Bürger wie unmündige Kinder, die in seinem bayerischen Privatheim keinen (auswärtigen und aufmüpfigen) Schweinkram zu sehen bekommen sollten. Die bundesweite Ausstrahlung einer Tschernobyl-Satire des ihm verhassten Kabarettisten Dieter Hildebrand wollte er verhindern, indem er den damaligen Münchner Fernsehdirektor Oeller vorschickte. Als dessen Demarche scheiterte, klinkte sich der BR kurzerhand für eine halbe Stunde aus dem ARD-Gemeinschaftsprogramm aus.


Die Zeiten haben sich geändert – sogar in Bayern. Der BR ist nicht mehr ausschließlich Haussender der CSU, sendet gelegentlich Gegenpositionen zur Staatsmeinung und strahlt sogar die regimekritische Sendung quer aus. Die nicht auf Unionslinie liegenden Zeitungen im Freistaat finden auch mit kritischen Beiträgen Leser, und im Internet macht sich mit AfD und Pegida eine Bewegung breit, die das rechte Monopol der Sozialunion zu bedrohen scheint. Die beiden großen Egomanen des bayerischen Populismus, Horst Seehofer und Markus Söder, haben das zusammen mit ihrem einfacher gestrickten Erfüllungsgehilfen Joachim Hermann registriert und bereits im vorigen Jahr begonnen, sich wieder die Stammtischhoheit zu den klassisch reaktionären Themen Law and Order sowie Überfremdung zurückzuerobern.


Dabei geht die Staatspartei diskreter und subtiler als früher vor: Sie setzt ihre gesetzgeberische Potenz ein, um dem Wahlvolk absolute Sicherheit durch umfassende Kontrolle und gezielte Ausgrenzung vorgaukeln zu können.


Hermanns kleiner Polizeistaat


Als im Juli vorigen Jahres Innenminister Hermann die Änderungen des PAG durch den Landtag peitschte, war er voll des Lobes für sich selbst: „Damit ist Bayern wieder Spitzenreiter“, jubelte er und bezog sich dabei auf Polizei-Ermächtigungen, wie sie die Bundesrepublik seit ihrer Gründung noch nicht gesehen hat. So können Personen ohne konkreten Verdacht abgehört und überwacht werden – eine richterliche Anordnung, quasi ein von Polizisten erbetener Blankoscheck ohne größere Überprüfung, reicht dazu. Doch es geht noch schlimmer.


Schätzen Beamte eine Situation als „drohende Gefahr“ ein, können die von ihnen als „Gefährder“ georteten Personen für drei Monate in Polizeigewahrsam genommen werden – ohne dass ein Staatsanwalt ermittelt, ein Untersuchungsrichter prüft, ein Anwalt eingeschaltet und die Justiz überhaupt mit Recherchen behelligt wird. Nach einem Vierteljahr in der Zelle muss ein derart Beschuldigter auf den guten Willen der Ordnungshüter hoffen, weil er andernfalls weitere drei Monate ohne unabhängige juristische Untersuchung, nur nach Genehmigung durch einen oberflächlich und einseitig über den Fall informierten Richter, einsitzt. Dieses Procedere kann sich theoretisch endlos wiederholen.


Im Sommer 2017 wies diese Homepage als eines der wenigen Print- und Net-Medien auf die möglichen Folgen der Gesetzesänderung hin („Endlos wegsperren“), war aber zumindest nicht ganz allein auf weiter Flur. So nannte das personifizierte soziale Gewissen der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, in seinem ersten Leben übrigens Richter und Staatsanwalt, das neue PAG „eine Schande für den Rechtsstaat“ und präzisierte: „In Bayern gibt es künftig eine Haft, die es nirgendwo sonst in Deutschland gibt. Sie heißt hier offiziell, wie in anderen Bundesländern auch, Gewahrsam; auch Vorbeugehaft wird sie genannt. In Wahrheit ist sie Unendlichkeitshaft, sie ist eine Haft ad infinitum…“


Ansonsten aber schlummerte die Presse mehrheitlich und wachte auch nur kurz auf, als der mittlerweile auf dem Sessel des Ministerpräsidenten angekommene Machtstreber Markus Söder verkündete, Bayern werde künftig über eine eigene Grenzpolizei  verfügen. Da aber in Deutschland der Schutz der Außengrenzen Bundessache ist, kann man sich die künftigen bajuwarischen Heimatwächter nur als Gurkentruppe vorstellen, die in einer Dorfkneipe im Hinterland Schafkopf spielt, bis zufällig ein Afghane, der durch das von der Bundespolizei geknüpfte Netz geschlüpft ist, an der Tür klopft. Fazit: unsinnig, teuer, aber einem absurden Hochsicherheitsbedürfnis der Erzkonservativen und dem fanatischen Abschottungswahn der AfD-Anhänger entgegenkommend…

  

Endlich regt sich Widerstand


Erst als die Söder-Regierung ihr Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz als großen Entwurf vorstellte, wachten die Medien, die Fachkräfte und die Betroffenen beinahe gleichzeitig auf. Dabei las sich der erste Teil des neuen Psychiatriegesetzes ja noch ganz passabel, sollten doch Krisendienste für seelisch Erkrankte flächendeckend eingeführt werden. Dann aber kamen jene Inhalte, die klarmachten, dass es zuallererst um die Kontrolle und nicht etwa um das Wohl der Patienten ging, Vorgaben, die manche Beobachter an die Praxis in totalitären Staaten erinnerten.


So war eine zentrale Unterbringungsdatei vorgesehen, die fünf Jahre lang die Namen, Krankheitsbilder sowie spezielle Informationen von Menschen, die wegen Fremd- oder Eigengefährdung in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden, speichern und für Polizei- sowie Sicherheitsbehörden bereithalten sollte. Patienten, die sich nichts zuschulden haben kommen lassen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind und deshalb psychiatrische Hilfe benötigen, wären nach den Maximen des Maßregelvollzugsgesetzes für Straftäter erkennungsdienstlich behandelt worden.


Psychisch Kranke gehören zu den Schwächsten in unserer Gesellschaft. Sie fühlen sich – oft nicht zu Unrecht, manchmal aber auch aufgrund paranoider Zwangsvorstellungen – ausgestoßen und stigmatisiert. Für jenen einstigen Beamten aus Hermanns Innenministerium, der federführend an dem Gesetzesentwurf mitgewirkt hatte, war wohl von der Norm abweichendes mit kriminellem Verhalten gleichzusetzen und so bemühte er sich, den Kontrollbedürfnissen seines Ex-Chefs Genüge zu tun, und ließ die Ängste der Patienten, zumindest auf dem Papier Realität, werden.


Die öffentlichen Reaktionen darauf waren eindeutig. Die ZEIT entlarvte die im Gesetz angeführten Gründe für die Zwangseinweisung als völlig überzogen und die Unterbringungsmodalitäten als Knastregeln:


Eine Gefährdung der Allgemeinheit könne aber auch "beispielsweise bei einem Angriff auf geparkte Polizeifahrzeuge vorliegen", heißt es im Gesetzentwurf… Und das Gesetz sieht weitere Freiheitseinschränkungen für Betroffene vor: Werden die Menschen tatsächlich in der Klinik untergebracht, dann wäre es möglich, dass sie Zeitschriften oder Tonträger künftig nur noch dann besitzen dürfen, wenn sie einer Überprüfung zustimmen. Zudem lässt es das geplante Gesetz zu, Besuche einzuschränken oder nur videoüberwacht stattfinden zu lassen.


Die FAZ erinnerte gar an den großen Chronisten der Total-Entmündigung des Individuums durch Behörden:


Wo findet sich ein Franz Kafka, der diesen Entwurfstext zum neuen bayerischen Psychiatriegesetz in angemessener Beklemmung literarisieren würde? Wer schreibt die Gegen-Erzählung zu der Propaganda-Erzählung, wonach dieses Gesetzesvorhaben unter dem Namen „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“ einen „Beitrag zur Entstigmatisierung psychisch kranker Menschen“ leistet? Das krasse Gegenteil ist ja der Fall…


Die SZ wies darauf hin, dass es ohnehin derzeit in Bayern rund 60.000 Zwangseinweisungen von psychisch Erkrankten gebe – bei weitem die meisten im Vergleich zu allen anderen Bundesländern.


Der Ingolstädter Psychiater Thomas Pollmächer, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, hat eine von Kollegen verschiedener Fachverbände verfasste Stellungnahme unterzeichnet, in der es heißt, das Gesetz stelle eine „erhebliche, durch nichts zu rechtfertigende Diskriminierung der erkrankten Personen" dar. Fassungslos konstatierte er: „Eine solche Datei gibt es meines Wissens bisher nirgends.“

 

Andreas Heinz, Berliner Charité-Direktor, sagt: „Dieses Gesetz wäre ein absoluter Rückschritt. Psychisch Erkrankte werden kriminalisiert. Dabei sind das Krankheiten wie jede andere Krankheit auch. In Deutschland sind jedes Jahr rund ein Drittel der Erwachsenen von einer psychischen Störung betroffen.“ Und fast niemand werde deswegen zu einer Gefahr für die Gesellschaft. „Die meisten Gewaltdelikte verüben in Deutschland Männer unter Alkoholeinfluss. Sollen wir eine Liste von Männern anlegen, die Alkohol trinken? Das ist doch absurd.“


Unterdessen sammelte die Internet-Plattform change an die 100.000 Unterschriften gegen das Psychiatriegesetz und übergab sie den bayerischen Regierenden, die zu diesem Zeitpunkt bereits den Rückwärtsgang eingelegt hatten.


Marcus Söder vertritt und verteidigt keine Prinzipien, keine Inhalte und auch keine Projekte, er steht nur zu selbst formulierten Programmpunkten, wenn sie auch eine gewisse Zeit für seine persönliche Machterhaltung und -entfaltung opportun erscheinen. Ist dies nicht der Fall, dann lässt er routiniert zurückrudern, wobei dabei seine Hilfsmatrosen an die Riemen müssen. Während im Landtag noch Fachleute und Oppositionspolitiker den bösartigen Gesetzesentwurf zerlegten, trat er mit seiner Sozialministerin Kerstin Schreyer vor die Presse und ließ diese erklären, die Unterbringungsdatei sei vom Tisch. Lediglich ein Hintertürchen („individuelle Hinweise an die Polizei“) hielt er sich noch offen, doch steht zu erwarten, dass er auch davon abrückt, wenn Experten und Medien nur wachsam und hartnäckig genug bleiben.


Düstere Motive


Die Frage bleibt, ob die Werbung um AfD-Wähler das einzige Motiv für Söders ultrarechte Tour de Force ist. Vermutlich spielt auch die Chuzpe, sich den Freistaat nach eigenem Gutdünken zurechtlegen zu wollen, eine Rolle. Dieses machtpolitische Macho-Gehabe, das auch schon Strauß an den Tag legte, lässt an den prä- und antidemokratischen caudillismo lateinamerikanischer Prägung denken.


Den FJS-Satz, dass rechts neben ihm nur noch die Wand sein dürfe, hat Söder verinnerlicht und um eine religiöse Vignette erweitert – schließlich hat sich bei den Bundestagswahlen das erzkatholische Niederbayern als neue AfD-Hochburg entpuppt. So ordnete der Ministerpräsident an, in jeden Eingangsbereich einer bayerischen Behörde ein Kreuz hängen zu lassen. Als selbst aus den Kirchen Kritik an dieser Art von Bauernfängerei und Ausgrenzung Anders- und Nichtgläubiger kam, erklärten Seine Merkwürden, das Kreuz sei kein religiöses Symbol des Christentums, sondern „das grundlegende Symbol der kulturellen Identität christlich-abendländischer Prägung“.


Mit dieser Begründung könnte man auch das Hakenkreuz zulassen und dies damit rechtfertigen, dass es im Grunde kein nazistisches Symbol sei, sondern als indisches Glückszeichen bzw. als Siegrune für eine arische Identität stehe, die vor nicht allzu langer Zeit als von Bayern ausgehende prägende Leit(Führer)kultur eine Umstrukturierung des Abendlandes und benachbarter Weltregionen in Angriff nahm…

04/2018

Dazu auch:

Endlos wegsperren im Archiv dieser Rubrik

 

 

                                   

 


Österliche Leidkultur


Wir haben seit kurzem einen Bundesheimatminister, der die Verinnerlichung deutscher Leitkultur zur Voraussetzung für geduldetes Dasein unter unserem Himmel erhoben hat, wobei er vor allem an Flüchtlinge dachte. Entsprechungen dieses nebulösen Objekts konservativer Begierde sind dort zu finden, wo der Mensch gemeinhin Sinn und Sinnlichkeit ortet, in der Religion und in den Medien. Dass sich etwa TV-Programme und Kirchenfeste sehr wohl in einer auch Horst Seehofer wohlgefälligen Symbiose ergänzen können, hat das vergangene Wochenende bewiesen. Allerdings bedarf es der Erklärung gewisser Rituale und Symbole, auf dass auch Zugereiste das Tiefgründige des Deutschseins begreifen und adaptieren können.


Von Hasen und Folterwerkzeugen


Ostern ist überstanden, und die besinnliche Zeit nach dem übersinnlichen Religionsfest lädt zum Nachdenken über Selbiges ein. Das Christentum gehört zu Deutschland, ist mit ihm scheinbar untrennbar verbunden wie ein siamesischer Zwilling. Der Devise Ein Land, eine Religion! folgt Seehofer so konsequent, dass er von Andersgläubigen Toleranz und Akzeptanz gegenüber den süßen Geheimnissen und seltsamen Riten seines Glaubens einfordert. Natürlich ist deshalb auch Ostern in all seinen mystischen, sadomasochistischen und skurrilen Erscheinungsformen unverbrüchlicher Bestandteil seiner deutschen Leitkultur.


Aufs Innigste vermengen sich christlicher Kultus und traditionelle Bräuche zum höchsten Fest für Allesgläubige. Dominieren in der Ouvertüre am Karfreitag noch blutiger Ernst und Folterwerkzeuge (Kreuz, Dornenkrone), so wird der Auferstehung des Hingerichteten kurz danach mithilfe emsiger Hasen, die Schokoladeneier in Gebüschen verstecken, fröhlich bis ausgelassen gedacht.


Dies mag manche Nichtchristen seltsam anmuten, zumal beim vorbereitenden Abendmahl auch noch anthropophagische Rituale (Leib gleich Brot, Blut als Wein) durchschimmern, doch sei solches mit einer inneren Logik erklärt, die sich einzig dem wahren Gläubigen, nicht aber dem Heiden, Agnostiker oder Götzendiener erschließt. Dass ein Drittel der Heiligen Dreifaltigkeit erst einmal gekreuzigt werden muss, um wie Phönix aus der Asche zur Errettung der Menschheit aufzusteigen, ist eben eine absolute Wahrheit, wie sie sich einem ignoranten Muselmanen, der sich absurderweise einen Monat lang nur nachts den Bauch vollschlägt, oder einem verstockten Hindu, der sogar sein ganzes Leben lang auf saftige Rindersteaks verzichtet, nie offenbaren wird.


Daher hält Seehofer den Irrglauben der Letzteren auch nicht für kompatibel mit dem deutschen Geistesgut, das durch fromme Bigotterie gekennzeichnet ist, während die christlichen Sitten unbedingt ins Milieu passen. Wie die Medien, darunter vor allem die öffentlich-rechtlichen TV-Sender als Säulen unserer offiziösen Leitkultur, den christlichen Bildungsauftrag wahrnehmen, habe ich dem Fernsehprogramm zum gerade begangenen Osterfest entnommen.


Der Tatort als moderner Kreuzweg


Dem düster dräuenden Jerusalemer Geschehen am Karfreitag vor gut 2000 Jahren trugen ARD und ZDF mit adäquat todessüchtigen Beiträgen Rechnung: Zur besten Sendezeit, also um 20.15 Uhr, ermittelte Der Alte im Zweiten, weil ein Nachwuchsunternehmer erschossen worden war, während das ARD erst um 22.10 Uhr die dem Tag angemessene Passionsgeschichte, einen in der Mordhochburg Tirol spielenden Tatort, brachte. Fehlten nur noch Pontius Pilatus in schurkischer Nebenrolle und Veronica Ferres als leidgeprüfte Opfermutter.


Die frohe Botschaft der Auferstehung schien sich am Sonntag noch nicht bis in die Programmdirektionen herumgesprochen zu haben. Jedenfalls ging es in der ARD um 20.15 um den Mord an einer Tänzerin in einem Tatort, in dem allerdings die beiden Clowns Axel Prahl und Jan Josef Liefers für eine parodistische Note sorgten. Danach klärte eine schwedische Staatsanwältin den Mord an einer Taucherin auf. Das ZDF, das zunächst dem christlichen Realismus mit dem Traumschiff gehuldigt hatte, wich zur gleichen Zeit wie das Erste nach Schweden aus, um Mord im Mittsommer zu präsentieren.


Ein Kreuzweg hat viele Stationen, mag man sich in der ARD gedacht haben und schob am Ostermontag um 20.15 Uhr den nächsten Tatort nach, gefolgt von einer erneuten Mordgeschichte aus Schweden (das während eines deutschen Osterwochenende auszubluten drohte) und einer Krimiverfilmung nach Donna Leon. Das Zweite  hingegen wollte erst um 22.00 Uhr wieder zu ernsten Themen zurückkehren und strahlte eine weitere schwedische Mittsommer-Moritat sowie daran anschließend einen US-Actionthriller aus.


Allen Asylbewerbern und Migranten, die sich ernsthaft assimilieren wollen, sei an dieser Stelle mit Nachdruck ins Stammbuch geschrieben, dass auch Medienvielfalt zu den Bausteinen unserer Leitkultur gehört!


Viele Tote, keine Himmelfahrt


Christi Himmelfahrt steht uns noch ins Haus, aber ich möchte jetzt schon darauf wetten, dass sich dann wieder viele Mordopfer auf den Bildschirmen einfinden werden. Das ist für jeden Christen verständlich, geht doch normalerweise der Senkrechtstart der Seele erst nach dem Ableben des Körpers vor sich – wobei wir ziemlich sicher sein können, dass die Schurken, die der gerechten Strafe nicht entgehen werden, von der Aufzugfahrt ins Paradies ausgeschlossen bleiben.


Einige Generationen lang prägten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten das Bild von der Welt (bevor seit wenigen Jahren Teens und Twens zunehmend der Facebook-Häresie verfielen). Dass sich diese Kultur- und Moralinstanzen immer weiter in die von den Privatsendern dominierten Untiefen der Unterhaltung verirren, ist der Jagd nach Quoten und Werbeeinnahmen geschuldet, und der traurigen Tatsache, dass Medienschaffende und Programmdirektoren auch nicht unbedingt bessere Menschen als Politiker und Financiers sind.


Wem allerdings die deutsche Leitkultur mit ihren von Folter und Verrat geprägten Kirchenfesten, die im Fernsehen von einer Blutorgie untermalt werden, allzu gruselig erscheint, der sollte erst mal nach Schottland schauen, wo Macbeth nach Meuchelmord den Thron besteigt, sich Hexen verschwören und Wälder in kriegerischer Absicht auf den Marsch begeben. Behauptet jedenfalls Shakespeare.

04/2018

Dazu auch:           

Sport, Mord, Schnulze im Archiv dieser Rubrik         





Armutsexperten

 

Wenn einer den neuen Geist der Christunion verkörpert, der das Merkel̕ sche Phlegma austreiben soll, dann ist das Jens Spahn, der schon vor seinem Antritt als Gesundheitsminister lautstark seine rabiaten Thesen zu sozialen Streitpunkten, etwa der Flüchtlingspolitik, verkündet hat. Zwar musste er nun für die verbale Abschaffung der Armut in Deutschland teilweise harsche Kritik aus der Presse und von Betroffenen einstecken, doch verkennen die Zweifler die wahren Intentionen des rechten Hoffnungsträgers: Es geht nicht um Inhalte oder gepflegten Diskurs, Spahn will vielmehr mit brachialer Rhetorik die Felder zurückerobern, auf denen zuletzt andere viel Aufmerksamkeit und Stimmen geerntet haben.

 

Der neoliberale Altvordere

 

Nichts kennzeichnet die Bankrotterklärung der SPD, die mit dem Versprechen, die Zweiklassenmedizin abschaffen zu wollen, Wahlkampf machte, so deutlich wie die Tatsache, dass sie nun einen Wortführer der ungehemmten Bereicherung als Gesundheitsminister akzeptieren muss. Jens Spahn kennt sich aus mit dem Metier, zumindest weiß er, wie Geld aus der Unpässlichkeit seiner Mitbürger herauszuschlagen ist: Der gelernte Bankkaufmann verdiente laut Focus jahrelang „über ein diskretes Firmenkonstrukt heimlich an intensiver Lobbyarbeit für die Gesundheitsindustrie“. Damals beriet er die Pharmabranche und arbeitete praktischerweise im Gesundheitsausschuss des Bundestags an Gesetzesentwürfen mit, die für seine Kunden wichtig waren.

 

Die Medien, nach bleiernen Merkel-Jahren froh über einen nassforschen Schwadroneur mit permanentem Eklat-Potential, konzedierten dem als Hoffnungsträger der Neuen Rechten ins Kabinett berufenen Spahn beinahe gleichlautend, er sei immerhin „ein ausgewiesener Gesundheitsexperte“. Ist nach den Kriterien der allmächtigen Wirtschaft ja auch nicht ganz falsch…

 

Auf diesem Gebiet profilierte sich Jens Spahn also als „progressiver“ Neoliberaler, der die Gesetze des freien Marktes bereits erfolgreich für sich selbst durchprobiert hat. Bei einem anderen Thema gibt er sich hingegen als Altvorderer, der die Ängste und Ressentiments einer national-traditionalistischen Bevölkerungsgruppe in ansprechender Verpackung und in bester Gesellschaft schürt. Der als „renommiert“ verschriene Herder Verlag führt ihn als Herausgeber des Kompendiums „Ins Offene. Deutschland, Europa und – die Flüchtlinge. Die Debatte“, in der die Creme de la Creme der Leitkultur-Hygieniker, vom grünen Migrationsphobiker Boris Palmer bis zum schwarzen Fels in anbrandenden Flüchtlingswellen, Markus Söder, vor dem Untergang Deutschlands in der Fremdenflut warnt.

 

Und nun hat sich Jens Spahn auch noch mit dem Phänomen Armut beschäftigt. Nicht weil er sich ernsthaft dafür interessiert oder die Bedürftigkeit gar bekämpfen will (schließlich gibt es sie seiner Meinung nach hierzulande ja gar nicht), sondern um Aufmerksamkeit zu erregen, publikumswirksam zu provozieren – und weil das Thema in sein Kalkül passt, in mehreren von anderen beanspruchten Gehegen gleichzeitig zu wildern.

 

Spahns Relativitätstheorie

 

Es waren kurze Sätze, die niemanden geistig überforderten und keine störende Empathie erkennen ließen, mit denen es Jens Spahn neuerlich in die Schlagzeilen schaffte. Als bundesweit die Diskussion hochkochte, ob die Essener Tafel bedürftige Ausländer zu Gunsten unterprivilegierter Deutscher von der Nahrungsmittelvergabe ausschließen und mithin auch im Elendsspektrum ein ordentliches Klassensystem installieren dürfe, beschied der Shooting Star der marktkonformen Bereicherungsideolgie lapidar: „Niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe.“ Schließlich habe Deutschland  „eines der besten Sozialsysteme der Welt“. Dank Hartz IV, dieser großherzigen Gabe des Staates von Schröders und Steinmeiers Gnaden habe „jeder das, was er zum Leben braucht“.

 

Armut und Elend? Das sind für Spahn Bilder afrikanischer Kinder mit von Hungerödemen angeschwollenen Bäuchen, vielleicht noch welche von mangelernährten Haitianern oder bis zum Skelett abgemagerten Tagelöhnern in irgendeiner tropischen Steppenlandschaft. Und solche Bilder werden Sie in Deutschland nicht finden, da hat der neue Sozialexperte der CDU ganz recht, zumal er auch noch die von Auszehrung Bedrohten von unseren Grenzen fernhalten will. Auch ohne Tafel dürfte selbst im gebeutelten Ruhrpott niemand verhungern. Die augenfällige Logik der Spahn-Äußerungen führte dazu, dass ihm die üblichen Verdächtigen beisprangen und einige Journalisten sich ernsthaft mit einem Ballon voll heißer Luft beschäftigten.

 

Steffen Kampeter, Chef der Arbeitgeberverbände und von da her der Bescheidenheit der unteren Klassen verpflichtet, gelang ein besonders schöner Satz der Zustimmung: „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf drohende Armut und aktive Armutsverhinderung.“ Armut bedeutet demnach ganz einfach nichts zu fressen, und die bis zur Selbstaufgabe solidarischen Unternehmer antworten darauf mit Schröder-Almosen. Hartz IV könnte in der verunglückten Semantik allerdings auch als entschlossene Antwort auf aktive Armutsverhinderung verstanden werden. Je länger wir darüber nachdenken, desto wahrscheinlicher erscheint uns diese Version.

 

Zwei Kollegen von der schreibenden Zunft haben sich auch alle Mühe gegeben, etwas Positives in Spahns Statements auszugraben – und sie sind fündig geworden: Im Berliner Tagesspiegel schreibt Gerd Nowakowski: „Dabei ist der in Deutschland geltende Armutsbegriff fragwürdig – wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, gilt als arm. Je mehr der Wohlstand zunimmt, je mehr die Wirtschaft boomt und die Arbeitslosigkeit sinkt, umso größer wird absurderweise die Zahl der Armen.“ Und auch Walter Wüllenweber vom Stern hat die Rabulistik des verbalradikalen CDU-Rechtsaußen ernstgenommen: „Zuerst mal eine gute Nachricht: Noch nie waren die Armen in Deutschland so reich wie heute. Klingt zynisch, ist aber die Wahrheit.“ Klingt nicht nur zynisch, ist es auch, und dazu eine sehr selektive Wahrheit.

 

Tatsächlich gibt es in unserem Land keine relevante Armut mehr, wenn man die Lebenssituation in Europa in Beziehung zu Hungerkatastrophen in der Sahelzone setzt oder die Not in Deutschland am Elend syrischer Kriegsopfer misst. Doch früh haben wir gelernt, dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen soll und dass die nach dem Eriwan-Prinzip negierte Bedürftigkeit gleichwohl existiert und Schicksale prägt. Jens Spahn hat eine dilettantische Relativitätstheorie entworfen, mit deren Hilfe er prekäre Verhältnisse in seiner Umgebung gegen die Todesnähe in der Dritten Welt aufwiegen und für zu irrelevant befinden kann. Er spielt mit Zeit und Ort, sucht sich die Achsen seines Koordinatensystems zusammen, wie und wo er sie opportun findet – und wohlmeinende Journalisten folgen dieser Schmalspuranalyse.

 

Sicherlich lässt sich auch mit Hartz IV über die Runden kommen (übrigens eine prächtige Metapher aus dem Sport, geht es doch um einen Boxer, der ohne Siegeschance dem Schlussgong entgegen taumelt), fragt sich nur, in welcher Lebensqualität und für welchen Zeitraum. Auf einer Kampagnen-Plattform forderte eine Empfängerin von Grundsicherung Jens Spahn auf: „Zeigen Sie uns für nur einen Monat, wie Sie auf Basis des Hartz IV-Grundregelsatzes Ihren Alltag meistern.“ Auch die Frau, die glaubhaft beschreibt, wie schwer es fällt, mit 416 € ein nur halbwegs erfülltes Leben zu führen, hat Spahns eigentliche Motive nicht wirklich verstanden. Der 37-jährige Senkrechtstarter würde ihr vielleicht sogar demonstrieren, wie gut er mit dem Hartz IV-Satz zurechtkäme – vorausgesetzt, eine Big-Brother-Kamera wäre immer dabei und nach 30 Tagen hätte der Spuk ein Ende.

 

Das Entsetzliche an der Armut in Deutschland ist nämlich, dass sie nicht befristet ist, sondern andauert, oft ein ganzes Leben lang, nicht selten bis in die nächsten Generationen hinein. Kinder wachsen ohne Perspektive auf, weil sich unser Schulsystem als sozial undurchlässig erweist und ihre Eltern die anfängliche Scham, die in unserer Status-Gesellschaft obligatorisch für Unterprivilegierte zu sein hat, aus Gründen des Selbstschutzes in Gleichgültigkeit umwandeln. Von sinnesbenebelnder Werbung angestachelt, suchen Klein und Groß nach der schnellen Wunsch- und Bedürfnisbefriedigung, in Ein-Euro-Shops, Reality-TV und Fastfood-Restaurants. Ein die Sinne und den Geist forderndes Vergnügen, ein nachhaltiges, die Intelligenz anregendes Angebot, Qualität statt Schrott im Warenerwerb werden viele junge Menschen nie kennenlernen. Stattdessen gerät auch der Alltag prekär: Kaputt gehen im Haushalt oder an der Kleidung darf nichts, Kosten, etwa für Reparaturen oder gar Modernisierungen, sollten tunlichst nirgendwo anfallen. Man hat zu funktionieren, permanent an der Kante zu leben, denn bei psychischem Versagen ist keine adäquate externe Hilfe in Sicht.

 

Nicht Hunger ist das Charakteristikum der Armut hierzulande, sondern Ausweglosigkeit, nicht absolutes Elend kennzeichnet die deutsche Misere, sondern latenter Mangel an Möglichkeiten, der sich von den Eltern auf die Kinder vererbt. Das wissen die Journalisten, die sich derzeit als Interpreten eines politischen Parvenüs missbrauchen lassen, das weiß natürlich auch Jens Spahn selbst. Man mag ihm Herzenskälte und ein armseliges Verantwortungsgefühl attestieren, das Geschick, seinen rücksichtslosen Ehrgeiz in publikumswirksame Action umzusetzen, kann ihm niemand absprechen.   

  

Das Kampfschwein der Politik

    

Einst stand bei Schalke 04 ein belgischer Kicker unter Vertrag, der sich selbst ob seiner rustikalen Spielweise als „Kampfschwein“ bezeichnete. Marc Wilmotz war kein übler Kerl, er zeigte Teamgeist, wurde zunächst als Spieler, später als Trainer in die Nationalmannschaft seines Landes berufen. In seiner Zeit als Aktiver war er dafür bekannt, überall aufzutauchen, wo es auf dem Platz brannte, und im Notfall den Fight gegen den gesamten gegnerischen Angriff aufnehmen zu können.

 

Jens Spahn besitzt vielleicht nicht die kämpferische Härte eines Marc Wilmotz, er ist kaum teamfähig, und noch zeugen seine Ambitionen lediglich von Größenwahn, weil die Erfolge auf sich warten lassen. Jetzt aber hat auch er eine brachiale Doppelrolle im Kampf um die politische Repräsentanz in seiner Partei und in unserer Republik gefunden: Er hackt auf die ärmsten Deutschen ein und sichert sich die Unterstützung der Arbeitgeber und Besserverdienenden. Dann tritt er nach den Schwächsten von allen, den Flüchtlingen, und heimst damit das Lob der armen Deutschen ein.

 

Auf ein skrupelloses Kampfschwein mit solchen Qualitäten hat die Union lange warten müssen. Nun ist die Stimmenjagd eröffnet auf das Niederwild der AfD und die kapitalen Böcke der FDP.

03/2018

Dazu auch:

Die Paten der AfD im Archiv dieser Rubrik 

 

 

                         

               

Öffentliches Ärgernis

 

Was haben wir uns nicht schon lautstark geärgert über seichteste Unterhaltung, oberflächliche News-Sendungen, endlose Werbeblöcke (trotz Gebührenfinanzierung) oder devote Annäherungen an Polit-Alphatiere. Nein, der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird dem eigenen Informations- und Kulturauftrag zu selten gerecht, imitiert bei der Jagd nach der Quote allzu oft die Privatsender und verzichtet meist geflissentlich auf die Hintergrundausleuchtung staatlichen Handelns. Und doch werden wir bald ARD und ZDF gegen den Zugriff des freien Markteswie er in anderen europäischen Ländern bereits in seiner gierigen Konsequenz zu beobachten ist, verteidigen müssen.

 

Keinen Franken für Kritik

 

Oh glückliche Schweiz, andere müssen Politik machen, du machst Geschäfte! In der Tat haust die Eidgenossenschaft in einem selbstgezimmerten Nirwana abseits der Weltprobleme: Jeder hat vom Wohlstand der Alpenrepublik gehört, kaum einer kennt die Staatsräte in der Bundesregierung, keinem jenseits von Bodensee und Gotthardtunnel fällt auf, dass die von dem rechtsradikalen Milliardär Christoph Blocher gegründete SVP die stärkste Partei der Schweiz geworden ist. Die Helvetier arbeiten tüchtig, verdienen viel, und sie werden allenfalls wegen skurril anmutender  Volksentscheide mit erzreaktionären Ergebnissen, die etwa zum Minarettbauverbot oder zur Migranten-Ausschaffung (gnadenlosen Abschiebung) führten, belächelt. Doch was so putzig anmutet, trägt den Keim von nationalistischer Hybris und Fremdenhass in sich.

 

Am nächsten Sonntag stimmen die Eidgenossen wieder einmal ab. Diesmal geht es um die Abschaffung der Rundfunkgebühren – und im Grunde um die Zukunft der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) und damit der öffentlich-rechtlichen Sender. Das Instrument des nationalen Plebiszits, einst als Musterbeispiel für Basisdemokratie gefeiert, wurde in den Händen geschickter Manipulatoren längst zum Skalpell für die Amputation kultureller, alternativer und kritischer „Auswüchse“ in der Gesellschaft. Die (partiell vorhandene) Freiheit der Information hat den spezifischen Interessen freier Unternehmer zu weichen.

 

Die Rundfunkgebühren von 365 Franken im Jahr scheinen für die neben den Norwegern wohlhabendsten Bürger Europas keine unzumutbare Bürde, zumal die SRG eine recht ambitionierte Flächenversorgung mit sieben TV- und siebzehn Radioprogrammen vorhält und in allen vier Landessprachen sendet. Damit ist die öffentlich-rechtliche Anstalt bei allen Symptomen von Bürokratismus und Unbeweglichkeit das einzige ernstzunehmende mediale Gegengewicht zu einer inhaltlich radikal ausgedünnten Presselandschaft, in nur noch drei Verlage den wichtigsten (Deutschschweizer) Markt kontrollieren. Der regen kreativen Szene in der Schweiz (international erstklassig, vor allem was Bühne, Literatur und Bildende Kunst angeht) drohte die Bedeutungslosigkeit, würde die verpflichtende Kulturförderung durch SRG wegfallen.

 

Gegenüber den Nürnberger Nachrichten gab der Schriftsteller und Dramatiker Guy Krneta zu bedenken, dass kein Schweizer Film ohne Unterstützung des (öffentlich-rechtlichen) Fernsehens gedreht werden könne. Sollte der Vorstoß der Gebührengegner Erfolg haben, werde der milliardenschwere Rechtsaußen Christoph Blocher „umgehend Riesensummen in eigene Fernsehsender investieren… Es käme zu einer Machtkonzentration und einem Meinungsmonopol.“ Und das unter der Führung eines bedenkenlosen Populisten, dessen SVP-Fußvolk bereits Herausragendes in Sachen Entsolidarisierung geleistet hat, indem es beispielsweise Ausländer als Schmarotzer und behinderte Menschen als nutzlose Sozialrentner diffamierte.

 

Am 4. März wird eine enge Entscheidung an den Urnen erwartet, erwartungsfroh beäugt von Blochers Geistesbrüdern in Österreich und den Kräften in der Bundesrepublik, die ein kritisches Medienkorrektiv und intellektuelle Vielfalt für überflüssig, ja ihren Intentionen zuwiderlaufend halten.

 

FPÖ und AfD auf schauen auf Bern

 

„Unfair ist, dass der ORF mit Zwangsgebühren finanziert wird, aber der Anteil österreichischer Film- und Musikproduktionen im Programm verschwindend gering ist.“ Dies ist kein Lamento des Interessenverbands der Schrammelmusiker in Austria wegen Vernachlässigung durch den Staatssender, sondern Teil des Wahlkampfprogramms der FPÖ, und dieses unterschwellige Hört euch und seht euch nichts bei Ausländern an! kursierte nicht nur als Chauvi-Meinung in den Schmuddelnischen einer rechtsradikalen Partei, es floss vielmehr sogar in die Koalitionsvereinbarungen mit Sebastian Kurz` One-Man-Show Neue Volkspartei (früher ÖVP) ein.

 

Treibende Kraft bei der drohenden Medienregulation aber sind weiterhin die Freiheitlichen mit dem Neonazi-Freund Heinz-Christian Strache an der Spitze. Im Koalitionsprogramm liest sich das dann so: „Neben österreichischen Inhalten sind auch die Leistungen österreichischer Künstler, Sportler und Produzenten für die nachhaltige Identitätssicherung entsprechend im öffentlich-rechtlichen Auftrag als Schwerpunkt zu verankern…“ Austria First!

 

Man hört und sieht also in Zukunft Österreichisch, und zwar am besten ausschließlich. Da in Wien der Zugriff der Parteien auf den Stiftungsrat, der den ORF kontrolliert, noch weitaus ungehemmter erfolgen kann als beim deutschen Pendant und die beiden sauberen Koalitionspartner über zwei Drittel der Sitze in dem Gremium verfügen werden, ist ein radikaler Umbau (Rückbau) des öffentlich-rechtlichen Senders abzusehen. Doch damit will sich die FPÖ nicht zufriedengeben, sie bevorzugt private Medienunternehmer mit der ihr genehmen Sicht auf die Dinge und jener Chuzpe, die schon Trump beim Dirty Dancing mit den Fakten populär gemacht hat. Also wartet Strache gespannt  auf das Ergebnis des Schweizer Volksentscheides. Sollte der gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausfallen, wird die FPÖ auch für Austria eine Abschaffung der „Zwangsgebühr“ in die Wege leiten und damit den ORF dazu zwingen, sich in die traurige Gilde der zweitrangigen Kommerz-Sender einzureihen, wenn er irgendwie überleben will. Selbst das sonst der Privatwirtschaft durchaus zugeneigte Düsseldorfer Handelsblatt bangt: „Die Folgen für die Demokratie in Österreich wären unabsehbar.“

 

In Deutschland wiederum wartet die AfD auf solche Initiativen ihrer österreichischen Schwesterpartei FPÖ. Sie hat sich schon längst gegen die Öffentlich-Rechtlichen positioniert und hofft nun, dass ihr die Tabula rasa in Wien Partner aus anderen Parteien zutreibt. Schon hat sich die lame duck der CSU, Horst Seehofer, sekundiert von Christian Lindner, dem Kümmerer der Profithaie, für die Zusammenlegung von ARD und ZDF ausgesprochen, ganz so, als gäbe es schon zu viel Qualitätsfernsehen in Deutschland. Wer so weit geht, ist sehr nahe an der rechten Wunschvorstellung, endlich mit eisernem Besen die ganze intellektuelle und parteienkritische Mischpoke aus dem Fokus medialer Aufmerksamkeit zu fegen.


Was wir verlieren würden

 

Auf den ersten Blick lässt sich gar nicht so gründlich erfassen, was wir hierzulande bei einem Ende der Öffentlich-Rechtlichen missen würden: Sicherlich nicht Helene Fischer und Florian Silbereisen, ebenso wenig gefühlige Plattitüden vom Schlag des „Traumschiffs“ oder „Bergdoktors“; auch auf den sonntäglichen Presseclub, fast ausschließlich von Journalisten, deren neoliberales Weltbild über alle Zweifel erhaben ist, bestritten, könnte man getrost verzichten, desgleichen auf permanente Dauermordserien wie Tatort & Co., und selbst eingefleischte Sportfans finden die teuer erkaufte Fußball-Dauerberieselung langsam enervierend. Kein Zweifel, ARD und ZDF haben mit dafür gesorgt, dass Unterhaltung in Deutschland zum Schimpfwort verkommen ist.

 

Aber es gibt gerade im non-private TV eben doch noch die hintergründigen, unkonventionellen Reportagen, das erhellende Politkabarett, die interessanten Dokumentationen und das eine oder andere Magazin, das sich an heiße Themen wagt – sicherlich zu dürftig gestreut im Oberflächen-Mainstream und zu häufig auf unattraktive Sendeplätze verschoben. Aber ohne „Die Anstalt“, „quer“ im BR, Berichte über verschämte deutsche Waffenexporte, Features über die US-Kriegsverbrechen in Indochina oder anspruchsvolle Künstlerporträts in ARTE, Chaussys hartnäckige Recherchen zum Oktoberfest-Attentat und noch einiges mehr wären wir ganz einfach weniger - oder viel staatstragender - informiert.

 

Fazit eines skeptischen Beobachters:  Es ist nicht sonderlich gut bestellt um die Qualität der öffentlich-rechtlichen Sender, aber ohne diese sähe es noch viel düsterer in der deutschen Medienlandschaft aus. Also zahlen wir lieber seufzend…

02/2018

Dazu auch:

Gefährder aus Austria und Schweizer Braun im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

 

 



Üble Deals mit Kalkül


Pflichtschuldig und mit kritischer Distanz berichteten die Qualitätsmedien hierzulande immer mal wieder über die Rolle der Bundesrepublik im Waffenhandel, insbesondere auch über die Exporte in Krisengebiete. Vor allem die öffentlich-rechtlichen TV-Sender brachten gut recherchierte Beiträge, die enormen Unmut hätten erregen können – wären sie nicht meist zu arg später Stunde ausgestrahlt worden. Unverblümt wurden der Bundesregierung doppelte Moral, Duldsamkeit gegenüber der Rüstungsindustrie oder zumindest grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen, nur einen Schluss mochte kein Kommentator ziehen: dass nämlich die deutsche Präsenz qua Kriegsmaterial auf den Schlachtfeldern der Erde durchaus in die neue expansive Militärstrategie Berlins passt…


Gabriel, der tödliche Clown


Am 25. Januar eröffnete der kommissarische Außenminister Sigmar Gabriel die heiße Phase des diesjährigen Karnevals mit einer krachenden Pointe: Es sei bei Rüstungsexporten „für die Bundesregierung klar, dass wir nicht in Spannungsgebiete liefern dürfen und dies auch nicht tun werden.“ Der dreifache Tusch für den gelungenen Büttenscherz war noch nicht verklungen, als Konzern-CEOs und um die Arbeitsplätze in der Todesindustrie besorgte IG-Metall-Funktionäre bereits an den Fingern einer Hand zu eruieren begannen, wohin alle die schönen Panzer, Haubitzen, Kurzstreckenraketen und Schnellfeuergewehre dann überhaupt noch zu verkaufen seien, und dabei nur noch auf ein paar notorisch friedfertige Kleinstaaten wie Island, Malta oder Samoa stießen.


Spaß beiseite: Die Großaktionäre, Inhaber und Manager von Rheinmetall, Airbus Group oder Heckler & Koch werden die Nachricht von der rigorosen Ausfuhrbeschränkung dennoch nicht sonderlich besorgt aufgenommen haben, ist ihnen doch die vollmundige Ankündigung des damaligen Wirtschaftsministers Gabriel vom Herbst 2013, deutsche Waffenexporte drastisch beschränken zu wollen, noch in lebhafter Erinnerung – und auch in angenehmer, wie sich allerdings erst im nachhinein herausstellte. Gerade unter der Ägide des umtriebigen Genossen waren nämlich die besonders kritischen Ausfuhren in Länder außerhalb von NATO und EU bis 2017 um satte 48 Prozent gestiegen. Und so erhielten Gottesstaaten wie Saudi-Arabien und Militärdiktaturen wie Ägypten Vernichtungsinstrumente en masse, um nach Herzenslust auf fremdem Territorium, etwa im Jemen, massakrieren oder zu Hause Krieg gegen die eigene Bevölkerung führen zu können.


Dass Gabriel keinerlei Skrupel hat, den Ruf Deutschlands als besonders kulanter Lieferant in Kriegs- und Unruhegebiete zu festigen, bewies vor wenigen Wochen sein Angebot an den NATO-Partner in Ankara, die im türkisch-kurdischen Hinterland bereits erfolgreich, d. h. verheerend, eingesetzten Leopard 2A4-Panzer nachzurüsten. Erst nach dem von Erdoğan befohlenen Überfall auf syrische Gebiete ruderte der Lobbyist im Ministerrang zurück und erklärte, die Entscheidung bleibe der künftigen Regierung vorbehalten. Was die bisherigen umsatzsteigernden Genehmigungen von Waffenexporten in Kriegsgebiete betrifft, verschanzte sich Gabriel stets hinter der Behauptung, ihm seien die Hände gebunden, da das Vorgänger-Kabinett aus Union und FDP diese Entscheidungen getroffen habe.


Und die Medien kolportieren dies, glossieren es bisweilen süffisant, kritisieren es auch mal in moralischem Unterton oder zeigen gar Verständnis für solche Ausflüchte. Kein Wort darüber, dass vormals gegen deutsches Recht verstoßen worden war, dass dieses illegale Handeln nicht gestoppt, sondern fortgeführt wurde und dass nicht die Erfüllung von Lieferverträgen, sondern die Ahndung eines Verbrechens der Vorgängerregierung geboten gewesen wäre. Im Paragraphen 6 des Kriegswaffenkontrollgesetz heißt es nämlich:


(3) Die Genehmigung ist zu versagen, wenn

1.    die Gefahr besteht, daß die Kriegswaffen bei einer

      friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg,

      verwendet werden,

2.    Grund zu der Annahme besteht, daß die Erteilung der Genehmigung

      völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder

      deren Erfüllung gefährden würde, …

 

Das eine oder das andere (meistens aber beide) dieser im Gesetz angeführten Ausschlusskriterien liegt bei den Ausfuhren deutscher Kriegswaffen in gewisse Länder des Nahen und Mittleren Ostens oder Nordafrikas zweifelsfrei vor. Die Bundesrepublik bricht folglich ihre eigenen Gesetze, um der Rüstungsindustrie Geschäfte zu sichern. Doch die Regierungsverantwortlichen in Berlin fungieren nicht nur als Wegbereiter für die Konzerne, sie wollen auch im Rahmen einer neuen Militärstrategie vor Ort sein und mitschießen (lassen).

  

Wo mitmischen, wen ausrüsten?


Es ist ja nicht erst seit gestern so, dass Berlin (und früher Bonn) die Menschenrechte den Sonntagspredigern überließ und nach Kräften allerlei Despoten förderte, wenn diese auf der richtigen Seite standen, oder sich in Konflikte einmischte, diese gar befeuerte, wenn es in das Szenarium zart sprießender Großmachtphantasien passte. Während der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Helmut Schmidt wurden Elite-Soldaten aus Guatemala, wo gerade die grausamste Militärdiktatur Lateinamerikas wütete, von der Bundeswehr ausgebildet. Und die staatlichen Stellen in der Bonner Republik erlaubten dem Pharmakonzern Boehringer den Verkauf des Entlaubungsmittels Agent Orange, das die US-Streitkräfte in Vietnam als chemischen Kampfstoff einsetzten und das noch ein halbes Jahrhundert später für Totgeburten und Missbildungen bei Säuglingen sorgt.


Doch solche völkerrechtswidrigen Kriegsbeteiligungen geschahen damals im Schlepptau der US-Politik und galten im Kalten Krieg als lässliche Sünden. Der vermeintlichen Eingriffs- und Umgestaltungsmöglichkeiten in Europa und der Welt wurden sich die deutschen Regierungen erst nach der Wiedervereinigung bewusst und begannen sie in typisch teutonischer Hybris sogleich auszuloten: auf die diplomatische Tour unter Kohl und Genscher, als Jugoslawien systematisch destabilisiert wurde; mit militärischer Gewalt, als Schröder und Fischer zusammen mit anderen NATO-Staaten einen Angriffskrieg gegen Serbien entfesselten.


Von da an war die Bundesrepublik in vielen Krisengebieten aktiv, manchmal als alliierte Kraft, bisweilen auf eigene Rechnung, meistens jedoch mit negativem Ergebnis (für die jeweilige Weltregion), aber ansehnlichen Gewinnen (für die heimische Rüstungskonzerne). Und die Verantwortlichen in Berlin beschränkten sich keineswegs darauf, nur als Erfüllungsgehilfen der Vernichtungsindustrie tätig zu werden, sie kurbelten die Geschäfte durchaus auch an, wenn es galt, befreundete Diktatoren bei Laune zu halten. Das konnte schiefgehen, wie im Falle Saddam Husseins, der von der NATO gegen den Iran aufgerüstet worden war, das mochte sogar deutsche Opfer fordern, wie in Afghanistan, wo nun Soldaten u. a. aus der EU und den USA einen aussichtslosen Kampf gegen jene Kräfte führen, die einst von ihnen rekrutiert worden waren, das verlief häufig aber auch profitträchtig und weitgehend geräuschlos, wie im Fall der Golf-Monarchien oder der Türkei.


Der Devise folgend, dass auch Schurken angenehme Partner sein können, wenn sie dem eigenen Einfluss und der deutschen Wirtschaft nützen, nahm Wirtschaftsminister Gabriel Manager und Lobbyisten der Rüstungsindustrie zu offiziellen Besuchen in Riad oder Kairo mit. Die Affinität der Händler des Todes zu den Spitzenpolitikern in Berlin ist kein Fall von Schmarotzertum, sondern Ausdruck einer Symbiose aus Gewinnmaximierung und politisch-militärischem Machtstreben.


Derzeit ist dieses harmonische Verhältnis ein wenig in Misskredit geraten, auch wenn die Turbulenzen nicht lange anhalten werden. Gleich zwei unglückliche Umstände werfen ein allzu grelles Licht auf das deutsche Exportgebaren: Leopardpanzer aus den Beständen der Bundeswehr walzen in Syrien gerade die Orte und Stellungen der kurdischen YPG, die von der NATO noch vor kurzem als Bündnispartner gegen den IS benötigt worden war, nieder, und im zurzeit weltweit opferreichsten Krieg wird die jemenitische Bevölkerung mit Hilfe von Sturmgewehren, Patrouillenbooten oder Munition made in Germany gejagt, ausgehungert und dezimiert.


Zu allem Unglück stehen sich nun auch die drei arabischen Feudalstaaten, die vorrangig mit militärischen Gaben aus deutscher Fertigung beglückt worden waren (schließlich sind sie auch Großinvestoren und Anteilseigner deutscher Konzerne) Gewehr bei Fuß gegenüber: Die Saudis drohen zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) dem aufsässigen Quatar, das für ihren Geschmack zu milde gegenüber dem Iran agiert. Und nun unterstützen die eigentlich im Jemen zur Völkermord-Allianz mit Riad zählenden VAE plötzlich die Separatisten im Süden des gebeutelten Landes, erklärte Feinde der wahhabitischen Hüter heiliger Stätten wie Mekka und Medina.


Angesichts solch undurchsichtigen Schlamassels tritt die Bundesregierung (vorerst) von Ausfuhrbewilligungen für Tötungsinstrumente (von denen einige allerdings längst in Saudi-Arabien und der Türkei unter deutscher Lizenz produziert werden) an die Kriegsherren zurück. Die Öffentlichkeit wird sich schon beruhigen, und dann kann man ja wieder zum lukrativen business as usual zurückkehren.

          

Auflisten, den Kopf schütteln, abhaken


Man kann den hiesigen Medien nicht unterstellen, die menschenfeindlichen Geschäfte totgeschwiegen zu haben (wenn auch die Infos darüber ein wenig spät kamen); was aber den Anspruch der Presse, als Kontrollinstanz der Mächtigen aufzutreten, obsolet macht, ist die Unfähigkeit (oder das Desinteresse) der Journalisten, Skrupellosigkeit und Zynismus deutscher Regierungen beim Schüren oder zumindest Nähren gefährlicher Konflikte als Merkmale systemischen Handelns (und nicht als gelegentliche moralische Fauxpas) darzustellen, respektive zum aktuellen und schnell wieder vergessenen Eklat den beängstigenden Hintergrund zu liefern und damit ein Bewusstsein für die eigentliche Dimension und Konstanz der neuen deutschen Kriegsdoktrin zu schaffen.


Die Bundesrepublik mischt sich global ein, verbündet sich aus Opportunitätsgründen mit Kriegsverbrechern, gestattet die Aufrüstung aggressiver Regimes – und lässt ihre Repräsentanten dann verkünden, es gehe ihr ausschließlich um den Frieden, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und natürlich die Freiheit des Handels. Solche Widersprüche decken die Redakteure und Reporter höchstens punktuell auf, aber sie vermeiden es, die Zusammenhänge innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes (US-Präsident Eisenhower) und das Ausmaß der staatlichen Bedenkenlosigkeit deutlich zu machen.


Zwar frohlockt die dpa, als Nachrichtenagentur Teil dieses Systems der Oberflächeninformation, dass 42 Prozent der Deutschen der Berichterstattung in Funk- und Printmedien wieder „eher“ oder „voll und ganz“ vertrauten, dass die undifferenzierte, hysterisch zugespitzte Pegida-Parole „Lügenpresse“ weniger Anhänger als noch vor zwei Jähren fände, doch bildet diese Momentaufnahme nicht das wachsende Unbehagen denkender, grübelnder und kritischer, aber unzureichend unterrichteter Menschen ab, die wohl ahnen, dass hinter dem jovialen Lächeln Gabriels, den wohlgesetzten Worten Steinmeiers und der Mitgefühl simulierenden Gestik Merkels eiskaltes Machtkalkül steht, über die Motive der Polit-Strategen aber nichts aus Zeitung oder TV erfahren, weil dort nur plakativ und kurzatmig aufgeklärt wird (wenn überhaupt).


Leider verstehen sich auch die Gewerkschaften nicht mehr unbedingt als natürliche Partner der Friedensbewegung und damit Gegner deutscher Rüstungsexporte. Vor mehr als vier Jahren veranstaltete die IG Metall einen Friedens- und sicherheitspolitischen Workshop in Berlin, auf dem sie – schon durch Auswahl der Referenten – den Eindruck erweckte, sie sei nun nicht mehr für Konversion, sondern wolle bei der Planung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und Waffenexporten eher kreativ mitarbeiten. Und so leistet sich die größte deutsche Einzelgewerkschaft auch einen beim Vorstand angesiedelten Arbeitskreis Wehrkräfte und Arbeitsplätze, der schon mal für den Ausbau der „wehrtechnischen Kernfähigkeiten“ der deutschen Industrie plädiert.


Politik? Medien? Arbeitnehmervertretung? Wie und an wessen Seite lässt sich bitte der internationale Siegeszug todbringender Technologie in deutscher Qualität überhaupt noch stoppen?

02/2018

Dazu auch:

Waffenbrüder? und Tod aus Deutschland im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

     

                                



Die Königslegende


Zeit heilt alle Wunden oder Glücklich ist, wer vergisst lauten Binsen- und Operettenweisheiten, die zwar für Normalverbraucher tröstlich sein mögen, von Journalisten und Chronisten aber tunlichst missachtet werden sollten. Umso erstaunlicher ist es, wenn sich zum 80. Geburtstag des spanischen Ex-Königs Juan Carlos I. in beinahe allen deutschen Blättern Personalien finden, die den abgedankten Monarchen für seine Haltung während des Putschversuchs 1981 quasi als Heiligen verklären, obwohl sich kritische Menschen ganz anders an seine Rolle beim kurzen Aufstand der militanten Franco-Anhänger erinnern.


Der Bonus der gekrönten Häupter


Das „entschlossene Auftreten des Königs“ in der Nacht vom 23. zum 24. Februar 1981 habe die junge Demokratie Spaniens gerettet, hieß es unisono in den Medien und steht auch so bei Wikipedia. Angehörige der paramilitärischen Polizeitruppe Guardia Civil hatten unter Befehl des Oberstleutnant Antonio Tejero die Cortes, das spanische Parlament in Madrid, gestürmt und den Abgeordneten befohlen, sich auf den Boden zu legen. Zugleich waren in Valencia Panzer der Putschisten aufgefahren. Es sollte ein Fanal für das Ende der noch taufrischen bürgerlichen Demokratie und für die Rückkehr zu den Werten der faschistischen Falange und des Franquismus werden. Kurz nach Mitternacht bekannte sich der König zur Verfassung und forderte die Meuterer als oberster Befehlshaber auf, in die Kasernen zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt war die dilettantisch organisierte Rebellion der Mumien praktisch schon gescheitert – weder die Armee noch die Bevölkerung hatten sich ihm in nennenswerten Teilen angeschlossen.


Leichten Zweifel am vorbildlichen Eingreifen des Monarchen äußert denn sogar Wikipedia, das ansonsten das Hohelied des damaligen Demokratie-Retters singt: „Kritisiert wird allerdings, dass Don Juan Carlos vor seiner Stellungnahme gegen die Putschisten damals mehrere Stunden zögerte.“ Etliche Jahre später wurden dann die Ergebnisse von Recherchen veröffentlicht, die Juan Carlos I. in einer etwas anderen Rolle zeigten, wie wir noch sehen werden. Was die zum 80. Wiegenfest des Ex-Königs zur Heldenverehrung neigenden deutschen Journalisten angeht, so hätten sie bei einem Blick in Hintergrundberichte anlässlich seiner Abdankung 2014, etwa in der FAZ oder der WELT, überraschend alternative Erkenntnisse über die damaligen Geschehnisse gewinnen können.


Die kritischen Anmerkungen unserer Tage beschränkten sich indes auf eine luxuriöse Elefantenjagd von Juan Carlos in Botswana auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, die ruchbar wurde, weil der sportliche Greis nachts um drei Uhr früh (!) eine Treppe herabfiel und sich die Hüfte brach, weiter auf die als Seitensprung interpretierte Ferienfreundschaft zur deutschen Prinzessin Sayn-Wittgenstein sowie weitere außereheliche Eskapaden in der Vergangenheit. Immerhin ist es dem Oberhaupt der königlichen Familie, die zeitnah auch noch wegen Korruption und Steuerbetrugs gerichtsnotorisch wurde, zu verdanken, dass die Zustimmung zur von den gebeutelten Untertanen wahrhaft fürstlich ausgehaltenen konstitutionellen Monarchie, jener für einige europäische Staaten typischen Form blaublütigen Schmarotzerbefalls, zumindest in Spanien dauerhaft in ungeahnte Tiefen abglitt, als er den Thron für seinen Sohn Felipe IV. räumen musste.


Natürlich kann man solche Eskapaden auch als mondäne und deshalb Bewunderung erregende Alleinstellungsmerkmale des über die Jahrhunderte von heftiger Inzucht heimgesuchten europäischen Hochadels werten. Immerhin bringen die glamourösen Entgleisungen via Regenbogenpresse etwas Glanz und die Ahnung von einer anderen Welt in die kargen Einzimmerwohnungen deutscher Bezieherinnen von Kleinrenten und Aufstockungsalmosen.

      

Stoppte ein Wegbereiter den Putsch?


Was vor wenigen Tageb unter den medialen Gabentisch bei der Geburtstagsfeier des emeritierten Herrschers fiel: Bereits 2011 hatte einer der international bekanntesten Schriftsteller Spaniens, Javier Cercas („Soldaten von Salamis“), in einem 570 Seiten langen Essay (auf Deutsch: „Anatomie eines Augenblicks“) dem König politische Mitverantwortung an dem Tejero-Putsch attestiert. Juan Carlos I. begann seine royale Karriere quasi als Wunschnachfolger Francos, der neben sich keinen Monarchen hatte akzeptieren wollen, aber für die Zeit nach seinem Tod einen autokratischen Nachfolger mit göttlicher Legitimierung präferierte, um das Auseinanderfallen des rechten Blocks zu verhindern.


Juan Carlos leitete denn auch einen „Übergang zur Demokratie“ (Transición) ein, der direkter und unverhohlener durch die alten Seilschaften geprägt war als sein Pendant in der bundesrepublikanischen Nachkriegsentwicklung, als verdiente Nazis eher verstohlen wieder in die Ministerien, die Armee und die Geheimdienste einsickerten. Noch heute tummeln sich in der regierenden Volkspartei (PP) ergraute Honoratioren mit faschistischer Vergangenheit, etwa José María Aznar, einst Führer der franquistischen Jugend, dann acht Jahre lang Ministerpräsident des demokratischen Spanien. 


Zu Beginn aber berief der König sogar fast ausschließlich einschlägig vorbelastete Politiker, die den PP-Vorgängerparteien angehörten, an die Spitze des Staates. Illustre Franco-Minister wie Franco Iribarne waren darunter, vor allem jedoch Adolfo Suárez: früher Falange-Generalsekretär, Gouverneur der Diktatur und Verbindungsmann zum rechten katholischen Zivilorden Opus Dei (einer Art von Päpsten wie Ratzinger gehätschelten Geheimorganisation aus Unternehmern und Ministern), nun plötzlich Ministerpräsident der Transicíon und 1977 sogar bei den ersten freien Wahlen seit 1936 im Amt bestätigt.


Anscheinend nahm Suárez aber die Aufgabe der Entfranquisierung zu ernst und zerschlug ein paar faschistische Strukturen zu rigoros; jedenfalls zog er sich den Zorn der Rechten und des Königs zu. Juan Carlos drängte Suárez zum Rücktritt, doch dieser wollte nicht weichen. In einem vielbeachteten und faktenreichen Buch („Das große Vergessen – Was Suárez vergaß und woran sich der König lieber nicht erinnert“) kam 2014 schließlich die Autorin Pilar Urbano, als Opus Dei-Mitglied übrigens an der Quelle, zu dem Schluss, der Monarch habe den von ihm ernannten Regierungschef mit allen Mitteln loswerden wollen und sei selbst die treibende Kraft hinter dem Putsch gewesen. 


Am 29. Januar 1981 trat Suárez unter dem Druck seiner ehemaligen politischen Weggefährten und des Königs dann doch zurück, aber die falangistische Flut ließ sich nicht mehr eindämmen: Keine vier Wochen später glaubten der Vize-Stabschef der Armee, Alfonso Armada, und Oberstleutnant Tejero von der Guardia Civil, die franquistische Ordnung in Spanien wiederherstellen zu können – und höchstwahrscheinlich rechneten sie mit der Unterstützung durch Juan Carlos. Der aber er wollte womöglich erst einmal abwarten, wie der Hase läuft, ehe er sich dann "zur Rettung der Demokratie" entschloss, was ihm bei Falange-Veteranen das Prädikat "Verräter" eintrug. Bis heute hält das spanische Parlament die Akten, die diese Vorgänge aufklären könnten, unter Verschluss.


Als der König sich in der Nacht gegen die Putschisten wandte, schien die Meuterei schon so gut wie gescheitert. Weder das Gros der Militärs noch die einstigen faschistischen Kader schlossen sich ihr spontan an. Letztere hatten begriffen, dass die Zeit für Militärdiktaturen in Westeuropa abgelaufen war, und wollten sich dem Aufbau ihrer speziellen Demokratie widmen. Zur Ironie des Schicksals gehört, dass einer von nur drei Abgeordneten, die sich dem Befehl der wild ballernden Putschisten im Parlament, sich auf den Boden zu legen, widersetzten, der Ex-Franquist Adolfo Suárez war. Wie der Kommunistenführer Carrillo und der General Gutiérrez Mellado blieb der geschasste Ministerpräsident auf seinem Stuhl sitzen – für eine Demokratie, die sich gerade erst seiner entledigt hatte.            

Die Schuld der Bourbonen


Die anzunehmende Sympathie des greisen Geburtstagskindes für rechte Umtriebe könnte in der in der Tradition des bourbonischen Herrscherhauses begründet liegen. Bereits 1923 hatte sein Großvater, König Alfonso XIII., die Errichtung einer Diktatur unter Miguel Primo de Rivera, dessen Sohn José Antonio wenig später übrigens die Falange gründete und so dem intellektuell minderbemittelten Franco die ideologische Basis lieferte, ausdrücklich gutgeheißen. Als das nationalistische Regime der Zweiten Republik weichen musste und seine linken und bürgerlichen Gegner die Wahlen gewannen, wurde die Monarchie in Spanien abgeschafft. 


Insofern kam mit Juan Carlos I. erst 1975 wieder ein Bourbone, als Testamentvollstrecker Francos und von diesem 20 Jahre lang akribisch auf seinen Part vorbereitet, zu Thron und Würden. Dass er seine Gönner und ehemaligen Freunde auf der extremen Rechten nicht ganz im Stich lassen mochte, deutete er an, als er sich nach dem Tejero-Putsch dagegen aussprach, die Verschwörer, die im Erfolgsfall einen weiteren blutigen Bürgerkrieg ausgelöst hätten, streng zu bestrafen.


Verständlicherweise sollte solch politischer und historischer Schweinkram nach dem Dafürhalten der für Personalien zuständigen Redakteure hierzulande nicht Inhalt eines mediales Geburtstagsständchens sein. Ohnehin können in Sachen euphemistischer Vergangenheitsbewältigung, vor allem wenn es um herrschaftliche Biographien, Schuld und Verantwortung geht, die meisten deutschen Journalisten ihren spanischen Kollegen immer noch etwas vormachen.

01/2018

Dazu auch:        

Spanische Skizzen in dieser Rubrik




2017




Easy way out…


Einer der großen deutschen Kabarettisten tritt von der Bühne ab, und nicht alle sind traurig: Die verantwortlichen Redakteure der öffentlich-rechtlichen Sender müssen keine Ausflüchte mehr ersinnen, um ihn von der Mattscheibe und seine scharfe Zunge vom Mikrofon fernzuhalten, und anständige Bürger mit rechter Gesinnung müssen sich nicht mehr ärgern, weil sie sich in eines seiner Programme verirrt haben. Andere werden den geordneten Rückzug des 75-jährigen Berliners Martin Buchholz bedauern, vor allem solche, die nicht (nur) auf den schnellen Gag und das (geistig) folgenlose Amüsement aus waren, sondern die satirische und oft genug bittere Reflexion politischer Zusammenhänge sowie völkischer Befindlichkeiten, Unempfindlichkeiten und Holzwege suchten.


Der Provo, der aus der Presse kam


Im Januar 1979 startete in Westberlin fast zeitgleich mit der TAZ ein linkes Zeitungsprojekt, über dem früh der Pleitegeier kreiste, der es nur drei Jahre später verschlingen sollte: Die Neue. In einem kleinen Büro nahe dem Kudamm residierten vier Redakteure, darunter Martin Buchholz und ich, die vom Bonner Korrespondenten Rudolf Schwinn sowie einigen freien Mitarbeitern und Volontären, etwa dem Konkret-Autor Horst Tomayer, später dem mittlerweile zum raunenden Scholl-Latour-Imitat avancierten Andreas Zumach, unterstützt wurden. Bald zogen wir in die städtebauliche Ödnis von Wittenau mit Sicht auf das Märkische Viertel um, arbeiteten auf einer einstigen Fabriketage, die von Sperrholzwänden in mit Schreibtischen bestückte Schweinekoben (Redaktionsjargon) unterteilt war.


Die Neue sollte professioneller sein als die TAZ, dazu noch autark, weshalb eine Druckerei, die aus Kostengründen technisch nicht unbedingt auf dem neuesten Stand war, auf dem Stockwerk unter der Redaktion arbeitete. Da die Maschinen etwas langsam liefen und die Zeitungen per Post in die BRD ausgeliefert wurden, musste das Blatt bis 14.00 Uhr vollgeschrieben sein. Trotz solcher Defizite errang Die Neue kurzzeitig einiges Ansehen in der Fachwelt, aber wenig Verbreitung im radikalen bis linksliberalen Publikum, das mehrheitlich die flippige Unverbindlichkeit (aber auch die originellere Gestaltung) der TAZ vorzog.


In dieser Zeit irrwitziger Arbeitsüberlastung (fünfmal in der Woche vier Redakteure für acht großformatige Seiten ohne jede Werbung und mit dürftiger Versorgung an Nachrichtenagenturen) fanden wir uns am Nachmittag reichlich erschöpft in einer der typisch verschriemelten Berliner Bierstuben gegenüber dem Zeitungsgebäude ein. Bei einem Pils mit doppeltem Russen oder Polen (Wodkas unterschiedlicher Provenienz) erörterten wir die Lage des Blattes (kurz) und die Weltlage insgesamt (ausufernd), wobei Buchholz und ich gegenüber einigen mit dem allzu nahen und grauen Realsozialismus bürokratischer Prägung sympathisierenden Kollegen den antiautoritären Part einnahmen.


Um es vorwegzunehmen: Die umfassende Veränderung der Gesellschaft gelang uns nicht, und noch weniger die Rettung der NEUEN, doch schon damals wurde sicht- und hörbar, über welches komödiantische, rhetorische und rabulistische Potenzial der diesbezüglich nicht ganz uneitle (Beachten Sie bitte den überaus eleganten Euphemismus!) Herr Feuilletonchef Buchholz verfügte, zugegebenermaßen ohne – und so kannte man es auch aus seinen Artikeln – die inhaltliche Fundierung zu vernachlässigen. Früh übte er sich da in der Art pointierten intellektuellen Vortrags, wie er sich wenige Jahre später mit allen Sottisen und Analysen über die Säle der BRD und dann des ganzen wieder zusammengeklebten Deutschlands ausgießen sollte.


Eine Art Wegbereiter


Während die NEUE den Gang alles Mittellosen ging, heuerte Buchholz bei dem von Frankfurt nach Hamburg umgezogenen Satiremagazin Pardon an. Als sich auch dessen Ende abzeichnete, setzte er ganz auf seine kabarettistische Ader, schrieb rastlos Programme, deren Schärfe ihn bald zur persona non grata in den öffentlichen TV-Anstalten machte, und trat fürderhin als Solist auf.


Ein solches Stakkato an Wortwitz, verschwurbelten Sätzen, bis zur Kenntlichkeit entkleideten Phrasen deutscher Politiker und an derart humoristisch auf die Spitze getriebener Gesellschaftskritik, dass man in Tränen ausgebrochen wäre, hätte man nicht gerade lachen müssen, hatte man bis dato von deutschen Kleinkunstbühnen nicht gehört. Doch es ging Buchholz trotz aller Liebe zum verbalen Slapstick und der anarchischen Verdrehung um weit mehr als den schnellen Gag und die wohlfeile Pointe. Er spürte der Bedeutung einzelner Wörter und Begriffe nach, stellte zur tagesaktuellen Information die inhaltlichen und historischen Zusammenhänge her, die in der Tagesschau unter den Tisch fallen und von Nationalisten gerne negiert bis verfälscht werden.


Und er bezog klar Stellung, etwa gegen die rechte Allianz von SPD bis Union, gegen jede Art von Chauvinismus, gegen Neoliberalismus und „alternativlose“ Wirtschaftsdiktate. Seine Solidarität galt den Opfern postkolonialer Kriege, den Flüchtlingen und den Unterprivilegierten. Manchmal gingen Leute, die kurz vorher noch hemmungslos gelacht hatten, nach seinem Auftritt schweigend und bedrückt noch Hause, um dort (hoffentlich) weiter über das eben Gehörte nachzudenken. Von Zeit zu Zeit, wenn der Kabarettist mal wieder am falschen Ort war, flogen auch Sitzkissen auf die Bühne, und ein nationalistisches Publikum schäumte ob solchen Vaterlandsverrats. Für etliche Kollegen aber läutete Buchholz die Ära eines neuen investigativen, schonungslos aufklärerischen politischen Kabaretts ein. Uthoff, von Wagner, Schramm und der immer politischer werdende Barwasser haben sicherlich von seiner Vorarbeit profitiert.

   

Aus dem einstigen Angestellten einiger Pleitefirmen war also – nicht zuletzt mit Unterstützung seiner Beraterin, schärfsten Kritikerin und Ehefrau Harriet – eine erfolgreiche linke Ich-AG geworden. Jahrzehnte nach diesen Anfängen rekapitulierten Buchholz und ich bei (mindestens) einem Glas Wein, dass fast alle Unternehmen und Projekte, an denen wir intensiver journalistisch mitgearbeitet hatten, früher oder später bankrott gegangen waren: das Berliner Blatt Der Abend, Die Neue und Pardon bei Martin, das Nürnberger Stadtmagazin Plärrer, ebenfalls Die NEUE und die Nordbayern-Ausgabe der Abendzeitung bei mir - Scheitern als Weg! Welch ein Jammer, dass wie nie bei BILD landeten…


Die ersten Erfolge als Kabarettist feierte Buchholz in Hamburg, doch blieb er mit bissiger Schnauze und ganzem Herzen Berliner (Nun ja, nobody is perfect!) und zog folgerichtig bald wieder in die damals noch umzingelten Westsektoren an der Spree um. Dort bespielte er die altehrwürdigen Wühlmäuse, wenn er nicht gerade durch die Republik und deutschsprachige Nachbarländer tourte. Er sezierte unermüdlich braunen Schwachsinn bei lebendigem Volksleib, und obwohl er den Bürgern kompromisslos die in ihrer unsterblichen Seele vergrabenen  verdrucksten Peinlichkeiten vorhielt, füllte er überall die Theater, erhielt sogar den Deutschen und den Schweizer Kabarett-Preis. Dazu veröffentlichte er noch etliche Bücher mit hintersinnigen bis lach-lyrischen Texten. Angesichts des partiellen Medienboykotts wegen Unbotmäßigkeit kann man ihm durchaus den Titel eines Hidden Champion zugestehen.


Ein wohltemperierter Abschied


Bei aller Lust an derb-entlarvendem Spott und durchaus auch an Kalauern (unheilbar Berliner!!!) unterschied er sich im Sprachniveau, in der politischen sowie kulturellen Verankerung und im Hang zu nachdenklichen Passagen gravierend von den billige Lacher erheischenden Stars der aufkommenden Comedy-Szene. O-Ton Buchholz: „Comedians machen es wegen dem Geld, Kabarettisten machen es des Geldes wegen.“

 

Und nun soll nach 35 Jahren Schluss sein? Immerhin ist es ein geplanter, wohltemperierter Abschied von der Bühne, dem bereits ein beinahe anderthalbjähriges Moratorium vorausging und der auf einer letzten kleinen Tournee mit einem Programm („Alles Lüge, kannste glauben“), das neben Aktuellem auch  Highlights von früher und biographische Anmerkungen beinhaltet, endgültig ausklingt. Vom 25. bis 30. Dezember gastiert Buchholz noch einmal in den Wühlmäusen, am 18. und 19. Januar tritt er in Hamburg auf, und am 27. Januar fällt wiederum in Berlin der letzte Vorhang. Ein Comeback wird es definitiv nicht geben. „Es ist besser, endgültig abzutreten, solange die Leute noch sagen ´Ach, schade!`, als wenn es irgendwann heißt:´Wann merkt dieser alte Sabbelsack endlich, dass es langsam reicht.`" So kommentiert der Meister selbst seinen Abgang.


Das alles war lange geplant und wird keine Verlust-Depressionen auslösen. Ganz im Gegenteil freut sich Buchholz darauf, endlich sich am Morgen über Presse- und Rundfunkmeldungen ärgern zu können, ohne sie auf Verwertbarkeit für den nächsten Auftritt abtasten zu müssen. Insofern konterkariert er die Worte des kürzlich verstorbenen Folk-Rockers Tom Petty: „There ain`t no easy way out“: Es geht leicht und beschwingt, wenn man kreativ bleibt, die kritische Beobachtung nicht vernachlässigt und vielleicht sogar der eigenen Phantasie noch ein paar Zukunftsaufgaben stellt. Und ganz weg in der Versenkung wird Buchholz auch künftig nicht sein.


Drohungen aus dem Exil


Zunächst wird der Kabarett-Pensionär mit seiner Gemahlin nach Neuseeland reisen, vermutlich um sich dort mit den notorisch aufsässigen Keas zu duellieren, dann ziehen die beiden sich in ihr Domizil, ein über Jahre hinweg ausgebautes und eingerichtetes Anwesen im südsächsischen Erzgebirge, zurück. Der Natur, der Wälder und des Wanderns wegen, betont Buchholz, denn ansonsten liefert die Region zwar doof-deutsches Anschauungsmaterial, aber wenig geistige Anregung. Die Gegend gilt nämlich als Pegida- und AfD-Homeland, so dass es angeraten erscheint, das Schandmaul zumindest coram publico ein wenig zu zügeln. Aber immerhin hat sich der Filmsüchtige ein Heimkino mit umfangreichem Archiv installiert, so dass er zwischen Hollywood-Screwball-Komödien und „Lawrence von Arabien“ dem immerwährenden sächsischen Winter wenigstens stundenweise entfliehen kann.


Zur Freude einiger tausend User hat der emeritierte Spötter seinen Newsletter Buchholzens Wochenschauer wieder aufgenommen und versorgt so seine bundesweite Gemeinde mit gemeinen Pointen, oft auch mit tiefsinnigen und dann gar nicht so lustigen Anmerkungen sowie Kommentaren zum besorgniserregenden Vordringen der polit-gedüngten Geisteswüste.


Ansonsten, sagt Buchholz, habe er den Kopf voller Ideen und Pläne, und das Hauptaugenmerk werde diesmal nicht auf der satirischen Seite der Schöpfung liegen. Es sind also philosophisch-psychologisch-literarische Geistesprodukte aus den Tiefen des Erzgebirges zu erwarten: Wehe uns Lesenden!

12/2017

Dazu auch:

Comeback der Narren im Archiv dieser Rubrik          

Kurzporträt unter Wichtige Links!

 





Schöne neue Kindheit


Digitalisierung, schnelles Internet, Optimierung der IT-Ausstattung in den Schulen, Medienkompetenz für Minderjährige: Es gibt doch noch Projekte, bei denen alle im Bundestag vertretene Parteien übereinstimmen und sich lediglich gegenseitig mit Forderungen nach höherem Tempo überbieten. Was aber stellt die unreflektierte Virtualisierung der Umwelt mit uns an, was macht sie mit den Kindern, von denen ohnehin schon zu viele fragwürdige Kontakte und inhaltsleere bis verblödende Anregungen mittels Whatsapp oder Facebook wie ihr täglich Brot konsumieren?


Der analoge Schonraum


Wie Pawlowsche Hunde reagieren deutsche Politiker, wenn das Begriffspaar Bildung und digitales Lernen auf der Agenda steht – nur dass ihnen nicht der Speichel im Maul, pardon Mund, zusammenläuft, sondern ihr innerer Kalkulator sogleich die damit zu gewinnende Wählergunst in Prozentpunkte umrechnet. So wurde der Digitalpakt#D, der die Ausstattung der Schulen mit modernster IT- und Breitbandtechnik durch den Bund und die Länder vorsieht, als zukunftsweisender Coup gefeiert. Fünf Milliarden Euro sollen dazu in den nächsten fünf Jahren aufgebracht werden: Klingt nach viel Geld, ist auch viel Geld, aber vermutlich zu wenig für den ehrgeizigen Plan, der einen gewaltigen Haken hat: Niemand hat sich im Vorfeld Gedanken darüber gemacht, ob durch Digitaltechnik geprägte Pädagogik per se sinnvoll ist, ob sie schon bei Kindern das Lernen und Begreifen wirksam unterstützt – oder, ganz im Gegenteil, der kognitiven Aneignung der Umwelt auf frühen Altersstufen eher schadet.


Den Satz, ihre Kindheit sei die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen, äußern manche Erwachsene reichlich unbedacht, erinnern sie sich doch vornehmlich an permanente Weihnachtsvorfreude, während die täglich auftretenden kleinen Niederlagen und Enttäuschungen, die Tränen über unerfüllte Wünsche oder elterliche Strenge in späteren Jahren milde verdrängt werden (vom Aufwachsen in prekären Verhältnissen ganz zu schweigen). Die (kurzzeitigen) Freuden beim Spiel oder nach Belohnung, die scheinbar tödlichen Verwundungen durch schulischen Zwang, restriktive familiäre Umgebung oder Mobbing durch Gleichaltrige, diese ständigen emotionalen Schwankungen der frühen Entwicklungsphase prägen die Erfahrungen, auf deren Basis wir uns unser künftiges Leben zusammenzimmern. Kinder lernen direkt nach dem Try-and-Error-Prinzip von der Welt in ihrer Vielfalt und Unausgeglichenheit. Was aber, wenn die Welt (unser soziales Umfeld, unsere Stadt, Nachbarschaft, Freundesgruppe etc.) außen vor bleibt, weil der Nachwuchs zu viel Zeit seines wachen Daseins in der Scheinrealität von Facebook, PC-Spielen sowie virtuellen Grafiken und Designs verbringt?


Das haptische, hautnahe, örtlich gebundene Erkunden von Umgebung, menschlichen Beziehungen und Entscheidungssituationen weicht digital vermittelten, quasi synthetischen Erfahrungen. In einer analog definierten Umwelt sozialisierte Pädagogen sollen künftig bereits ABC-Schützen in den virtuellen Kosmos  einführen, ohne ihnen Zeit für eigene unmittelbare Lernerlebnisse zu lassen. „Wir erleben derzeit das weltweit größte Experiment am lebenden Objekt“, sagte Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg, in einem Interview der Tageszeitung junge welt. Dieser Versuch mag mit fünf Milliarden zwar unterfinanziert sein – Studien des Deutschen Industrie- und Handelskammertags und des Städtetags von Baden-Württemberg gehen von der doppelten Summe aus - , von der IT-Wirtschaft und ihren Lobbyisten wurde er trotzdem akribisch vorbereitet. Denn nicht die Politiker, die ihn genehmigten, oder die Lehrer, die ihn durchführen, verfügen über die nötige Medienkompetenz, die Beherrschung der Instrumente obliegt ganz allein den Unternehmen (viele davon im Silicon Valley angesiedelt), die Hard- und Software stellen, Daten sammeln, Algorithmen basteln, um dem im Sinne der Wirtschaft bedarfsgerechten Menschen die Bildung zuteilwerden zu lassen,  die er ihrer Meinung nach zum reibungslosen Funktionieren benötigt.

  

Billionen dank Pseudo-Pädagogik


Kinderärzte, Suchtforscher, Pädagogen und Kognitivwissenschaftler halten ein Alter von zehn bis zwölf Jahren für den Einstieg in die Digitaltechnik für angemessen. Vorher benötigen die Kinder ihre zweckungebundenen Freiräume und die Zeit, sich auf natürliche Weise Kenntnisse, Fertigkeiten und Kritikfähigkeit anzueignen. Schließlich sollen sie dann (eigentlich) die Grundlagen der IT-Medien verstehen und diese nicht (wie die meisten Erwachsenen, auch ihre Lehrer) unreflektiert anwenden.


Doch selbst bei einer umsichtigen Einführung in die virtuellen Möglichkeiten, bleiben deren pädagogische Effekte ziemlich zweifelhaft: Die Metaanalyse „Visible Learning“ des neuseeländischen Pädagogen John Hattie stellte keinerlei Vorteile durch den Einsatz von Rechnern und Software in den Schulen fest. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine PISA-Sonderauswertung der OECD-Studie „Students, Computers and Learning“. Investitionen in die IT-Ausstattung von Klassenräumen haben demnach in den letzten zehn Jahren keine signifikanten Verbesserungen der Leistungen in Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erbracht. Der OECD-Direktor für Bildung, Andreas Schleicher formulierte es besonders drastisch: „Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt.“


Es scheint so, als seien immer noch das Einfühlungsvermögen von Pädagogen und die Möglichkeit zur konzentrierten Arbeit in analoger Umgebung entscheidender für den Lernerfolg als der Einsatz wirtschaftsaffiner Software. Dennoch hatte sich Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (nur als Galionsfigur) an die Spitze der Bewegung gesetzt und den Digitalpakt#D bereits 2016 zum 10. Nationalen IT-Gipfel in Saarbrücken angekündigt. An dem Symposion nahmen Repräsentanten aller wichtigen IT-Firmen, aus deren Reihen auch die maßgeblichen Autoren des Pakt-Papiers stammen, teil. Microsoft, Bitkom, SAP oder Telekom wollten natürlich dabei sein, wenn es um die Verteilung der ersten Milliarden ging.


Doch die Cracks der Digital-Branche denken viel weiter als die Politiker und wollen sich auch nicht mit den Anfangsprofiten begnügen. Es geht darum, die Daten gegenwärtiger und späterer User, Konsumenten, Bewerber und Schuldner aus dem kaum geschützten Raum „Schule“ abzugreifen, zudem die jungen Menschen so an das digitale Diktat zu gewöhnen, dass es später „alternativlos“ für sie bleibt. Und in den IT-Hochburgen des Silicon Valley, wo charismatische Manipulatoren mit pseudo-religiösem Pathos vorgeben, das Los der Menschheit verbessern zu wollen, wird längst daran gearbeitet, den individuellen und damit fehlerbelasteten oder unbequemen Output des Lehrers schrittweise durch frisierte Unterrichtsalgorithmen zu ersetzen. Ralf Lankau weist darauf hin, dass diese Software-Pioniere und Startup-Gründer ihre eigenen Kinder allerdings in Montessori-Kindergärten und Waldorfschulen ohne Computer schicken und nicht in High-Tech-Pennen, wo die Durchschnittszöglinge „nach Bedürfnissen und Bedarf der Industrie in Lernfabriken zugerichtet werden“.


Hier sind auf lange Sicht Billionen zu verdienen und opportune Gesellschaftsstrukturen zu zementieren – mit Billigung kurzsichtiger oder sympathisierender Bildungspolitiker. Wer dies für übertriebene Schwarzmalerei hält, sollte sich nur den von Facebook bereits in der Gegenwart erreichten Einfluss auf das Verhalten, die Selbst- und Fremdeinschätzung sowie das soziale Denken von Jugendlichen und Erwachsenen vor Augen halten.


Ein Täter warnt


Sean Parker war Co-Gründer von Facebook und brachte es zu einigem Reichtum (2,6 Milliarden Dollar laut Forbes). Heute kritisiert er sein einstiges Unternehmen scharf und verweigert sich kategorisch den Social Media - immerhin einer, der weiß, wie man Menschen in die Internet-Falle lockt, weil er diese selbst mit aufgestellt hat. Parker ist auch jetzt nicht gerade ein scharfer Analytiker, aber er schildert sehr ehrlich, wie es die Weltverbesserer in Kalifornien angestellt haben, die Träume und Wünsche von Usern zu infiltrieren, auf dass ein neues Bewusstsein an die Leine des Kommerzes und der süßen Indoktrination gelegt werden konnte:


„Wir müssen den Menschen ab und zu einen kleinen Dopamin-Schub geben, das passiert, wenn jemand Sachen von dir liked oder ein Foto kommentiert. Es ist ein Feedback Loop, der auf dem Drang der Menschen nach sozialer Bestätigung basiert. … Wir haben eine Schwachstelle in der Psychologie der Menschen ausgenutzt. Die Erfinder, also ich und Mark und Kevin Systrom, wussten das. Und wir haben es trotzdem gemacht.“


Ein Täter bereut, andere wie Kompagnon Mark Zuckerberg, die Nachfolger des Status-Schamanen Steve Jobbs bei Apple oder der Google-Mentor Larry Page machen weiter. Und sie wollen sich nicht mehr damit begnügen, unbedarften Usern unechte Glücksgefühle zu vermitteln, sie wollen die Emotionen und Entscheidungen ihres Publikums dirigieren und – da erreichen sie eine andere Dimension als die Rattenfänger der analogen Werbung – alle künftigen Optionen und Daseinsmanifestationen der Kunden und Untertanen prognostizieren, zum eigenen Vorteil modifizieren und letztendlich kapitalisieren.


Natürlich ist der IT-Boom nicht das Böse an sich, so wie die Industrielle Revolution und die Elektrifizierung eigentlich das Schaffen aller sofort begrüßenswert erleichtert hätten, wären sie nicht als Machtinstrumente in den Händen weniger eingeführt worden. Man kann das Internet, die Kalkulation und die Textverarbeitung sinnvoll nutzen, man könnte an Information und Wissen ohne zeitaufwendige Archiv-Recherche gelangen, wenn man denn wüsste, wonach zu fragen und zu suchen ist. Doch genau diese Kompetenz zu stärken, liegt nicht im Sinn der großen Digital-Oligarchen.


Es müsste alle Verantwortlichen aufschrecken, dass diese Big Brothers des 21. Jahrhunderts nun auch über ihre Lobbyisten und etliche willfährige Politiker (Lindner-Wahlslogan: First digital – second Bedenken) den Unterricht in Schulen und demnächst auch die Vorschulpädagogik in Kinderkrippen steuern können. Vielleicht  aber sind die staats- und wirtschaftstragenden Kräfte in unserer Republik gar nicht so naiv, möglicherweise präferieren sie das blasse Individuum, das sich Empathie aus dem Netz borgen muss und der garstigen Wirklichkeit das farbenprächtige Universum der Digital-Schöpfer vorzieht, das einen Freund oder Bekannten nur noch per Skype oder Smartphone, nicht aber in Fleisch und Blut ertragen kann und intellektuelle Kritik für archaische Zeitverschwendung hält, als Prototyp des idealen Untertans in der schönen neuen Welt, die sich mit unkommerziellen oder gar widersätzlichen Gedanken nicht weiter abgibt.

11/2017

Dazu auch:

Lindner vor dem Tore im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 

    

 

        

Lechts und rinks


Die Journalisten der Leitmedien klagen allerorten über die mangelnde Akzeptanz seitens des Publikums, bisweilen gar über den (unverschuldeten) Verlust ihrer Glaubwürdigkeit in den Augen des gemeinen Konsumenten. Natürlich trifft die pöbelhafte Pauschal-Anschuldigung "Lügenpresse“ etwa so differenziert und zielgenau wie eine Schrotflinte mit abgesägtem Lauf. Den Vorwurf, absichtlich oder aus Unkenntnis mit inhaltsleeren und unangebrachten politischen Begriffen zu arbeiten, kann man etlichen deutschen Edelfedern allerdings nicht ersparen.


Die Legende vom Linksruck


Der österreichische Dichter und Sprachjongleur Ernst Jandl, wohl bekanntester Vertreter der Konkreten Poesie, beschrieb die Schwierigkeiten der Richtungs- und Kursfindung einst so:

        manche meinen
              lechts und rinks
              kann man nicht velwechsern
              werch ein illtum

Liest man heute Leitartikel von SZ bis FAZ oder hört sich Kommentare in der ARD, im ZDF oder im Deutschlandfunk an, könnte man zu dem Schluss gelangen, die oben erwähnten Probleme seien in den Redaktionen derart virulent, dass es eigentlich unverantwortlich wäre, einen dort beschäftigten Ressortleiter oder Chefkolumnisten unbegleitet die Straße überqueren zu lassen.


Da unterstellen als seriös geltende Journalisten der Bundeskanzlerin, sie habe die CDU nach links geführt. Was sie meinen, ist, dass Angela Merkel sich in der Tonart und in einigen Sachthemen den Positionen der Sozialdemokraten angenähert hat. Mit ihrer Wortwahl unterstellen sie ohne triftigen Grund, die SPD in ihrer Gesamtheit sei heute noch ein Hort sozialistischen Gedankengutes und antikapitalistischer Zielsetzungen. Wenn der eine oder andere Genosse heute fordert, die Partei eines Schulz, eines Steinbrück, eines Sarrazin oder eines Schröder müsse wieder linkes Profil zeigen, will er damit nur andeuten, sie möge sich doch bitteschön ein wenig weniger rechts gerieren als in der jüngsten Vergangenheit.


Vollends irrsinnig wird der inflationäre Gebrauch des Attributs „links“, wenn es dem französischen Ex-Banker Emanuel Macron, der gerade dabei ist, Arbeitnehmerrechte zu beschneiden, die Gewerkschaften zu schwächen und ein Groß-Europa der Wirtschaft und des Militärs zu propagieren, zugeordnet wird. Zwar formuliert der Sonnyboy der bürgerlichen Elite weniger chauvinistisch als Marine Le Pen, doch wird deshalb aus einem dezidierten Neoliberalen noch lange kein Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit.

    

Was ist eigentlich „links“?


Zwar kann sich das Etikett „links“ im politischen Diskurs fast jeder anheften, da kein Copyright dafür existiert und subjektive Einschätzungen bekanntlich aufs Extreme divergieren, doch ließe sich ein Minimalkonsens historisch und ideengeschichtlich herleiten, der zumindest einige inhaltliche Positionen und Ausschlusskriterien umrisse. Dazu würde man etwa die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Aufhebung der Klassenunterschiede und – damit verbunden – die Angleichung der Chancen auf Bildung sowie einen selbstbestimmten Lebensentwurf, eine solidarische Haltung gegenüber Unterprivilegierten weltweit und dann noch die Ablehnung von Kriegen zwischen Staaten zum Zweck des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtausbaus zählen. Da  gegenwärtig von der Durchsetzung der ersten beiden Postulate nicht die Rede sein kann, ginge auch schon der bloße Kampf gegen die Grausamkeiten des Systems (sozusagen das ehrliche Bemühen) als links durch.


Natürlich haben immer wieder als links apostrophierte Gruppen, Organisationen oder Regierungen eine oder mehrere dieser Anforderungen nicht erfüllt – von den bürokratischen Autokratien des Warschauer Paktes über ehemalige Befreiungsorganisationen, etwa im südlichen Afrika, bis hin zum chinesischen Parteikapitalismus -, obsolet sind die rudimentären Definitionen dennoch nicht geworden, will man in einem Streitgespräch oder einer weiterführenden Diskussion über das Gleiche (wenn schon nicht das Selbe) reden.


Zieht man solche inhaltlichen Punkte zu Rate, erschließt sich einem sehr schnell, dass eine Bundeskanzlerin nicht nach links tendiert, wenn sie einige Forderungen der SPD adaptiert, also einer Partei, deren Beiträge zum Thema "soziale Gerechtigkeit" in der Abschaffung der Vermögenssteuer und in der Agenda 2010 bestanden, die zusammen mit der Union durch hastige Grundgesetzänderungen der Wirtschaft via Privatisierung das Kommando über Perlen der staatlichen Infrastruktur einräumte und gemeinsam mit den Grünen Deutschland in den Bombenkrieg mit Serbien geführt hat. Die SPD kann zurzeit ebenso wenig links sein wie Konzerndarling Macron, und Angela Merkels kosmetische Korrekturen büßen spätestens, wenn die Autobauer, Energieversorger oder Rüstungsindustriellen Tacheles reden, an progressiver Tünche ein.


Warum verbreiten aber dann die Medien erkenntnisresistent das Gerücht vom vermeintlichen Linksruck, durch den rechts ein Plätzchen für die AFD freigemacht worden sei (als wäre hierzulande eine separate Einladung für Nationalismus und Rassismus überhaupt notwendig!)? Wissen es die zuständigen Journalisten nicht besser, sind sie einem mit Valium kombinierten Fake aufgesessen? Oder wollen sie es nicht besser wissen?


Medienprimat: Form vor Inhalt


Es mag Schreiber, auch der höchsten Gehaltsklasse, geben, denen nie in den Sinn gekommen ist, das idealisierte Bild einer bürgerlichen Demokratie mit ordentlicher Gewaltenteilung und angeblich nur ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten sowie dem Primat der Politik vor der Wirtschaft in Frage zu stellen bzw. mit der Realität zu konfrontieren. Aber das sind nicht allzu viele. Die meisten sich in Debattierrunden, Talkshows und Kolumnen äußernden Publizisten sehen sehr wohl die abgrundtiefen Brüche und Widersprüche des Systems, aber sie haben sich frühzeitig für die Seite entschieden, die ihnen die beste Perspektive eröffnet – und das ist nach Stand der Dinge und des Kontos nun mal die derzeit dominierende.


Unbestritten ist, dass immer noch einige gut recherchierte Beiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die eine immense Diskrepanz zwischen den Lippenbekenntnissen und der Fremdsteuerung gewählter Politiker aufzeigen, gesendet werden, dass die Presse zumindest ab und zu die Hintergründe und Ursachen scheinbar nebensächlicher, tatsächlich aber irreversibler Entscheidungen der Regierung ins unerwünschte Licht der Öffentlichkeit rückt. Insgesamt aber handelt es sich dabei um Wahrheitstropfen auf einem Wüstenfels oder um ein paar Steinchen, die das gesamte Mosaik in seiner ganzen Konstruktion nicht kenntlich machen können.


Es scheint so, als hätten sich Moderatoren und Kommentatoren in einem Koordinatensystem eingerichtet, dessen eine Achse eine Skala aus Image, Oberflächenwirkung und wohlfeiler Eloquenz der politisch Handelnden bildet, während auf der anderen die Ignoranz, Desinformation und Verführbarkeit der Rezipienten die Messpunkte markieren. In diese zweidimensionale Anordnung muss alles passen, folglich auch das Merkmal „links“. Darstellungen der tatsächlichen Machtverhältnisse, der Manipulationskraft der Marktbeherrscher (die weit über ein paar offensichtliche Fakes, die brav entlarvt werden, hinausgeht) und der antagonistischen Verhältnisse sind aufgrund der strikten Abbildungsvorgaben nicht mehr möglich. Statt durch Nachdenklichkeit, Sinnsuche und grundlegende Kritik sind die medialen Diskussionen durch die schnelle Pointe, die fotogene Attitüde und die publikumswirksame Anmaßung gekennzeichnet. Nicht das Was oder das Warum unserer verfahrenen globalen Realität zählen, sondern das Wie in Bezug auf ein kurzzeitiges und möglichst populäres Verwalten und Weichzeichnen der Misere.


In Frage darf unser Gesellschafts- und Wertekonstrukt auf keinen Fall gestellt werden. Es ist alternativlos. Glaubten unsere Vorfahren noch, die Zustände, in denen sie lebten, seien gottgegeben, so halten wir den Status quo mittlerweile für marktgegeben. Normalerweise würden viele Journalisten der „Leitmedien“ eine solche Einschätzung, selbst wenn sie sie teilten, nie öffentlich äußern (zumal nicht wenige in Think Tanks  daran mitarbeiten, die Macht- und Einflusszentren weiter abzuschotten), eine publizistische Sparte aber stellt in seltener Offenheit das wirklich Wichtige  ohne verlogene Empathie oder müßige Skrupel über jene Begleitumstände, die Milliarden Menschen betreffen: In den Wirtschaftsnachrichten mit ihren Börsenbarometern werden Naturkatastrophen durch Klimawandel, Kriege wegen imperialer Hybris und erschütternde Wahlergebnisse als bloße Impulsen für das Steigen oder Fallen von Aktienkursen, für Spekulation und Übervorteilung also, interpretiert. Krass ausgedrückt: Zahlen und Algorithmen sind nur noch als Wett-Indikatoren mit tatsächlichen Werten oder der wahrnehmbaren Umwelt überhaupt verbunden; wer verbindlich erfährt, dass die Erde in Folge eines militärischen Konflikts in drei Tagen untergehen wird, sollte sich gemäß dieser autistischen Logik schleunigst mit Rüstungsaktien eindecken.


Wer die Welt ehrlich und ohne schlechtes Gewissen auf dieses globale Spiel reduziert, braucht sich über den sinnvollen oder falschen Gebrauch des Begriffs „links“ keine Gedanken mehr zu machen.

11/2017

Dazu auch:

Börsenlyrik in diesem Archiv

 

             


Fake im Walzerland


Wahlkämpfer sollten sich nicht um Inhalte scheren, sie müssen Events und Knaller liefern, die wie Zaubertricks im Zirkus das Publikum täuschen und ihm eine neue „Realität“ vorgaukeln, wobei sich hierfür besonders Fake-Kampagnen in sozialen Medien eignen. So gelang es Donald Trump, zwar nicht die Mehrheit, aber doch einen entscheidenden Teil der US-Wählerschaft auf seine Seite zu ziehen. Daraus wollte die SPÖ vor dem anstehenden Urnengang ihre Lehren ziehen und versuchte sich ebenfalls an einer Schmutzkampagne. Aber in unserem Nachbarland, wo manches etwas betulicher und fahriger betrieben wird als in den Vereinigten Staaten, ging das gründlich schief. Was lernen wiederum wir daraus?


Ein vielseitig einsetzbarer Gangster


Die Umfragewerte für die SPÖ waren schlecht, der Absturz von der Kanzlerpartei zur Drittplatzierten hinter der von Sebastian Kurz zur Einmann-Show mit Hofstaat degradierten ÖVP und der rechtsradikalen  FPÖ schien vorgezeichnet, da hatte ihr Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Georg Niedermühlbichler die Idee, einen Kampagnenleiter mit einschlägigem und bisweilen kriminellem Hintergrund als Retter zu engagieren: Der Israeli Tal Silberstein war bereits als Berater für so skandalumwitterte und straffällig gewordene Politikgrößen wie Julia Timoschenko in der Ukraine oder Ehud Olmert in seinem Heimatland tätig gewesen. Für die Wiederwahl des bolivianischen Präsidenten Sánchez de Lozada 2001 organisierte er einen Diffamierungsfeldzug gegen den Herausforderer, dessen Quintessenz er in dem US-Dokumentarfilm „Our Brand is Crisis“ so zusammenfasste: „Wir müssen die Dynamik ändern. Wir müssen Negativkampagnen gegen ihn starten. Wir müssen ihn von einem sauberen in einen schmutzigen Kandidaten verwandeln.“


Silberstein, ein Hansdampf in allen abseitigen Gassen, beschränkte die geschäftlichen Aktivitäten nicht auf seine Werbeagentur GGK, sondern mischte auch im Holzhandel und in dubiosen Immobiliengeschäften mit, bestach mutmaßlich den Präsidenten von Guinea, um in den Besitz einer Diamantenmine zu kommen, und streute Lügengeschichten über den ÖVP-Politiker Erwin Pröll. Ein Mann mit solch profunden Vorkenntnissen fehlte der SPÖ noch: seriös wie ein Wahlprogramm, ehrlich wie ein Kleptomane und phantasiebegabt wie ein Verschwörungstheoretiker. Die Partei hatte schon früher gedeihlich mit Silberstein zusammengearbeitet  und störte sich auch nicht daran, dass in Rumänien ein Haftbefehl gegen ihn vorlag, weil er dort den Staat um 145 Millionen Euro geprellt haben soll. Erst als der umtriebige Spezialist für Dirty Campaigning am 14. August von der israelischen Polizei unter dem Verdacht der Geldwäsche in Milliardenhöhe, der Urkundenfälschung und der Bestechung verhaftet wurde und als das Polit-Magazin Profil sowie die Tageszeitung Die Presse den falschen Fährten, die GGK gelegt hatte, um dem Wahlfavoriten Kurz zu schaden, auf die Schliche kamen, distanzierte sich die SPÖ von ihrem Helfer und schasste auch gleich noch den glücklosen Wahlkampfleiter Niedermühlbichler.


Kurz ähnlich, aber doch nicht Kurz


Die SPÖ hatte Silbersteins Firma GGK zunächst damit beauftragt, klassische Wahlwerbung zu konzipieren, doch flossen offenbar weitere sechsstellige Summen für Fake-Platzierungen in sozialen Netzwerken an die Agentur. Und wo kann man besser lügen, verleumden und täuschen als auf Facebook? So ließ Silberstein eine getürkte Fanseite unter dem Titel „Wir für Sebastian Kurz“ auf der Dogmen-Plattform der Leichtgläubigen veröffentlichen, auf der die notorische Fremdenfeindlichkeit, die der ÖVP-Populist im Kampf um rechte Stimmen durchaus instrumentalisiert hat, mittels einer „Umfrage“ noch zugespitzt wurde: „Zigtausende Migranten warten in Italien darauf nach Mitteleuropa weiter zukommen, NGOs drohen die Menschen nach Österreich zu bringen. Soll Österreich sich das gefallen lassen?“ Schon regten sich christliche Kreise und Organisationen wie die Caritas, darunter eben auch Teile der klassischen ÖVP-Klientel, über solch plumpe Xenophobie auf, da wurde ruchbar, wer wirklich dahinter steckte. Nicht, dass man dem bedenkenlosen Opportunisten Kurz solche Äußerungen nicht zutrauen würde, in diesem Fall aber hat er sie wirklich nicht getan.


Als noch perfider, dazu von höherer krimineller Energie erwies sich eine andere Aktion: Silbersteins Agentur produzierte das Video „Nein!“, das auf der SPÖ-Website politiknews.at und auf der Facebook-Seite „Die Wahrheit über Sebastian Kurz“ publiziert wurde und das dem derzeitigen ÖVP-Außenminister unterstellt, er gehöre einem „dubiosen politischen Netzwerk“ des milliardenschweren jüdischen Spekulanten und Investors George Soros an. Ausgerechnet der Israeli Silberstein bedient sich antisemitischer Verschwörungstheorien, um im Pool der Ewiggestrigen nach Stimmen für die SPÖ zu fischen. Geht`s widerlicher?


Da half auch eine Retourkutsche der Sozialdemokraten in Form einer Strafanzeige gegen den Pressesprecher der ÖVP, der dem Silberstein-Mitarbeiter Peter Puller angeblich 100.000 € für einen Seitenwechsel angeboten hatte, nicht mehr viel. Der Tatvorwurf klingt angesichts der Schlammschlacht an der Donau zwar durchaus plausibel (etwa wie business as usual), doch nützt es dem, der am tiefsten in der Odelgrube sitzt, wenig, mit dem Finger auf einen anderen Schmutzfinken zu zeigen.


Zunächst wurde der FPÖ von Heinz-Christian Strache, einem erklärten Freund deutscher Neonazis und Südtiroler Ex-Terroristen, die Urheberschaft für die gegen Kurz gerichteten Fakes unterstellt. Als die Wahrheit scheibchenweise herauskam, staunten selbst abgebrühte Polit-Beobachter nicht schlecht: Ausgerechnet die als ein wenig bieder und bräsig geltenden Sozialdemokraten, in Österreich eher als Proporz-Gewinnler denn als couragiert gegen das Kapital agierende Genossen bekannt, hatten sich in modernster und rabiatester Form des Mittels einer Rufmord-Kampagne in den Neuen Medien bedient, dabei allerdings vergessen, ihre Spuren zu verwischen!

        

Schluss mit Themen und Programmen!


Wenn wir Lehren aus den Wiener Vorgängen ziehen können, dann zum einen, dass Meisterwerke übler Nachrede, falscher Anschuldigung und bizarrer Tatsachenverdrehung nicht auf die Trumps und Putins dieser Welt beschränkt bleiben, sondern auch in Provinz gedeihen, dass andererseits Inhalte und Prinzipien in den Wahlkämpfen unserer Zeit keine Rolle mehr spielen. Auch dass die europäische Sozialdemokratie (vielleicht von Corbyns Labour Party abgesehen) von ihrer traditionellen Wählerschaft in der Wüste stehen gelassen wird, während die Relikte einstiger Integrität im Sumpf versinken, gehört zu den plausiblen Schlüssen.


Bleibt die Frage, ob die operettenhaft scheiternde List der SPÖ, deren Infamie kaum zu übertreffen ist, auch in unserem Land möglich wäre, ähnliches vielleicht sogar schon praktiziert wurde. Wahrscheinlich nicht, denn unsere Parteien und Medien  bevorzugen – von den Plump-Fälschungen AfD-naher Facebook-Autoren und vom absonderlichen Umgang der Bildzeitung mit Fakten abgesehen – eine elegantere Art von Fake, weithin unter dem Namen Wahlversprechen bekannt. Die direkt fiese Attacke auf den Konkurrenten verbietet sich hingegen, da Union, SPD, Grüne und FDP irgendwie dasselbe Boot bevölkern, wenn es um den zu erhaltenden wirtschaftlichen Status quo und den jeweiligen Anteil daran geht.


Lieber charakterisiert man die eigene Position, luftig umrankt von hehren Absichtserklärungen, in markigen Worten, die man je nach eigenem Bedarf und Insuffizienz des bürgerlichen Kurzzeitgedächtnisses nach einer Wahl wieder stillschweigend kassieren kann: Was scherte die Grünen ihre ansonsten laut proklamierte Friedensliebe, als sie – mit Joschka Fischer in Außenamt und Würden – zustimmten, serbische Städte zu bombardieren? Wie still wurde es um die „ambitionierten“ (Pressesprech) Klimaziele der Kanzlerin, als die eigentlich mächtigen Staatslenker aus der Automobil-, Luftfahrt- oder Braunkohle-Lobby das Recht ihrer Auftraggeber auf unbeschränkte Gewinne einforderten? Und wie Kleinkinder, die zornig mit dem Fuß aufstampfen, ihren Willen aber nicht gegen die weiseren Eltern durchsetzen können, wirkten die Parteien, wenn sie vor einer Wahl kategorisch erklärten: „Mit uns nicht!“ Mehrwertsteuererhöhung? Ohne uns (SPD)! Maut für ausländische Autofahrer? Mit uns nie (CDU und SPD)! Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen? Mit mir nur, wenn wir das Kind anders nennen (Merkel)! Und so werden nach Wahlen die einst felsenfesten Standpunkt und Überzeugungen reihenweise pulverisiert und materialisieren sich anschließend wieder wie durch Zauberhand ins Gegenteil verkehrt.


Die ganz große Koalition aus Union, SPD, Grünen und Liberalen setzt dem derzeit arg vulgären Wiener Schmäh ein nach Wirtschaftsinteressen geordnetes Modell volatiler Meinungsbildung, den Berliner Flipper,  entgegen. Man muss im dominierenden Parteienspektrum schon lange nicht mehr die anderen ausspionieren und sie mit Schmutz bewerfen, man kennt sie ja gut genug und unterscheidet sich im Grunde nur noch marginal von ihnen.


10/2017

Dazu auch:

Gefährder aus Austria in der Rubrik Politik und Abgrund

                     



Die halbe Wahrheit


Wenn irgendwo auf der Welt ein Konflikt ausbricht, sind unsere Medien vor Ort – so scheint es jedenfalls. Tatsächlich werden meistens von den Agenturen verbreitete Informationen präsentiert, seltener eigene Korrespondenten entsandt und fast nie wirtschaftliche oder geopolitische Hintergründe analysiert. Auch im Falle der Rohingya-Verfolgung in Myanmar werden einige Fakten aneinandergereiht, andere aber, die gerade die diskrete Rolle Deutschlands beleuchten würden, bleiben außen vor. Man kann dabei nicht pauschal diffamierend von einer Lügenpresse sprechen wie AfD oder Pegida, vielmehr handelt es sich um eine selektive, bemerkenswert unvollständige Berichterstattung unserer Leitmedien.


Die „am stärksten verfolgte Minderheit“


In lyrischer Form kritisierte Bertolt Brecht die bürgerliche Geschichtsschreibung: Der junge Alexander eroberte Indien./Er allein?/Cäsar schlug die Gallier./Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Die militärischen Erfolge der beiden antiken Eroberer sind Tatsachen, doch wer hatte die eigentliche Arbeit zu erledigen, wer litt darunter, schaffte die materiellen Grundlagen dafür und musste die Feldherren und deren Krieger versorgen? Schon in der Schule wird die Historie mit Namen und Zahlen etikettiert, ihre bekannten Protagonisten durchlaufen einen Prozess der posthumen Idolisierung mit professoralem Segen, während die Hintergründe im wabernden Dunkel der Geschichte versinken.


Angesichts der journalistischen Praxis heutzutage hätte Brecht gleich weiterdichten können. Natürlich wollen wir nicht zu viel verlangen: Würden die bürgerlichen Medien Kriege, Machtkämpfe, die Beauftragung der Politik durch die Wirtschaft oder die zu letzterem nötige Manipulation dialektisch analysieren, wären sie keine bürgerlichen Medien mehr. Aber man darf doch erwarten, dass wenigstens die ihnen zugänglichen Fakten so vollständig wie möglich veröffentlicht werden. Und das geschieht in Bezug auf Myanmar wieder einmal nicht.


Dabei hätte man vorbereitet sein können, denn bei der jüngsten Geschichte der Rohingya handelt es sich um die Chronik eines angekündigten Verbrechens. Schon vor einigen Jahren flohen Tausende von Angehörigen der sunnitischen Minderheit vor dem von buddhistischen Mönchen aufgehetzten Mob aus dem Süden Myanmars nach Thailand, wo sie von den Offiziellen des fanatisch buddhistischen Königsreichs erpresst, ausgeplündert und interniert wurden (so viel zur angeblich friedlichsten und sanftesten der Weltreligonen).


Ob die Rohingya nun mehrheitlich von Alteingesessenen der birmesischen Nordprovinz Rakhaing, die sich vor tausend Jahren zum Islam bekehrten, abstammen oder von muslimischen Bengalen, die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert oder noch später dort ansiedelten, ist unter Historikern umstritten, für die gegenwärtige Einschätzung jedoch zweitrangig. Tatsache ist, dass durch die aktuelle Welle der Gewalt 400.000 Angehörige der Volksgruppe ins bitterarme und überbevölkerte Bangladesh fliehen mussten, dass vermutlich Tausende getötet wurden, dass das Militärregime in Rangun ihnen bereits 1982 die Staatsbürgerschaft entzog und ihren Grundbesitz beschlagnahmte. Seitdem haben Rohingyas keinen Zugang zu höherer Bildung mehr, dürfen nicht ins Ausland reisen, sich andererseits auch im Innern nicht frei bewegen.


Die UNO spricht von der „am stärksten verfolgten Minderheit der Welt“ und konzediert der – mittlerweile gewählten – Regierung in Rangun „ethnische Säuberungen“ wie „aus dem Lehrbuch“. Lange Zeit schwieg Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, inoffiziell mittlerweile Regierungschefin, zu den Morden und Plünderungen; als sie sich nun endlich äußerte, kam Vages, Beschwichtigendes, Relativierendes über ihre Lippen, aber nichts davon, dass ein Hauch von Völkermord über dem Land hängt, wie selbst handverlesene, zur „Besichtigung“ der Provinz eingeladene ausländische Journalisten nun bestätigten. Dörfer werden niedergebrannt, Menschen ins Feuer geworfen, andere von Kugeln zersiebt, wobei sich offizielle Militärs und Milizen die Arbeit teilen.

All diese Fakten wurden von deutschen Medien dokumentiert, und doch bilden sie nur die halbe Wahrheit. Brecht hätte an dieser Stelle womöglich gefragt: Sie erschießen Menschen?/Wer gab ihnen die Gewehre?


Ein bisschen Wahrheit


Was neben anderem nicht in der Presse zu finden war: Avaaz, das „weltweit größte und einflussreichste Netzwerk für Online-Aktivisten“ (Guardian), hat  eine Petition gegen die Unterstützung des birmesischen Militärs durch westliche Staaten aufgelegt. Namentlich werden Großbritannien, Deutschland und Italien als Partner einer massakrierenden Armee aufgeführt.


Dass Deutschland der richtige Adressat für die Boykott-Forderung ist, kann man leider nicht der Tagesschau entnehmen, man muss sich alternativer Quellen, etwa German-Foreign-Policy, bedienen, die eine erschreckende Verwicklung unserer vorgeblich dem Frieden und den Menschenrechten verpflichteten Republik enthüllen. Schon seit Jahrzehnten statteten deutsche Rüstungsfirmen wie Rheinmetall oder SIG Sauer die birmesischen Streitkräfte mit Waffen aus, obwohl die Militärdiktatur bereits früher brutal gegen andere Minderheiten, die Shan und die Karen etwa, vorging. Auch bei der blutigen Niederschlagung von Studentenprotesten und der Erschießung von Mönchen, kamen die tödlichen Patronen oft genug aus den Läufen des Sturmgewehrs G 3, Made in Germany.


Vor allem die Fritz Werner GmbH, bis 1990 in Bundesbesitz, dann an Ferrostal verkauft, sorgte dafür, dass den Militärs weder die Handfeuerwaffen noch die Munition für ihre Liquidierungen von Oppositionellen und Angehörige ethnischer Minderheiten ausging. Auch als die Diktatur international geächtet und mit einem Rüstungsembargo belegt wurde, unterhielt der Geschäftsführer Fritz Werner beste Beziehungen zum starken Mann Ne Win, der sich wiederum mit etlichen Aufträgen für die Treue des Deutschen revanchierte.


Dann gab es freie Wahlen, und die Militärs traten offiziell ins zweite Glied zurück. Tatsächlich aber verfügen sie nicht nur über eine Sperrminorität im Parlament, sondern auch über die eigentliche Macht im Lande, die bekanntlich aus den Gewehrläufen kommt. Was die Soldaten derzeit den Rohingya antun (und mit der Existenz einer kleinen Rebellengruppe, die gegen die Entrechtung kämpft, rechtfertigen), ähnelt dem, was in den Zeiten der Diktatur Kritikern und Mönchen angetan wurde, ist nur umfassender und zusätzlich auch noch religiös aufgeladen. Die Bundesregierung und die Bundeswehr ficht diese Brutalität indes nicht an, sie umwirbt die Schlächter, ohne dass die Medien Notiz davon nehmen.


Das Prinzip Deutschland first


Nun könnte man sagen, Myanmar liege hinter den sieben Bergen und interessiere nicht in den Zeiten eines Trump oder Erdoğan; man könnte vielleicht darauf verweisen, dass auch andere Staaten das Regime in Rangun mit Rüstungsgütern versorgen. Allerdings widerspricht das allseitige Schweigen einem ungeschriebenen Gesetz der hiesigen Medien: An erster Stelle der Berichterstattung hat zu stehen, was in Deutschland geschieht. Danach kommen Nachrichten aus den Nachbar- und Partnerländern, von Österreich bis zu den USA. Für politische Ereignisse und Entwicklungen aus der Dritten Welt sind (wenn sie überhaupt publiziert werden) die hinteren Plätze der Info-Rangliste vorgesehen – es sei, denn sie setzen Flüchtlingsbewegungen nach Europa in Gang oder die Bundesrepublik ist in irgendeiner Weise involviert.


Aber in Myanmar ist Deutschland sogar höchstoffiziell engagiert – und dennoch berichtet niemand darüber. General Min Aung Lhaing, derzeitiger Oberbefehlshaber des südostasiatischen Landes, verhandelte im April mit dem Bundeswehr-Generalinspekteur Volker Wieker darüber, birmesische Offiziere in Deutschland ausbilden zu lassen. Ausdrücklich lobten die Medien in Myanmar die Rolle Deutschlands bei der Ausstattung jener Streitkräfte, die derzeit den Genozid an den Rohingya proben.


Warum liest man dazu nichts in der Presse hierzulande? Warum erfährt man nichts von der Avaaz-Petition? Warum begnügt sich die TV-Berichterstattung mit der Dokumentation der Massenflucht, spart aber die Hintergründe und die materiellen Grundlagen der Massaker (und damit die für Berlin maßgeblichen Erwägungen) aus? Die Antworten sind irgendwo zwischen Inkompetenz, Gleichgültigkeit und stillschweigender Billigung zu suchen.

  

Frühere Sündenfälle


Natürlich gibt es Redakteure und Ressortchefs, die sich mit den Oberflächenreports der Presseagenturen zufriedengeben, denen die brisanten Informationen abgehen, weil sie keine dicken Bretter bohren wollen.


Daneben reagieren in neoliberalen Think Tanks geschulte Verantwortliche auf zynische Weise: Sie wissen, dass die VR China eine Transporttrasse durch die Provinz Rakhaing plant, um bei Rohstoffimporten aus Afrika und dem Nahen Osten nicht mehr auf die vom Westen leicht zu sperrende Seestraße von Malakka angewiesen zu sein. Was zählt schon die physische Existenz einer muslimischen Minderheit angesichts der Möglichkeit, dem großen Konkurrenten den Freihandel zu erschweren, indem man eine grausame Armee als Torwache instrumentalisiert. Doch solche Interessen der Konzerne und auch die zunehmend expansive Außen- und Militärpolitik der Bundesregierung sollten tunlichst nicht an die große Glocke gehängt werden.


Und dann gibt es nicht wenige, die schweigen, weil sie auch zu früheren Sündenfällen geschwiegen haben, einfach weil glauben, dass militärisch-politisches Monopoly die Bevölkerung nichts angeht und Wissen darum nur Unruhe schafft.


Das läuft schon lange so: In den 1980er Jahren informierten bundesdeutsche Medien brav über die Militärdiktaturen in Brasilien und Argentinien, verschwiegen lange Zeit aber die lukrative Kumpanei von VW, Siemens und Daimler mit den Generälen. Während der „sozialliberalen“ Koalition unter Helmut Schmidt trainierte die Bundeswehr Spezialkräfte der guatemaltekischen Armee, die als die blutrünstigste des amerikanischen Kontinents galt. Von einer peripheren Erwähnung im ARD-Weltspiegel abgesehen, wurde davon in Funk und Presse nichts thematisiert. Und im Augenblick berichten die Medien hierzulande zwar pflichtgemäß über die Bombardierung, Aushungerung und Isolierung der jemenitischen Zivilbevölkerung durch die von Saudi-Arabien geführte Kriegsallianz, ignorieren dabei aber, dass in der Luft, zu Wasser und zu Land deutsche Rüstungstechnologie durch Gewehre, Munition, Boote und Drohnen diese Kriegsverbrechen erst ermöglicht.


Die meisten deutschen Qualitätsmedien sind in all diesen Fällen mutig auf der Suche nach der Wahrheit gesprungen, aber leider auf halbem Weg im Sumpf gelandet.


09/2017

Dazu auch:

Mörder und ihre Helfer in der Rubrik Politik und Abgrund

Schreckliche Freunde ebda.    

  

 

 

Fälschung des Nichts


Vor Jahren wurden zwanzig internationale Geldinstitute, darunter die notorische Deutsche Bank, zu hohen Geldstrafen  verurteilt, weil sie mittels des LIBOR-Indexes Zinsen manipuliert hatten. Jetzt stellen britische Bankenaufseher fest, dass es nichts zu fälschen gab, weil es sich bei dem gesamten Konstrukt um ein Fake handelte. Der linker Subversion unverdächtige Business-Dienst Bloomberg meldet es, das US-Magazin Rolling Stone übersetzt es in Klartext – und die Leitmedien schweigen dezent dazu. Was wir immer ahnten, ist nun schwarz auf weiß nachzulesen: Die globale Geldwirtschaft arbeitet für ihren Profit mit purer Fantasy, nicht mit irgendwie abgesicherten Daten und Werten.


Die Grundlagen, die es nie gab


Ein aufmerksamer Besucher dieser Homepage machte mich auf einen Artikel im unkonventionellen New Yorker Rolling Stone aufmerksam. Dessen Autor Matt Taibbi kommentierte in teils deftigen, aber stets erhellenden Termini einen Bericht des Wirtschaftssenders Bloomberg. Dieser wiederum bezog sich auf die Aussagen von Andrew Bailey, dem Leiter der britischen Finanzaufsicht, denen zufolge die LIBOR-Benchmarks reine Fiktion seien, da der „ihnen zugrunde liegende Finanzmarkt nicht existiert“.


LIBOR (London Interbank Offered Rate)? Da war doch etwas. Tatsächlich wurde 2011 aufgedeckt, dass der Index, nach dem sich weltweit die Zinsen für Finanzprodukte orientieren, massiv gefälscht worden war. Dabei sollte der LIBOR eigentlich für mehr Sicherheit oder zumindest für mehr Transparenz bei Transaktionen sorgen. Zwanzig der größten globalen Geldinstitute melden täglich dem LIBOR-Komitee um 11.00 Uhr Londoner Zeit ihre Einschätzungen, wie viel zu bezahlen wäre, wenn sie Risikokredite an andere Banken vergäben oder sie bei diesen aufnähmen. Die vier höchsten und die vier niedrigsten Werte werden gestrichen, der Durchschnitt der verbleibenden zwölf bildet den Index, die Benchmark (Höhenmarke) des internationalen Zinsniveaus.


Nur begriffen einige der beteiligten Banken bald, dass sich die Zinshöhe bei etwas Absprache trefflich zu ihren Gunsten manipulieren ließe. Standen Spekulationen, etwa Termingeschäfte mit Rohstoffen und Nahrungsmittel (meist zu Lasten der Drittweltländer) an, für die kurzfristig Geld besorgt werden musste, empfahl sich ein niedriger Zinssatz, gab man selbst Kredite aus, bevorzugte man einen hohen. Als das Ganze aufflog, mussten zehn der Edeladressen in der globalen Finanzwirtschaft hohe Strafen zahlen, darunter die Deutsche Bank allein 2,5 Milliarden Dollar.


Nach den jüngsten Enthüllungen müsste man sich – strenggenommen – allerdings fragen, ob diese Ahndung rechtmäßig war, handelte es sich bei der gesamten LIBOR-Berechnung doch laut Matt Taibbi vom Rolling Stone um ein „krummes Märchen“. Und eigentlich ist es nicht strafbar, ein Märchen zu eigenem Wohlgefallen umzuschreiben.


Seit rund zwanzig Jahren leihen sich die Großbanken nämlich kein Geld mehr untereinander. Was sie benötigen, verschaffen sie sich durch Handel mit Wertpapieren oder kurzfristigen Ver- und Rückkauf eigener Vermögenstitel. Die in London gemeldeten Schätzungen waren also aus dünner Luft gegriffen. Während Finanzaufseher Bailey beim LIBOR vorsichtig von einer „synthetischen Rate“ spricht, sieht Taibbi ein „auf Betrug basierendes“ Konstrukt, ein „Fake von Anfang an“, auf das sich – Bloomberg zufolge – weltweit Finanzvereinbarungen im Wert von 350 Billionen Dollar beziehen…

     

Was geht uns LIBOR an?


Dass die Medien hierzulande (und weitgehend überall) dazu schweigen, scheint zunächst einmal unverständlich. Denn auch wenn der Begriff weithin unbekannt oder zumindest unverständlich ist: der LIBOR-Index betrifft Individuen, Kommunen und Unternehmen rund um den Globus. Man könnte so weit gehen, zu sagen, dass jeder von uns auf die eine oder andere Weise von dieser Schimäre betroffen ist und durch sie benachteiligt werden kann.


Ob es sich um Zinsen für Hypotheken, Verbraucherkredite oder Kreditkartenzahlungen handelt – die Höhe wird meistens aus dem LIBOR abgeleitet, den sich einige der wichtigsten Banken im Kartell zu ihrem Vorteil zusammenreimen. Da es keine nennenswerten Leihgeschäfte zwischen den Geldinstituten gibt, existieren keine belastbaren Fakten, aber unsere Belastungen können nach deren Gutdünken heraufgesetzt werden.

Das Unwort der obersten Wirtschaftspolitiker und Zentralbankhüter,  „systemrelevant“, erhält so eine ganz neue Bedeutung: Relevant muss sein, wer ein profitables System global kraft seiner eigenen Phantasie durchsetzen kann. Die Betrugsaffäre 2011 verkümmert so zum Skandälchen, der Unfähigkeit einiger Big Players geschuldet, sich an die eigenen Fabeln zu halten.

   

Trump-Hype macht Journalisten blind


Matt Taibbi macht den US-Präsidenten Trump dafür verantwortlich, dass sich die internationalen Medien von „einer zwanzig Jahre anhaltenden psychodelischen Täuschung“ ablenken ließen. In der Tat ist es schwer, sich auf anderweitig Wesentliches zu konzentrieren, wenn der Hysteriker im Weißen Haus (ähnlich wie sein Bruder im Geiste, Kim Jong-un) mit Krieg droht und auch sonst beinahe jeden Tag eine andere mediale Sau durchs globale Dorf treibt, doch vermute ich noch ganz andere Gründe für das Schweigen der journalistischen Lämmer.


Seit Jahrzehnten haben die allermeisten Wirtschaftsredakteure ihren Frieden mit dem System gemacht, sind zu Exegeten neoliberaler Wirtschaftsinstitute, wohlwollenden Interpreten unternehmerischer Expansionspolitik um jeden Preis, einfühlsamen Börsenverstehern und relativierenden Hofdichtern des Turbo-Kapialismus geworden. Man hat sich eingerichtet im Haus der ökonomischen Macht und alle Angriffe auf seine Gönner, ob durch Linke, Ökologen, Drittwelt-Analytiker oder unabhängige Volkswirtschaftler, tapfer abgewehrt. Und nun soll man bekennen? Dass dieses liebgewonnene Gebäude auf Treibsand errichtet wurde? Nein, lieber wird die Fiktion weiter zur Realität hochgeschrieben; schließlich kann der Glaube Berge versetzen…

09/2017

Dazu auch:

Erleuchtete Gier im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 

 

                     

Endlos wegsperren


Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat das Polizeiaufgabengesetz (PAG) des Freistaats ändern lassen, schnell und ohne Getöse, vor allem aber, ohne dass den meisten Journalisten Brisantes aufgefallen wäre. Dabei hebeln einige drastische Erweiterungen polizeilicher Befugnisse die Gewaltenteilung teilweise aus und machen aus vagen Indizien folgenschwere „Fakten“. Und Herrmann ist nicht irgendwer: Der etwas bräsig wirkende CSUler könnte nach den Bundestagswahlen im September neuer Innenminister des ganzen Landes werden und die „bayerischen Verhältnisse“ auf die gesamte Republik übertragen.

 

Der feine Unterschied zu Polen

 

„Damit ist Bayern wieder einmal Spitzenreiter“, frohlockte Innenminister Herrmann, als am 19. Juli der von ihm eingebrachte Gesetzesentwurf im Landtag beschlossen wurde. Um den Normalbürger noch besser vor „hochgefährlichen Menschen“ zu schützen, können Verdächtige künftig unter bestimmten Voraussetzungen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag weggesperrt werden, und zwar ohne Verhandlung, ohne staatsanwaltliche Ermittlung sowie unter allenfalls sekundärer Assistenz von Richtern. Das Schönste für Law-and-Order-Fans dabei: Die Polizei kann durchgreifen, wenn sie auch nur eine „drohende Gefahr“ wittert.

 

Lautstark protestierten die meisten EU-Staaten, allen voran die Bundesrepublik, gegen die Aushebelung der Gewaltenteilung durch das zunehmend autoritäre PiS-Regime in Polen. Tatsächlich ist jede Balance in einem bürgerlichen Rechtsstaat dahin, wenn politische Machthaber unliebsame Richter einfach absetzen dürfen. Mit dem Prinzip der gegenseitigen Kontrolle von Legislative, Exekutive und Judikative hat es aber auch nicht mehr viel zu tun, wenn die Polizei in Bayern dazu ermächtigt wird, nach eigenem Gutdünken Personen zu festzunehmen, geraume Zeit zu inhaftieren und dann einen Richter einseitig mit eigenem Untersuchungsmaterial zu versorgen, auf dass er die Verlängerung der Freiheitsberaubung genehmigt – möglicherweise etliche Male.

 

Die Definition der „drohenden Gefahr“ (die eigentlich immer und überall in der Luft liegt) und der Gefährlichkeit des vermeintlichen Delinquenten obliegt ganz allein der Polizei, eine unabhängige juristische Untersuchung findet nicht mehr statt, und der Richter, der theoretisch alle drei Monate bis zum Hinscheiden der „Delinquenten“ sein Plazet zum Fortschreiben der Haftmaßnahme geben kann, ist ganz auf die Interpretation, die selektive Faktengewichtung und die mal mehr, mal weniger vollständige Indiziensammlung von Ordnungshütern angewiesen.

 

So plump wie die polnische Regierung geht Sheriff Herrmann (so sein Spitzname in Bayern) natürlich nicht vor. Er lässt keine missliebigen Richter absetzen, er beteiligt mittels neuem PAG die Justiz stattdessen nur noch peripher an Entscheidungen über die Freiheit des Bürgers. Die innere Sicherheit geht vor, und von der versteht die Polizei eine ganze Menge, wenn auch nicht immer richtig, wie der NSU-Skandal und so mancher brachiale Einsatz gegen friedliche Demonstranten bewiesen haben.

 

Risiko? Bedrohung? Die Polizei setzt fest!

 

Schon vor dem 19. Juli gab es die Möglichkeit, potentielle „Gefährder“ bis zu zwei Wochen in Polizeigewahrsam zu nehmen. Nun können es drei Monate sein, und nach einer oberflächlichen richterlichen Prüfung ein weiteres Vierteljahr, danach noch eines und so weiter – sozusagen ein potentielles Kettenurteil ohne juristische Ermittlung und ohne Verhandlung. Für Herrmann ist dies ein tolles Mittel gegen „Islamisten, Linksextreme oder Rechtsextreme“, wobei der Minister laut Bayerischem Rechts- und Verwaltungsreport die Stoßrichtung vorgibt, wenn er erklärt, die Notwendigkeit habe beispielsweise auch der G20-Gipfel in Hamburg gezeigt.

 

Heribert Prantl, Innenressortleiter der Süddeutschen Zeitung, ehemals Richter und Staatsanwalt, nannte das neue PAG „eine Schande für einen Rechtsstaat“ und präzisierte: „In Bayern gibt es künftig eine Haft, die es nirgendwo sonst in Deutschland gibt. Sie heißt hier offiziell, wie in anderen Bundesländern auch, Gewahrsam; auch Vorbeugehaft wird sie genannt. In Wahrheit ist sie Unendlichkeitshaft, sie ist eine Haft ad infinitum…“

 

Vor allem Autonome, denen die Polizei alles Böse zutraut, sollten sich also auf einen längeren Aufenthalt hinter Gittern einstellen, wenn sie gegen die Münchner Sicherheitskonferenz demonstrieren wollen, denn Herrmann ermächtigt sozusagen die Polizei zum Festsetzen und Wegsperren: „Damit können wir den Betreffenden solange präventiv festhalten, bis keine konkrete erhebliche Gefahr mehr von ihm ausgeht.“ Die aber könnte in den Augen eifriger Beamter bei unbelehrbaren Gipfelgegnern eine Lebensspanne anhalten.


Aber der vorausschauende, ahnungsvolle und spekulierende Jurist Herrmann geht noch viel weiter. Wenn ein Stein auf der Straße liegt und ein Demonstrant in der Nähe ist, muss jetzt nicht mehr abgewartet werden, ob er ihn in böser Absicht ergreift, denn: „Viertens geht uns darum, dass die Bayerische Polizei bereits bei drohenden Gefahren für bedeutende Rechtsgüter eingreifen kann.“ Diese Begründung mag vielleicht nicht verfassungskonform sein, könnte aber dem NATO-Verbündeten Erdoğan die Rechtfertigung für seine prophylaktischen Massenverhaftungen liefert, denn ein bisserl Gefahr droht quasi immer und überall. Und im Notfall kann Joachim Herrmann, geschult in absurder Utopie, sogar das Nichts dingfest machen und so erfolgreich bekämpfen: "Die effizienteste Abwehr von Gefahren ist doch, diese gar nicht entstehen zu lassen.“


Die Presse: weitgehend im Tiefschlaf

 

Nun hätte man am 19. Juli eigentlich einen Aufschrei der Opposition im Bayerischen Landtag erwarten dürfen. Nicht dass dies angesichts der absoluten CSU-Mehrheit ad hoc viel geändert hätte, aber immerhin wäre die Öffentlichkeit vielleicht ein wenig aufmerksamer geworden. Doch von wegen: Nur die Grünen und ihre Dissidentin Claudia Stamm stimmten gegen die fatale Gesetzesänderung, die SPD-Fraktion hingegen duckte sich wie meist, wenn es um die Sympathien reaktionärer Wähler geht, einfach weg und enthielt sich der Stimme.  Mit gleicher Duldsamkeit reagierten die Abgeordneten der Freien Wähler, obwohl aus deren Reihen zu hören war, die neuen Regelungen könnten ja auch für sie selbst gelten.

 

Vogel-Strauß-Politik der potentiellen Gegner im Landesparlament – blieben also nur noch die „Qualitätsmedien“ in ihrer selbstzugeschriebenen Funktion als Vierte Gewalt, als Wächter der Demokratie und Kontrolleure der Politik. Doch von Prantl und seiner SZ sowie einem kritischen Artikel in der TAZ abgesehen, verschlief die bürgerliche Presse den Skandal, brachte allenfalls eine Kurznotiz darüber oder präsentierte wie der konservative Münchner Merkur in einem Beitrag mit dem Titel „Richter entscheiden“ vergiftete Rosinen, die er sorgsam aus dem neuen PAG gepickt hatte: „Künftig können Richter alleine anordnen, wie lange Präventivhaft für Terrorverdächtige dauert. Spätestens nach drei Monaten muss ein Richter neu entscheiden.“ Schön wurde euphemistisch umschrieben, dass künftig jeder Autonome als „Terrorverdächtiger“ weggesperrt werden kann und der sagenhaft unabhängige Richter einseitig von Polizisten gebrieft wird, bevor er fast zwangsläufig einer Vorbeugehaft und deren Verlängerungen zustimmt.

 

Wenn man bedenkt, dass Joachim Herrmann ein Mann, nach dessen Dafürhalten ganz Deutschland am bayerischen Wesen genesen soll, seine rechte Sicht auf die Dinge demnächst vielleicht sogar im Bund durchsetzen kann und dass eine impotente SPD dem auch dort keinen Widerstand entgegensetzen würde, muss man das Schlimmste befürchten. So langsam verliert angesichts dieser ministrablen Populismus-Bedienung und Demokratie-Ignoranz die AfD ihre Existenzberechtigung. Und das ist in diesem Fall keine gute Nachricht…

08/2017

Dazu auch:

Der Saubermann im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit    

 

                                     

 

„Reichsbürger“

 

Seit den tödlichen Schüssen, die ein Reichsbürger auf einen SEK-Beamten im mittelfränkischen Georgensgmünd abgab, geistert der seltsame Terminus durch die Medien, ohne dass diese in der Lage wären, ihrem Publikum eine genauere inhaltliche Definition der inhaltlichen Bedeutung zu liefern. Dies liegt weniger an journalistischen Defiziten als vielmehr an dem unüberschaubaren gedanklichen Wust der selbsternannten Nachfolger des deutschen Imperiums. Wenn allerdings die Polizei verkündet, Teile der „Reichsbürgerbewegung“ seien dem rechtsextremen Spektrum zuzurechnen, untertreibt sie schamlos.

 

Leben im Geisterland

 

Es soll an die 10.000 Menschen in Deutschland (ein Viertel davon allein in Bayern) geben, die sich weigern, Steuern und Bußgelder zu zahlen oder Gerichtsentscheide zu akzeptieren, weil sie die Bundesrepublik nicht als Staat anerkennen. Für sie existiert das Deutsche Reich entweder in den Grenzen von 1937 oder in denen des Kaiserreichs, also bis 1918, weiter. Die sogenannte Reichsbürgerbewegung gliedert sich in mehrere heterogen spinnende Gruppierungen, die „kommissarische Reichsregierungen“ bilden, eigene Pässe ausstellen und in provisorischen Staaten mit Phantasienamen oder schlicht noch in Preußen zu leben glauben.


Die „Legitimation“ ihrer Realitätsverweigerung leiten die Reichsbürger aus einer seltsam formulierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (das sie nach eigener Logik gar nicht anerkennen dürften) von 1973 ab, in der es u. a. heißt: „Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! – geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist…“


Da die wählerischen Reichsnationalen sich nur herauspicken, was in  ihre spezielle Rabulistik passt, verschweigen sie die Schlussfolgerung der Verfassungsrichter: „Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich‘, – in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch‘, so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.“


Demnach leben die Ewiggestrigen also in einem neuen Staat, den es aber für sie gar nicht gibt, auf dem Terrain des verblichenen Deutschen Reiches, nach dem sie sich so sehr sehnen. Diese Republik aber wollen sie nicht anerkennen. Zumal sich ihrer Auffassung nach das neue Deutschland noch im Krieg befindet, da es mit diversen Staaten nach dem Ende der Hitler-Diktatur keine Friedensverträge geschlossen hätte (die – gemäß ihrer Argumentation – allerdings gar nicht rechtsgültig gewesen wären). Tatsächlich wollte die BRD bilaterale Abkommen vermeiden, um sich nicht Reparationszahlungen gegenüber zu sehen. Dass aber supranationale  Institutionen wie die UNO oder der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Bundesrepublik als Staat anerkennen und als im Frieden mit seinen Nachbarn befindlich sehen, ficht die restaurativen Nostalgiker in ihrem utopischen Schrebergarten nicht weiter an.


Man könnte amüsiert den Kopf schütteln ob derart obstinater Hirnschwurbelei,  ganz so einfach aber ist die Sache nicht.

 

Real-nationalistische Fantasy


Der Vorfall in Georgensgmünd hat drastisch vor Augen geführt, dass es sich bei den Reichsbürgern nicht um verschrobene Sonderlinge handelt, die friedlich ihr exotisches Hobby pflegen, sondern um gewaltbereite Fanatiker, die Zugang zu Schusswaffen haben und den Beamtenapparat bis hin zur Polizei infiltrieren. Schon der Name der Bewegung weist darauf hin, dass die Aktivisten mit Demokratie nichts im Sinn haben, impliziert er doch das Faible für eine imperiale, totalitäre Staatsform. Dass die Reichsbürger inhaltliche Anleihen bei amerikanischen Verschwörungstheoretikern, deutschen Antisemiten und bei den Nationalsozialisten machen, durfte ich neulich in einem Nürnberger Biergarten erfahren, als am Nebentisch ein „Chefideologe“ vor einem kleinen Kreis gläubiger Zuhörer sein Weltbild ausbreitete.


Nach sachlichen Hinweisen zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft und zur angeblichen Praxis der deutschen Botschaft in Neu-Delhi, die Heimatbezeichnung Preußen zu tolerieren, hub eine Tour de Force durch Politik und Geschichte an, die selbst die bizarre US-Serie „Game of Thrones“ mit ihren Intrigen, Machinationen und grausamen Ungeheuern als betulich und phantasielos erscheinen ließ. Da wurden die Rothschilds angeführt, die einst die ganze Welt beherrscht hätten, jetzt aber nur noch in Deutschland und Frankreich die Strippen zögen. Aber auch in den USA sei das Finanzwesen fest in jüdischer Hand. Das zuerst im zaristischen Russland erschienene antisemitische Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“, das den Griff der Juden nach der Weltmacht belegen sollte, bald aber als Fälschung entlarvt wurde, feiert, nachdem es bereits von den Nazis instrumentalisiert wurde, nun im Gedankengut der Reichsbürger Wiederauferstehung.


Immer wieder fanden sich ein paar Körnchen Wahrheit in der Suada, die aber sogleich in einen Brei irrwitziger Schlussfolgerungen untergerührt wurden. Der „Theoretiker“ erwähnte den Militärisch-industriellen Komplex, vor dem einst tatsächlich der US-Präsident Eisenhower gewarnt hatte, rückte aber die teils klandestine Kooperation von Konzernen und Militärs in die Nähe einer weltumspannenden Freimaurer-Loge. Für Fantasy-Spezialisten seines Schlages sind die einflussreichen globalen Think Tanks offenbar noch nicht gruselig genug. Auch ist es richtig, dass sich im Who is Who der US-Banker etliche jüdische Namen finden, nur kämpfen die in bester kapitalistischer Manier häufig gegeneinander, statt vereint die Weltherrschaft Zions anzustreben.


Donald Trump indes sei viel cleverer, als die Leute hierzulande denken, erklärt der polyglotte Weltendeuter seinen Jüngern. Er stelle sich dumm, um dann blitzschnell zuzuschlagen. Übrigens ist Saudi-Arabiens König Salman schon längst tot, im Fernsehen wird uns ein Doppelgänger präsentiert. Fehlt noch etwas zu einem opulenten Panoptikum? Richtig, Aliens gibt es natürlich auch auf Erden, mindesten acht verschiedene Arten davon. Die US-Geheimdienste wüssten das, hielten die Beweise aber unter Verschluss.


Wer solchen mit sonorer Stimme und großem Ernst vorgetragenen Reden eine halbe Stunde lauscht, benötigt keinen Alkohol mehr, um zu rauschhafter Bewusstseinseintrübung zu gelangen. Nun wäre dies an sich ein vernachlässigbares Übel, würde der zeitweisen Intoxikation nicht ein Kater folgen, der sich in der Realität zur dauerhaften Bedrohung entwickeln kann.


Geistig Verwirrte mit Waffenschein


Wir sollten nicht vergessen, dass auch die Nazi-Ideologie wahnhafte Züge und paradoxe Analogien aufwies. Von abgefeimten Polit-Gangstern und rassistischen Vordenkern instrumentalisiert, verfehlte sie dennoch ihre Wirkung auf die einfachen Gemüter nicht. Das Fußvolk der Reichsbürgerbewegung ist leicht manipulierbar, geistig verwirrt – und erstaunlich viele Angehörige üben in Schützenvereinen, verfügen über Waffenscheine, besitzen völlig legal Gewehre und Pistolen.


Dass Zeitungen und TV-Sender sich mit der Einordnung der Reichsbürger schwertun, ist angesichts des von ihnen als Wahrheit angepriesenen Fiktionsgestrüpps verständlich. Nur sollte man nicht aus der Absurdität dieses Weltbildes auf ihre ideologische Harmlosigkeit schließen oder sie als marginalisierte Exoten unterschätzen. In den USA haben sich ähnlich gepolte Militia Groups mittlerweile zu einer nationalen Gefahr entwickelt. Zudem besteht das Risiko, dass sich der Verfassungsschutz der Blut-und-Boden-Nostalgiker annimmt und ihnen – wie zuvor schon der NPD – mittels erfahrener V-Leute fähiges Führungspersonal und ein kohärentes Programm verschafft.


Mögen sich auch die öffentlich formulierten Ziele der Reichsbürger von den Allmachtphantasien der Nazis unterscheiden, die völkische Ausrichtung, der Antisemitismus, der sich auch in der Leugnung des Holocausts manifestiert, die Fremdenfeindlichkeit, der brachiale Nationalismus und die Gewaltbereitschaft entstammen derselben braunen Ursuppe.

Man muss der Polizei widersprechen: Nein, nicht Teile der Reichsbürgerbewegung sind rechtsradikal, die gesamte krude Horde ist es. 

07/2017

Dazu auch:

Nazi und Gendarm im Archiv dieser Rubrik  

 

 

 

 

Wiederholungstäter


Die Kungelei bei den TTIP-Verhandlungen, die Unzulänglichkeit der im Hinterzimmer ausgehandelten kosmetischen Korrekturen bei CETA: Machinationen der Wirtschaft und ihrer Politiker, die Hunderttausende auf die Straße trieben, zur Gründung einer europäischer Bürgerinitiative und zu Reuebekundungen von EU-Kommissaren und ihren Kumpanen in nationalen Regierungen führten. Doch die dubiosen Vertreter europäischer Völker haben es wieder getan. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan (JEFTA) wurde ebenso mafiös gestrickt wie die früheren Verträge. Die Medien haben das zwar aufgedeckt, halten die Omerta-Taktik aber für einen Formfehler und nicht für einen Charakterzug des Systems.

 

Wir haben (nichts) gelernt!


Mit JEFTA verhält es sich wie bei den anderen Abkommen des modernen Freihandels: Die großen Konzerne beider Partner dürfen in einer Art enthemmten Monopoly-Spiels um größtmöglichen Profit würfeln, nur dass niemand ins Gefängnis muss und Spekulationsverluste bei Staat und Gesellschaft eingeklagt werden können. Wird nämlich ein Unternehmen auf seinem Exportmarkt durch eine Gesetzgebung etwa zum Natur- und Umweltschutz in der Gewinnmaximierung behindert, fühlt es sich durch Mitbestimmung oder Arbeitnehmerrechte in anderen Ländern „benachteiligt“, kann es klagen, bei CETA (EU – Kanada) vor einem nur vordergründig neutralen Gerichtshof, bei JEFTA (wie schon bei TTIP zwischen der EU und den USA vorgesehen) vor anonymen privaten Schiedsgerichten.


Dieser „Investorenschutz“ führte bei anderen Handelspakten schon zu Klagen gegen ein australisches Raucherschutzgesetzes durch den Tabakkonzern Philip Morris oder gegen eine mexikanische Provinzregierung, die einer US-Firma untersagte, Giftmüll in einem mexikanischen Naturschutzgebiet zu verklappen. Ein besonders pikanter Fall war das Verfahren des kanadischen Unternehmens Lone Pine gegen den eigenen Staat wegen dessen Fracking-Verbots, allerdings von der US-Filiale aus. Das Freihandelsabkommen NAFTA hatte die beiden letztgenannten Prozesse überhaupt erst möglich gemacht, denn internationale Trusts können in dessen Rahmen überall dort vor Gericht ziehen, wo sie eine Filiale haben.


Handelsverträge könnten auch einfach den Wegfall von Zöllen zum Inhalt haben, aber das reicht der Wirtschaft nicht mehr. Sie will ihren Einfluss auf die Legislative von Staaten systematisieren und sich gegen Verluste beim globalen Zocken auf Kosten von Steuerzahlern absichern. Weil das aber nicht so gut ankommt beim Bürger, wurden die Verhandlungen bei TTIP und CETA geheim geführt, die Bedingungen sogar ohne Beteiligung und Information der Brüsseler Abgeordneten ausgemauschelt. Als die Wahrheit scheibchenweise ans Licht der Öffentlichkeit gelangte, gelobte die EU-Kommission Besserung. „Wir haben gelernt“, hieß es. Gelernt haben Juncker & Co allenfalls, dass man weitere Abkommen am besten in toto geheim hält, um die späteren Opfer nicht vorzeitig zu beunruhigen. So steht nun die klandestin ausgehandelte Vereinbarung mit Japan, die noch unverschämter als TTIP die Interessen der Wirtschaft bedient, vor der Unterzeichnung, weitere Deals, etwa mit Vietnam, sollen bald folgen.

   

Gute Recherche – seichte Schlüsse


Dass JEFTA überhaupt in die Schlagzeilen geriet, ist dem Recherche-Verbund von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung (SZ), vor allem aber Greenpeace und einigen anderen Organisationen, die Leaks im Geheimgestrüpp der Unterhändler-Loge aufspürten, zu verdanken. Sie entlarvten die EU-Kommissare als Wiederholungstäter und dokumentierten auch, dass die japanische Seite auf privaten Schiedsgerichten bestand und dass das europäische „Vorsorgeprinzip“, dem zufolge bedenkliche Agrar-Importe (etwa hormonbehandeltes Fleisch oder gentechnisch verändertes Getreide) hätte verhindert werden können, ausgehebelt wurde. (Damit wäre ein Verbot solcher Einfuhren nur noch statthaft, wenn die Leichen schon auf der Straße liegen). Auch wurde von der SZ dokumentiert, wie bedenkenlos (und illegal) die japanische Holzindustrie bereits jetzt die Wälder in rumänischen Naturschutzgebieten kahlschlägt. Wenn JEFTA in Kraft ist, könnte dieses Umweltverbrechen zu einem Recht auf schrankenlose Ausbeutung von Ressourcen mutieren.


Aber im Grunde sind die Journalisten ja gar keine Gegner von TTIP, CETA oder JEFTA. Die Ressortleiter der SZ wurden zum Teil in neoliberalen Think Tanks gebrieft, und die Wirtschaftsredaktion ist ohnehin weitgehend als wohlwollende Interpretationsbegleitung von Industrie, Handel, Finanzmarkt und Börse zu sehen. So relativiert Alexander Hagelücken in seinem Essay „Einladung zum Eierwerfen“: „Es ist wunderbar, dass die EU mit Japan ein Handelsabkommen schließen will – aber bitte nicht geheim verhandelt und nicht auf Kosten der Bürger.“


Der Pakt wäre also ganz okay – wenn nur die Brüsseler Kommission nicht dreimal gelogen bzw. wesentliches verschwiegen hätte und dadurch unglaubwürdig geworden wäre. Was Hagelücken dabei nicht auffällt: Es gibt eine Menge Freihandelsabkommen, die nicht im Hinterzimmer geschmiedet wurden (für deren Inhalte sich nur niemand interessierte), die dennoch das Primat der Profitsicherung und die Rechtlosigkeit wie Auspowerung des schwächeren Partners festschrieben. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang beispielhaft auf die Knebelverträge der EU mit westafrikanischen Staaten, die dort den Zusammenbruch der einheimischen Landwirtschaft zur Folge hatten und die Elendsemigration mit initiierten.

Dass die gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen der jüngsten Freihandelsvereinbarung bis zu ihrem Eintritt für die Bürger nicht durchschaubar sein sollen, ist weniger ein Fauxpas oder eine Intention der EU-Kommission als das ihr befohlene und von ihr exekutierte Vorgehen im Sinne der global agierenden Konzerne. Wer in die Lage versetzt wird, die im Grunde undemokratischen Mechanismen unseres ökonomischen Machtgefüges zu analysieren, könnte allzu leicht auf Alternativen kommen… 

      

Ein neuer Ansatz bei Greenpeace?


Natürlich geht es einer Organisation wie Greenpeace auch weiterhin in erster Linie um den Schutz der Wale, der Wälder und Naturparks, wenn sie gegen JEFTA agitiert. Aber die NGO beschränkt sich nicht mehr darauf, mutig, unter Lebensgefahr, aber letztendlich erfolglos die japanische Fischereiflotte bei der Jagd auf Meeressäuger zu stören oder Petitionen gegen solche Wilderei aufzulegen, sie ist in der Welt der Whistleblower und Leak-Publizisten angekommen. Ohne Hacker, ohne Menschen wie Edward Snowden, Chelsea Manning oder Julian Assange, die den Kadavergehorsam und das Schweigegelübde der manipulierenden schweigenden Minderheit gegenüber verweigerten und damit offenlegten, was abseits der offiziösen Nachrichtenlage geschah, wüssten wir wenig über die Undercover-Verbrechen der Hüter westlicher Werte. Was uns Regierungssprecher und Presse nicht mitteilen, erfahren wir von (nicht kommerziell interessierten) „Durchstechern“ (Trump).


Dass Greenpeace nun in den informellen Kanälen der globalen Konzerne und der ihnen dienstbaren Politiker fischt, wird die Organisation über den reinen Naturschutz hinaus hinsichtlich der Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse sowie der obskuren Entscheidungsprozesse, die unsere Gesellschaften verändern und das Allgemeinwohl oft genug bedrohen, sensibilisieren. TTIP und JEFTA sind nicht nur ökologische Reizthemen, es geht vielmehr um die Herrschaft des „freien Marktes“, besser: eines die Welt umspannenden und die Lebensgrundlagen vieler Menschen gefährdenden Kapitalismus. Spontane Kampagnen reichen nicht mehr, auch Greenpeace muss das System analysieren und sich stärker als zuvor politisieren.

07/2017

Dazu auch:

Die dritte Drohung und Der Teufelspakt im Archiv von Politik und Abgrund

 

       

   


Hacker und Ölprinzen


Derzeit werden Hacker, seien es Mitglieder der russischen Cyber-Community, Nerds westlicher Geheimdiensten oder Agenten des israelischen Mossad, für so ziemlich alles verantwortlich gemacht, was irgendwo schiefläuft, von verlorenen Wahlen über militärische Sabotage bis hin zu Börsenmanipulationen. Wenn aber, wie im Falle des saudischen Vorgehens gegen den Ex-Verbündeten Qatar, ein Hacker-Angriff Anlass zu blitzschnellen gezielten Maßnahmen gibt, dann wird man das Gefühl nicht los, die Attacke sei erwartet, ja geradezu erwünscht gewesen.


Haltet den Dieb!


Eine offenbar fingierte „offizielle“ Stellungnahme Quatars, der zufolge man die Politik des Iran unterstütze, sorgte dafür, dass binnen Stunden Riad die Beziehungen zum Regime in Doha abbrach und seine Verbündeten Bahrein, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sowie Ägypten dazu überredete, diesem Schritt zu folgen. Noch während sich der Emir von Qatar mit einer Richtigstellung abmühte, schlossen die Saudis und Bahrein ihre Grenzen zum vermeintlich abtrünnigen Emirat und organisierten eine Seeblockade. Den Qatar Airlines, einer der weltweit größten Fluggesellschaften, wurden die Landerechte auf etlichen arabischen Rollbahnen entzogen (wohl sehr zur Freude der in den VAE ansässigen Konkurrenzunternehmen Etiahad und Emirates). Außerdem darf Qatar in der von Riad angeführten Kriegsverbrecher-Gang, die gerade im Jemen vorrangig die Zivilbevölkerung bombardiert, nicht mehr mittun. Das alles ging so rasch, wirkte logistisch und politisch so präzise vorbereitet, dass man argwöhnen möchte, jemand habe nicht nur den Hacker-Angriff, sondern auch den genauen Zeitpunkt vorausgeahnt…


Für Saudi-Arabien war es ein willkommener Anlass, das kleine unbotmäßige Emirat zu isolieren, und die Rechtfertigung, Qatar finanziere islamistischen Terrorismus, klingt ganz danach, als wolle man nicht nur das Verhalten des Regimes ändern, sondern es gleich ganz eliminieren. Denn der Staat mit seinen 2,7 Millionen Einwohnern, flächenmäßig nur so groß wie Zypern, ist mit seinen Ölvorkommen und dem weltweit ergiebigstem Erdgasfeld nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern durch militante Außenpolitik und global wirkende Propaganda auch ein politischer und medialer Konkurrent Riads geworden.


Ob in Ägypten, wo die Saudis das blutige Militärregime des General as-Sisi unterstützen, während die Qataris zu den Moslembrüdern des gewählten und gestürzten Präsidenten Mursi hielten, oder in den von Israel besetzten Gebieten, wo Doha die Hamas als einzig legitime Vertretung des palästinensischen Volkes sieht, wohingegen Riad sie als Terrororganisation einstuft – die Positionen beider Diktaturen scheinen unvereinbar. Auch auf dem Mediensektor kämpfen die beiden Wüstenmonarchien mittels ihrer global vertretenen TV-Sender Al-Jazeera (Qatar) und Al-Arabiya (Saudi-Arabien) um die islamkonforme Deutung der Welt und die Gunst der sunnitischen Glaubensgemeinschaft. Und wie es der Zufall will, wird Al-Jazeera just in diesem Augenblick Opfer heftiger Hacker-Attacken.


Beide Länder werden übrigens wahhabitisch beherrscht, sie stehen also unter dem Diktat der reaktionärsten und fanatischsten Koran-Exegeten. Der Vorwurf, Qatar habe islamistischen Terror initiiert und alimentiert, dürfte also richtig sein. Pikant wird es erst, wenn man sich den Belastungszeugen näher ansieht: Kein Staat der Welt war in den letzten Jahrzehnten so intensiv in den Aufbau, die Logistik und die materielle Ausrüstung gewalttätiger salafistischer Organisationen verstrickt wie Saudi-Arabien. Ausgerechnet die Ölprinzen in Riad zeigen nun mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Qatar – und erhalten Beifall aus gewöhnlich schlecht unterrichteter Quelle.

    

Durch Trumps Brille


Der notorisch infantile US-Präsident Donald Trump zwitscherte sogleich seine Zustimmung zu Riads aggressivem Schritt in die Welt hinaus und reklamierte die geistige Urheberschaft für sich. Und wie man weiß, tut Kindermund oft die Wahrheit kund, wenn auch nicht die ganze – und die verbleibende auch meist unter Ausschaltung des Hirns.


Im Prinzip sei der Coup ja durch ihn und seine kürzliche Reise durch den Orient initiiert worden, fabulierte der große Egomane im Weißen Haus. Er habe den Scheichs klargemacht, dass „die radikale Ideologie“ nicht finanziert werden dürfe. Und so freut sich Trump, der offenbar das vergiftete Gehackte als bare Münze zu sich genommen hatte, dass Qatar in flagranti erwischt worden sei, und weist darauf hin, dass es immer und überall gegen die Macht des Bösen, den Iran, zu gehen habe.


Tatsächlich fühlt sich König Abd al-Aziz in Riad durch Trump zu neuen Taten inspiriert, aber nicht weil ihm der ins Gewissen geredet hatte, sondern weil ihm vom obersten Dealer der USA Waffenverkäufe im Wert von 110 Milliarden Dollar zugesichert worden waren. Dabei scheint dem mehr an Tweets dann an Informationen interessierten US-Präsidenten entgangen zu sein. dass der schutzbedürftige Verbündete Saudi-Arabien allein in den letzten fünf Jahren rund 360 Milliarden Dollar und damit siebenmal mehr als der so bedrohliche Iran im selben Zeitraum für Rüstung ausgegeben hat. Auch hat Trump offenbar nicht registriert, dass beinahe alle Terror-Attentate der letzten Jahre, von London bis Lahore, von wahhabitisch-salafistisch-sunnitischen Terroristen begangen wurden und nicht von schiitischen Zeloten.


Zudem war in der Trump-Regierung offenbar wieder einmal keiner darauf vorbereitet, was Donaldo Furioso, der Rasende Donald, diesmal von sich geben würde. Sein armer Außenminister Rex Tillerson, dem wenigstens noch präsent war, dass sich der größte US-Militärstützpunkt in der Region auf dem Terrain Qatars befindet, rief gerade zu Ruhe und Versöhnlichkeit auf, als der Chef schon twitterte, die Blockade des bösen Emirats sei der Weisheit letzter Schluss.

  

Glücksfall für deutsche Waffenbauer


Eine Krise wie die derzeitige markiert einen richtigen Wohlfühl-Moment für die deutsche Waffenindustrie, hat sie doch sowohl in Saudi-Arabien als auch in Qatar die Voraussetzungen für eine heiße Eskalation geschaffen und darf sich in einem solchen Fall bei praktischer Bewährung ihrer Qualitätsprodukte weitere Aufträge erhoffen.


Dass Riad umworben, beliefert, sogar mit Fabriken zur Waffenherstellung unter Lizenz beschert wurde, ist längst durch Gabriels spektakuläre Kehrtwendungen bekannt, dass aber auch Qatar einen Großauftrag für Haubitzen, Kampfpanzer und Munition made in Germany erteilte, der just in dem Moment erledigt wurde, als das Emirat im Jemen Krieg zu führen begann, wurde von den meisten Medien nur kurz erwähnt. So wie auch der Verkauf von  Leopard-2-Panzer an die Saudis hierzulande nur kurzzeitige Empörung hervorrief, weil sich einige Querulanten daran erinnerten, was Riad mit solcherlei Material anstellt: Als 2011 die unterprivilegierte schiitische Bevölkerungsmehrheit in Bahrein aufbegehrte, rollten Schützenpanzer aus Saudi-Arabien in das benachbarte Königreich ein und wirkten maßgeblich an der brutalen Niederschlagung eines bis dahin friedlichen Protests der Unterdrückten und Entrechteten mit.


Mag sein, dass der Konflikt mit der unblutigen Isolierung und weltpolitischen Kaltstellung Qatars durch seinen mächtigeren arabischen Nachbarn endet; sollte es aber zu kriegerischen Handlungen kommen, wäre dies für den einen oder anderen deutschen Konzern auch nicht gerade übel. Bei einem Waffengang mit beiden Parteien im Geschäft zu sein, gehört zu den idealen Positionierungen (nicht nur) der hiesigen Rüstungsbranche. Für einen anderen (größeren) Teil der deutschen Wirtschaftselite aber bahnt sich ein Desaster an. Und so warnte auch Außenminister Gabriel vor der Ächtung und Bestrafung des Qatars, sorgt er sich doch um VW, die Deutsche Bank und Siemens; an diesen drei Flaggschiffen deutscher Unternehmenskultur ist das Golf-Emirat nämlich als Großinvestor beteiligt. Außerdem könnte die Fluggesellschaft Qatar Airlines als eine der wichtigsten Abnehmerinnen von Airbus-Jets ausfallen. Also fordert der einfühlsame Kümmerer die Streithähne am Golf dazu auf, sich wieder lieb zu haben. Denn für den Großteil der deutschen Exportkonzerne ist Streit unter Kunden ein kompliziertes Ärgernis. Und einen Gönner und Komplizen der deutschen Wirtschaft lässt man nicht wegen ein paar Terror-Finanzierungen so einfach fallen.

 

Saudis nur ein wenig neidisch?


Dass die Medien über das „Missverständnis“ wegen eines mutmaßlichen Hacker-Angriffs, vorzugsweise aus Russland, berichten, gehört zur Informationspflicht, dass sich aber etliche Journalisten und Politiker nicht dazu äußern wollen, dass aber allen Indizien gemäß in erster Linie ein saudischer Masterplan zur Ausschaltung eines Konkurrenten für die Eskalation zugrunde gelegen haben muss, verstößt gegen jedes Gebot fundierter Bewertung.


Angesichts von Weltläuften, die seit Trumps Inthronisierung jeder Ente eine Chance geben, wäre noch eine andere Interpretation der innerarabischen Querelen, vielleicht vom führenden Organ pointierter Analyse in fetten Lettern, BILD, vorgetragen, denkbar: Saudi-Arabien ist einfach nur neidisch, weil es der kleinen Fußball-Großmacht Qatar gelungen ist, die FIFA-Weltmeisterschaften 2022 käuflich zu erwerben. Der in letzter Zeit bedenklich schweigsam gewordene Gastkolumnist Franz Beckenbauer könnte ausnahmsweise wieder eine erhellende Expertise zu dieser These abgeben.


Und möglicherweise lässt sich aus der Hypothese auch gleich auf das Remedium gegen die gekränkte Eitelkeit schließen: Zum Ausgleich darf Saudi-Arabien, dieser offene, pluralistische und mäzenatische Alliierte des Westens, die nächste oder übernächste Beachvolleyball-WM der Damen ausrichten. Sand wäre jedenfalls genug da.

06/2017

Dazu auch:         

Schreckliche Freunde im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund 






Der Quertreiber


Bayern ist schön, seine Landschaften sind typisch, und das Volk verehrt seinen manchmal etwas schrullig wirkenden Landesvater. So wird der Freistaat im BR, seinem ARD-Haussender, häufig liebevoll porträtiert. Nur einer tanzt 45 Minuten in der Woche aus der weißblau-schwarzen Harmonie-Reihe: Der Kabarettist Christoph Süß sorgt mit seinem Satire-Magazin quer jeden Donnerstag dafür, dass man ausgerechnet eine Sendung des ansonsten konsenssüchtigen BR kritischen Geistern auch jenseits der bajuwarischen Grenzen ans Herz und Hirn legen muss.


Ein kleines Wunder, dass es quer gibt


Das waren noch bequem-autoritäre Zeiten, als der Übervater Franz Josef Strauß 1986 seinen Leib- und Magenkanal anwies, sich aus der ARD-Kabarettsendung „Scheibenwischer“ auszublenden, weil man sich dort allzu kritisch mit der Atomenergie und der auffällig sorglosen Affinität des Freistaats dazu auseinandersetzte! Von Helmut Dietls TV-Serien „Monaco Franze“ und „Kir Royal“, die brillant hinterfotzig die Münchner Schickeria und die Regenbogenpresse karikierten, mal abgesehen, fand man damals im Programm des BR selten Herausragendes und noch seltener Unbotmäßiges.


Auch heute kommt im BR meist als zahnlose Comedy daherwas als Kabarett angekündigt wurde, und an CSU-Sympathisanten in den Redaktionen dürfte immer noch kein Mangel herrschen, aber der Sender ist den Ruch einer Anstalt für Hofberichterstatter zumindest teilweise losgeworden. Wenn der Münchner Rundfunk-Mitarbeiter Ulrich Chaussy hartnäckig gegen alle Widerstände von Politik, Justiz und Polizei die Hintergründe des „Oktoberfest-Attentats“ 1980 aufzudecken sucht („Der blinde Fleck") oder wenn seit beinahe 19 Jahren jeden Donnerstagabend Christoph Süß in seinem TV-Magazin quer die Ungereimtheiten im Freistaat aufs Korn nehmen und dabei immer schärfere Töne anschlagen darf, kann man dies schon als ein kleines Wunder in der drögen Medienlandschaft zwischen Spessart und Karwendel bezeichnen.


Süß hat den Beweis angetreten, dass man mit obrigkeitskritischer Satire auch im Freistaat überdurchschnittliche „Marktanteile“ erzielen kann. Es wäre zu wünschen, dass quer auch außerhalb der Grenzen des Freistaats stärker wahrgenommen wird – denn was die Provinzpossen, die dort seziert werden, anlangt, so ist Bayern längst überall; und wenn es um Themen wie Machtmissbrauch und Durchstecherei geht, werden sich auch die Landsleute nördlich des Mains im Geschehen wiederfinden – als potentielle Opfer.


Korruption und Fremdenhass im Paradies


Die Themen der quer-Autoren reichen von folkloristischen Skurrilitäten über Behördenirrsinn, kommunale Korruption und staatliche Willkür bis hin zu von oben verordnetem ökologischem Kahlschlag. Die kurzen Beiträge sind sorgfältig recherchiert und werden anschließend von Christoph Süß, der einst sein Philosophie-Studium in München abbrach, um als Kabarettist zu reüssieren, kommentiert und satirisch überspitzt.


Manchmal bleibt dem TV-Zuschauer das Lachen in der Kehle stecken, etwa wenn Süß die deutsche Vergangenheitsbewältigung anhand des Umgangs mit einem Kriegsverbrechergrab oder der Neonazi-Kameradschaften in der Bundeswehr ins Visier nimmt oder wenn er den geistigen Hintergrund der hiesigen Flüchtlingsphobie und des diesbezüglichen Opportunismus der Politiker als das entlarvt, was er jenseits seiner euphemistischen Rabulistik ist: inhuman und rassistisch.


Vor Süß und seinen Kollegen ist keine Partei sicher. Da aber in Bayern ohne die Christsozialen nichts läuft, werden deren unsaubere Geschäfte und ihr laxer Umgang mit der Wahrheit besonders häufig zu Zielscheiben des aufklärerischen Spotts. Am Ende jeder Sendung kommt es zu einem Gespräch zwischen dem Moderator und Horst Seehofer, dessen Kopf aufgrund seiner Übergröße nicht mehr ins Bild passt. In Gestalt von Marionetten kommentieren die sich permanent streitenden Möchtegern-Nachfolger(innen) Söder und Aigner die Schelte, die der Ministerpräsident dem vorlauten Süß angedeihen lässt – ein treffendes Bild für das hierarchische Kasperltheater, das die bayerische Staatspartei derzeit bietet.

    

Satire muss nicht seicht sein


Das Magazin quer ist ein Beispiel dafür, dass politische Satire im Fernsehen nicht harmlos, seicht oder fäkalhumoristisch sein muss. Süß nützt die rhetorische Waffe intelligenter und zielgenauer als ein Nuhr oder Böhmermann, und man merkt, dass hinter seinen Sottisen reales Engagement steht. Schon aus dem Konzept der Sendung ergibt sich, dass er die Sachverhalte nicht so belehrend-analytisch zerlegen und die Verantwortlichen derart bösartig bloßstellen kann und will wie Uthoff und Wagner in der Anstalt.


Dass Süß aber weniger didaktisch, sondern witzig und vorgeblich naiv kommentiert, hat den Vorteil größerer Akzeptanz seitens der TV-Konsumenten. Obwohl die Anstalt eigentlich Pflichtprogramm für Schulen (und Ämter) sein sollte, ist sie (nicht zuletzt auch wegen der späten Ausstrahlungszeit) mehr ein Nischenprodukt für hartgesottene Kabarettfreunde geblieben, während quer auch die Sehgewohnheiten des Normalbürgers anspricht, der nach anfänglichem Schenkelklopfen mitunter zum ernsthaften Nachdenken findet.


Und mehr lässt sich mit Satire nicht erreichen…

 

05/2017

Dazu auch:          

Wen der Geier lobt… und Comeback der Narren in diesem Archiv 






Waschende Hände


Die deutschen Zeitungen kämpfen um ihre Glaubwürdigkeit, meist mit hehren Worten und emotionalen Beteuerungen. Dass diesen nicht immer Taten von gründlicher Recherche und faktischer Unbescholtenheit folgen oder vorangehen, lässt sich (ohne auf das Lügenpresse-Geplärre der Rechtspopulisten zu rekurrieren) leicht nachweisen, und zwar auch in eher unverdächtigen redaktionellen Teilen, auf Seiten, die der Anregung und Erholung der Leser dienen sollen.


Was ist journalistische Unabhängigkeit?


Was unsere Anforderungen an den freien Geist des Journalisten in den diversen Printmedien angeht, sind wir schon recht bescheiden geworden. Längst wissen wir, dass gewisse redaktionelle Richtlinien vorgegeben sind, deren Nichtbeachtung den Herausgeber, Verlagseigner oder Groß-Inserenten verärgern könnte. In einer Art selbstauferlegter Zensur (euphemistisch Vorsicht genannt) wird der Berichterstatter oder Kommentator bisweilen den politischen Ansichten seiner Oberen und Brötchengeber nicht allzu vehement widersprechen wollen, und die Enthüllung eines Skandals in einem Unternehmen, das teure Anzeigen schaltet, scheint auch nicht immer ratsam.


Manche Politik- und Wirtschaftsjournalisten fühlen sich in den Vordenkfabriken unserer Zeit, den internationalen Think Tanks, recht wohl, da sie dort Interna in Tendenz-Sauce serviert bekommen und sich ebenso wichtig wie fürsorglich umhegt fühlen dürfen. Dafür geben sie gern die Verpflichtung zur rückhaltlosen Information ihrer Leser und zur kritischen Recherche an der Garderobe ab und unterwerfen sich einem Schweigecode, der die personellen wie taktischen Substanzen der versammelten Manipulationsmacht zum Gegenstand hat und einer Freimaurer-Loge alle Ehre machen würde.


Von journalistischer Unabhängigkeit oder investigativer Arbeit kann man dann eigentlich nicht mehr sprechen, aber wenigstens erfolgt die Vorteilsannahme durch die vierte Macht angenehm diskret. Es geht mitunter aber auch direkter, allerdings in Ressorts, die man normalerweise gar nicht im Verdacht hatte…


Mal schön auf fremde Kosten verreisen


Während in Filmen und TV-Serien die Inhalte mit versteckter Werbung „angereichert“ werden, also durch Product Placement, das völlig unauffällig und gegen viel Geld eine auffällige Automarke oder eine Rolex-Uhr ins Bild zaubert, initiiert und bugsiert die PR-Arbeit von Tourismus-Konzernen oder Agenturen in Urlaubsländern (oder solchen, die es werden wollen) immer öfter die Texte williger Redakteure in die Veröffentlichung. Nahm man es früher noch als lässliche Sünde hin, dass Journalisten als Restauranttester selten ein Lokal durchfallen ließen, in dem sie sich kostenlos den Wanst vollschlagen durften, so erreicht der vermeintlich objektive Ratgeber-Service im Reiseteil diverser Zeitungen mittlerweile die Dimension eines lukrativen und routinierten, den Abonnenten aber irreführenden Händewaschgeschäftes.


Reisereportagen in der Süddeutschen Zeitung, der FAZ, in El Pais oder in der New York Times kann man immer noch interessante Informationen über Land und Leute und sogar Ideen für eigene Touren entnehmen, die großen Regionalblätter hierzulande indes veröffentlichen vorwiegend Beiträge, in denen man nachlesen kann, wo der jeweilige Mitarbeiter mit Familie all inclusive seinen „Recherche“-Urlaub verbringen durfte, ohne einen müden Euro dafür zu berappen. Es sind meistens Destinationen, die nicht unbedingt auf dem Wunschzettel von Traumziel-Suchern, die sich ehrliche Tipps von ihrer Hauszeitung erhoffen, stehen: Kanadische Prärieprovinzen etwa, Wales, Oman, Wohlfühl-Hotels in weniger bekannten Alpenregionen und sogar Moldawien, Orte und Anbieter also, die sich ein wenig mehr Bekanntheitsgrad und Zulauf erhoffen. Und natürlich dürfen teure (und ökologisch desaströse) Kreuzfahrten durch die Karibik oder den Südpazifik nicht fehlen.


Soweit die jeweilige Reiseredaktion noch einen schwachen Schimmer von Transparenz zulässt, steht am Ende des Artikels unter einer Adresse der Touristen-Information oder des Veranstalters in Kleinstschrift, dass sie „diese Reise unterstützt“ hätten. Manchmal bedankt sich die Zeitung sogar beim Reise-Financier. Eine Win-win-Situation für beide Seiten, von der nur einer nicht profitiert, der Leser bzw. Kunde: Während die Reisemanager und Beherbergungsbetriebe die Ausgaben für eine teure Anzeige sparen, die ohnehin leichter überblättert wird als die „seriöse“ Reportage, genießt der Journalist die Rundum-Betreuung durch die Gönner und Gastgeber und liefert anschließend dankbar, will sagen: müht sich an einem Beitrag ab, der ein paar folkloristische Eigenheiten oberflächlich skizziert und ansonsten vor allem einen positiven Eindruck vermitteln soll. Der Gelackmeierte ist der gutgläubige Konsument, der im Vertrauen auf die „schonungslose“ Ehrlichkeit des Verfassers eine Reise in the middle of nowhere bucht und möglicherweise eine böse (und kostspielige) Überraschung erlebt.

       

Die rote Linie des Redaktionsteils


In der Glanzzeit der bürgerlichen Printmedien galt eine Regel als sakrosankt, der zufolge redaktioneller Inhalt und Werbung strikt getrennt bleiben mussten. Die Vermischung von Berichterstattung und Public Relations wurde als Super-GAU, sozusagen als größtmöglicher Sündenfall des Qualitätsjournalismus, wie ihn Verleger und Berufsverbände noch immer beschwören, angesehen.


Wie haben sich die Zeiten geändert! Eigentlich ist der laxe Umgang mit der Unabhängigkeit und der Vertrauenswürdigkeit von Textarbeit in diversen Reiseteilen nur die Spitze eines kommerziell kontaminierten Eisbergs, dessen Unterbau jeder sehen kann, wenn er ihn nur sehen wollte. Gefälligkeiten in der Kommentierung, ob im Sportressort, um im inner circle der in jeden Klatsch Eingeweihten zu bleiben, oder im Lokalteil, um den intimen Kontakt zu Provinzgrößen der Politik und Wirtschaft zu pflegen, sind an der Tagesordnung – zum Glück aber nicht gänzlich flächendeckend, wie immer wieder minutiöse Recherchen und Enthüllungen auch in der Regionalpresse belegen.


Dennoch müssen die Printmedien nicht erst seit den Pauschal-Vorwürfen seitens AfD und Pegida um ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit bangen, zu eng scheint bisweilen das Verhältnis zum großen Geld und zu dubiosen Strippenziehern. Da ist es nicht unbedingt hilfreich, wenn gesponserte Journalisten dem Leser Urlaubsreisen schmackhaft machen, die sie nie und nimmer unternehmen würden, müssten sie sie aus eigener Tasche bezahlen.

04/2017

Dazu auch:

Pressefreiheit???  und Qualitätsente in diesem Archiv   

                    

     



Sieg? Welcher Sieg?


Kollektives Aufatmen in den Medien: Von einem Triumph über den Populismus schwärmen die Leitartikler der europäischen Presse, nur weil bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden die Rechtsliberalen acht Prozent mehr Stimmen einheimsten als Geert Wilders Ein-Mann-Partei. Bei näherem Hinsehen aber erkennt man mit Grausen, dass die Chauvinisten mit ihren eigenen Waffen geschlagen wurden, dass die Mitte der Gesellschaft mehrheitlich für Figuren votierte, die Wilders xenophobe Ausbrüche in gemäßigterem Tonfall für die eigene Kampagne instrumentalisiert haben.


Mark Rutte, Wilders-Interpret


„Dämpfer für Populisten ermutigt Europa“ titelte die „Süddeutsche Zeitung“ im Internet und lässt an der Beobachtungsgabe ihrer Korrespondenten und Kommentatoren zweifeln. Mag schon sein, dass Wilders persönliche Ambitionen durch das Wahlergebnis „gedämpft“ wurden, inhaltlich aber darf er sich durchaus aus Gewinner fühlen, nicht nur weil immerhin 13 Prozent der Wahlberechtigten sein im Prinzip absolutistisches Parteienmodell goutierten, sondern vor allem weil seine chauvinistischen Parolen beinahe eins zu eins von anderen Parteien übernommen wurden, vor allem von der VVD des vermeintlichen Wahlsiegers Mark Rutte, der eine Integrationspflicht à la CSU forderte, in bester Wilders-Manier Zweiflern an den „liberalen Freiheiten“ der Niederlande empfahl, sie sollten „abhauen“, und Anzeigen schalten ließ, deren Kernaussage von der AfD oder einem Ghostwriter De Maizières hätte stammen können: „Verhalte dich normal oder geh weg!“ Der von den Achtundsechzigern begonnene Kampf gegen die spießig-restaurative Normalität scheint endgültig mit einer Niederlage geendet zu haben.


Mit bigottem Charme bedankte sich BILD, jene zündelnde Haltet-den Dieb-Postille, der kein populistisches Vorurteil zu primitiv zur Veröffentlichung sein kann, wenn es nur aus der richtigen, der unionschristlichen Ecke, kommt, bei den niederländischen Wählern: „Ganz simpel. Der konservativ-smarte Regierungschef hat die Wahl gewonnen, der Islam- und Europa-Hasser hat sie gewonnen. Gut gemacht, Holland!“ BILD sieht sich eben als staatstragendes Organ, und mag Berserker nicht, die offen aussprechen, was die präferierten Polit-Strategen (meist) nur denken. Ähnlich simpel wie die o. a. Wertung der Abstimmung wäre der Befund, dass der Wahlsieg irgendwie in der Familie bleibt. Schließlich hatte Wilders seine politische Sozialisation bis 2004 in der VVD durchlaufen.


Die Welt lobt, der (relative) Erfolg Ruttes werde dem „liberalen Europa der Mitte Hoffnung machen“ – vielleicht dahingehend, dass es das Volk nicht mehr vom rechtsextremen Europa der Rassisten unterscheiden kann. Völlig korrekt benennt das gehobene Lieblingsblatt der bürgerlichen Reaktion den Hauptgrund für den „Sieg“ des Premiers: „Wie ein Geschenk des Himmels kam der heftige Streit mit der Türkei hinzu.“ In der Tat macht man derzeit in Mitteleuropa Punkte, wenn man sich öffentlich am Propaganda-Export des Macht-Hysterikers Erdoğan reibt. Ein wenig daneben indes wirkt der Befund, Rutte habe „entschlossen und hart, aber auch staatsmännisch“ agiert. Einer ausländischen Ministerin für Stunden den Zugang zum eigenen Konsulat zu verweigern, zeugt nicht gerade von der hohen Kunst der Diplomatie. Aber von Trump haben wir gelernt: Ob etwas von internationalem Recht gedeckt wird oder nicht, ist zweitrangig: Hauptsache, die Internationale der Nationalisten jubelt.


Medien feiern einen Rechtsruck


Jener Defekt in der Wahrnehmung, der dazu verleitet, einen Pyrrhus-Sieg der reaktionären Kräfte über die rechtsextremen Widersacher, für den leichten Herzens Menschenrechte und Verantwortung geopfert wurden, als Sieg der Demokratie zu werten, bleibt nicht auf die deutsche Presse beschränkt. „Europa und die Toleranz haben gewonnen“, entblödet sich Le Parisien nicht zu delirieren und meint damit wahrscheinlich den Kontinent der auf dem rechten Auge Blinden und die liebevolle Duldung aller systemtreuen Chauvinisten mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.


Während sich die europäischen Medien am vergifteten Sieg Ruttes berauschen, bringt immerhin die New York Times das Geschehen auf einen passablen Punkt: "Wähler, die in Rekordzahlen ihre Stimme abgegeben haben, haben dennoch rechte und Mitte-Rechts-Parteien belohnt, die Teile von seiner (Wilders) kompromisslosen Botschaft für sich vereinnahmt haben. Darunter auch die Partei des Ministerpräsidenten Mark Rutte." Dessen VVD will ebenso wie der narzisstische Demagoge keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, sondern sie – wie auch die hartgesottenen Zyniker in der deutschen Christunion sowie einige Grüne und Sozialdemokraten – direkt in den Krisenregionen internieren und versorgen lassen, also künftige Generationen jener Hoffnungslosigkeit überantworten, die erst Flucht und Terrorismus generiert.


Die Medienreaktion auf die Wahl in den Niederlanden zeigt vor allem, dass der Fokus der Diskussionen unauffällig, aber erheblich weit nach rechts gerückt ist.

 

Fataler EU-Klimawandel


Es sind ja nicht nur die Niederlande: In Österreich versucht die SPÖ/ÖVP-Koalition, durch eine Abschottungs- und Eingrenzungspolitik à la Orban light die sie bedrängende rechtsextreme FPÖ überflüssig zu machen. In Frankreich wird der neoliberale Opportunist Emanuel Macron als Retter vor Marine Le Pen hofiert. Und in Deutschland ist es zumindest in der Asylfrage einer besonders großen Koalition gelungen, die „politische Mitte“ an den rechten Rand zu bugsieren. Gerade erst berichtet der Spiegel, der Bundesfachausschuss Innenpolitik der CDU habe beschlossen, mit einem Anti-Migrationsprogramm in den Wahlkampf zu ziehen, vermutlich um das mit heißer Luft gefüllte Gespenst namens Martin Schulz mit den Spitzen skrupelloser, aber populärer Fremdenfeindlichkeit zum Platzen zu bringen.


Doch es sind nicht nur die notorischen Pausenclowns des verbalen Refugee-Bashings wie CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer oder die Schmuddelkinder der AfD, mit denen man nicht spielen will, in deren Ecke man sich aber mittlerweile ganz wohlfühlt, die hauptsächlich verantwortlich für den fatalen Trend sind, die gefährlichsten Impulse gehen von ehrenwerten Protagonisten unverdächtiger Parteien aus.


Wenn ein grüner OB wie Boris Palmer in Tübingen die blonden Töchter seiner Klientel vor dunklen Gestalten mit schlechtem Deutsch schützen will, wenn Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann Menschen in Kriegsgebiete, die in seiner Phantasie sicher sind, etwa nach Afghanistan, ausweisen lässt, wenn der ehemalige SPD-Chef Gabriel und die vergessliche Rosa-Luxemburg-Imitatorin Wagenknecht in der Diskussion um Asylrecht und Aufnahme von Flüchtlingen geistige Anleihen bei der ewig-vorgestrigen Wir-sind-das-Volk-Front zeichnen, dann machen sie die Aversion der Deutschtümelnden gegen fremde Menschen und Kulturen nicht nur salonfähig, sie tragen xenophobes Gedankengut gleich höchstpersönlich in jene ominöse „Mitte der Gesellschaft“.


Klar würden die Le Pens, Wilders, Straches, Grillos oder Petrys gern an der Spitze einer Regierung stehen, sozusagen den Orban oder Putin geben wollen, doch auch ohne Erdrutschsiege und direkte Machtübernahme können sie sich den politischen Klimawandel innerhalb der EU auf die Habenseite ihres Propaganda-Kontos schreiben: Sie haben die Themen vorgegeben, ihre Beschwörungen von Fremdenhass und staatlicher Militanz wurden von der bürgerlichen Politik modifiziert übernommen, sie bestimmen, was als Wahrheit in den Köpfen der Menschen ankommt – und wenn sie ihre Version per Fake einschleusen müssen. Im Europa unserer Tage braucht man keine Wahl zu gewinnen, um die Gesellschaft zu verändern. Leider ist auch der Rückwärtsgang in das schwülstige Idyll des von Hybris, Sozialdarwinismus und Fremdenhass geprägten Patriotismus eine Art Veränderung.

03/2017

Dazu auch:

EU im freien Fall im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund   

 

          

 

Justiz, die gefällt…


Zwei junge Männer, die bei einem illegalen Autorennen in Berlin einen unbeteiligten Verkehrsteilnehmer töten, werden wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Recht so, befindet die Volksmeinung, und auch einige Kommentatoren in den Medien zeigten Verständnis, allen voran freute sich der notorische Blog-Hysteriker Franz Josef Wagner („meine lieben Mörder“) bei Bild über das Urteil. Tatsächlich trifft die Härte des Gesetzes zwei zutiefst unsympathische Loser, die ihr Versagen im Alltag durch bedenkenloses Machtgebaren am Steuer ihrer Sportwagen kompensieren wollten. Aber wurde wirklich unparteiisch Recht gesprochen? Und wenn das Gesetz diesen Schuldspruch zulässt – wird es ohne Ansehen der Person bei ähnlich gelagerten Fällen angewandt? Oder hatte es der Richter vielleicht opportun interpretiert, um in der Öffentlichkeit Zustimmung zu erheischen, vielleicht auch, um die eigene gutbürgerliche Empörung zu manifestieren?


Mord ohne Vorsatz und Beweggrund?


Die beiden Raser hatten im Leben nie einen befriedigenden sozialen Status erreicht, wohl aber waren sie an zwei Statussymbole, Kraftbolzen von Audi bzw. Mercedes, gelangt. Die Männer wollten ermitteln, wer von ihnen der geschicktere, nervenstärkere (skrupellosere) Fahrer und welches ihrer Autos das schnellere sei. Sie fuhren den Kurfürstendamm mit etwa 160 Stundenkilometer entlang, bis der Audi-Pilot auf einen einbiegenden Jeep prallte, in dessen Trümmern ein 69-Jähriger starb. Das Berliner Landgericht hatte über die Schwere ihrer Schuld und die Härte ihrer Strafe zu befinden.


Lebenslanges Fahrverbot? Ausgezeichnet. Eine längere Haftstrafe? Verständlich, auch angesichts der bisher weit verbreiteten Gerichtspraxis, die Verabredung zu den immens gefährlichen illegalen Autorennen – wie auch andere mutwillig begangene Verkehrsstraftaten – als Ordnungswidrigkeit, quasi als Kavaliersdelikt, einzustufen. Aber Mord?


Als juristischer Laie liest man den Wortlaut des § 211 StGB genau und wundert sich, findet man doch im Gegensatz zu Richter Ralph Ehestädt, der sich doch an die Buchstaben des Gesetzes klammern müsste, nichts, was auf den Berliner Fall anwendbar erscheint. Im zweiten Absatz wird dort definiert, wer ein Mörder ist, nämlich jemand, 

der aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet“.

 

Hamdi H. und Marvin N. mögen rücksichtslose Idioten genannt werden, wo aber bitte haben sie habgierig, heimtückisch oder bewusst grausam gehandelt. Was wollten sie verdecken, zeugen die innerstädtischen Imitationen von Formel-I-Rennen von Mordlust?


Natürlich gibt es zu allen Gesetzen verquaste Juristen-Kommentare, und man darf davon ausgehen, dass sich Richter Ehestädt daraus die Bausteine für eine Hilfskonstruktion zusammengesucht hat, etwa wenn er einen „bedingten Vorsatz“ unterstellt und als gesetzlich beschriebenes Mordmerkmal „die Ausübung mit gemeingefährlichen Mitteln“ für bewiesen hält. Dass die Täter den Todesfall „billigend in Kauf genommen“ hätten, ist angesichts ihres geistigen Horizonts schon gewagt, man könnte auch von grober Fahrlässigkeit oder Totschlag sprechen, dass aber PS-starke Boliden, die im Straßenverkehr eigentlich niemand braucht, als Mordwaffen eingestuft werden, fällt eigentlich auf die Konstrukteure und Vorstände der deutschen Edelkarossenl-Konzerne zurück.


Ein Spitzenpolitiker, der meist am falschen Ort das Verkehrte sagt, Bundesverkehrsminister Alexander Drobrindt (CSU), indes begrüßte das Urteil und wusste wieder einmal alles besser: „Wer das Leben anderer aufs Spiel setzt, muss mit maximalen Konsequenzen rechnen.“


Wo wird was in Kauf genommen?


Seinen Parteifreund Otto Wiesheu kann er damit nicht gemeint haben. Der spätere bayerische Minister für Wirtschaft und Verkehr wurde nämlich in zweiter Instanz nur zu zwölf Monaten mit Bewährung verurteilt, nachdem er im Suff einen polnischen Kleinwagenfahrer totgefahren und dessen Beifahrerin schwer verletzt hatte. Natürlich hätte Richter Ehestädt, wäre er denn mit dem Fall befasst gewesen, auf bedingten Vorsatz verweisen, die klobige Dienstlimousine als gemeingefährliches Mordmittel einstufen und eine steile Karriere im Knast enden lassen können, aber vielleicht wären ihm noch rechtzeitig die Brutus-Klassifizierung Shakespeares und der 1a-Status des Delinquenten eingefallen: Denn Wiesheu ist ein ehrenwerter Mann, jedenfalls kein Hartz-IV-Empfänger wie die Berliner Raser. Hierzulande werden zum Glück für einige Leute noch die Klassen- oder Kastenzugehörigkeit eines Beschuldigten sowie die günstige Sozialprognose, soweit es sich um einen Honoratioren und in Bayern um ein CSU-Mitglied handelt, bei der Feststellung der Schuld und der Bemessung der Strafe berücksichtigt.


Nun mag man einwenden, dass Otto Wiesheu mit 1,99 Promille Alkohol im Blut nicht mehr so recht wusste, was ein Politiker und Autofahrer so alles darf. Streng genommen und nach des Berliner Landrichters unbestechlicher Denkweise kann dies keine mildernden Umstände rechtfertigen, da nicht nur fahrlässig, sondern mit unbedingtem Vorsatz handelt, wer Fahrzeugschlüssel und Führerschein mitnimmt, wenn er sich die Kante geben will. Ähnliches gilt für die ehemalige evangelische Landesbischöfin Margot Käßmann, die mit immerhin 1,54 Promille bei Rot über die Ampel fuhr, allerdings kein Ableben eines Mitmenschen billigend in Kauf nehmen musste, weil sich bereits alle in Sicherheit gebracht hatten.


Die Zuwiderhandlungen der beiden Prominenten mögen ähnlich gravierend (und in einem Fall noch folgenreicher) wie bei dem durch die beiden (nüchternen) Prekariatspiloten verursachten Unfall gewesen sein – es handelte sich immerhin um Personen im öffentlichen Rampenlicht, während die Berliner Arbeitslosen erst jetzt ins Spotlight kollektiver Rachegelüste gerieten. Und die Bevölkerung goutiert das Mordurteil, auch wenn es höchstwahrscheinlich in der Revisionsverhandlung vor dem Bundesgerichtshof bei nüchterner Bewertung der Fakten kassiert werden wird.


Wirklich niedrige Beweggründe


Man fragt sich, was geschähe, wenn Richter Ralph Ehrenstädt einen anderen, wesentlich umfangreicheren Fall in die Finger bekäme, wenn sich seine juristische Spitzfindigkeit nicht auf die Bestrafung zweier Lumpenproleten, sondern auf die Ahndung von Taten, denen nach und nach Tausende von Menschen zum Opfer fallen, kaprizieren würde. Die Verantwortlichen von VW und Audi haben Tester, Käufer und die gesamte Öffentlichkeit über die wahren Ausstoßwerte todbringender Emissionen getäuscht, vor allem aber haben sie Luft und Umwelt fortlaufend und reuelos mit schweren Folgen für die Bürger vergiftet.


Diese Konzernchefs haben mit vollem Vorsatz grob fahrlässig in Kauf genommen, dass sie mittels gemeingefährlicher Fabrikate heimtückisch die Lebenserwartung ihrer Mitbürger verkürzen. Die Profitgier als Tatmotiv zählt zu den niedrigsten Beweggründen überhaupt. Und im Paragraphen 211 steht nirgendwo, dass ein Mord abrupt geschehen muss, er kann auch durch das Verabreichen tödlichen Giftes in kleiner Dosis über einen längeren Zeitraum hinweg bewerkstelligt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Manager der Automobilindustrie, auch die von Daimler oder BMW, Lobbyisten nach Berlin und Berliner Politiker nach Brüssel schickten, um erfolgreich jede signifikante Schadstoffreduzierung zu verhindern.


Wenn sich nun unser Berliner Richter Gnadenlos die maßgeblichen Umwelt-Gangster aus Fahrzeug-Produktion vorknöpfen würde, wäre das Geschrei groß, denn die Politiker würden reflexartig auf den Verlust von Arbeitsplätzen hinweisen und der Deutsche an sich liebt seine Limousine, auch wenn er sie sich eigentlich nicht leisten kann, und ist stolz auf die tolle Technik seines Landes. Also bleibt die Justiz wohl besser dabei, zweierlei Maß anzulegen, die Kleinen zu hängen und dem Publikum zu willfahren, „wie es euch gefällt“.

03/2017

Dazu auch:

VW noch ehrlicher? in diesem Archiv

Verlorene Tochter im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit      

 

  

  



Fata Morgana Libyen


Die Fata Morgana ist eine Luftspiegelung, die leichtgläubigen Menschen ein tröstliches Trugbild vorgaukelt, vorzugsweise in der Wüste Verdurstenden eine Oase mit sprudelnden Quellen. Den EU-Regierungen kommt derzeit jede Phantasmagorie recht, um nur ihren Staatsbürgern suggerieren zu können, sie hätten das Flüchtlingsproblem im Griff. Die Medien kolportieren weitgehend kommentarlos die neueste Finte, die da lautet, man wolle "gemeinsam mit Libyen eine Lösung finden", da sich von dessen Küsten aus derzeit die meisten Asylsuchenden an die lebensgefährliche Mittelmeerpassage wagen. Man sei in Verhandlungen mit der Regierung des Landes. Wie bitte, mit welcher denn? Die "offizielle" Regierung ist eine Luftnummer, seit die Nato durch beherztes Eingreifen die Existenz des Wüstenstaates faktisch beendet hat.


Zwischen Meer und Wüste eingesperrt


„Etwas Besseres als den Tod findest du überall“, sagte der Esel im Grimm`schen Märchen Die Bremer Stadtmusikanten zum Hahn und überredet ihn so zur Emigration. Millionen Kriegs- und Hungerflüchtlinge folgen diesem Prinzip Hoffnung, aber für nicht wenige endet der Weg in den Fluten des Mittelmeers, und andere, die an den libyschen Gestaden stranden, haben zwar (in der Mehrzahl) nicht den Tod gefunden, aber auch nichts, was sehr viel besser wäre. Doch letztere Sackgasse ist beabsichtigt, wird von der EU sogar als „humanitärer Ausweg“ gepriesen, gar gefördert, und der Qualitätsjournalismus begleitet diese fiese Tour weitgehend „neutral“.


Die Schlagzeilen gaukeln der deutschen Öffentlichkeit vor, Berlin und Brüssel seien der Lösung des „Flüchtlingsproblems“ näher gekommen und der Schlüssel zum Erfolg liege im nordafrikanischen Wüstensand zum Ausbuddeln bereit: „Zehn-Punkte-Plan der EU – Libyen soll Flüchtlinge aufhalten“ und „Illegale Migration: EU nimmt Libyen in die Pflicht“ tönte es vollmundig in der ARD. Verantwortungsbewusstere Korrespondenten hätten erst einmal nachgefragt, wen man in einem völlig zerrissenen Land in die Pflicht nehmen wolle und ob es nicht de facto ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei, Hundertausende verzweifelter Menschen zwischen Mittelmeer und Sahara in Haftlagern, die unter der Kontrolle der korrupten und gewalttätigen Küstenwache stehen, festhalten zu lassen.


Natürlich wurde in Brüssel auch die übliche für sensible Gemüter gedachte Beschwichtigungsrhetorik sattsam bemüht: Die EU verurteilt Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen von Flüchtlingen.“ Die libyschen Behörden wurden ermahnt, ihre Bemühungen zu "verdoppeln", um "in Haftzentren für Migranten" die Einhaltung der Menschenrechte sicherzustellen. Alles glatt an der Realität vorbei: Wo von vornherein keine Bemühungen um humane Unterbringung vorhanden waren, kann man sie auch nicht verdoppeln, und die libyschen Behörden gibt es ebenso wenig wie es die libysche Regierung gibt, wenn man die machtlosen Clowns, mit denen die EU verhandelt, nicht als solche bezeichnen will. Was tatsächlich existiert, ist eine verrohte Soldateska, die sich „Küstenwache“ schimpft, in den Lagern foltert, vergewaltigt und mordet, die Menschen in die Zwangsarbeit verkauft, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen überfällt und Geschäfte mit Schleuserbanden macht. Und genau diese Truppe wird von der EU trainiert und aufgerüstet – man kann sich ja schließlich nicht aussuchen, wer Hilfesuchende von Europas Grenzen fernhalten soll.


Wer hat wo das Sagen?


Das derzeitige Chaos in Libyen hat mehrere Väter. Da waren zunächst die Nato-Verbündeten USA, Großbritannien und Frankreich, die 2011 mit logistischer Unterstützung Deutschlands den Autokraten Muammar al-Gaddafi, unter dem Libyen nicht frei, aber relativ ruhig und wohlhabend war, aus der Herrschaft bombten, dabei allerdings die gesamte Infrastruktur mit zerstörten, tribalistische Konflikte aufflammen ließen und so das Land, wie zuvor bereits den Irak, in die Regression zu einer archaischen Stammesgesellschaft zwangen. Im zweiten Akt betrat dann der deutsche UN-Sonderbotschafter Martin Kobler Ende 2015, sozusagen als nachgeordneter Stiefvater, die Bühne und sorgte für die Perpetuierung der Katastrophe.


An die 1000 Milizen, darunter auch Ableger von Al-Qaida, bekriegten sich in Libyen, in Tobruk saß ein gewähltes Parlament, in Tripolis hatte eine islamistische Regierung die Macht ergriffen, in Sirte verschanzte sich der IS – und Herr Kobler komplizierte die Lage, indem er per Dekret eine Einheitsregierung unter einem Ministerpräsidenten namens Fayez al Sarraj bestellte. Dumm nur, dass diese „international anerkannte Regierung“ weder vom international anerkannten Parlament in Tobruk noch von der islamistischen Gegen-Junta noch von sonst einer bedeutenden kriegführenden Partei anerkannt wird und dass sie weder über größeren Einfluss noch über nennenswertes Staatsgebiet verfügt. Zudem ist sie heillos zerstritten, was letzten Oktober in einem internen Putschversuch gipfelte. Die EU ficht dies nicht an; sie wollte ein Marionettenregime, mit dem sie die Internierung der Flüchtlinge vereinbaren konnte, sie hat ihre KZ-Wächter bekommen (ein Vergleich, der nicht von mir stammt s. u.).


Während sich die Einheitsregierung derzeit lediglich auf ein paar heterogen zusammengesetzte wetterwendische Milizen, die kürzlich Sirte vom IS zurückeroberten, und eben jene berüchtigte Küstenwache stützt, dehnt der General Khalifa Haftar, einst ein Weggefährte, dann ein Gegner Gaddafis und jetzt mit dem Parlament in Tobruk verbündet, seinen Machtbereich immer weiter aus, erobert die Ölhäfen und bedroht vom Osten her die Landstriche, in denen al Sarraj noch das Sagen hat. Zu den besonders raffinierten Pointen dieses libyschen Game of Thrones gehört der Fakt, dass Haftar einst von der CIA protegiert wurde und nun von den Russen unterstützt wird. Und wie Syrien gezeigt hat, setzt Putin meistens auf das richtige (wenn auch nicht besonders edle) Pferd.

 

Die hohe Schule der Menschenverachtung


Man könnte die Konstellation als Farce bezeichnen, bestenfalls als ein Shakespeares Hirn entsprungenes Bühnenspiel um Macht, Dummheit und Größenwahn. Leider aber sind im wirklichen Leben  bereits Zehntausende von Menschen gestorben, was die EU nicht davon abhält, bis zu 900.000 Asylsuchende an den libyschen Küsten festsetzen zu lassen und darüber zu verhandeln, dass Menschen, die es nach Europa geschafft haben oder aus dem Meer gefischt wurden,  in die überfüllten Todes- und Folterlager eines Landes, aus dem zur gleichen Zeit 400.000 Einwohner wegen der Kriegswirren nach Ägypten und Tunesien geflohen sind und in dem weitere Hunderttausende als Binnenvertriebene umherirren, zurückgeschickt werden können.


An Warnungen und Mahnungen durch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch  hat es nicht gefehlt. Doch sie wurden ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie die erstaunlich offene Berichte der deutschen Botschaft in Niger (in das sichere Gastland Libyen, den auserkorenen Hort für Migranten, traut sich schon lange keine diplomatische Vertretung Berlins mehr): In der Korrespondenz unter dem Titel „Rückkehr aus der Hölle“ ist von „allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen“ in den Haftzentren, in denen die Flüchtlinge zudem nur mit dürftigsten Hungerrationen versorgt werden, die Rede. In einem dieser Knäste würden jeden Freitag „mit Ankündigung“ fünf Migranten erschossen, „um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen“, zitiert die Botschaft Zeugen, die entkommen konnten und ihre Angaben mit Handyfotos oder –videos belegten. Die deutschen Diplomaten in Niger lassen angesichts solcher Verbrechen die für ihren Berufsstand typische Zurückhaltung fallen und bezeichnen die Verhältnisse in den libyschen Haftzentren als „KZ-ähnlich“.


 

Diese Artikulation des Entsetzens stieß in Berlin bei den Merkels und Steinmeiers auf taube Ohren. Innenminister Thomas de Maizière, der vor jedem Micro, das er erspäht, derzeit das AfD-Lied von der schnellen Abschiebung singt und Afghanistan in weiten Teilen als Idyll zwischen hohen Bergen beschreibt, besteht redundant darauf, Asylbewerber in Nordafrika, speziell in Ägypten, das die Genfer Konvention nie unterzeichnet hat, und eben in Libyen, wo kein Hahn mehr nach ihnen krähen würde, zu internieren. Vom ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz, mittlerweile  menschgewordene Schimäre sozialdemokratischen Gerechtigkeitsempfindens, hat man in Brüssel nichts gehört und hört man auch jetzt nichts dazu. Ehrliche und düstere Töne zu einem unpopulären Thema würden die aus Sozial-Plattitüden gespeiste derzeitige Euphorie-Besoffenheit der SPD wohl nur beeinträchtigen. Das Wahlvolk will das nicht! 


Von Zeit zu Zeit werden in den deutschen Leitmedien Zweifel am Vorgehen der EU geäußert, aber leise, manchmal kaum vernehmlich, wenn etwa die ARD etlichen Sendeminuten, in denen Berlins liebste „Lösung“ propagiert wird, zehn Sekunden der Nachdenklichkeit gegenüberstellt: „Abkommen mit Libyen sind wegen der mangelnden Achtung der Menschenrechte von Flüchtlingen und der politischen Instabilität umstritten. Menschenrechtsorganisationen berichten von Vergewaltigungen, Folter und willkürlichen Erschießungen.“ Und weiter geht`s aus der Sicht der Bundesregierung…


Solange die Medien hierzulande nicht jede Floskel vom alternativlosen Vorgehen, mit der de Maizière und Konsorten ihre menschenverachtenden und –vernichtenden Maßnahmen begründen, durch Hintergrund-Recherche, Widerspruch und historische Einordnung konterkarieren, werden sie nicht als kritisches Korrektiv der Politik, sondern als zahnlose Schoßhündchen derselben wahrgenommen. In einem Land, das Erfahrung darin hat, aus einer xenophoben Fata Morgana durch perfektionierte Internierung ein grausiges Pandämonium zu machen, müsste man von Journalisten doch die nötige Geschichtskenntnis und Sensibilität erwarten dürfen.

02/2017

Dazu auch:

Die stillen Deutschen in diesem Archiv   

                   

    


NPD zu niedlich?


Das Bundesverfassungsgericht will die NPD auch im zweiten Anlauf nicht verbieten, obwohl es ausdrücklich die feindselige Haltung der Partei zum Grundgesetz festgestellt hat. Nun mag es tatsächlich Argumente gegen den Ausschluss des braunen Haufens aus dem Wahlsystem dieser Demokratie geben: Man müsste vielleicht das Abdriften der extremsten Anhänger in einen rechten Untergrund à la NSU befürchten, oder aber es stünde zu befürchten, dass sich angesehene Politiker, die selbst viel aus der Rhetorik und Polemik der Neonazis gelernt und übernommen haben (etwa wenn es um Asylsuchende geht), zugutehalten könnten, es gebe dank ihrer Bemühungen hierzulande keine nennenswerte faschistische Gruppierung mehr. Doch das wären politische Argumente, keine verfassungsrechtlichen. Die Begründung der Karlsruher Richter indes klingt auch nicht gerade nach Rechtswissenschaft, sondern eher wie ein müder Bagatellvorbehalt.


Die NPD einst allein zu Hause


Die Gnade der frühen Geburt hält für mich auch solche Reminiszenzen parat: An einem lauen Septemberabend 1969 hatte die NPD zur Großkundgebung auf dem Egidienberg in der Nürnberger Altstadt aufgerufen. Sprechen sollte ihr bundesdeutscher Führer mit dem ominösen Junker-Namen Adolf von Thadden. Er kam nicht dazu, auch nur ein einziges Wort übers Micro an seine wenigen anwesenden Getreuen zu richten. Die Ränder des abschüssigen Platzes säumten knapp 30.000 brav und gesittet gegen die Rechtsextremen protestierende Bürger, während in der Mitte einige hundert SDS-Studenten, SDAJ-Azubis, Trotzkisten, Anarchisten (und was das linke Spektrum damals noch so zu bieten hatte) gegen die Spanischen Reiter und die Polizeifahrzeuge, mit denen das Podium geschützt wurde, anrannten. Da man mit Wasserwerfern nicht sehr genau zielen kann, wurden auch die friedlichen Gegendemonstranten an den Flanken des Platzes bis auf die Haut durchnässt, was zu erstaunlichen Szenen der Solidarisierung mit den aktiveren NPD-Verhinderern führte, über die ein Korrespondent der New York Times schrieb: „Ich weiß nicht, wer diese Leute waren, aber sie haben die Ehre Nürnbergs gerettet.“


Der NPD-Aufmarsch in Nürnberg fiel jedenfalls ins Wasser, anderswo aber reüssierten die Deutschnationalen. Sie schafften den Einzug in sieben Landesparlamente und marodierten verbal in unzähligen Stadträten. Die NPD konnte damals in Deutschland das Alleinstellungsmerkmal rechtsradikal für sich in Anspruch nehmen – so schien es jedenfalls. Tatsächlich aber wimmelte es in an den Schaltstellen der bundesrepublikanischen Demokratie, etwa im Bundestag, im Außenministerium oder im Justizressort, von Altnazis; hohe NSDAP-Chargen wie Globke als Staatssekretär oder Gehlen als BND-Chef, wachten nach ihrer Reinkarnation als unbescholtene Demokraten über die Bürger. Aber offen revanchistisch gaben sich nur die Nationaldemokraten und ein paar Vertriebenenfunktionäre in der Union.


Vielleicht deuteten die damaligen Wahlerfolge der NPD unterschwellig das wahre Stimmungsbild in einer Bevölkerung an, die zu großen Teilen glaubte, dass Deutschland nichts aufzuarbeiten habe und „früher nicht alles falsch gewesen ist“ (mehrheitlich aber keine ewig-gestrigen Parolen mehr hören wollte). Da sich die völkischen Volksvertreter in den Parlamenten und Gremien allerdings pausenlos blamierten, wohl auch, weil ein paar ihrer markanten Thesen von der CSU u. ä. volkstümlicher adaptiert wurden, verlor die Partei an Stimmen, Sitzen und Publizität. Und plötzlich tauchten neue Sterne am schwarz-braun-goldenen Himmel auf, die Republikaner und die DVU, die geschickter bzw. extremer auf das reaktionäre Potential einhämmerten. Die Wiedervereinigung brachte der NPD zumindest vorübergehend neuen Zuspruch in den östlichen Bundesländern, wo sie die letzten Fetzen ihrer Biedermann-Maske fallen ließ. In Sachsen ist sie immer noch verhältnismäßig stark, in Mecklenburg-Vorpommern flog sie im letzten Jahr erst aus dem Landtag.


Die Überlegungen der Verfassungsrichter, ob diese erodierende Gruppierung überhaupt noch eines Verbots würdig sei, scheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt logisch, greifen bei näherer Betrachtung aber sehr kurz: Ja, die NPD sitzt in keinem Landesparlament mehr, heimst bei Bundestagswahlen nur noch Stimmzahlen im Promillebereich ein und wird in diesem Land wohl nie die Regierung stellen. Aber: Nein, die NPD ist nicht ohne Einfluss. Sie hat die bürgerlichen Parteien mit autoritären Phantasien beliefert, die Straße gegen Ausländer aufgehetzt, Pate für die Reps, die DVU sowie Pegida gestanden und gesät, was die AfD im wutbürgerlchen Schafspelz jetzt erntet.

         

Keine Stimmen, aber rechte Stimmung


In der Sache geben die Verfassungsrichter dem Bundesrat, der das Verbot der NPD beantragt hatte, sogar recht. Die Partei sei „wesensverwandt mit dem Nationalsozialismus“, ein kopfgeborener  Nazi-Balg sozusagen, verstoße gegen die Menschenwürde, Demokratie und den Rechtsstaat. Und der Richter Müller liest seitenlang einschlägige Äußerungen vor, die den rassistischen Charakter der NPD belegen.


Beim KPD-Verbot 1956 reichte es, der Partei eine „aggressiv-kämpferische Haltung“ zu attestieren, nach Chancen der Durchsetzbarkeit ihrer Ziele wurde damals nicht gefragt. Bei der NPD jetzt schon. Rechtsexperte Frank Bräutigam von der ARD bezieht sich auf die Messlatte, die von den Karlsruher Richtern (neuerdings) angelegt wird, bevor sie eine Partei mit verfassungsfeindlichem Programm verbieten: „Das Programm muss eine Realisierungschance haben. Es müsse konkrete Anhaltspunkte dafür geben, dass die Umsetzung des Programms möglich ist. Damit setzt das Gericht die Hürden höher an als im KPD-Urteil.“


Davon abgesehen, dass solche Abwägungen erst dann eine Rolle spielen, wenn Rechtsextremen ein Verbot droht, muss man sich fragen, wie gut informiert die Richter waren. Sie haben die Quantität der Gefahr gering geschätzt, dabei aber die infektiöse Qualität einer Blut- und-Boden-Propaganda außer Acht gelassen, die längst von anderen absorbiert wird, von der AfD, von besorgten Bürgern und den rechten Rändern bürgerlicher Parteien - und die längst Taten nach sich zieht. Das Patent für die speziell bundesdeutsche Form des antidemokratischen Chauvinismus hält immer noch die NPD, die vom Gericht dennoch für zu unbedeutend gehalten wird.


 

Die Zeit warnt bereits, die NPD könne „jetzt mit dem Quasifreispruch für sich werben“. Dass Gerichtspräsident Voßkuhle prophylaktisch vor der Verfassungsfeindlichkeit der Partei warnt, werde „verhallen“. Da nützt es auch wenig, wenn die Verfassungsrichter dem Bundestag durch die Blume signalisieren, er könne ja die Regeln der Parteienfinanzierung ändern und so die NPD von 1,3 Millionen Euro im Jahr abschneiden. Trickserei ersetzt keine ernsthafte Analyse, und die Verniedlichung einer rechtsextremen Organisation hilft nur den erfolgreicheren Volksgenossenschaften, die im selben braunen Tümpel fischen.

   

Zu klein, um gefährlich zu sein?


Es kann eine gewissen Weltfremdheit zutage treten, wenn Richter sich bei einer Begründung nicht auf juristische Kriterien beschränken, sondern freihändig nach ihrer individuellen Politik- und Gesellschaftskenntnis entscheiden, etwa was für ein Land gefährlich ist und was nicht. All die Straftaten mit Neonazi-Urheberschaft, die Pogrom-Vorstufen vor allem im Osten der Republik und die Todesdrohungen gegen linke oder bürgerliche Kontrahenten, mit denen die NPD in Verbindung gebracht wurde, hat das Gericht sehr wohl berücksichtigt, aber mit der lapidaren Feststellung, ein nachweisbarer Zusammenhang sei nicht festzustellen gewesen, relativiert. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man die über V-Leute aus der rechtsextremen Ecke laufende innige Zusammenarbeit oder die an Sympathie reichende Geduld von Polizei- und Verfassungsschutzbehörden mit eben jener Szene, die wegen Tatverdachts beobachtet werden soll, berücksichtigt. Da wird manchmal der eine oder andere Hinweis nicht weiter verfolgt, und da geht schon mal ein Beweismittel oder eine Akte verloren.


Zwar sorgt die NPD für die rechte Stimmung und bereitet potenteren Gesinnungsfreunden den Boden, aber sie erhält zu wenig Stimmen und imponiert damit den Verfassungsrichtern nicht. Andererseits sind die Nationaldemokraten klar verfassungsfeindlich und haben wohl auch für Panik und Individualterror gesorgt, nur leider konnte man sie selten in flagranti erwischen. Und das ewige „Wehret den Anfängen!“ verfängt auch nicht, ist die NPD nach 50 Jahren über den Status der Anfängerpartei doch längst hinaus. Bedenken hinsichtlich einer landesweiten Streuwirkung, die aus dem winzigen Staubkorn eine tiefbraune Schlammlawine machen kann, hegen die obersten Richter anscheinend nicht. Dafür haben sie uns – mal weitgehend auf juristische Spitzfindigkeiten verzichtend – ihren Blick auf die Gesellschaft in ihrer sterilsten Form offenbart und uns erklärt, wodurch diese nicht gefährdet wird.

     

Vereinfacht ausgedrückt, schätzt das Verfassungsgericht die NPD als zu klein, zu unbedeutend ein, um eine bürgerliche Demokratie ernsthaft bedrohen zu können. Da, wie oben ausgeführt, die Zahl der Sitze in Parlamenten (oder die der Mitglieder) wenig über tatsächlichen Einfluss einer Partei oder deren originäre Urheberschaft an inhumanen Ideen und Aktionen aussagt, darf man die Begründung der höchsten Juristen Deutschlands durchaus als geschmäcklerisch, spekulativ und verharmlosend einstufen. In Europa können wir derzeit beobachten, wie Bewegungen, die einst klein und isoliert schienen, etwa Haiders „neue“ FPÖ, Jean-Marie Le Pens anfangs belächelter Front National (jetzt unter Regie der Tochter todernst genommen), oder Geert Wilders One-Man-Racism-Show, sich anschicken, nationale Regierungen zu stellen. Und hierzulande treibt das geistige Ziehkind der NPD, die AfD, die Innenpolitiker von Union, SPD und Grünen vor sich her in die rechte Law-and-Order-Ecke.

01/2017

Dazu auch:

Gefährliche Spießer in der Rubrik Politik und Abgrund

EU im freien Fall im Archiv von Politik und Abgrund

Blind mit System im Archiv der Rubrik Medien

 

               




Das wirklich Wichtige


Krieg in Syrien und im Jemen, Trump ante portas, Rentensorgen und Hass auf Flüchtlinge – die öffentlich-rechtlichen Sender und die Qualitätspresse von SZ bis FAZ wollten an und zwischen den Festtagen ihren Kunden etwas anderes, ein wenig Erbaulicheres, bieten. Da die Weihnachts- und Neujahrsbotschaften von Bundespastor Gauck, Rauschgold-Angela, dem Papst (noch am erträglichsten) und einem evangelischen Kirchenoberen namens Bedford (strohmlinienförmig) Abschaltreflexe auslösen , des Deutschen liebste Sportarten, als aufputschende Beruhigungspillen bewährt, in dieser Zeit pausieren und Kultur niemanden vom Hocker reißt, blieb nur das alte Rezept der Regenbogenblätter, der durch Jahrhunderte gereiften Inzucht-Clique des europäischen Hochadels in ihrer reinsten Form, der Monarchie, den angestammten Platz in der Bewusstlosigkeit der Massen einzuräumen.


Gott ohne Queen!


Erfreulich und aufmunternd war es zwar nicht gerade, was ARD, ZDF, Welt und Frankfurter Rundschau zu berichten wussten, doch vermittelten diese Hüter der Medienvielfalt uns unisono wenigstens eine tröstliche Botschaft: Nicht nur die Kinder von Aleppo leiden, nein, auch die englische Queen bleibt – ein Mensch wie du und ich – nicht von Zipperlein verschont. Gewohnt mitfühlend teilte das treudeutsche Zentralorgan BILD seinen Lesern mit: „Den traditionellen Gottesdienst-Besuch am ersten Weihnachtstag in Sandringham musste ihr Ehemann Prinz Philip (95) ohne seine Königin bewältigen.“ Gala, die Hochglanz-Illustrierte für den schönen Schein, lieferte die Begründung: „´Die Queen und der Herzog von Edinburgh haben heftige Erkältungen`, erklärte ein Sprecher.“


So oder ähnlich tönte es aus den Kehlen von TV-Moderatoren, floss es aus den Edelfedern auch der seriösen Journale. Wir können nur zu erraten versuchen, was die Redaktionen am Schnupfen von Elisabeth II. so stimulierend fanden, dass sie damit die miese Festtagslaune ihrer Kunden ein wenig aufzuhellen gedachten. Denn eigentlich ist es ja traurig, wenn ein gekröntes Haupt dem Gott der vom Vorvorgänger Heinrich VIII. gegründeten Anglikanischen Kirche (ein selten schönes Beispiel für das gedeihliche Miteinander von Religion und Herrschaft) die Aufwartung verweigern muss. Aber man wollte eben den Altersarmen hierzulande zeigen, dass auch eine Königin ihr Päckchen zu tragen hat.


Was ist eine Nachricht?


Im zynischen US-Journalismus wird Anfängern von vornherein klar gemacht, dass eine Nachricht etwas Bemerkenswertes enthalten muss, dass etwa die Meldung Hund beißt Mann schon wegen ihrer Normalität und Abundanz keine Nachricht von Wert sei, wohl aber die Umkehrung Mann beißt Hund, da eher selten. Der kolportierte Fakt, eine 90-jährige Greisin (in diesem Fall Queen Elisabeth) habe es nicht in den Gottesdienst geschafft, gehört dem Inhalt nach zu den allgemeinen Widrigkeiten unserer überalterten Gesellschaften, ist also nicht weiter erwähnenswert.


Schon erstaunlicher würde sich folgende Feststellung anhören: „91-Jährige humpelte zur Messe.“ Das ist eine sportive Leistung und besitzt schon dadurch fast Nachrichtenwert. Ich denke und hoffe deshalb, dass in unserer ausgewogenen Medienlandschaft nächstes Jahr um diese Zeit Platz für solch optimistische Berichterstattung sein wird und der Gott der Anglikaner wieder mit seiner königlichen Gläubigen rechnen kann.


Nur unverbesserliche Spötter würden dann angesichts dieser sogar dialektisch korrekten News-Gewichtung noch nach einem tieferen Sinn fragen…

   

Pressefreiheit – frei von Sinn


Schließlich bedeutet Pressefreiheit den Journalisten nicht bloß, dass sie nicht befürchten müssen, alle Augenblicke eingesperrt zu werden, sondern auch, dass sie schreiben können, was sie (und vielleicht noch mehr ihre Verleger) gerne möchten. Und wenn die Käuferschaft ihre brennende Neugier bezüglich der harten Schicksale in Europas Königshäusern befriedigt sehen will, kann man ruhigen Gewissens die Prioritäten dahingehend ändern und sich vom Sinn freimachen.


Vielleicht ist es auch für kritische Menschen ganz entspannend, sich 2017 nicht mehr nur den ewigen Fragen, was verschweigt unsere Presse in den Wirtschaftsnachrichten, was türkt sie im Auslandsteil, widmen zu müssen, sondern die harmlose Spannung bis zum Ende des ansonsten sicherlich wieder unerfreulich blutig werden Jahres hochhalten zu dürfen: Geht sie diesmal in die Kirche? Oder schwänzt sie schon wieder?

01/2017

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Qualitätsente im Archiv dieser Rubrik




2016 


                 

Die Welt ist sicher…


Zunächst die schlechte Nachricht: AfD-Wähler und Pegida-Anhänger fühlen sich in ihrer Heimat nicht mehr wohl, weil ihnen dunkle Gestalten auf germanischen Straßen den Untergang des Abendlandes ankündigen. Aber die Unionsparteien kümmern sich nun zum Glück um diese besorgten Bürger, indem sie so vielen Asylsuchenden und Migranten wie möglich die Tür weisen wollen, um das deutsche Herkunftsland wieder zu einem Bollwerk deutscher Gesinnung zu machen – und fühlen sich dabei im Recht. Denn eigentlich ist nach Meinung von CDU und CSU außerhalb unserer Grenzen die Welt sicher, zumindest für Flüchtlinge.


Desintegrations-Profis


Panische Angst vor dem Stimmenklau am rechten Rand durch die AfD hat die Union in einen regelrechten Veitstanz programmatischer Absurditäten manövriert. Da bringt die Junge Union, deren Mitglieder statt mit der natürlichen Aufmüpfigkeit der Jugend schon von frühen Jahren an mit der reaktionärer Spießigkeit der Vorgestrigen begnadet sind, auf dem CDU-Parteitag einen Antrag auf Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft nach dem Motto „Nur ein volldeutscher Türke ist ein guter Türke“ ein – und der Blödsinn wird von den Delegierten auch noch angenommen.


Zur gleichen Zeit setzt die CSU-Mehrheit  im bayerischen Landtag ein Integrationsgesetz durch, das de facto dem stumpfen Nationalismus, dem latenten Rassismus und der kategorischen Ausgrenzung von Zuwanderern Vorschub leistet. Ausgerechnet jene Partei, deren inhaltlicher Konsens sich vornehmlich aus bierseliger Bigotterie, allgegenwärtiger Vetternwirtschaft und zünftiger Intoleranz zusammensetzt, beschwört eine deutsche Leitkultur, an deren dubiosem Wesen die ganze Welt genesen soll, sofern sie die Grenzen des Freistaats zu überschreiten wagt. Und natürlich sprechen die würdigen Nachfolger eines Franz Josef Strauß, der Pegida vielleicht wirklich überflüssig gemacht hätte (O-Ton: „Rechts von mir ist nur noch die Wand.“), viel von beschleunigter Abschiebung und wenig vom Artikel 105 ihrer geheiligten bayerischen Verfassung. In dem steht nämlich,  dass „Ausländer, die unter Nichtbeachtung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte im Ausland verfolgt werden und nach Bayern geflüchtet sind, nicht ausgeliefert und ausgewiesen werden“ dürfen.

 

Das alles, liebe Unionschristen, wird euch die Pegida-Anhänger nicht zurück in eure Stimmvieh-Herde locken, treiben diese doch bereits die nächste Sau durchs Dorf. Und wieder einmal steht die „Lügenpresse“ im Fokus der von den rechtsradikalen Brandbeschleunigern geschürten Volkswut.

     

Endlich ein Mord!


Ein zur Tatzeit 16jähriger Flüchtling aus Afghanistan hat wahrscheinlich eine Studentin in Freiburg vergewaltigt und anschließend getötet. Es handelt sich um eine furchtbare Tat, die durch nichts entschuldigt werden kann. Da aber die ARD-Tagesschau nicht über die Bluttat und ihre Hintergründe berichtete, bemühten die Lautsprecher von Pegida gleich wieder den sattsam bekannten Vorwurf, die Lügenpresse verschweige ihnen jene inniglich herbeigesehnten Nachrichten, die sich so trefflich zum Befeuern der allgemeinen Ressentiments eignen.


Nun kann man den öffentlich-rechtlichen Medien hierzulande durchaus anlasten, eine zumindest teilweise einseitige Berichterstattung, in der missliebige Fakten einfach ausgeblendet werden (Ukraine-Krise, TTIP, militärische Interventionen Deutschlands etc.) zu betreiben. Der vorliegende Fall aber taugt nicht zu fundierter Kritik. Allein im Jahr 2015 wurden in Deutschland 296 Tötungsdelikte begangen, die allermeisten von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Würde sich die Tagesschau mit allen Morden befassen, müsste sie fünf Tage in der Woche die Sendezeit überziehen.


Nein, den besorgten Anhängern von AFD und Pegida geht es vor allem darum, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Tat eines Einzelnen zu lenken, da die Masse der Flüchtlinge – abgesehen von Bagatell-Delikten – kriminalstatistisch für ihren Geschmack zu unauffällig geblieben ist. Dabei hätten die kurzsichtigen Kritiker der Medien und Behörden sehr wohl ein signifikantes Beispiel für ein verdächtiges Schweigebündnis oder zumindest schuldhaftes Versagen unserer Organe anführen können: Erst 2014 berichteten die ZEIT und die Berliner Zeitung, die sich auf eine Überprüfung strittiger Mordfälle durch Kriminalisten bezogen, dass es zwischen 1990 und 2012 nicht, wie offiziell behauptet, 63 Opfer rechter Gewalt gegeben hätte, dass die Neonazis vielmehr in diesem Zeitraum 152 Menschen umgebracht haben. Solche Aufklärung steht allerdings nicht auf der Agenda der selbsternannten Hüter unseres abendländischen Deutschtums.

    

Zwei Arten von Sicherheit


Wider alle Statistiken ist Deutschland für die Wutbürger unsicherer geworden, die gefühlte Bedrohung durch Horden aus dem Orient nimmt ständig zu. Da wehrt sich der eine oder andere schon mal, indem er Familienunterkünfte anzündet oder dunkelhäutige Passanten durch die Straßen jagt. Wenn sich nichts belegen lässt, schafft man halt die Fakten selber: In der Tat ist unser Land für Flüchtlinge, wenn auch nicht für Normalbürger, gefährlicher geworden. Wenn jetzt noch die Herkunftsländer Asylsuchender sichergeredet werden oder wenigstens ein paar ungefährdete Plätzchen dort erfunden werden könnten, müssten eigentlich alle Voraussetzungen für eine ordentliche Massenabschiebung gegeben sein.


So argumentieren Unionspolitiker wie Thomas de Maizière, und die Sozialdemokraten sowie einige Grüne wie der Tübinger OB Boris Palmer und sein Landesvater Winfried Kretschmann zeigen sich dieser Sichtweise nicht abgeneigt. Was schert sie da noch die Genfer Konvention, man muss Kriegsflüchtlingen nur unmissverständlich klarmachen, dass bei ihnen zu Hause, etwa in Afghanistan, gar kein richtiger flächendeckender Krieg herrscht. Die Bundeswehrsoldaten, die völlig vergeblich am Hindukusch, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatten, die deutsche Freiheit verteidigten, kehren dieser Logik zufolge aus einem befriedeten Gebiet zurück. Zum Ausgleich schicken wir demnächst über zwölftausend Flüchtlinge in die vakant gewordene Friedhofslandschaft zurück.


Geht es perfider? Es geht. Der CDU-Vize Thomas Strobl, der in Baden-Württemberg als Innenminister ein gedeihliches Tandem mit dem grünen Rechtsaußen Kretschmann bildet, brachte auf dem Parteitag in Essen Vorschläge zur Verschärfung des Asylrechts ein, die einem den Magen umdrehen könnten, wenn der sich bis dahin nicht schon angesichts der schwarzen und braunen Menschenfeindlichkeit entleert hätte. Natürlich wurden die meisten dieser "Anregungen" in den Leitantrag der CDU aufgenommen.

   

Konzentration, Zentrum, Lager


Neben den üblichen Sanktionen für Unwillige oder Straftäter (bei deren Härtegraden sich die CDU-Scharfmacher ohnehin wettbewerbsmäßig übertreffen) sowie gekürzten Sozialleistungen forderte Strobl auch die Abschiebung kranker Asylbewerber. Und damit an ihm als gestandenem Christdemokraten auch nicht der geringste Makel der Nächstenliebe haften bliebe, schlug er für die aus dem Mittelmeer geretteten Schiffbrüchigen die Einrichtung von Rückführungszentren in Ägypten vor. Die vor Krieg und Diktatur Entflohenen sollen also in der dem Westen genehmen Militärdiktatur des Generals as-Sisi abgeliefert werden.


Nun weiß man mittlerweile, dass der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei, der man trotz allem noch zivilisiertere Bedingungen als der Despotie am Nil attestieren muss, von einigen Vorzeigecamps abgesehen, Hunderttausende in völlige Hoffnungslosigkeit, illegale Arbeitsverhältnisse, die der Sklaverei ähneln, und in Zwangsprostitution gestürzt hat. Aber das ist dann nicht mehr unsere Sache.


Immerhin hatte die EU im Frühjahr sogar erwogen, Rückführungszentren im Multi-Terror-Staat Libyen zu gründen – möglicherweise, um Flüchtlingen die Heimkehr in ihre Bürgerkriegs- oder Hungerstaaten schmackhaft zu machen. Jetzt also Ägypten. Diese Art, Alternativlosigkeit durch die Konzentration an einem Ort zu erzwingen, den man statt Zentrum auch Lager nennen kann, ist aus der deutschen Geschichte namentlich bekannt.

 


12/2016


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Blind mit System? im Archiv dieser Rubrik      

                              




Sozis im Angebot


Die SPD benötigt neben der Solidarität, die politisch Gestrauchelten und Gescheiterten gewiss sein sollte, vor allem Geld – egal von wem. Ihre Agentur Network Media GmbH (NWMD) hatte da eine Geschäftsidee, die wohl ganz einträglich war, andererseits aber Zweifel am Selbstverständnis der Genossen und ihren buchhalterischen Fähigkeiten aufkommen ließ: Unternehmen und Lobbyisten konnten sich einen Minister oder Staatssekretär für ein paar Tausender zwecks Meinungsaustauschs und Kennenlernens (oder besser: Interessenabgleichs) mieten. Für den neutral-offiziösen Anstrich sorgte das marode Parteiblättchen, das den Mauschelrunden den unverfänglichen Titel „Vorwärts“-Gespräche verlieh.


Andere waren fixer und teurer


Die Idee, leere Parteikassen von solventen Interessenvertretern auffüllen zu lassen bzw. die Reichen und Entscheidungsträger mittels rhetorischer Gefälligkeiten um einen beträchtlichen Obolus zu erleichtern, stammt natürlich nicht aus den eher saumseligen Kreisen der deutschen Sozialdemokratie. Bill und Hilary Clinton, Ex-Präsident und Beinahe-Präsidentin der USA, sammelten als Redner auf Veranstaltungen der Wirtschaftsgrößen und Finanzmarkt-Cracks etliche Millionen Dollar ein, und CDU-Mann Jürgen Rüttgers war sich als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfahlen nicht zu schade, 6000 Euro für ein Gruppenporträt mit den Freunden aus der Industrie zu verlangen. Was gifteten damals die oppositionellen Genossen an Rhein, Wupper und Ruhr! Unwürdig sei das, ja der Ruch der Käuflichkeit liege in der Düsseldorfer Luft, ereiferten sie sich und zitierten gern den in der Tat originellen Slogan „Rent a Rüttgers“. Der SPD-Vorsitzende Gabriel zeigte sich damals stolz wie der Pharisäer im Lukas-Evangelium darob, dass seine Parteisoldaten nicht seien wie jene: "Wir verkaufen keine Amtsträger und auch nicht die Partei an andere Leute, die genug Geld haben"


Vielleicht waren sie aber auch nur ein bisschen neidisch. Denn später, als die Partei selbst berühmte oder zumindest bekannte Funktionsträger gegen Gebühr an Entscheidungsträger oder deren Interessenwahrer auslieh, erwies sich, dass sie nicht so gut im Geschäft ist und dass ihre Stars nicht allzu viel Gage wert sind. Von den Clinton-Millionen mal ganz abgesehen, kassierte auch die CDU in NRW 2010 deutlich mehr für weniger Aufwand: Sie vermietete auf ihrem Parteitag interessierten Unternehmen einen Mini-Stand von 15 Quadratmetern, ließ Rüttgers kurz zu Fototermin sowie Kurzgeplauder antanzen und verlangte dafür 20.000 Euro. Laut ZDF-Magazin Frontal 21 mussten die SPD-Minister/innen Nahles, Hendricks, Schwesig und Maas (gleich zwei Mal, zuletzt bei der niederländischen Kreditbank ING-DiBa) sowie weitere Parteigrößen wie Generalsekretärin Barley oder MdB Heil für läppische 3000 bis 7000 Euro ganze Gesprächsrunden bestreiten. Von Sponsoring habe er nichts gewusst, sagte Justizminister Maas, es sei nicht sein Thema, wer eine solche Veranstaltung finanziere. Und ING-DiBA beeilte sich, sogleich zu versichern, man erwarte „keine Gegenleistung vom Minister“, womit wieder einmal bewiesen wäre, dass Wirtschaft und Sponsoren von der Politik nichts erwarten und nichts wollen – allenfalls das Beste.


Nicht exklusiv und fast draufgezahlt


Die NWMD hätte den ahnungslosen Minister leicht darüber aufklären können, wer da Sponsorengelder springen ließ – wenn er es denn hätte wissen wollen. Bei Frontal 21 forderte der Staatrechtsprofessor Frank Salinger eine umgehende Prüfung der geldschweren Gespräche, da zumindest der „Anfangsverdacht“ vorliege, dass die SPD gegen das Parteienrecht verstoße. Der SPIEGEL berichtete, für Sophie Schönberger, Konstanzer Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht, sei  diese Art des Sponsorings "eine sehr intelligente, aber im Endeffekt trotzdem rechtswidrige Umgehung der Parteienfinanzierung".


Die NWMD wiegelte sogleich ab: Eigentlich habe man mit den „Vorwärts“-Gesprächen gar nichts verdient, und dass hier im kleinen erlesenen Kreis Infos für die Unternehmen und Anweisungen aus den Führungsetagen ausgetaucht  würden, sei eine absurde Annahme. Denn: „Bei der "Vorwärts"-Gruppe, zu der die Agentur gehört, seien durch die Gesprächsreihen keine Gewinne entstanden.“ Dass von 7000 Euro nach den Ausgaben für ein paar Getränke und Fingerfood am Ende eines Abends nichts übriggeblieben sein soll, ist entweder kaum zu glauben oder auf schlechte  Kalkulation zurückzuführen.


Geradezu putzig aber kam das Argument daher, mit dem sich die SPD-Agentur gegen den von der Frontal 21-Berichterstattung implizierten Verdacht verwehrte, im kleinen Zirkel sei gut munkeln und tricksen gewesen: „Zudem unterstelle die Aussage, dass Treffen mit SPD-Ministern, Staatssekretären und Parteifunktionären gebucht werden könnten, eine besondere Exklusivität. Die Zahl der Teilnehmer bei den Gesprächen habe aber bei bis zu 20 Personen gelegen.“ Bis zu zwanzig Personen! Das waren ja halbe Volksversammlungen – so viele Manager, CEOs  und Lobbyisten gibt es doch in ganz Deutschland nicht! Oder vielleicht doch?


Leisten Sie sich Ihren Ansprechpartner!


Irgendwie aber muss der ansonsten recht dickhäutigen SPD-Spitze das Ganze doch peinlich geworden sein; jedenfalls stoppte sie die lukrativen Treffen ihrer Mandatsträger mit deren An- und Unterweisern aus der Wirtschaft plötzlich. Und das ist schade, denn die NWMD hatte gerade ganze parlamentarischen Abende geplant. „Bei diesen Treffen sollten Mitglieder des Bundestages, deren Büroleiter sowie Abteilungs- und Referatsleiter aus verschiedenen Ministerien zugegen sein. Konkret liegt dem ZDF ein Angebot über 35.000 Euro vor.“ Die Spitzenkräfte der Unternehmen hätten diesen  Schnäppchenpreis vermutlich gern gezahlt, um in geselliger Runde noch ein wenig mehr Einfluss auf die gefährliche Arbeiterpartei zu nehmen.


Aber auch für uns Nutznießer (Partei-Sicht) oder Opfer (realistische Perspektive) sozialdemokratischen Handelns hätte die Möglichkeit bestanden, für ein angemessenes Antrittsgeld zu sammeln, um auf einem bunten parlamentarischen Abend die politischen Leitlinien von Ministern oder Vorsitzenden erläutert zu bekommen. Nur fürchte ich, dass die taktischen und strategischen Interna dem exquisiten Kreis der Entscheider aus Finanz- und Handelswelt vorbehalten geblieben wären. Auch wenn wir die gleichen 35.000 Taler wie die Elite gelöhnt hätten, würden die Genossen Festredner und Normalsterblichen wahrscheinlich doch nur die Punkte eines Wahlprogramms heruntergeleiert haben, die üblicherweise nach den nächsten Koalitionsverhandlungen nur noch verzerrt, ins Gegenteil verkehrt oder überhaupt nicht mehr in der SPD-Agenda zu finden wären.


11/2016

Dazu auch:

Misstrauen empfohlen in der Rubrik Politik und Abgrund

Der letzte Strohhalm  im Archiv von Politik und Abgrund  

                 

 



The Bad and the Ugly


Niemand im Vollbesitz der Geisteskräfte kann sich wünschen, dass Donald Trump der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird. Kein Mensch mit einem Rest von Integrität wird hoffen, dass Hillary Clinton zur ersten Präsidentin in Washington gewählt wird. Doch das eigentlich Erstaunliche an diesem Wahlkampf ist nicht die miese Qualität der Kandidaten oder möglicherweise der Ausgang, sondern die Hauptrolle, die mediale Fahrlässigkeit auf der einen, Taktik und Trickserei auf der anderen Seite dabei gespielt haben: Die Inhalte waren egal, es zählten nur noch Selbst- und Fremddarstellung sowie mannigfaltige Fehler in einer dem billigstem Showbusiness entlehnten Szenerie.


Horror-Clown vs. fiese Schlange


Als die Welt in den Suburbs der Großstädte, auf den Weizenebenen des Mittelwestens und im südöstlichen Bible Belt noch in Ordnung war (oder wenigstens so dargestellt wurde), drehte Hollywood meist Filme, in denen Gut und Böse noch kategorisch getrennt waren und die Helden am Ende siegten – richtungsweisend in einer Gesellschaft, für die alles, auch die politische Willensbildung, den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie unterworfen ist. Als in den 1960er Jahren eine Welle defätistischer Italo-Western über den Atlantik schwappte, rieben sich die auf cineastische Stereotypien festgelegten US-Bürger verwundert bis entsetzt die Augen. In Filmen wie Corbuccis Il Mercenario oder Leones The Good, the Bad and the Ugly waren Heroen und Schurken nicht mehr voneinander zu unterscheiden, und am Ende siegte bisweilen sogar das abgrundtief Böse.


 

Mittlerweile nehmen es die Wähler in den Vereinigten Staaten relativ gelassen hin, dass sie sich bei der Frage, wer die Nation anführen darf, zwischen zwei üblen Charakteren entscheiden müssen. Das Medien-Universum, das diesmal in einer nie dagewesenen Offenheit und wegen interner Gegnerschaft höchst diffus Regie führt, hat die Masse der Bürger schon vorher dazu erzogen, die repräsentative Demokratie als eine Art Monopoly zu verstehen – mit dem Recht, um eine bessere Zukunft zu würfeln, und der Pflicht, zu akzeptieren, dass es selten mehr als zwei Augen werden und die Schlossallee außer Reichweite liegt.


Man kann sich über den Erfolg eines Kandidaten wundern, dessen Fähigkeit zur  Analyse komplexer internationaler Sachverhalte die eines deutschen Pegida-Hooligans kaum zu übertreffen scheint, der rassistisch, sexistisch und nationalistisch in die Mikros belfert, stur an Behauptungen festhält, deren Unsinnigkeit längst bewiesen ist, der das Image eines schrillen Horror-Clowns noch kurz vor der Wahl pflegte, zu einer Zeit also, in der andere längst staatsmännische Tünche auftragen ließen.

Man darf entsetzt sein über eine Kandidatin, die in der Vergangenheit so ziemlich jede (später gescheiterte) Militärintervention der USA im Mittleren und Nahen Osten enthusiastisch begrüßt hat und für die Zukunft eine Flugverbotszone über Syrien in Aussicht stellt, was ganz nebenbei zum Zusammenstoß mit Russland führen könnte, eine aalglatte, bedenkenlose Karrieristin, die sich zusammen mit ihrem ungetreuen Gatten Bill unbeschadet durch die Whitewater-Korruptionsaffäre im heimischen Arkansas schlängelte und den Superreichen auf exklusiven Veranstaltungen derart gefällig nach dem Mund redete, dass sie etliche Millionen von einigen Milliardären einsammelte.


Der Kandidat wurde mittlerweile als ordinärer Chauvi und Grapscher medial dingfest gemacht, seine Kontrahentin leidet derzeit unter dem Vorwurf, sie habe sicherheitsrelevante E-Mails über ihren privaten Server, ja sogar über den PC eines Exhibitionisten laufen lassen. Für chauvinistische Anzüglichkeiten und Handgreiflichkeiten sind manche Männer schon ins Gefängnis gegangen. Geheimdienstmitarbeiter, die brisante Akten mit nach Hause nehmen, werden in der Regel fristlos entlassen und gewöhnlich auch noch strafrechtlich belangt.


Nun hat es in der US-Geschichte unzählige Beispiele für den Aufstieg beschränkter, korrupter und gefährlicher Politiker gegeben: Ein Ronald Reagan wusste über die Welt vermutlich noch weit weniger als Donald Trump, ein John F. Kennedy forcierte den Vietnam-Krieg und wollte Fidel Castro ermorden lassen, ein George W. Bush ließ haltlose Gerüchte in die Welt setzen, um ganze Länder verwüsten zu können. Jeder bisherige Präsidentschaftskandidat hat sich ein gerüttelt Maß an Unanständigkeit geleistet, was die beiden Konkurrenten unserer Tage aber vor den meisten auszeichnet, ist die Abwesenheit auch nur des Anscheins von Verantwortungsbewusstsein.

  

Wer enthüllt wann was?


Nicht dass die Journalisten in den USA am Anfang der Kampagne Donald Trump gemocht hätten, aber er garantierte mit seinen skurrilen Auftritten Quote und gute Absatzzahlen. Während der Vorwahlen war er Darling der Medien, während die restlichen republikanischen Kandidaten in der politischen Berichterstattung nur als Zwerge am Rande vorkamen. Als aber der exotische Außenseiter immer mehr Zustimmung erhielt, auch wenn er – alle Opfer zusammengenommen – die absolute Mehrheit des US-Volkes permanent beleidigte, als er gar zum ernstzunehmenden Kandidaten mutierte, flüchtete sich die Medienmehrheit des Landes, darunter auch die meisten konservativen Blätter und Sender, in die Gefolgschaft der angeblich eher berechenbaren Establishment-Ikone Hillary.


Und nun war erstmals live das teuflisch raffinierte Timing der Veröffentlichungen in diesem Wahlkampf zu beobachten. Ein mehr als zehn Jahre altes Video, das belegt, was man schon immer ahnte, dass nämlich Trump ein bedenkenloser Macho ist, der zu physischen Übergriffen gegen Frauen neigt, wird zum gleichen Zeitpunkt aus den Archiven geholt und gezeigt, an dem WikiLeaks 50.000 E-Mails von Clintons Wahlkampfmanager Podesta  veröffentlicht, die eine sich vorgeblich um den Mittelstand sorgende Kandidatin als Propagandistin und integriertes Mitglied der exklusivsten Oligarchen-Clique in den USA zeigen.


Und während Trump noch die Wunden leckte, die ihm eigene Dummheit und Brutalität geschlagen hatten, und die ersten Frauen, die er belästigt und betatscht haben soll, sich meldeten, entlarvte WikiLleaks Hillary Clinton als jüngere Schwester im Geiste des einstigen US-Präsidenten Richard Nixon, genannt Tricky Dick. Der war über die Watergate-Affäre gestolpert, weil er u. a. allzu genau wissen wollte, was seine politischen Gegner so alles dachten bzw. planten, und sie abhören ließ, um für die nächste Präsidentenwahl einen Wissensvorsprung zu erlangen. Das hatte Tricky Hillary nicht nötig. CNN-Politikanalystin Donna Brazile vom Sender CNN kam auch so auf sie zu und informierte sie über die Fragen, mit denen sie im TV-Duell mit ihrem Vorwahl-Kontrahenten Bernie Sanders konfrontiert werden würde – ein unschätzbarer Vorteil in einer Live-Debatte und ein illegitimes Schnäppchen, eine Wählertäuschung, die Trump seiner Gegnerin – vielleicht nicht ganz zu Unrecht – auch hinsichtlich der drei gemeinsamen Fernseh-Debatten unterstellt.


Es kam noch schlimmer für Clinton: FBI-Chef James Comey (ein Republikaner), der es nach einer ersten Untersuchung der laxen Server-Handhabung der Kandidatin noch bei einer scharfen Rüge belassen hatte, kündigte neue Ermittlungen an, weil die Behörde geheime Mails aus dem Hause Clinton bei dem wegen seiner Sex-Belästigungen via PC zurückgetretenen Abgeordneten Anthony Weiner (Ex-Gatte der Hillary-Vertrauten Abedin) gefunden hatte. Und das acht Tage vor der Wahl!


Armes Weltschicksal 

  

Auf die Inhalte der gegenseitigen Beschuldigungen kommt es nicht mehr an. Beinahe jeder US-Wähler weiß, dass Trump so grob und asozial, wie die Demokraten es ihm vorwerfen, und Clinton so eiskalt und skrupellos, wie die Republikaner sie sehen, ist. Mehr interessiert die Frage, wer hinter den jeweiligen Enthüllungen steckt. Es sind wohl wichtige Vertreter des Big Money, die das isolationistische Faible und die Unberechenbarkeit des Baulöwen fürchten, die mit Hilfe maßgeblicher Teile der Presse für die Sexismus-Enthüllungen just in time gesorgt haben. Gekontert wurden diese scheinbar vorentscheidenden Veröffentlichungen durch Informationen von WikiLeaks, die Clinton urplötzlich in die Defensive manövrierten, stramme Rechte im FBI mobilisierten und die das Weiße Haus russischen Hackern, die in direktem Auftrag Wladimir Putins gehandelt hätten, zuschreibt.


Von der Tatsache mal abgesehen, dass der Wahrheitsgehalt der WikiLeaks-Publikationen mit keinem offiziellen Wort bezweifelt wird, könnte die US-Administration mit ihrem Verdacht recht haben. Putin ist zwar ungleich intelligenter als Trump und verfolgt auch weitgehend andere internationale Interessen, aber er ist ihm in Sachen Chauvinismus und Xenophobie doch sehr ähnlich und will die Eskalationspolitik der Bellizistin Clinton in Syrien und anderswo verhindern. Zudem hat der Kreml-Chef im Kalten Krieg von den USA gelernt, was verdeckte Einflussnahme, Manipulation und Desinformation, sei es durch Geheimdienste, Propagandasender wie Radio Free Europe oder Think Tanks weltweit bewirken konnten. Und er muss nicht einmal fälschen lassen, sondern belastende Fakten nur im richtigen Augenblick platzieren. WikiLeaks könnte sich dafür als der geeignete Multiplikator angeboten haben: eine Organisation, der man traut, eben weil sie heikle Daten, deren Authentizität sie geprüft hat, ohne Rücksicht auf die betroffenen Mächte und deren Strategien ins Netz stellt.


Mit dramatischen Worten hat nun US-Präsident Obama für die Wahl seiner Parteifreundin Clinton geworben: Gegenkandidat Trump sei „beispiellos unqualifiziert“, sagte er, womit er der Wahrheit sehr nahe kommt. Bei der Wahl stehe „unsere Demokratie zur Abstimmung“; vermutlich bezieht er sich auf die Reste, die der militärisch-industrielle Komplex (Eisenhower) von ihr noch übrig gelassen hat. Und dann setzt er global noch eins drauf: „Das Schicksal der Welt steht am Abgrund!“


Mag sein, dass ein Präsident Trump dem armen Schicksal noch den finalen Tritt geben könnte, angesichts der mit kriegerischen Interventionen kokettierenden Clinton könnte es aber auch selbst springen. Man kann nur hoffen, dass die erfolgreichere dieser beiden Figuren im letzten Augenblick von Beratern, Ministern oder Militärs, die allesamt Zyniker sein mögen, aber die Folgen eines bewaffneten Konflikts zwischen Großmächten realistisch einzuschätzen wissen, vom Weltschicksal, das ohnehin am Abgrund kauert, zurückgezerrt wird.

  

Am Dienstag wissen wir einen Namen, aber erst in den nächsten Monaten wird sich zeigen, wie die Vereinigten Staaten und die Welt die eine oder die andere in ihrer Reputation zerschmetterte Person an der Spitze ertragen.

 

11/2016

Dazu auch:

J.R. FOR PRESIDENT im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

Trumps America in diesem Archiv              

                        



VW noch ehrlicher!


Ein Konzernsprecher verkündete den hehren Willen zur (beinahe) nackten Ehrlichkeit und betrat damit surreales Neuland in puncto Unternehmenslyrik. Die Verantwortlichen von VW wollten so der Welt kundtun, dass sie keineswegs daran dächten, die Menschheit mittels ungehemmten CO 2-Ausstoßes auszurotten, und ließen in einem Anfall von unfreiwilligem Humor durchscheinen, dass zwischen Fakt, Halbwahrheit und Betrug in der Automobilindustrie kein Scheibenwischerblatt passt.


Ein bisschen Wahrheit…


In Frankfurt am Main versprach der PR-Frontmann der Öffentlichkeit allen Ernstes, der VW-Konzern werde „realistischere Werte für den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid“ vorlegen. Der Autobauer, der so gern weltweit der größte sein möchte, nun aber  - zuerst in den USA – in die Bredouille geriet, weil seine Dieselfahrzeuge auf dem Teststand Abgase nur in homöopathisch geringen Dosen absonderten, dafür aber im normalen Verkehr die Umwelt mit der bis zu 36-fachen Menge einnebelten, wolle künftig „die gesetzlich zulässigen Toleranzwerte“ einengen und damit „realitätsnähere CO 2-Werte“ ausweisen.


Das muss man sich im Gehörgang zergehen lassen, bevor das semantisch geschulte Hirn in Veitstanz verfällt. Realistisch, behauptet der Duden, bedeute in erster Linie der Wirklichkeit entsprechend. Auf den Sermon des Konzernsprechers angewandt, ließe sich die erste Aussage so interpretieren: In Zukunft werden die Abgaswerte unserer Autos, wie wir sie veröffentlichen, ein wenig mehr der Wirklichkeit entsprechen als früher. Damals haben wir ganz dick gelogen, ab jetzt werden wir ein wenig weniger die Unwahrheit sagen.


Auch ein zweites Synonym, das der Duden für realistisch gelten lässt, nämlich wirklichkeitsnah, ordnet die VW-Erklärung in die Kategorie „schlitzohriges Geständnis“ ein: Vorher haben wir Phantasie-Werte publiziert, jetzt sind wir weniger lügenaffin, kommen der Wahrheit also ein Stückchen näher. Auch der Nachsatz von den „realitätsnäheren CO 2-Werten“ lässt den Schluss zu, dass VW keineswegs beabsichtigt, die wirklichen Emissionen zu benennen, sondern das Ausmaß der Umweltvergiftung nur scheibchenweise offenbaren will. Wer von uns verträgt schon die volle Wahrheit?


Andersrum geht es auch


In der Bundesregierung hat Innenminister Thomas de Maiziere längst erkannt, dass solche Wortspielchen auch zur Lösung des Flüchtlingsproblems taugen. Der allgemeine Konsens, Kriegsflüchtlinge nicht in aktuelle Konflikte zurückzuschicken, wurde von ihm geschickt relativiert.

 

Eigentlich herrsche nach dem ruhmreichen Einsatz der NATO-Truppen gar kein Krieg mehr in Afghanistan, und wenn doch, dann zumindest nicht überall. Wenn das Land am Hindukusch vielleicht auch nicht in toto ein sicheres Herkunftsland sei, so doch in einigen Regionen, die abgelehnte Asylbewerber aus Deutschland in ihr friedliches Idyll aufnehmen könnten.


Von diesen sicheren Gebieten hatte wohl auch die Bundeswehrführung geträumt, als sie im Rahmen der „Missionen“ Enduring Freedom und ISAF  bis zu 5300 Soldaten gleichzeitig in den Norden des Landes entsandte. Die Provinzen Kundus und Balch galten nämlich als ruhige Etappe im blutigen Krieg. Dies änderte sich, als die Taliban sich die deutschen Soldaten ein wenig näher ansehen wollten und massenweise in die nördlichen Regionen einsickerten. Als das Gros des deutschen Expeditionskorps Ende 2014 Afghanistan verließ, waren Kundus und Masar-e Scharif so umkämpft wie der Rest des Landes. Als Erfolg kann sich die Bundeswehr immerhin die durch Oberst Klein angeordnete Bombardierung von zwei Tanklastwagen anrechnen, durch die – unter Inkaufnahme von mehr als 80 zivilen Opfern – der Diebstahl von Treibstoff durch habgierige Bauern verhindert werden konnte, anrechnen.


Minister de Maiziere hält – im Gegensatz zu den VW-Verantwortlichen – nichts von einer realitätsnäheren oder gar realistischeren Beurteilung der Lage. Damit afghanische Flüchtlinge in die Heimat abgeschoben werden können, bevorzugt er eine eher wirklichkeitsfernere Sicht der Dinge. Irgendwo in Afghanistan wird es schon ein bisschen Frieden geben. Auch wenn der, wie in Kundus, nur ganz kurz hält, müsste diese temporäre Sicherheit doch ausreichen, um die ungeliebten Asylbewerber flugs dorthin loszuwerden.


Die Moral aus diesen beiden Beispielen: Die deutsche Sprache ist geduldig, ihre Termini lassen sich drehen und wenden wie benötigt. Wir wollen dennoch nicht davon sprechen, dass sie sich prostituiert; schließlich kostet ihre Liebhaber in Politik und Wirtschaft das Lügen normalerweise nichts…


10/2016

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Die stillen Deutschen


Die Zeitungen und Magazine in der Bundesrepublik pauschal als „Lügenpresse“ zu diffamieren, bleibt den rechtsradikalen Schreihälsen von AfD und Pegida vorbehalten. Zwar vertreten Korrespondenten und Ressortleiter während internationaler Krisen häufig Thesen, die ihnen von den Moderatoren illustrer NATO-Think Tanks in die Feder diktiert zu sein scheinen, doch sind auch eine subjektive Wertung und die dubiose Gewichtung ausgewählter Informationen im Sinne des politisch-militärischen Komplexes per se noch keine Belege für hundertprozentige Unwahrheit (sondern Hinweise auf selektive, interessengesteuerte Wahrnehmung). Richtig kritisch wird es erst, wenn Nachrichten überhaupt nicht mehr stattfinden, wenn inopportune Fakten in den deutschen Medien schlichtweg verschwiegen werden, wie im Falle des Kriegs in Libyen und seiner Aufarbeitung.


Déjà-vu nach Serbien und dem Irak


In seinem Abschlussbericht kommt ein Untersuchungsausschuss des britischen Parlaments zu einem für die NATO verheerendem Ergebnis: Deren militärische Intervention fünf Jahre zuvor in Libyen sei mit falschen Tatsachenbehauptungen  gerechtfertigt worden und habe vor allem wirtschaftliche Gründe gehabt. Namentlich machten die Parlamentarier Frankreich als treibende Kraft hinter den Bombardierungen durch NATO-Flugzeuge, die mindesten 32.000 Menschen das Leben kosteten, verantwortlich. Dem damaligen Staatspräsident Sarkozy sei es vor allem um das libysche Erdöl und um den Einfluss seines Landes in Nordafrika gegangen.


In Deutschland mochten – von einigen linken Blogs abgesehen – die Medien über diesen weiteren Rechtsbruch des Nordatlantikpakts weder damals noch heute berichten, obwohl der (vorgeschobene) Interventionsgrund bereits 2011 durch eine Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International als Fake französischer Geheimdienstoffiziere entlarvt worden. Diktator Gaddafi plane ein Massaker an den aufständischen Einwohnern der Stadt Benghazi, hatte es geheißen, obwohl ai den Regierungstruppen attestierte, sie hätten bislang keine „großangelegten Menschenrechtsverstöße“ begangen, während die Rebellen eifrig Beweise fälschten. Wissenschaftler und Libyen-Experten erklärten gegenüber dem Parlamentsausschuss, sie hätten es schon 2011 für unwahrscheinlich gehalten, dass Muammar al Gaddafi ein Blutbad in Benghazi anordnen würde, zumal er dies weder bei früheren Unruhen noch bei der Eroberung von Ajdabiya getan habe. Politik und Medien in Großbritannien hätten die von dem Qatar-Sender Al Jazeera verbreiteten Gräuelmärchen aber nur allzu gern geglaubt. Wie sich die Anlässe von NATO-Kriegen gleichen, die Szenen während der Interventionen und die Folgen für die Bevölkerung!


Wie vor dem Bombenkrieg gegen Serbien 1999, als dem damaligen Präsidenten Milosevic unterstellt wurde, er plane eine ethnische Säuberung im Kosovo (zu Unrecht, wie die Den Haager Richter herausfanden), und wie vor der Irak-Invasion 2003, als George W. Bush gemeinsam mit Propaganda-Verbündeten die Mär von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen in die Welt setzte, konstruierten die kriegswilligen NATO-Staaten auch in Libyen sorgsam einen Kriegsgrund.


Ein Staat hört auf zu existieren


Muammar al Gaddafi herrschte in Libyen mit harter, oft brutaler Hand. Aber das Land verfügte über eine beachtliche Infrastruktur und wurde weder durch Stammesrivalitäten noch durch religiös motivierten Terrorismus in seinen Grundfesten erschüttert. Nach dem von mehreren NATO-Staaten organisierten Sturz des Despoten verfiel Libyen zu einem failed state, einem erodierenden Staatsgebilde, auf dessen Territorium ein multilateraler Krieg wie im Irak ausbrach, nur noch chaotischer, mit völlig unübersichtlichen Fronten.


Nationale Jihadisten, zunächst vom Westen, dann von den Saudis hochgerüstet, kämpfen gegen Stammesmilizen oder Einheiten von Gaddafis früherer Armee oder gegen den IS, der das Gebiet um die Hafenstadt Sirte erobert hat. Eine Regierung residierte in Tripolis, eine andere in Tobruk – zu sagen hatten beide nichts. Als auf Betreiben der westlichen Mächte das Regime in Tobruk von der UNO anerkannt wurde, geschah dies nicht, um irgendwelche Rechtsstaatlichkeit zu implementieren, sondern um einen willfährigen Vertragspartner zur Hand zu haben, der nach Bedarf NATO-Staaten zu Hilfe rufen und Flüchtlinge aus der Sahelzone von Europa fernhalten sollte. Im Land selbst wird diese Marionettenregierung des Westens von keiner der relevanten Kriegsparteien respektiert.


Zehntausende von Libyern verloren in diesem Chaos ihr Leben, rund 400.000 sollen vertrieben worden sein. Der Erdöl-Export, um den es Sarkozy vor allem gegangen war, kam praktisch zum Erliegen; die früher vergleichsweise gut funktionierende Wirtschaft existiert quasi nicht mehr. Und in dieser Hölle  sitzen rund 900.000 Flüchtlinge fest, von Milizen und Sicherheitskräften drangsaliert, eingesperrt, versklavt oder mit dem Tod bedroht. Da erscheint die Fahrt übers Mittelmeer auf einer maroden Nussschale unter der Fuchtel skrupelloser Schlepper vielen als das kleinere Übel…


Ein Zyniker könnte der Interventionspolitik des Westens in Libyen einen durchschlagenden Erfolg bescheinigen, immerhin wurde ein ziemlich unabhängiges Land völlig destabilisiert. Wenn selbst ein britischer Parlamentsausschuss zu dem Schluss kommt, die Begründungen dafür seien vorgeschoben und die Ergebnisse katastrophal gewesen, ist das ein Politikum ersten Ranges – über das man in unserer Presse allerdings nichts liest. Zweifellos haben auch Russland und seine Verbündeten in der Ostukraine und in Syrien keine weißen Hände (auch wenn hier wie dort die Lunte von anderen gelegt wurde), doch wie kann man die Schuldzuweisungen gen Moskau in den deutschen Medien für belastbare, da sorgfältig recherchierte Vorwürfe halten, wenn nicht einmal vor der eigenen Haustür, ordentlich gekehrt wird?

    

Die aktive deutsche Nichteinmischung


Wenn der Westen von diesen Ländern um Hilfe gegen die Despotie gebeten werde, dann möge man „nicht als erstes die Angst haben, wo es endet, sondern die Freude, dass es beginnt - meine Güte!“ So kommentierte der spätere Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Dankesrede für die Auszeichnung mit dem Börne-Preis 2011 laut FAZ den Beginn des allgemeinen Schlachtens in Libyen. In den beengten Verhältnissen des DDR-Bürokratismus aufgewachsen, sehnte sich der kriegerische Pastor ganz offensichtlich nach dem Marschieren durch die weite Welt, ganz gleich wie viele Menschen am Ende auf der Strecke bleiben.


Zu diesem Zeitpunkt waren solche bellizistischen Absichtserklärungen hierzulande noch verpönt. Bundespräsident Horst Köhler hatte zuvor für seine Feststellung, die Bundeswehr habe die Handelswege zu schützen (s. u.), noch verbale Prügel bezogen und war zurückgetreten. Die Deutschen verhielten sich damals wie der Titelheld in einem Roman Graham Greenes: „Der stille Amerikaner“ agiert scheinbar als neutral als Beobachter des französischen Kolonialkriegs in Vietnam, bereitet aber in Wirklichkeit mittels Terroranschlägen und Sabotage die verhängnisvolle Intervention der USA vor.

 

Auch die letzten Bundesregierungen  handelten pro forma vorsichtig: So schien der Kanzlerin Angela Merkel die populäre Weigerung ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröders, im Irak-Krieg 2003 deutsche Truppen einzusetzen, auch für den Libyen-Konflikt das probate Mittel zu sein. Im Weltsicherheitsrat enthielt sich Deutschland der Stimme, als der Weg für die westliche Militärintervention geebnet wurde. Dennoch entsprang die frohe Botschaft von der deutschen Nichteinmischung immer schon einer Scheinheiligen-Legende, die längst durch harte Fakten widerlegt ist.


Zwar entsandte Berlin 2003 tatsächlich keine Kampftruppen in den Irak, doch spähte der BND für Bushs Koalition der Willigen die Bombenziele aus. Und auf eine Anfrage des Grünen-MdB Christian Ströbele musste Thomas Kossendey, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, zugeben, dass die Bundeswehr während der Libyen-Intervention nicht nur 66 Offiziere und 37 Unteroffiziere zur Unterstützung in die kriegführenden NATO-Hauptquartiere entsandt, sondern auch an der „Zielauswahl“ für die Bombenflüge mitgewirkt habe.


Nur für einen moralisierender Erbsenzähler ist ein Soldat, der Bomben auf Orte und Menschenansammlungen abwirft, schuldiger als ein Kollege, der die Ziele markiert und die Opfer aussucht.


Die Träume der Kriegsministerin


Mag der abenteuerlustige Kirchenmann Gauck mit seiner fröhlichen Kriegsrhetorik bezüglich Libyens (und später des ganzen potentiellen Interventionsspektrums) seiner Zeit auch noch etwas voraus gewesen sein – er hat die Richtung vorgegeben, der heute etliche Politiker im Regierungslager folgen. Wo auch immer man Kriegsministerin Ursula von der Leyen frei sprechen lässt, betont sie die gestiegene Bedeutung (und Verpflichtung) Deutschlands im Konzert der Mächtigen und fordert zugleich nationale militärische Stärke und aggressiven Einsatzwillen als Voraussetzungen für die neue Rolle der Bundeswehr, die sie mit Multi-Milliardenausgaben zum Wohle der Rüstungsindustrie unterfüttern will.


Mit ihr werden die wirtschafts- und expansionsfreundlichen Kräfte in den bürgerlichen Parteien immer lauter und postulieren (mit anderen Worten), was Horst Köhler vor fünf Jahren noch in die Bredouille brachte, nämlich „dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“. Deutsche Bescheidenheit und Zurückhaltung sind out, während das think big! der führenden Mächte endlich auch für uns in ist. Und wenn sich Länder gegen die wirtschaftliche Bevormundung und Erpressung durch den Exportweltmeister wehren oder den Fluss der Profite behindern, sollten alle Skrupel bezüglich der Anwendung militärischer Gewalt fallen. Früher nannte man das Imperialismus.


Doch auch die Sorge um den eigenen Wohlstand und eine gewisse Aversion gegen Hilfesuchende aus den sorgsam ausgebeuteten Staaten jenseits der des Mittelmeers treiben die Verantwortlichen für den neuen selbstbewussten (Defätisten sagen: kriminellen) Umgang mit den Krisen und Kriegen unserer Zeit um: Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, ein militärpolitischer Think Tank mit reger Journalistenbeteiligung, diskutierte neulich darüber, wie die Massenflucht aus südlichen Ländern durch das Zusammenwirken von Kriegsoperationen und staatlicher Entwicklungshilfe gestoppt werden könne. Zuckerbrot und Peitsche in modernem Gewand: Die Entwicklungshilfe, ohnehin eher eine Subvention für den deutschen Außenhandel mit Erpressungspotential hinsichtlich der Durchsetzung von Freihandels-Diktaten, soll durch militärisches Eingreifen wegen Fehlverhaltens unwilliger Regimes ergänzt werden. Bei solchen Erwägungen spielen weder tote deutsche Soldaten wie in Afghanistan noch Zehntausende von Bombenopfern in den von Koalitionen der Willigen heimgesuchten Länder wie Libyen und Serbien eine Rolle.

  

Zurück zu den Medien: In allen ideologisch relevanten Think Tanks der Neoliberalen Internationalen sitzen ausgewählte Publizisten - meist leitende Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure - der noch halbwegs angesehenen Medien (in Deutschland u. a. Zeit, SZ, Spiegel, FAZ, ARD und ZDF). Sie verpflichten sich, nicht über die internen Diskussionen der Geheimlogen zu schreiben, charakterisieren und kommentieren aber anschließend in dem dort vorgegebenen Tenor die globalen Ereignisse. Politische Journalisten sollten aber gewichten und aufdecken, nicht konspirieren. Es sei denn, sie verstünden sich von vornherein als integrale Stützen des Systems.

10/2016

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Schweigen der Blätter im Archiv dieser Rubrik            

Pressefreiheit??? im Archiv dieser Rubrik




Schweigen der Blätter


Ein Mann saß jahrelang in Den Haag auf der Anklagebank und verteidigte sich gegen die schlimmste aller Beschuldigungen. Eine Dekade nach seinem Tod sprach unlängst der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien (ICTY) den einstigen serbischen Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic de facto vom Vorwurf des Völkermords frei. Und die westliche Presse, die den Angeklagten unisono vorverurteilt hatte, wohl auch um einen schmutzigen Krieg der NATO zu rechtfertigen, hüllt sich in das beredte Schweigen ertappter Verleumder.


Vorspiel zur Irak-Lüge


Am 24. März dieses Jahres entlastete der ICTY, auch als UNO-Kriegsverbrechertribunal bekannt, in seinem Endbescheid zur Verurteilung des bosnischen Serbenführers Karadzic posthum Milosevic vom Vorwurf des Völkermords in Bosnien und im übrigen ehemaligen Jugoslawien. Den westlichen Medien, die ab 2002 bis zum letalen Herzinfarkt des Angeklagten 2006 (vor Ende des Prozesses) dessen Bemühungen, seine Unschuld zu beweisen, mit Spott und Häme kommentierten, war dies größtenteils keine Nachricht wert, nahm sich doch die eigene Rolle im damaligen macht- und informationspolitischen Verwirrspiel, an dessen Ende der Bombenkrieg gegen Serbien stand, allzu schurkisch (bei bewusster Täuschung der Öffentlichkeit) oder allzu kläglich (bei grob fahrlässiger Recherche) aus.


Der italienische Journalist und ehemalige EU-Abgeordnete Giulietto Chiesa brachte es vor wenigen Wochen auf den Punkt: „Jetzt ist August, und alle schweigen. Die Medien berichten nichts darüber.“ Auch der australische Journalist John Pilger kritisierte in einem Artikel seines Blogs „Mit Medien einen Atomkrieg provozieren“, dass weder BBC noch CNN über den Freispruch Milosevics berichtet hätten. Lediglich der britische Guardian habe sich einen kurzen Kommentar abgerungen. Pilger zufolge attestierten die Richter in Den Haag dem ehemaligen jugoslawischen und serbischen Präsidenten sogar, er habe „ethnische Säuberungen“ verurteilt, gegen den bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic, den Hauptverantwortlichen für das Massaker von Srebrenica, opponiert und versucht, „den Krieg zu stoppen, der Jugoslawien auflöste“.


Solche Fakten schienen der NATO im Jahre 1999 nicht opportun, als sie gerade den Luftkrieg gegen Serbien unter dem Decknamen Operation Allied Force (OAF) vorbereitete. Wie seinem Nachfolger George W. Bush vier Jahre später fehlten US-Präsident Bill Clinton sowohl die Rechtfertigung durch ein UN-Mandat als auch der Grund, nämlich das „Eintreten des Bündnisfalles im Rahmen des Nordatlantikpaktes“, für die militärische Intervention. Und ähnlich wie später Bush mit seinem Märchen von den irakischen Massenvernichtungswaffen behalf sich Clinton mit Imaginationen aus dem Reich der Horrorphantasien: Milosevic sei für die Massaker in Bosnien-Herzegowina verantwortlich gewesen und plane nun Völkermord im Kosovo.


Und so eifrig wie die Berliner Schröder-Regierung sich am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien beteiligte, so engagiert rechtfertigten die deutschen Qualitätszeitungen, ARD-Kommentatoren und ZDF-Berichterstatter den Überfall auf eine Zivilbevölkerung aus der Luft; und so komplizenhaft versuchen sie heute, die Entlarvung der damaligen Manipulationen totzuschweigen…


Ein Staat wird zerschlagen


Bereits die deutsche Vorgängerregierung war unter dem Tandem Kohl und Genscher bei der Zerschlagung Jugoslawiens vorgeprellt, hatte quasi als Abrissfirma eines sehr heterogenen und fragilen Staatsgebildes fungiert. Während die USA oder Frankreich noch aus Furcht vor blutigen Konflikten (die denn auch eintraten) gezögert hatten, die Separationsbestrebungen in Slowenien und Kroatien zu unterstützen, überraschte Genscher die Welt mit der diplomatischen Anerkennung der abtrünnigen Republiken.

Später, als es nur noch um die Aufteilung eines aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo bestehenden Restjugoslawiens ging, hatten die USA Geschmack daran gefunden, dem traditionell mit Belgrad verbündeten Russland dessen militärische und politische Impotenz angesichts einer aggressiven Erweiterung des NATO-Einflussbereichs zu demonstrieren: eine Strategie, die Jahre später im Ukraine-Konflikt gefährlich scheitern sollte…


Da sich Imperien immer gerne mit dem Teufel verbünden, wenn dem Pakt eine gewisser Nutzen unterstellt werden kann, unterstützte die NATO im Kosovo bald die UÇK, eine Organisation mit mafiösen Strukturen, die zunächst den Anschluss des Kosovo an Albanien propagierte, dann aber die Ausbeutung der Region in eigener Regie bevorzugte. Die UÇK gab zwar lediglich 21 tödliche Attentate auf serbische Uniformträger zu, hatte aber ein Vielfaches an Bluttaten zu verantworten, darunter etliche Morde an nicht kooperationswilligen Landsleuten der eigenen Ethnie, dazu die Vertreibung Tausender nicht-albanischer Kosovo-Bewohner und Hunderte von Entführungen, deren Opfern Organe für den freien Handel entnommen wurden. Im deutschen Verfassungsschutzbericht 1998 wurde die UÇK als in „ihrer Heimat terroristisch operierend“ eingestuft. Mögen auch die Soldaten und die berüchtigten Paramilitärs Restjugoslawiens bei ihren Einsätzen Verbrechen begangen haben – wenn ethnische Gruppen im Kosovo vom Völkermord bedroht waren, dann in erster Linie die Minderheiten der Serben und Roma.


Heute ist Hashim Thaςi, der Chef und Pate der UÇK, des Drogen- und (illegalen) Organhandels sowie der Korruption und des vielfachen Mordes dringend verdächtig, Präsident des Kosovo, eines als failed state geborenen, ohne NATO- sowie EU-Subventionen nicht lebensfähigen Wechselbalgs, der in einem Morast aus Elend und Verbrechen versinkt.


Wirkliche Kriegsverbrechen

Die NATO begnügte sich nicht damit, die UÇK mit Waffen auszurüsten und dabei deutsche Lastwagen mit Caritas-Emblemen einzusetzen, sie wollte das Ende Restjugoslawiens in eigener Regie herbeiführen. Vom 24. März bis 10. Juni 1999 warfen Flugzeuge der Allianz, darunter auch deutsche Maschinen (erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder im Einsatz) mehr als 28.000 Bomben über Serbien ab, zerstörten Straßen, Brücken und Betriebe. Der rechtswidrige Krieg kostete etwa 3500 Menschen das Leben und hätte beinahe noch zu einem gefährlichen globalen Konflikt geführt: Getroffen wurde nämlich auch die chinesische Botschaft in Belgrad, wo drei Journalisten ums Leben kamen.


Slobodan Milosevic sollte nicht nachträglich in all seinen Handlungen und Haltungen idealisiert werden. Vielleicht hätte er nicht zu lang und starr an der obsoleten, da in den Bevölkerungsgruppen nicht ausreichend verankerten, Vorstellung vom Vielvölkerstaat Jugoslawien festhalten sollen, als alles zu bröckeln begann; möglicherweise wäre der Kosovo durch eine erfolgreichere Armutsbekämpfung oder die Implementierung einer weitreichenden Autonomie für die albanische Bevölkerungsmehrheit zu befrieden und in einer Konföderation zu halten gewesen. Geplanten Völkermord aber konnten ihm nur die vorwerfen, die selbst keine Skrupel kannten.


Milosevic verzichtete auf einen Star-Anwalt und verteidigte sich selbst. Als er umfangreiches Foto- und Videomaterial über mutmaßliche Kriegsverbrechen der NATO, etwa über Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, vorlegte, erntete er von Seiten der jetzt so schweigsamen Medien im Westen nur Spott. Nach dem Ableben des verhöhnten und verleumdeten Ex-Präsidenten und der Verurteilung von Karadzic wegen des Verbrechens von Srebrenica zu 40 Jahren Haft ist die Anklagebank in Den Haag verwaist. Eigentlich könnten Gerhard Schröder, der die Bundeswehr mitbomben ließ, Joschka Fischer, der sich nicht entblödete, den westlichen Völkerrechtsbruch mit völlig deplatzierten Verweisen auf den Holocaust und Auschwitz zu „legitimieren“, sowie die halbe Clinton-Administration bequem darauf Platz nehmen.

08/2016

Dazu auch:

FREIHEIT und DEMOCRACY im Archiv von Politik und Abgrund





Sport, Mord, Schnulze


Millionen von Fernsehzuschauern, die sich vom Action/Reklame-Potpourri der Privatsender abgestoßen fühlen, glaubten aufatmen zu können, als die olympische Farce von Rio am vergangenen Sonntag ein Ende nahm und nicht mehr eines der beiden großen öffentlich-rechtlichen Programme täglich blockierte. Doch die unsportlichen TV-User hatten sich zu früh gefreut. Am darauffolgenden Montag übertrug das Erste zur besten Sendezeit das internationale Spitzenspiel zwischen dem ewigen Vize Borussia Dortmund und dem Drittligisten Eintracht Trier live und in voller Länge. Und für den Freitag wurde der Bundesliga-Auftakt mit dem FC Bayern angedroht. So manche nachdenkliche couch potato fragte sich, was diese sportive Überflutung noch mit dem Programmauftrag von ARD und ZDF zu tun habe.


Ein bisschen Bildung


Aus dem Artikel 5 des Grundgesetzes („Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.“) leiten die öffentlich-rechtlichen Anstalten ihren Anspruch und ihre Verpflichtung ab, möglichst unabhängig und umfassend zu informieren. Konkretisiert wird das Vorhaben in den Rundfunkgesetzen der Länder, die allerdings bisweilen den Eindruck erwecken, ihre Regierungen hätten den nächsten Satz im Artikel 5 („Eine Zensur findet nicht statt.“) nicht gelesen oder hielten ihn zumindest nicht für bindend. Vor allem in Bayern verfuhren die CSU-Granden mit der „Freiheit der Berichterstattung“ nach Gutsherrenart.


Unvergessen bleibt die absolutistische Attitüde, die der überlebensgroße Landesfürst Franz Josef Strauß an den Tag legte, als er unliebsame Kabarettsendungen ersatzlos aus dem Programm streichen ließ. Viele Jahre später (2011) intervenierte sein Wiedergänger im Miniaturformat, Markus Söder, erfolgreich beim Bayerischen Rundfunk wegen eines kritischen Berichts, der auch sogleich in den Asservatenkammern verschwand. Weniger Glück hatte CSU-Pressesprecher Hans Michael Strepp mit dem Versuch, Druck auf Rundfunkredaktionen auszuüben. Als die Aktivitäten des Dilettanten ruchbar wurden, wurde statt der inkriminierten Sendungen Strepp selbst aus dem Verkehr gezogen.


Es war beileibe nicht allein die bajuwarische Union, die das Programm der Öffentlich-Rechtlichen nach eigenen Vorstellungen gestalten wollte: Der ehemalige ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender erklärte gegenüber Zeit online, es sei um die Jahrtausendwende üblich gewesen, dass Politiker bei „einfachen“ TV-Journalisten anriefen, um die Berichterstattung nach eigenen Vorstellungen zu lenken und zu schönen. Mag sein, dass solche direkten Interventionen heutzutage seltener geworden sind, doch drängt sich der Eindruck auf, dass viele Redakteure mittlerweile aus karrieristischen, großbürgerlich-ideologischen oder devotionalen Gründen eifrig den Konsens mit der Politik und den Wirtschaftsmächten suchen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die kritische Information des Bürgers, der per Rundfunkgebühren in Vorleistung für die Übermittlung von Inhalten mit einem gewissen Wert geht.


Denn so unbestimmt der Rechtsbegriff „Programmauftrag“ sein mag, er umfasst nach allen Deutungen die Items „Information, Bildung, Unterhaltung“. Letzterem Bestandteil der aktuellen TV-Kultur ist in ARD und ZDF wahrlich Genüge getan, soweit man sich an den Sommer-, Herbst- und  Geburtstagsfesten der Volksmusik sowie des deutschen Schlagers ebenso delektieren kann wie an einer Endlosschleife belangloser Quiz-Sendungen und den epidemischen Mordserien im Abendprogramm. Hier scheinen sich Unterhaltungs- und Bildungsauftrag manchmal aufs Gedeihlichste zu vermählen, etwa wenn man die schönen Landschaften Islands oder der Shetland-Inseln kennenlernt – wenn auch nur als Kulissen für blutige Verbrechen. Nichts gegen Serien wie „Inspector Barnaby“ oder den „Tatort Münster“, die das realitätsfremde Krimi-Genre trefflich karikieren; aber muss man wirklich idyllisch abgelegene Regionen wie Wales, das Allgäu oder ganz Skandinavien von Killern halb entvölkern lassen, nur um das Spannngsbedürfnis der Zuschauer zu befriedigen?


Schlimm wird es auch, wenn selbst die einst sakrosankte Tagesschau die Nachrichten derart bearbeitet und filtert, dass selbst die ansonsten nicht besonders wachsame Bevölkerungsmehrheit so manches Fake in Sachen NATO-Politik und Ukraine-Krise als solches erkennt, wenn die Wettquoten der Markt-Hasardeure, die Aktienkurse also, als objektive Konjunkturindizien verkauft werden und die vorherrschende Volksmeinung durch suggestive Verbreitung von Meinungen der tatsächlich Herrschenden vorproduziert wird (etwa die Abschaffung/Wiedereinführung der Vermögenssteuer, das Spardiktat für Griechenland etc.). Wird das Informationsgebot schon ausreichend berücksichtigt, wenn in Talkrunden immer dieselben Plappermäuler aktuelle Themen zerreden oder ein Helmut Markwort (Focus) im BR sein Medusenhaupt erhebt, um die Welt großmäulig auf seine boulevardesk-reaktionäre Art zu erklären?

   

Nische bleibt Nische


Aber die ARD hat doch 3 SAT und den Dokumentationskanal Phoenix, sie betreibt zusammen mit dem ZDF und dem französischen Partner-TV den Kultursender Arte, wird nun manch aufrechter Verteidiger der Öffentlich-Rechtlichen einwenden. Tatsächlich laufen auf diesen Nebenkanälen des Öfteren kritische Reportagen, differenzierte Hintergrundberichte oder anspruchsvolle Filme – nur sieht sie sich fast niemand an. Das Markenbewusstsein deutscher TV-Zuschauer scheint durch Reklame, Speicherplatz und Bekanntheitsgrad dahingehend geeicht worden zu sein, dass nur die Flaggschiffe mit aufwendiger Takelage (ARD, ZDF) zählen und besucht werden, egal wie seicht die Gewässer sind, in denen sie schwimmen.


Würden die Verantwortlichen in den Redaktionen (und in der immer noch zu maßgeblichen Politik) das Fernsehen ernsthaft aus der Spielecke belangloser Unterhaltung herausholen und zu einem emanzipatorischen und anregendem Medium umgestalten wollen, müssten sie sich überlegen, wie sie die Konsumenten in den Hauptprogrammen durch wichtige Themen und intelligente Formate fesseln und gleichzeitig zum Nachdenken bewegen können. Stattdessen machen die Öffentlich-Rechtlichen den Milliardenpoker um Übertragungsrechte, denen ihnen die  Deutsche Fußball Liga (DFL), das IOKund die UEFA-Macher der Champions League aufzwingen, brav mit. Um Ausreißer auf kritischere Bewusstseinsebenen im Zaum zu halten, werden gleichzeitig Kabarett-Sendungen wie die „Anstalt“ auf späte Sendeplätze verlegt.


Nun sollte das Fernsehen keineswegs zu einem pädagogischen, agitatorischen oder theorielastigen Medium hochgepuscht oder reduziert werden. Visualisierte Themen, Fiktionen und Szenen verlangen seit Marlowe und Shakespeare nach suspense, also Spannungselementen, um das Publikum bei der Stange zu halten. Es kommt folglich darauf an, die User zu fesseln, ohne dass diese während der Aufführung/Sendung bzw. des Fernsehabends das Hirn an der Garderobe abgeben oder ihr Schicksal der Fernbedienung anvertrauen müssen.


Kein Interesse an brisanten Stoffen


Man kann der Welt, in der wir leben, viel Böses nachsagen, nur nicht, dass sie ereignislos und langweilig wäre. Stoff für ambitionierte Filme, spannende Handlungen, meinetwegen auch Infotainment mit gewissem Tiefgang ließe sich überall aufspüren, nur suchen die Verantwortlichen von ARD und ZDF nicht oder nur unzureichend danach. Liegt das an dem dann notwendigen erhöhten Recherche-Aufwand, an politischer Rücksichtnahme oder an der Gefahr, die eigene Position, Arbeit und Elite-Zugehörigkeit allzu öffentlich der Kritik auszusetzen? Who knows?


Statt gefühlte 300 „Tatort“-Folgen im Jahr auszustrahlen bzw. zu wiederholen oder hohe Produktionskosten in banale Familienserien und glamouröse Schmonzetten zu stecken, könnte man bei seriösen Autoren Doku-Soaps über die mafiösen Machenschaften der Großbanken und Finanzspekulanten, vielleicht aus der Sicht griechischer Rentner oder mit Geldwäsche beauftragter Drogen-Gangster, in Auftrag geben. Bei fundierter Bearbeitung böten die Abgas-Manipulationen und gegen jeden Umweltschutz gerichteten Machtspiele der Automobilkonzerne eine solche Bandbreite an Intrigen, Skrupellosigkeit und Action, dass „Game of Thrones“ angesichts der auf den globalen Märktenim Kampf um Anteile und Einfluss gezeigten kriminellen Energie nicht nur märchenhaft-harmlos, sondern geradezu fade und wenig originell daherkäme.


Warum nicht eine spannende Serie über junge Westafrikaner, die, durch EU-Freihandelspolitik um ihre Zukunft als Kleinbauern gebracht, durch Wüsten und über Meere flüchten, dabei viele existentielle Abenteuer bestehen, nur um, in Europa angekommen, feststellen zu müssen, dass die Verursacher des Elends den Opfern keinerlei Daseinsberechtigung zugestehen? Vielleicht könnte auch eine köstlich konspirativ angelegte Staffel beleuchten, wie in internationalen Think Tanks einstmals idealistische Journalisten und Jungpolitiker den wirklich Mächtigen in Wirtschaft und Big Money zugeführt werden, um – nachdem sie erleben durften, wie sexy Geld und Macht in intimer Nähe sind – den Oligarchen nicht nur auf dem Schoß zu sitzen, sondern sogar deren Brille benützen zu dürfen, um eine neue, neoliberal glänzende Sicht auf die Welt zu gewinnen.


Aber das ginge denn doch wohl zu weit. Schließlich sitzen viele verantwortliche Redakteure der Öffentlich-Rechtlichen in solchen Think Tanks und fühlen sich auch außerordentlich wohl dort. Und wer will schon sein Nest mit den goldenen Eiern beschmutzen?

08/2016

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Pressefreiheit??? im Archiv dieser Rubrik

 

 

 

Schweinehund-Theorien


Präsident Franklin D. Roosevelt soll einst über den nicaraguanischen Diktator und Massenmörder Anastasio Somoza, der ansonsten ein treuer Verbündeter der USA war, gesagt haben: „Er mag ein Schweinehund sein, aber er ist unser Schweinehund.“ Dieser deutsche Kraftausdruck ist in etwa die etymologische Entsprechung dessen, was Roosevelt angeblich in seiner Muttersprache geäußert hatte. Die einen behaupten, es sei son of a bitch gewesen, andere präferieren bastard. Dritte erklären gar, der Präsident habe nichts dergleichen geäußert, was wiederum politische Beobachter für unerheblich halten, da die US-Außenpolitik genau nach dieser Maxime – ob nun ausgesprochen oder nur gedacht - funktioniere. Politik und Medien in Deutschland jedenfalls haben das Schema der transatlantischen Vordenker verinnerlicht.


Wer darf den Schweinehund machen?


Im Gegensatz zu den Herrschern im „Reich des Bösen“ (Ronald Reagan) oder in „Schurkenstaaten“ (George W. Bush), die per se schlecht sind, muss in der US-Außenpolitik bei Schweinehunden erst einmal differenziert werden, ob es sich um nützliche oder gefährliche Exemplare handelt. Während etwa Nordkoreas Diktatoren oder Irans Chomeini zu letzterer Kategorie gezählt wurden, sah man in Somoza, seinem kongenial blutrünstigen Kollegen in der Dominikanischen Republik, Rafael Trujillo, oder dem Schah von Persien befreundete Köter, die den USA die Märkte und das Land quasi gratis bzw. gegen ein bescheidenes persönliches Trinkgeld übergaben, sie mit billigen Rohstoffen versorgten, und bei verdeckten Aktionen der CIA, also dem einen oder anderen Militärputsch gegen gewählte Staatsoberhäupter, hilfreich zur Hand gingen.


Die machtpolitische Paranoia in Washington kreierte die Domino-Theorie, die jeden Aufstand gegen soziale Ungerechtigkeit in der Dritten Welt als von der UDSSR angestoßenen fallenden Stein interpretierte, der das schöne Gefüge des damals bereits reichlich globalen Kapitalismus ins Wanken zu bringen drohte. Um dem vorzubeugen, genügte es nicht mehr, die Caudillos traditioneller Provenienz mit Waffen, Interventionstruppen und Geld zu unterstützen, man musste sich neue, effizientere Schweinehunde züchten. Musterzöglinge waren etwa Augusto Pinochet in Chile und die Generäle Videla, Viola, Galtieri & Co. in Argentinien (bis letztere sich wegen der Malvinas-Falklands allzu bissig gegenüber Großbritannien aufführten). Dieses probate Mittel, den Status quo zu sichern, wurde von den westeuropäischen Regierungen zunächst wohlwollend geprüft und später – wenn auch vorsichtiger als vom NATO-Primus – angewandt.


Die Zeitläufte wurden indes komplizierter, und plötzlich ließ sich der dialektische Ansatz vom guten und vom bösen Schweinehund nicht mehr ganz so einfach wie während des Kalten Kriegs auf jede Region der Welt übertragen.


Vorsicht: Interessenkonflikt!


Bei Syriens Assad war es klar: er führte nicht nur rücksichtslos Krieg gegen Teile seines Volkes (genau wie seine vom Westen gehätschelten Feinde übrigens), er räumte auch den Russen den einzigen Marine-Stützpunkt im Mittelmeer ein. Folglich musste er ein ganz übles Subjekt sein, ganz im Gegensatz zu General al-Sisi in Ägypten. Der putschte zwar gegen einen gewählten Präsidenten und ertränkte den arabischen Frühling (und die ganze Meinungsfreiheit gleich mit) im Blut oder sperrte alles Unbotmäßige weg, aber er beseitigte auch die Muslimbrüder, die uns Kopfschmerzen bereitet hatten, und steht, stets Seit an Seit mit den westlichen Demokratien, als zahlungskräftiger Abnehmer unserer Waffenexporte bei Fuß. Auch für die Medien in Europa ist das riesige Ägypten seit Sisis Machtübernahme nur noch ein Randthema, ebenso wie das Marokko des Königs Mohammed VI, der zurzeit von oben eine parlamentarische Monarchie verordnet, durch die sein absolutistischer Machtanspruch weichgezeichnet werden soll, während er ganz unten ausbeuten und foltern lässt. Aber die Despoten in Ägypten und im Maghreb haben sich als zuverlässige Partner der Wirtschaft erwiesen und sich so den Status des guten Schweinehundes verdient.


Wie schnell man dieser Klassifizierung verlustig gehen kann, musste der Autokrat Gaddafi in Libyen am eigenen Leib erfahren: Zunächst als bitterböse Töle eingestuft, wurde er zum guten Hund, weil er als Partner im Kampf gegen die radikalen Islamisten galt. Als aber die NATO und die Herrscher auf der arabischen Halbinsel ihre eigenen Kriegsspiele planten und dubiose Milizen aufrüsteten, wurde Gaddafi zum Teufel gejagt – und das ganze Land, heute ein failed state, durfte mit.


Können gewählte Staatsmänner eigentlich Schweinehunde sein? Im Prinzip schon, aber unsere Presse drückt sich da vorsichtiger aus. Russlands Putin und der türkische Staatspräsident Erdoğan, wiewohl mit demokratischem Mandat ausgestattet, neigen immer mehr autoritärer oder (zumindest letzterer) sogar diktatorischer Machtausübung zu. Dafür kriegt Putin auch ordentlich Saures von den in NATO-Thinktanks gebrieften Journalisten hierzulande. Natürlich ist es wichtig und korrekt, dass über die repressiven Machinationen des lupenreinen Demokraten ausführlich berichtet wird, nur wirkt die Kritik in unseren der großbürgerlichen Objektivität verpflichteten Medien wie eine Retourkutsche dafür, dass Russland auf die ukrainische Putsch-Inszenierung und die Einkreisungsstrategie von Nordantlantikpakt und Europäischer Union mit verständlicher Härte reagiert hat. Und wo bleibt ein adäquates Porträt des u. a. mit Hilfe von Neonazis an die Macht gekommenen Kiewer Präsidenten Poroschenko, dessen politische Karriere mit dem wundersamen Aufstieg vom kleinen Schokoladenfabrikanten zum milliardenschweren Oligarchen einherging?


Was Kemalisten, Militärs und danach Erdoğans AKP-Büttel mit Kurden oder linken Intellektuellen anstellten, war jahrzehntelang kein weltbewegendes Thema, schon gar nicht in Deutschland. Man brauchte die Türkei als Handelspartner, als alliierte Nation an der Grenze zur UDSSR, später zu Russland und zuletzt als „Bollwerk“ gegen Flüchtlinge. Doch nun muckt Erdoğan gegen die EU auf, wird unberechenbar, mag unsere Interessen nicht mehr bedienen. Und jetzt erst werden in Europa offizielle Stimmen gegen die Verfolgung der Opposition laut, erst jetzt werden Presseberichte über den totalen Krieg, den der türkische Staat in manchen Kurdengebieten führt, ernst genommen, jetzt, da der Hund von der Leine ist und die Zähne auch gegen sein früheres Herrchen (das sich möglicherweise seine Befehlsgewalt nur eingebildet hat) fletscht.


Waffen an die Unseren


Vergleichsweise milde fällt die öffentliche Kritik an den Financiers des islamistischen Terrors aus, an den Kriegsherren im Burnus, die Waffen und Söldner in alle Hotspots der brennenden Region schicken: am König und den Prinzen von Saudi-Arabien, an den Emiren von Qatar oder Kuwait. Die wirtschaftliche Macht der Wüstensöhne ist halt gigantisch, sie herrschen über unermessliche Bodenschätze und können alle Waffensysteme, die ihnen Sigmar Gabriel liefern lässt, aus der Portokasse bezahlen.


Und wir wagen es gar nicht, die Herrscher des radikalsten Gottesstaates der Erde, die Wahhabiten in Riad, mit einem Schimpfwort zu belegen, das zwei für diese Gläubigsten unter Allahs Himmel unreine Tiere miteinander vermählt. Sprechen wir lieber von Partnern, die uns ab und zu Plagen wie Al Qaida oder den Islamischen Staat wohlalimentiert auf den Hals schicken, uns (oder zumindest unserer Wirtschaft) aber ansonsten loyal wider alle sozialistischen und emanzipatorischen Versuchungen zur Seite stehen. Verbündete im Geiste des ungezügelten Markts behandelt man nicht wie hergelaufene Militärdiktatoren (von kurzer Haltbarkeitsdauer), zumal sie oft Konflikte befeuern, die wir in unserem Drang, wichtige Rohstoffe, den Absatz unserer Schrottprodukte sowie die Handelswege zu sichern, gern selbst schüren würden. Deshalb kritisieren die Medien nur verhalten und die Politiker überhaupt nicht die brutalen religiös-feudalen Unterdrücker auf der arabischen Halbinsel, die Gottesstaaten mit Ingredienzien von Sklavenhaltergesellschaften. Im Gegenteil: Die fanatischen Ölprinzen erhalten Waffen vom feinsten (womit sie denn auch sogleich Krieg führen, etwa im Jemen) und gelegentlich auch mal eine Fußball-Weltmeisterschaft.


Angesichts der diffizilen und bisweilen irritierenden Auslegung der vermeintlichen Roosevelt-Doktrin könnte man zu der (sicherlich ungerechtfertigten) Auffassung gelangen, es seien in EU und NATO Schweinehunde damit befasst, ihre Kollegen auf dem restlichen Globus in willige oder schlachtreife Artgenossen einzuteilen.

08/2016

Dazu auch:

Dem Rind verboten im Archiv dieser Rubrik

Terror auf Bestellung im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund           


Türkische Ratespiele


In ihrem Mitgliederbrief an Journalisten nahm die Gewerkschaft ver.di den Putschversuch in der Türkei zum Anlass, den Vorrang der Berufsschreiber gegenüber den Freizeit-Bloggern zu betonen: „Erst im Laufe des Wochenendes gab es Ansätze, die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge zusammen zu fassen. Das Fehlen einer solchen Einordnung dokumentiert einmal mehr die Schwäche der sozialen Medien gegenüber dem professionellen Journalismus.“ Gleich im nächsten Satz aber beklagen sich die Autoren von ver.di: „Und ein zusätzliches Problem ist sicherlich, dass auch die klassischen Medien unter dem Druck der sozialen Netzwerke schon zu einem Zeitpunkt loslegen, in dem Journalismus in diesem Sinn noch gar nicht möglich ist.“ Mit anderen Worten: Durch wilde Blogs fühlen sich gestandene Publizisten dazu gedrängt, Texte abzusondern, obwohl sie eigentlich wissen, dass sie nichts wissen…


Putschversuch oder Fake?


In den seligen Zeiten des Kalten Krieges, da in Moskau noch die alten Herren des Zentralkomitees klandestin tagten und kryptische Beschlüsse fassten, übten sich westliche Korrespondenten, indem sie sich bemühten, Fakten zu erahnen oder Nebensätze zu interpretieren, in einer Disziplin, die man als Kreml-Astrologie bezeichnete. Es scheint, als müssten sich nach dem seltsam dilettantisch wirkenden Putschversuch in der Türkei die journalistischen Sterndeuter mehr auf Ankara konzentrieren; denn so viele Indizien, Augenzeugenberichte und Analysen auch gesammelt und veröffentlicht wurden – sie passen alle nicht recht zusammen und lassen mehr Fragen offen, als sie Erklärungen liefern.


Fakt ist, dass das Scheitern des Militärpütschleins dem Staatspräsidenten Erdoğan die Chance verschafft hat, tabula rasa zu machen, d. h. aufzuräumen mit lästigen Relikten der Demokratie und mit allen gesellschaftlichen Protagonisten, die gegen ihn sind oder denen er misstraut. Der Ausnahmezustand ermöglicht es ihm, per Dekret zu regieren, an die 15.000 Menschen wurden verhaftet oder werden noch polizeilich gesucht, Zehntausende Staatsangestellte, darunter Richter und Hochschullehrer, wurden entlassen, Akademiker dürfen nicht mehr ins Ausland reisen, und die Wiedereinführung der Todesstrafe steht als Nächstes an.


Nicht wenige hierzulande mutmaßen daher, die Meuterei sei ein von Erdoğan und seiner AKP inszenierter coup d`etat mit dem Ziel gewesen, die Republik zugunsten einer Präsidialdiktatur abzuschaffen. Obwohl nicht nur notorische Verschwörungstheoretiker diese These verbreiten, fehlen doch die Belege für den Putsch von oben. Zudem existieren noch etliche andere Hypothesen, die gleichermaßen plausibel und unbeweisbar sind.


Hintermänner – allerlei Theorien


Einen Aufstand vorzutäuschen, an dem Militärs beteiligt sind und in dessen kurzem Verlauf Ziele wie das Parlament aus der Luft bombardiert werden, wäre wohl ein Spiel mit dem Feuer gewesen. Mit etwas Geduld hätte sich Erdoğan die gewünschten Sondervollmachten auch per Ermächtigungsgesetz verschaffen können. Selbst dass seine Sicherheitskräfte nach dem Putsch blitzschnell Listen mit Gegnern und Oppositionellen abarbeiten konnten, ist nicht unbedingt ein Beleg für seine Urheberschaft, waren solche Aufstellungen doch mit Sicherheit schon vor geraumer Zeit von ihm in Auftrag gegeben worden.


Bleiben noch jede Menge andere potentielle Aufrührer, darunter die üblichen Verdächtigen, sowie eine Vielzahl obskurer Motive. Erdoğan selbst machte sofort den rechtskonservativen Islamprediger Fethullah Gülen, einen früheren politischen Weggefährten, als Drahtzieher der Revolte aus. Die Gülen-Bewegung verfügt(e) über mehrere Unternehmen, private Hochschulen und ein Medienimperium. Sie hat wohl auch versucht, Armee, Polizei und Justiz zu unterwandern. Dass sie konspirativ tätig war und sich in den letzten drei Jahren  zunehmend gegen die AKP positionierte, steht außer Zweifel. Nur waren die Gülen-Anhänger beileibe nicht die einzigen, die Erdoğan offen kritisierten und heimlich bekämpften. Es scheint eher so, als diene dem der Name des mittlerweile verfemten Predigers als Sammeletikett für alle Subversiven, ob es sich um Richter, Journalisten, Lehrer oder Soldaten handelt.


Dass es in den türkischen Streitkräften vor allem im Offizierskorps noch Anhänger der nationalistisch-laizistischen Lehre des Republikgründers Kemal Atatürk gibt, ist ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, dass die Armee zu gewaltsamen Machtergreifungen neigt: Zwischen 1960 und 1980 putschte sie dreimal erfolgreich gegen missliebige zivile Regierungen. Waren es kemalistische Generäle aus der zweiten Reihe, die eine solche „Erfolgsgeschichte“ gegen den autoritär-islamistischen Präsident wiederholen wollten und dabei vergaßen, dass die meisten Militärs die säkulare Staatsdoktrin längst gegen den frommen Chauvinismus der AKP eingetauscht hatten?


Zu denken gibt aber auch der Umstand, dass der Putsch ausgerechnet von der Luftwaffenbasis Incirlik aus mit Versorgungsflügen unterstützt wurde. Dort sind auch die ausländischen NATO-Aufklärungseinheiten, darunter Bundeswehrsoldaten, stationiert. Es hat schon dürftigere Anlässe für Spekulationen hinsichtlich der Beseitigung unbequemer Regimes durch verdeckte Operationen gegeben. Erstaunlich ist jedenfalls, dass die friedliebenden Demokratien des Westens jahrzehntelang eine Armee, die gegen gewählte Regierungen putschte und einen Vernichtungskrieg gegen die Kurden im eigenen Land führte, trainieren ließen, mit Personal unterstützten und hochrüsteten.


Das Whodunit? der klassischen Kriminalliteratur feiert bei der Suche nach den Rädelsführern des aktuellen Putschversuchs fröhliche Urständ. So viele Fragen, so viele Verdächtige – aber keine schlüssigen Antworten und niemand überführt… In der deutschen Öffentlichkeit breitet sich indessen klammheimliche Trauer aus, weil der aufstrebende Despot Erdoğan nicht gestürzt und kein anderes Regime (gegen den Willen der Türken, aber zu unserem Nutzen) installiert werden konnte. Dabei werden ganz andere Gefahren übersehen.

      

Teufel und Beelzebub


Spätestens seit dem hierzulande erstaunlich wenig thematisierten und kritisierten Militärputsch in Ägypten weiß man, mit welcher Brutalität die Machthaber in Uniform gegen jede Art der Opposition vorgehen, wie effizient sie die letzten Regungen des Arabischen Frühlings im Blut erstickten. Ob von den Kemalisten in den türkischen Streitkräften ein gemäßigteres Vorgehen zu erwarten wäre, darf bezweifelt werden. Schließlich war ihr Idol Kemal Atatürk nicht nur ein Laizist und Modernisierer, sondern auch ein Autokrat, der – wiewohl nicht persönlich daran beteiligt – den von einem Triumvirat seiner jungtürkischen Regierung befohlenen Völkermord an den Armeniern zumindest billigend in Kauf nahm. Auch sei daran erinnert, dass bis zum Amtsantritt Erdoğans den Kurden von den kemalistischen Militärs und den mit ihnen verbündeten bürgerlichen Parteien jedes Recht auf Tradition und Identität abgesprochen wurde. Es war ihnen verboten, in der Öffentlichkeit Kurdisch zu sprechen, offiziell firmierten sie unter dem diskriminierenden Begriff Bergtürken.


Auch Fethullah Gülen, der von seinem Exil in Pennsylvania aus agiert, taugt nicht zum lupenreinen Demokraten. Zwar warnte der Prediger mit Recht davor, dass Erdoğan die Gewaltenteilung abschaffen wolle, doch gibt es auch andere Aussagen von ihm, die so gar nicht in einen Kontext von Freiheit und Toleranz passen wollen, etwa die, dass jeder, der vom Islam abfalle, mit dem Tod bestraft werden müsse.


Und unter den Oppositionsparteien im Parlament befindet sich wiederum eine, deren Mitglieder sich gar nicht erst die Mühe machen, die Schafspelze demokratischer Legitimation überzuziehen. Die MHP ist die politische Organisation der faschistischen Grauen Wölfe, die ebenfalls das Militär infiltrierten und deren Milizen für Massaker im Kurdengebiet verantwortlich gemacht werden. Wer Erdoğan ohne Rücksicht auf Verluste stürzen will, der riskiert, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.


Die einzige Gewissheit


Es ist nicht leicht, sich in dieser Gemengelage einen Überblick zu verschaffen. Letztendlich bleibt derzeit eine einzige Gewissheit, die allerdings von Journalisten und Politikern (abgesehen von einigen Linken und Grünen, soweit letztere nicht Kretschmann mit Nachnamen heißen) ungern ausgesprochen wird:


Ein Land, in dem permanent Putschgefahr besteht, in dem die Meinungsfreiheit sowie die Unabhängigkeit der Justiz de facto nicht mehr existieren, in dem die Armee brutal gegen eine ganze (kurdische) Bevölkerungsgruppe vorgeht, in dem der einst von der AKP gesponserte IS bombt und in dem Totalitarismus von fast allen Seiten droht, kann weder ein sicheres Herkunftsland noch ein sicherer Drittstaat sein!


Egal, welche Verträge die EU auch mit der Erdoğan-Regierung geschlossen haben mag – wenn man internationales Asyl- und Menschenrecht ernst nimmt, darf kein einziger Flüchtling mehr in die Türkei „zurückgeführt“ werden.

07/2016

Dazu auch:

Sichere Herkunft? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

                       

 


Trumps America


Wieder einmal Präsidentschaftswahlen in den USA, wieder einmal Vergeudung riesiger Summen für Propaganda und Streuartikel, wieder einmal eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Was den Urnengang aber von früheren unterscheidet, ist der immer häufiger zitierte Umstand, dass einer der beiden Kandidaten explizite Faschismus-Ängste weckt. Doch das Land der unbegrenzten Fortschrittsgläubigkeit hatte schon immer seine anachronistischen Seiten; hemmungsloses Wachstumsstreben paarte sich mit geistiger Rückwärtsgewandtheit, und selbst das finstere Mittelalter Europas hat Spuren in Rechtsprechung und Sanktionsapparat von God`s Own Country hinterlassen.


Das bigotte Spiel der Politiker


Wie eine Allegorie des progressiven, globalisierungstunkenen Kapitalismus wirkt Hillary Clinton, durch Skandale wegen Bereicherung (Whitewater-Affäre) und schludrigen Umgangs mit geheimen Daten angeschlagene, aber auch abgehärtete Kandidatin der Demokratischen Partei, gegenüber dem blondierten, rotgesichtigen Berserker der Republikaner, Donald Trump, der die reaktionäre, nationalistische Komponente der Geldherrschaft verkörpert. Hier die aalglatte Berufspolitikerin, der niemand traut – dort der milliardenschwere Seiteneinsteiger, dem die Angstgebeutelten glauben und die anderen fürchten. Sie bringe schließlich Erfahrung mit, sagt die als Außenministerin wenig erfolgreiche Clinton; er kämpfe gegen die korrupte Elite, entgegnet Trump, der selbst zur Elite gehört.


Aber es ist gar nicht so wichtig, wie sie argumentieren. In einem Land, das so viele bedeutende Wissenschaftler, investigative Journalisten oder große Schriftsteller hervorgebracht hat, interessiert sich die Bevölkerungsmehrheit kaum für den politischen oder gesellschaftlichen Diskurs, weil ihr jegliches historische und geografische Grundwissen fehlt. In abgeschwächter Form ist diese Enthaltsamkeit natürlich auch in Europa zu beobachten, aber hier hat das Schulsystem, so mangelhaft es sein mag, wenigstens ein paar Grundmauern des Allgemeinwissens eingezogen. Undenkbar, dass die Franzosen während des Indochina-Krieges nicht gewusst hätten, wo Vietnam ungefähr liegt. Viele US-Bürger hielten es noch in den 60er Jahren, als bis zu 500.000 Soldaten ihre Landes dort stationiert waren, für einen Teil der amerikanischen Nation. In den 80er Jahren wurde ich auf einer Reise durch die südwestlichen Bundesstaaten mehrmals gefragt, ob nun der Westen oder der Osten Deutschlands kommunistisch sei. Manche Touristen aus Übersee wundern sich heute noch darüber, dass Portugiesen oder Griechen ein unverständliches Kauderwelsch anstelle von Englisch sprechen.


Abgesehen von einer kleinen, aber hochgebildeten Creme interessiert es in den USA kaum jemanden, was außerhalb der Grenzen seines Landes, ja manchmal auch nur seines Bundesstaates geschieht. Der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky sieht keine inhaltlichen Unterschiede in der Agenda der wichtigsten Politiker mehr: „In den Vereinigten Staaten ist das politische System nur am Rande von Bedeutung. Es gibt zwei sogenannte Parteien, aber sie sind in Wirklichkeit Fraktionen der gleichen Partei, der Geschäftspartei. Beide repräsentieren eine Reihe von Geschäftsinteressen. Sie können sogar ihre Positionen um 180 Grad wenden, ohne dass es überhaupt jemand merkt.“


Der US-Durchschnittsbürger ist zu sehr damit beschäftigt, seinen Weg zu machen, die Ellbogen einzusetzen, um nach oben zu gelangen. Doch die Legenden der Pionierzeit, in denen Tellerwäscher zu Millionären aufstiegen, sind passé. Der Tellerwäscher wird bestenfalls seine Stelle halten, der kleine Geschäftsmann kann sich bei ungünstigem Karriereverlauf durchaus an der Spüle wiederfinden; nur der Millionär wird möglicherweise Milliardär. Es ist die Angst vor dem Abstieg, die Teile des weißen (aber auch exilkubanischen oder asiatisch-stämmigen) Mittelstands und der Arbeiterschaft empfänglich für faschistoide, fremdenfeindliche Parolen macht, denn als Schuldige sind nie Politiker oder Konzernbosse auszumachen, sondern die Konkurrenten anderer Hautfarbe, die illegalen Immigranten (ohne die längst die Versorgung mit Agrarprodukten zusammengebrochen wäre) oder dunkle Mächte in der Außenwelt, gemäß George W. Bush Schurkenstaaten eben.


Donald Trump ist genau der Mann, der solche systemerhaltenden Vorurteile hemmungslos bedient. Er hetzt, diskriminiert, droht  und beleidigt. Seine Anhängerschaft liebt ihn dafür und ist ihm auch nicht böse, wenn er beim Lügen ertappt wird oder sich selbst pausenlos widerspricht –schließlich ist seine Kontrahentin ja auch kein Kind der Wahrheitsliebe. Was aber Trump so gefährlich macht, ist das konsequente Erhitzen eines Gebräus aus Rassenhass, imperialer Aggressivität und Verherrlichung archaischer und vorzivilisatorischer Gewalt, das bislang auf kleiner Flamme vor sich hin köchelte. So kommt beispielsweise der bigotten christlichen Ethik einer frommen schweigenden Mehrheit im Lande seine Ankündigung, keine Muslime mehr einreisen zu lassen, gerade recht.


Ein Mann, eine Waffe


Der französische Staatsmann Georges Clemenceau charakterisierte die USA zu Beginn des vorigen Jahrhunderts folgendermaßen: „Amerika - die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne Umweg über die Kultur.“ Man könnte dem zustimmen, wenn man die Relikte aus der Zeit der Landnahme, also der Eroberung des Westens von den indigenen Völkern, und aus der Sklavenhaltergesellschaft in den Südstaaten, etwa das bis heute propagierte Recht des Stärkeren oder den sich immer wieder immer wieder manifestierenden Hang zur Lynchjustiz, der glamourös inszenierten, aber geistlosen, pervertierten Wahlkampagne Trumps mit ihrer wirren Medienbegleitung gegenüberstellt. Die Anhänger des Baulöwen lieben ihn wegen der prächtigen Solo-Show, wegen seiner „Ehrlichkeit“, weil er kein Blatt vor den Mund nimmt (auch wenn er kurze Zeit später zurückrudert oder das Gegenteil behauptet), und weil er zu den Werten der Vergangenheit steht.


Dass jeder Mann das Recht hat, eine Waffe zu tragen, war für die Gründungsväter der USA ein Grundsatz, der sich in der Pionierzeit mit der ständigen Bedrohung durch Indianer, Gesetzlose oder wilde Tiere rechtfertigen ließ. Die Grenzen einer rudimentären Zivilisation wurden mit Hilfe der Gewalt aus den Gewehrläufen nach Westen und Süden verschoben. Im Großstadtdschungel der Gegenwart aber ist die Maxime individueller Hochrüstung eine Einladung zu Raub, Mord und Totschlag, Amokläufen und Massakern. Wider alle bürgerliche Vernunft, aber im innigsten Einklang mit der Industrie und der Republikanischen Partei wehrt die National Rifle Association, einer der mächtigsten Lobby-Verbände des Landes, allen Anfängen einer friedensstiftenden Entwaffnung. Und Trump, der einst ein Verkaufsverbot für halbautomatische Gewehre gefordert hatte, wirft sein Geschwätz von gestern auf den Müllhaufen wohlfeiler politischer Überzeugungen und stellt sich an die Spitze der martialischen Bewegung. Bei den Anschlägen von Paris, so konfabuliert er, hätte es nicht so viele Tote gegeben, wenn die Opfer bewaffnet gewesen wären. Das wäre wohl ein prächtiges Feuergefecht gewesen, jeder gegen jeden, und das im vollbesetzten Konzertsaal Bataclan …


In einem Land, in dem ein 18-jähriger eher eine Pumpgun für veritable Gemetzel in einem Waffenladen als ein Glas Bier in einer Bar kaufen kann, in der Porno-Industrie und rundum verbotene Prostitution blühen, aber weibliche Brustwarzen im TV versteckt werden müssen, während sadistische Gewaltdarstellungen als harmlos empfunden werden, in dem einem schwarzen Jugendlichen, der aus den Slums entkommen will, eigentlich nur die Möglichkeiten, als Boxer, Basketball-Spieler oder Drogendealer zu reüssieren, bleiben, sind Kriminalität und Gewalt vorprogrammiert – und werden durch die soziale Ungleichheit und Ausgrenzung, deren Loblied Donald Trump singt, noch begünstigt.


Das restaurative, intolerante und rassistische Amerika kommt auch bisweilen in den Kapuzen-Trachten spanischer Inquisitoren und Dominikaner-Mönche daher, lässt Kreuze brennen und Nigger über die Klinge springen. Der Ku-Klux-Klan, vor allem in den Südstaaten eine noch immer aggressiv präsente Organisation, mit der auch einige Gouverneure der Demokratischen Partei sympathisierten, machte nie ein Hehl aus seiner antisemitischen und faschistischen Gesinnung. Nur Donald Trump hat davon noch nichts gehört. Gefragt, ob er sich vom Klan (der ja auch Wählerstimmen zu vergeben hat) distanzieren wolle, entschuldigte sich der sonst so schlaue Populist, er wisse leider nichts über diese Gruppierung.

   

Charles Dickens lässt grüßen


Ganz in Ordnung hingegen scheint Trump es zu finden, dass eine gewisse Prädisposition seiner afroamerikanischen Landsleute für gewaltsamen Tod durch Exekutivorgane und für unverhältnismäßig lange Einkerkerung durch die Justiz zu konstatieren ist. Schwarze Verdächtige werden von den Richtern öfter und zu längeren Strafen verurteilt als weiße – wenn sie denn überhaupt bis zur Verhandlung überleben. Denn die Polizei schießt bekanntlich besonders gern auf Menschen mit dunkler Hautfarbe.


Bereits 1956 klagte Allen Ginsberg, wichtigster Protagonist der als Beat Generation berühmt gewordenen Literatengruppe, in dem Gedicht America sein Heimatland an:

Amerika, wann werden wir den Krieg gegen die Menschen beenden?.../ Amerika, wann wirst du dich selbst durch das Grab sehen?.../ Ich habe deine kranken Begehren satt.

Der Krieg gegen die Menschen, vor allem die Unterprivilegierten und die Minderheiten, wird weiter geführt. Und Trump, der selbsternannter Feldherr, könnte als Präsident auf ein Instrumentarium zurückgreifen, das teilweise dem europäischen Mittelalter entlehnt scheint. So berichtete die New York Times unter der Schlagzeile „Wo Armut ein Verbrechen ist“ unlängst, dass in den USA noch Schuldgefängnisse existieren. Menschen, die ihren Verbindlichkeiten nicht nachkommen konnten, wurden in Europa bis ins 19. Jahrhundert eingesperrt. Das berüchtigte Fleet-Gefängnis in London wurde im 12. Jahrhundert erbaut und erst 1846 abgerissen. Charles Dickens, dessen Familie wegen der Insolvenz seines Vaters inhaftiert war, prangerte in mehreren Romanen den inhumanen Strafvollzug an.


Die New York Times griff den Fall einer psychisch kranken und drogensüchtigen Frau in Oklahoma auf, die nach einigen Bagatelldiebstählen zu Geldstrafen verurteilt wurde, welche sich mit Zinsen und Gebühren zu über 11.000 Dollar anhäuften. Wegen Depressionen und einer bipolaren Störung war sie nicht in der Lage, regelmäßig zu arbeiten und die Summe abzustottern. Obwohl sie nicht mehr straffällig wurde und den Entzug schaffte, wurde sie immer wieder für einige Tage und Wochen in das Schuldgefängnis von Tulsa verbracht, insgesamt 18 Monate lang. Die Law-and-Order-Apologeten à la Trump, für die Resozialisierung oder Sozialhilfe kommunistisches Teufelszeug sind, haben Dickens eben nicht gelesen – und Ginsberg erst recht nicht.

                                                                             

Das selbsternannte Land der Freien garantiert den Mächtigen und Freien jede Freiheit bis hin zur Willkür, nimmt sie im Gegenzug den Armen, ohne diesen eine Möglichkeit einzuräumen, sie wiederzuerlangen. Oder wie es der irische Dramatiker und Nobelpreisträger Bernard Shaw sah: „Ich bin bekannt für meine Ironie. Aber auf den Gedanken, im Hafen von New York eine Freiheitsstatue zu errichten, wäre selbst ich nicht gekommen.“


07/2016


Dazu auch:

J.R. FOR PRESIDENT in der Rubrik Helden unserer Zeit

 

                            

Böses Volk!


Mit knapper Mehrheit haben sich die Bürger Großbritanniens dafür entschieden, der EU den Rücken zu kehren. Nicht alle Brexit-Befürworter sind auf die nationalistische Propaganda eines Nigel Farage oder Boris Johnson hereingefallen; es gab tatsächlich auch sachliche Argumente für den Austritt, und die Bewohner der zu Brachen verkommenen Industriegürtel in Nordengland oder Wales und die Küstenfischer trafen ihre Leave-Entscheidung aus realer Existenznot. Doch über Wohl und Wehe einer EU-Mitgliedschaft wird andernorts auf dieser Homepage noch zu reden sein. Heute geht es um Blitzreaktionen in den deutschen Medien, die nahelegen, dass einige Korrespondenten und Kommentatoren ein gestörtes Verhältnis zu Wahlen und Bürgerbeteiligung überhaupt haben.


Den Pöbel ignorieren


Es darf durchaus bezweifelt werden, dass der Brexit den Menschen in Großbritannien und in der gesamten Europäischen Union nutzt, da er die Rechtspopulisten vieler Mitgliedsstaaten beflügelt und Errungenschaften wie den offenen Grenzverkehr gefährdet. Auf der anderen Seite hat die Abstimmung gezeigt, dass viele Wähler in der EU keine Wertegemeinschaft, sondern ein Interessenkartell der globalen Player sahen, gegen das sie dann auch votierten. Und das hätten sie eigentlich nicht dürfen sollen, meinen Lobbyisten, Manager und einige der Wirtschaft besonders ergebene Hofberichterstatter.


Zwischenbemerkung: Wären die EU-Befürworter siegreich aus dem Referendum hervorgegangen, hätten die stets untadelig objektiven deutschen Medien den Urnengang als leuchtendes Beispiel einer „lebendigen Demokratie“ gepriesen, so aber wurde ein von der Volkswillkür eingeschlagener Highway to Hell daraus.


Dementsprechend spielt der Londoner Korrespondent der Welt, Thomas Kielinger, offen mit dem Gedanken eines Volksbetrugs, begünstigt durch die Tatsache, dass im Unterhaus die Brexit-Gegner in der Mehrheit sind. Das Parlament sei nicht an das Referendum gebunden, räsoniert Kielinger und stellt die rhetorische Frage: „Ist es denkbar, dass … das Unterhaus bei einem möglichen Brexit überlegen könnte, den Volkswillen zu ignorieren und den Abschied von der EU zurückzuweisen?“ Der Journalist, der mit dem Feuer spielt, begrüßt diese Option als „sogar wahrscheinlich“.


Nach diesem Szenario müsste man den Briten nur sagen: „Liebe Landsleute, leider habt ihr falsch gewählt, also gegen unsere Interessen und die unserer Auftraggeber in den Konzernen gestimmt. Wir sehen uns daher gezwungen, eure Entscheidung zu korrigieren. Dumm gelaufen für euch!“


Keine Abstimmungen mehr


Dass Volksabstimmungen zulässig sind (soweit nicht universale Menschenrechte, etwa bei Todesstrafe, Folter oder Flüchtlingsstatus in Frage gestellt werden) und die Entscheidungen verbindlich sein müssen, ignoriert auch Daniel Reviol in einem Kommentar für den Nachrichtendienst von t-online: „Weitermachen wie bisher ist unmöglich. Europas Politiker müssen sich hinterfragen. Aber: Noch mehr Volksabstimmungen wären eine Katastrophe!“ Also genau die Politiker, die mit ihrem undurchsichtigen Gebaren und ihrem Gehorsam den Finanzmärkten gegenüber, für den Schlamassel gesorgt haben, dürfen sich selbst ein zweites Mal interviewen, während das doofe Volk tunlichst überhaupt nicht befragt werden sollte.


Weiter fabuliert der tief enttäuschte EU-Fan Reviol: „Hätte David Cameron den Gegenwind aus der europafeindlichen UKIP-Partei und aus der eigenen konservativen Partei nicht einfach aushalten können, statt die Verantwortung an die Bevölkerung weiterzureichen?“ Es waren aber eben nicht nur rechtspopulistische Kreise, die für den Brexit  gestimmt haben. Und warum, bitteschön, sollte die Verantwortung bei dem ebenso opportunistisch wie ungeschickt agierenden Cameron verbleiben?


Aber der Meister journalistischer Selbstentlarvung setzt noch eins drauf: „Sicher ist: Die Gefahren, die das Referendum mit sich brachte, müssen anderen EU-Staaten als Abschreckung dienen. Denn die Abstimmungen schaden der europäischen Gesellschaft.“  Die Reviol`sche Botschaft, in Klartext übersetzt, lautet: Warum die Leute überhaupt noch wählen lassen, wenn sie ständig falsch abstimmen.


Sucht euch ein anderes Volk!


Dass eine durch mediale Desinformation und die Verschleierung der tatsächlichen Machtinteressen verunsicherte und naiv gehaltene Bevölkerung tatsächlich nicht immer die sinnvollsten Entscheidungen treffen wird, ist die Folge (und in anderen Fällen Voraussetzung) der gegenwärtigen Politik in der EU. Manipulation und rabulistische Rechtfertigung sozialer Ungleichheit sind nun mal integrale Bausteine unseres Wirtschaftssystems und seines politischen Überbaus. Wenn ein großer Teil der Menschen, die nie befähigt wurden, die grundlegenden, richtigen Fragen zu stellen, auf falsche Antworten der furchtbaren Vereinfacher vom rechten Rand hereinfallen, ist dies die logische Konsequenz der permanenten Ausblendung eines kritischen Diskurses.


Politiker, die jetzt die Ignoranz  der britischen Wähler beklagen, sollten sich besser fragen, wie sehr sie selbst zu der sich (möglicherweise) negativ auswirkenden Entscheidung beigetragen haben. Sie könnten aber auch der „Lösung“ in einem Gedicht, das Bertolt Brecht nach der blutigen Niederschlagung der Arbeiterrebellion in der DDR 1953 geschrieben hatte, zuneigen:


Nach dem Aufstand des 17. Juni 
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands 
In der Stalinallee Flugblätter verteilen 
Auf denen zu lesen war, dass das Volk 
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe 
Und es nur durch verdoppelte Arbeit 
Zurückerobern könne. Wäre es da 
Nicht doch einfacher, die Regierung 
Löste das Volk auf und 
Wählte ein anderes?


Na denn, Ihr Staatsmänner und -frauen der Rest-EU: Sucht euch doch andere Völker!

      

06/2016


Dazu auch:

EU im freien Fall? unter Politik und Abgrund




Hässlich vergesslich


Aus Sorge um das Erinnerungsvermögen deutscher Wirtschaftsjournalisten und den Ruf einer inkriminierten Weltfirma habe ich mich entschlossen, einen offenen Brief an den US-Konzern Monsanto zu schreiben:


Dear Sirs!


Nachdem die Bayer AG angekündigt hatte, Monsanto für 55 Milliarden Euro (und vielleicht noch ein bisschen mehr) übernehmen zu wollen, haben sich die deutschen Medien in höchst abfälliger Weise über den Deal und speziell über das Ansehen Ihres Unternehmens geäußert. Dass ein paar Leverkusener Aktionäre um den Wert ihrer Anteile fürchten, soll uns nicht weiter bekümmern (Das ist so üblich in der freiesten aller Marktwirtschaften!), uns geht es vielmehr um die weitere Schädigung Ihres weltweit angekratzten Renommees, und ich möchte Sie eindringlich davor warnen, sich für schnöden Mammon in schlechte (noch schlechtere?) Gesellschaft zu begeben.

 

In der Presse hierzulande wurde Monsanto als „meistgehasstes Unternehmen der Welt“ verunglimpft und gleichzeitig Bayer gewarnt, es setze bei der geplanten Einverleibung den guten (?) Ruf aufs Spiel. Ersteres dünkt uns zu starker Tobak, agieren Sie doch auch nicht viel skrupelloser als andere Großkonzerne, denken wir nur an die deutsche Automobilindustrie. Und dann möchten wir Ihnen im Wissen um das für die USA typische Desinteresse an fremder Geschichte, speziell an der europäischen, empfehlen, sich einmal mit der Vergangenheit Ihres Kaufinteressenten zu beschäftigen. Sie werden (vielleicht zu Ihrem eigenen Erstaunen) feststellen: Es gibt schlimmeres als Monsanto.

Natürlich wollen wir fairerweise nicht verschweigen, dass auch Ihr Konzern sich der einen oder anderen letalen Methode oder Anwendung befleißigt hat und erwähnen daher einige der tiefsten Schnitte in Ihrem langen Kerbholz:

-     Lange bevor Sie mit Glyphosat bzw. den damit 

    verschwisterten Roundup-Cocktails mutmaßlich Krebs

    erregten und die störende Artenvielfalt auf Feld und

    Wiese eindämmten, produzierten Sie mehr als 30

    Jahre lang bis 1977 polychlorierte Biphenyle (PCB),

    die zum „Dreckigen Dutzend“, also den zwölf 

    gefährlichsten organischen Giftstoffen, gezählt und 

    2001 endlich durch die Stockholmer Konvention

    verboten wurden.

-  Während Washingtons Intervention in Indochina

   belieferten Sie die US-Truppen mit dem

   Entlaubungsmittel Agent Orange, jenem Herbizid, das

   bis heute für viele tausend Totgeburten und

   missgebildete Kinder in Vietnam sorgt. Immerhin

   waren noch sechs andere Firmen, darunter die

   deutsche Boehringer AG mit dem honorigen Richard

   von Weizsäcker im Vorstand, an der geplanten

   Umweltkatastrophe beteiligt. Es soll natürlich auch

   nicht verschwiegen werden, dass sie zu einem

   Entschädigungsfonds in Höhe von 180 Millionen Dollar

   für GIs, die in den Giftnebel geraten waren,

   beigetragen haben; die Vietnamesen indes gingen

   leer aus – wie es Usus bei den am schwersten

   betroffenen Kriegsopfern ist.

-  Mithilfe von Gentechnik und Patenten auf Saatgut

  wurde den Bauern von Drittweltstaaten vorgegeben,

   was sie anpflanzen durften und was nicht, weil sie

   Samen-Nachschub teuer bei Ihnen kaufen sollten.

   Tausende indischer Baumwollpflanzer sollen wegen

   Ihres – zugegebenermaßen ein wenig erpresserisch

   anmutenden – Geschäftsgebarens Selbstmord

   begangen haben, weil sie sich weder Ihre Preise noch

   die Ernährung der eigenen Familien mehr leisten

   konnten.

-  Leider müssen wir Ihnen auch beim Umgang mit der

   oft zitierten Compliance und mit der Politik sowieso

   eine eher mangelhafte Note erteilen: So haben Sie

   mindestens 140 indonesische Regierungsbeamte

   bestochen, um die von der Regierung in Jakarta

   geforderte Umweltrisikoprüfung für Ihre

   Baumwollsorte Bollgard zu manipulieren. Dafür

   mussten Sie 1,5 Millionen Dollar Bußgeld berappen –

   Peanuts für einen Konzern, von dem Greenpeace

   schon 2005 behauptete, sein Marktanteil am Anbau

   transgener Pflanzen liege bei über 90 Prozent. In

   Washington wiederum führten Sie das „Drehtür-

   System“ ein, welches darin bestand, Mitarbeiter in die

   Administration und Umweltbehörden zu schleusen und

   umgekehrt Personal aus den Ämtern abzuwerben.

   Böse Zungen bezeichneten Ihr Unternehmen gar als

   „Pensionat für ehemalige Clinton-Mitarbeiter“.

   Vielleicht fühlen sich einige Ihrer Anteilseigner

   deshalb so gut bei Bayer aufgehoben, weil sie hoffen,

   dass selbst renitente Sozialdemokraten im EU-

   Parlament die Glyphosat-Verseuchung dulden werden,

   wenn erst die Leverkusener als neue Haupteigner ihre

   Lobbyisten-Armeen aufmarschieren lassen.

-  Leicht hatten Sie es allerdings auch früher nicht mit

   der deutschen Politik. Ausgerechnet Ilse Aigner von

   der sonst so wirtschaftsfrommen CSU ließ als

   Landwirtschaftsministerin in Berlin den Anbau der

   gentechnisch veränderten Maissorte MON810

   verbieten. Und Sie scheiterten mit einer Klage

   dagegen vor dem Oberverwaltungsgericht in Lübeck.

   Hätten Sie nur bis zur Ratifizierung von TTIP

   gewartet! Welche Unsummen an Schadenersatz 

   wären neben der sofortigen Zulassung des Gen-

   Getreides vor einem anonymen, aber exquisit

   zusammengesetzten Schiedsgericht zu erstreiten

   gewesen…


Zugegeben, Sie haben sich im Laufe erfolgreicher Geschäftsjahre einige böse Eskapaden geleistet. Dies rechtfertigt unserer Meinung nach jedoch nicht, dass der deutsche Qualitätsjournalismus, die Moral aus der Abstellkammer holt und den weißen Ritter Bayer AG vor einem verhängnisvollen Ausflug in den Sumpf behüten möchte. Jenes rheinische Vorzeigeunternehmen hat sich in der Vergangenheit nämlich derartig intensiv im braunen Morast gewälzt, dass sich Ihre Verfehlungen dagegen wie monopolkapitalistische Bubenstreiche ausnehmen.


Sehen wir uns in gebotener Kürze die vergessene Hässlichkeit einer deutschen Unternehmensgeschichte an. Aber auch wenn uns diese Anamnese weit zurück in finsterste deutsche Historie führt, wollen wir doch die Schweinereien der jüngeren Vergangenheit nicht ganz unerwähnt lassen: So initiierte das Kartellamt 2007 die Durchsuchung von Bayer-Niederlassungen, weil der Konzern illegale Preisabsprachen mit 11.000 Apotheken getroffen hatte, was sein Produkt Aspirin für den schmerzgeplagten Kunden wesentlich verteuerte. Im selben Jahr verhängte die Europäische Kommission eine Geldbuße von insgesamt 243,2 Millionen Euro gegen Bayer und fünf andere Unternehmen, weil diese ein marktbeherrschendes Kautschuk-Kartell gebildet hatten. Bayer verpetzte die Partner und blieb als Kronzeuge letztendlich straffrei.


Das Schwarzbuch Markenfirmen warf dem rheinischen Pharma-Riesen schwere Menschenrechtsverletzungen vorunter anderem, weil er unethische Medikamentenversuche finanziert, ein Entwicklungsland bei der Herstellung und Vermarktung lebenswichtiger Medikamente behindert und gefährliche Pflanzengifte vertrieben hatte. Die Vereinten Nationen beschuldigen die Bayer AG sogar, durch Rohstoffimporte aus dem Kongo wesentlich zur Aufrechterhaltung des Krieges dort beigetragen zu haben.


Die in den USA ansässige Bayer-Tochtergesellschaft Cutter hatte vor dreißig Jahren weltweit mit HIV kontaminierte Blutprodukte verkauft. An der Produktion von Agent Orange für den Vietnamkrieg hatte sich der deutsche Konzern übrigens auch beteiligt, nachdem er mit Monsanto (sic!)  in den Vereinigten Staaten das Gemeinschaftsunternehmen Mobay gegründet hatte. Die Liste ließe sich endlos weiterschreiben, könnte bei Ihnen aber nur verständliches Schulterzucken auslösen: So geht es nun mal überall auf dem freien Markt der Pharma-Giganten zu.


Der eigentlich gravierende Sündenfall in der Firmenbiografie geht auf das Wirken im Dritten Reich zurück. Bereits 1925 hatten sich Bayer und sieben andere Unternehmen zur Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG, kurz I.G. Farben, und damit zu einem der mächtigsten Konzerne der damaligen Welt zusammengeschlossen. Hinter dem harmlosen Namen verbarg sich ein höchst effektives Konglomerat, das Deutschland unabhängig von Rohstoff-Importen machen sollte und daneben chemische Kampfstoffe und Sprengstoff produzierte.


Zunächst neigten die Direktoren der I.G. Farben, die ihr Land so trefflich auf einen neuen Krieg vorbereiteten, während der Weimarer Republik der Deutschnationalen Volkspartei des rechtsradikalen Pressezaren Hugenberg zu, wandten sich aber mit fliegenden Fahnen vom Steigbügelhalter ab und dem Reiter zu, als Hitlers Erfolg wahrscheinlich wurde. Auf einem Geheimtreffen am 20. Februar sagten Industrielle der NSDAP einen Wahlfonds von drei Millionen Reichsmark zu. Die I.G. Farben steuerten 400.000 RM bei.


Der Multi-Konzern war für Hitler nicht nur als Waffenproduzent wichtig; er hoffte vor allem auf die synthetische Herstellung von Kraftstoff und Kautschuk, um Deutschland in Kriegszeiten autark zu machen. Für dieses Ziel ließ er I.G. Farben jede erdenkliche Unterstützung zukommen, und die kooperierenden Firmen, deren Direktoren bis 1937 allesamt NSDAP-Mitglieder waren, bewiesen vorauseilenden Gehorsam. Sie unterstützen die Franco-Putschisten in Spanien mit erheblichen Geldsummen, und als die deutsche Legion Condor mit der Bombardierung der baskischen Stadt Guernica ein neues Kapitel in der Geschichte der Kriegsverbrechen aufschlug, sorgte die von I.G. Farben produzierte Elektron-Thermit-Stabbrandbombe B 1 E für enorme Opfer unter der Zivilbevölkerung.


Als der von den Nazis herbeigesehnte und ausgelöste große Krieg endlich da war, wurden den Werken der Unternehmenskrake Gefangene und Zwangsarbeiter aus den eroberten Gebieten zugeteilt. Die Bewachung übernahmen praktischerweise SS-Einheiten. Wenig später wurde die I.G. Farben, die selbstverständlich auch bei den „Arisierungen“ von Firmen großzügig bedacht worden war, als Betreiber des Konzentrationslagers Monowitz, Auschwitz III, aktiv. Eine Bunafabrik produzierte dort synthetische Ersatzstoffe für Kautschuk und Benzin. Mörderische Effizienz bewies der Konzern gleichzeitig, indem er zusammen mit anderen Unternehmen das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B vertrieb, mit dem im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (und in anderen Konzentrationslagern) Tausende von Menschen vergast wurden.


In den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen wurden 23 leitende Angestellte angeklagt und zwölf von ihnen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die I.G. Farben wurde zerschlagen, doch tauchten die einzelnen Mitgliedsfirmen (Börsenjargon: Farbennachfolger), allen voran BASF, Höchst (heute mit Rhốne-Poulenc zu Aventis verschmolzen) und eben die Bayer AG, bald wieder im Wirtschaftssystem auf – wenig geläutert, aber erfolgshungrig.


Ich wollte Ihnen diese Fakten mitteilen, um Sie vor der Einseitigkeit der deutschen Medien in Schutz zu nehmen und um Sie nachdenklich zu stimmen. Möglicherweise sind Sie der Meinung, über die Opfer sei schon ausreichend Gras gewachsen, um beim Golf  hervorragende Geschäfte zu besprechen. Dennoch verbleibe ich in der vagen Hoffnung, Sie davon abgehalten zu haben, Ihren leicht desavouierten Namen einem wesentlich stärker befleckten zu opfern…


...sincerely yours

J.W.

   

  

       

  

Scheinheilige Damen

 

Wenn Journalisten gutbürgerlicher Medien launige Interviews mit Politikern in Amt und Würden führen und danach deren Aussagen widerspruchs- und kommentarlos kolportieren, obwohl sie doch die Euphemismen, Faktenverdrehungen und Plattitüden der Befragten erkannt haben müssten, beschleicht einen das miese Gefühl, nicht informiert, sondern narkotisiert zu werden. Wenn offizielle Statements, die mehr verschweigen als offenbaren, wie objektive Wahrheiten ohne investigative Nagelprobe publiziert werden, fühlt man sich beinahe schon wie der Idiot, zu dem man gemacht werden soll. Zwei Beispiele für diese sanfte, aber effektive Art der Manipulation waren unlängst beim diskreten medialen Umgang mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, zu konstatieren.

 

Plötzlich sind sie da

 

Unsere Regierungschefin äußerte sich mit geradezu schonungsloser Offenheit (oder sollte man eher sagen: entwaffnender Naivität) gleich in zwei Druckerzeugnissen, deren politische Couleur offenbar Schutz vor allzu bohrende Nachfragen seitens der Interviewer garantierte, zur Flüchtlingskatastrophe. Im Focus outete sich die Grande Dame leerer Begrüßungsgesten („Wir schaffen das!“), die sich zeitnah per Untätigkeit und Indifferenz zur wichtigsten geistigen Mäzenin der zwecks Reinhaltung des deutschen Wesens komponierten CSU/AfD-Einheitsfront mauserte, als TV-Süchtige, die in Entsetzen und Aktionismus verfällt, weil ihr unversehens die Realität, soweit nicht im Mittelmeer abgesoffen, aus dem Flachbild ins Wohnzimmer (respektive Zeltlager)  springt:

 

„Es ist plötzlich so, dass aus einem Krieg wie dem in Syrien, den wir meistens im Fernsehen verfolgt haben, plötzlich etwas ganz Reales wird: Es kommen Flüchtlinge."

     

Natürlich haben sich deutsche Rüstungsfirmen, Berlins wendige Geheimdienste und die NATO-Thinktanks das Morden nicht nur in TV-Nachrichtensendungen reingezogen, sondern auch ein wenig dabei mitgemischt, doch ficht das einen Focus-Mitarbeiter nicht an. Der ist schon zufrieden, weil die Kanzlerin es registriert hat, dass der eine oder andere notgedrungen aus dem Kriegsgebiet anreist. Da wagt sich der Kollege von Bild schon weiter vor und stellt eine geradezu provokante Frage (begnügt sich aber danach mit einer ebenso kategorischen wie ablenkenden Antwort):

 

Bild: „An der griechisch-mazedonischen Grenze sehen wir gerade Bilder von einem unmenschlichen Europa. Etwas, das Sie immer vermeiden wollten. Müssen wir uns an solche Bilder gewöhnen?“

 

Darauf Angela Merkel knallhart und vage mitfühlend: „Wir dürfen uns an solche Bilder nicht gewöhnen.“

 

Dann macht sie zielsicher die Schuldigen aus, nämlich die Griechen, die 50.000 Unterbringungsplätze hätten schaffen müssen. Dass sie zuvor ins Geheul der Gläubiger-Hyänen eingestimmt hatte, die den Hellenen jegliche Ausgaben in die soziale Infrastruktur untersagten, spielt plötzlich keine Rolle mehr. Wenn schon die Griechen verelenden, sollten sie wenigstens dafür sorgen, dass die Flüchtlinge in ihrer Sackgasse biwakieren können, „denn die griechische Regierung muss für menschenwürdige Unterkunft sorgen“.

 

Es geht ja schließlich nicht darum, Bilder wie in Idomeni oder auf Lesbos durch politische oder humanitäre Maßnahmen zu verunmöglichen, vielmehr soll die mediale Erfassung durch Weichzeichnungsprogramme gejagt oder völlig verhindert werden, damit die sensiblen Deutschen sich nicht daran gewöhnen müssen. Am besten lässt sich dies durch Distanz erreichen. Je weiter weg sich die Tragödie abspielt, desto unaufgeregter zeigt sich Michel Normalbürger. Insofern sind Union, SPD und Konsorten klammheimlich Viktor Orbán, der Wiener Operetten-Regierung mit FPÖ-Souffleuren  und den Stacheldraht-Regimes des Balkans für deren Schließer-Rolle dankbar. Wenn es jetzt noch gelänge, die menschliche Katastrophe gänzlich in die Türkei zurückzuverlegen, ließe sich auch leicht verkraften, dass Erdoğans Reich kein sicherer Drittstaat ist und die lästigen  Migranten mit zunehmendem Eifer in heimatliche Kriegsgebiete abschiebt.

 

Internationales Recht für wen?

 

Eine kongeniale Leistung in selektiver Wahrnehmung und exklusiver Deutung liefert Merkels Schwester im Geiste, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, ab. Sie beklagt die Vergewaltigungen minderjähriger Mädchen in der Zentralafrikanischen Republik durch Soldaten der UN-Friedensmission und fordert vehement die Bestrafung der Übeltäter. Tatsächlich haben sich Blauhelme (wie zuvor auch schon ihre Kollegen von der französischen Eingreiftruppe) schwerer Verbrechen schuldig gemacht. Es klingt also durchaus legitim und verständlich, wenn Power erklärt: „Mitgliedsstaaten der UNO müssen hart und unparteilich ermitteln und, wo es angebracht ist, Personen, die der sexuellen Ausbeutung und des Missbrauchs verdächtig sind, strafrechtlich verfolgen. Regierungen, die dabei versagen, sollte das Privileg verweigert werden, an UN-Friedensmissionen teilzunehmen. Und der UN-Sicherheitsrat sowie alle UN-Mitgliedsstaaten müssen sich bemühen, die Standards zu erfüllen, die wir uns gesetzt haben.“

 

Als diesmal Unbeteiligte können sich die US-Verantwortlichen solch hehre  Worte von schwankendem Grund aus erlauben. Unter den 125.000 Teilnehmern an 16 UN-Friedensmissionen weltweit sind gerade mal 78 US-Bürger (davon keiner in der Zentralafrikanischen Republik). Die USA ziehen es in der Regel vor, die Pax Americana auf eigene Faust zu implementieren. Dennoch könnte man Powers Forderung nicht beanstanden, wüsste man nicht, aus welcher Ecke sie kommt. Waren es nicht gerade die verschiedenen Regierungen in Washington gewesen, die Menschenrechte und internationale Gerichtsbarkeit immer dann ignorierten, wenn eigene Militärs ins Visier der Strafverfolger gerieten? Die erwähnten hohen Standards schienen immer nur für andere zu gelten, zur Rechenschaft sollten nur die Schurkenstaaten (nach US-Definition) gezogen werden..

 

Die USA haben den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gern angerufen, wenn sie ihre Rechte durch andere Staaten verletzt sahen, etwa als 1980 ihre Botschaft in Teheran besetzt wurde. Umgekehrt sprachen sie dem von den Vereinten Nationen initiierten Tribunal jegliche Zuständigkeit ab, wenn sie selbst angeklagt wurden, etwa als sie 1984 nach der Verminung nicaraguanischer Häfen durch ihre Kriegsmarine wegen Verstoßes gegen das Völkerrecht verurteilt wurden.

 

Auch erscheinen US-Bürger grundsätzlich nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden soll. Für die Söhne und Töchter von God`s own Country gelten Regeln und Sanktionen, die Washington allein festlegt (während es andererseits immer mal wieder die strafrechtliche Verfolgung afrikanischer Warlords oder  serbischer Marodeure anmahnte). Zwar wurden auch in den USA vereinzelt Prozesse gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher angestrengt und es kam sogar zu Verurteilungen, etwa der subalternen Folterer im irakischen Gefängnis Abu Ghreib, im Normalfall aber verliefen die Ermittlungen im Sande, soweit sie überhaupt aufgenommen wurden.

 

So wurden die Offiziere, die 1968 im Vietnam-Krieg das Massaker von My Lai , dem 504 Zivilisten, darunter etliche Kleinkinder, zum Opfer fielen, angeordnet hatten, von einer Militär-Jury mit einer Ausnahme freigesprochen. Nur Leutnant Calley wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, von der keinen Tag absitzen musste, da ihn Präsident Nixon sogleich begnadigte. Überhaupt nicht vor Gericht hatten die Verantwortlichen in Armee und Politik zu erscheinen, die durch den Einsatz des Herbizids Agent Orange für den Tod bzw. die Verkrüppelung hunderttausender Vietnamesen und für die flächendeckende Verminung von Laos, einem Land also, mit dem sich die USA offiziell gar nicht im Krieg befanden, gesorgt hatten.

 

Die Haltet-den-Dieb-Taktik der selbsternannten Weltpolizisten von Washington wird bis heute von unserer Presse kaum hinterfragt, obwohl sie Vorstöße à la Power von vornherein unglaubwürdig macht. Und die Medien, geschichtsvergessen und der Hintergrund-Recherche überdrüssig wie so oft, übernehmen die Verlautbarungen der UN-Botschafterin kommentarlos und schweigen zu den Emanationen eines Systems der Anmaßung und Willkür, in dem ein Donald Trump nicht die Ausnahme, sondern eine rasante Fortschreibung personifiziert.

 

04/2016

Dazu auch:

Zwei Karrieren in der Rubrik Helden unserer Zeit

 

      


Die Paten der AFD


Der rasante Aufstieg der AFD ist erschreckend, war aber vorhersehbar. Die Partei der Rechtspopulisten konnte (ebenso wie Pegida) auf diverse Stichwortgeber, gewisse Stimmungen, personifizierte Brandbeschleuniger und geistige Paten rekurrieren. Wer oder was die Extrem-Nationalisten trotz ihrer schlichten Rhetorik und des geistfeindlichen Gebarens dabei unterstützte, ja sogar dazu erst befähigte, stattliche Parlamentsfraktionen zu stellen und in zwei  Bundesländern sogar an der ehemaligen Volkspartei SPD vorbeizuziehen, soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

      

Die Mitte steht rechts

 

Vor den Landtagswahlen in drei Bundesländern wurden wieder die üblichen Mahnungen in den Leitartikeln recycelt: Die Bürger sollten zur Wahl gehen, so die demokratische Mitte stärken und das Feld nicht kampf- und stimmlos den Extremisten überlassen. Was dann geschah, überraschte Demoskopen und Medien gleichermaßen. Wesentlich mehr Wahlberechtigte als 2011 suchten die Stimmkabinen auf (In Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt stieg die Beteiligung um jeweils zehn Prozent!) und stärkten in erster Linie den rechten Rand des politischen Spektrums.

 

In zwei Bundesländern wurde die AFD drittstärkste Partei, im Landtag zu Magdeburg wird sie nach der CDU die meisten Abgeordneten stellen.

Die beiden bundesweit (noch) größten Parteien sind ratlos. Wie konnten sich beträchtliche Teile der Mitte von ihnen abwenden und für die ungeschminkte Xenophobie votieren? Tatsächlich aber war das, was die Strategen von Union und SPD als politisches Zentrum deklarierten, schon immer rechts. Wo anders könnte man ein bürgerlich-demokratisches Machtkonglomerat verorten, das höchstens rudimentäre (de facto folgenlose) Mitbestimmung hinsichtlich Produktionsverfügung, Steuerlastverteilung, Handels- und Finanzmarkt-Monopolisierung und Infrastruktur-Investitionen zulässt, das die Chancen- und Ahnungslosigkeit großer Teile der Bevölkerung mittels eines undurchlässigen Bildungssystems zementiert, ökonomisch (und mittlerweile auch militärisch) imperiale Pläne für die Dritte Welt schmiedet und die Folgen in Immigrationsform gutwilligen und humanitär denkenden Freiwilligen aufbürdet?

  

Gesellschaft als statisches System

 

Aus dem öffentlichen Bewusstsein ist längst jede Andeutung von Alternativen zum politischen Status quo verschwunden. Das Wohl der Wirtschaft, der Zwang zum Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste, die Festschreibung der prinzipiellen politischen Machtverhältnisse gehören zum Mantra der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien. Der Zustand der Gesellschaft wird quasi als gottgegeben beschrieben, nicht mehr analysiert oder gar kritisch hinterfragt.

 

Klappt etwas in diesem geschlossenen System nicht, läuft etwas aus dem Ruder – und sei es nur die steigende Anzahl fremder Ankömmlinge, vor denen alte Leute und Sachsen-Anhaltiner Angst haben - , schlägt die Stunde der furchtbaren Vereinfacher. Die finden sich in den etablierten Parteien, in der Regierung, lautstärker aber, da von keinerlei diplomatischer Zurückhaltung gebremst, in rechtsradikalen Gruppierungen wie Pegida und AFP. Wo die Menschen jegliche Empathie verloren und das logische Denken – so jemals vorhanden – verlernt haben, wo sie sachliche Informationen entweder nicht bekommen oder nicht aufnehmen wollen, wird der Diskurs von den rabiaten, alkoholgeschwängerten Stammtisch-Parolen des Bürgerbräukellers geprägt.

 

Parteien: Biedermänner als Brandstifter

 

Es sind ja gar nicht so sehr die üblichen Verdächtigen, die dem chauvinistischen Boom den Schwung verschafften, mit dem er über das pikierte Parteien-Establishment hinwegfegt. Natürlich teilen sich Horst Seehofer und sein mutmaßlicher Nachfolger Markus Söder in die Rolle des Voralpen-Orban und stellen ihre Skrupellosigkeit in Sachen Menschenrechte gewohnt grobschlächtig zur Schau. Als gefährlichere, da verdeckte Mäzene der völkischen Bewegung aber muss man die ansehen, die aus Inkonsequenz, Opportunismus oder Bigotterie das hierzulande sinkende Schiff der Toleranz und Humanität verlassen und den Ultra-Nationalisten nach dem Mund reden.

 

Da verkündet die Kanzlerin Merkel eine Willkommensbotschaft an die Mühseligen und Beladenen, nur um – nachdem sie international einiges Lob eingeheimst hatte - deren Schicksal überlasteten Beamten und überforderten Zeltstadt-Erbauern in den Kommunen zu überantworten und klammheimlich Etappe für Etappe zurück zu rudern. Da windet sich der Vizekanzler Gabriel, dessen offenkundige Unglaubwürdigkeit allein fünf Prozent für die AFD wert ist, so lange zwischen Verständnis für „besorgte Bürger“, die in Wahrheit unbelehrbare Rassisten sind, und der Doppelfunktion als Schoßhündchen und Wadenbeißer seiner Herrin (je nachdem, ob es geraten erscheint, Flüchtlinge zu begrüßen oder Aufnahme-Stopps zu fordern) hin und her, bis sich niemand mehr daran erinnert, dass er soeben als Wirtschaftsminister neue Fluchtgründe per Waffenexport-Genehmigungen geliefert hat. Und da ruft der präsidiale Scheinmoralapostel der Deutschen, Joachim Gauck, der sein Volk auch gern rhetorisch auf künftige Waffentaten vorbereitet, dazu auf, Asylbewerber gut zu behandeln, um im zweiten Satz nachzuschieben, dass das Boot nun aber wirklich voll sei.

 

Einer darf im Kreis der diskreten Nationalisten-Förderer selbstredend nicht fehlen: Außenminister Frank Walter Steinmeier, eine Lichtgestalt wie aus einem Think Tank von NATO-Strategen entsprungen, der sich sorgt, durch die AFD-Wahlerfolge werde „der Ruf Deutschlands in der Welt“ Schaden nehmen. Es geht nicht ums Image, Genosse Steinmeier, es geht um Menschen und Inhalte!

    

Medien: Journalistische Impressionisten

 

Im 19. Jahrhundert formierte sich in Frankreich die Malerschule der Impressionisten. Die Künstler wollten nicht mehr Mensch und Gegenstand Pinselstrich für Pinselstrich mechanisch nachbilden, die Natur imitieren, sondern Gebilde aus Licht und Farben entstehen, die Bewegung und Interaktion erahnen lassen. Was in der Kunst zu einer neuen, erweiterten Wahrnehmung führte, hat nach stümperhafter Übertragung auf den politischen Journalismus zu einer oberflächlichen, Hintergründe, materielle Interessen und Machtkalkül ausklammernden Berichterstattung geführt.

 

Gewiss, es gibt noch die eine oder andere Recherche, die in die Tiefe geht, zur späten Stunde vielleicht auch ein TV-Politmagazin, das ursächliche Kritik übt, und ab und zu eine Reportage auf ARTE, die ungeschminkte Realität zeigt, der Mainstream in Funk, Fernsehen und Printmedien indes begnügt sich mit dem Stoff, dem ihm die Wirtschafts- und Staatslenker zukommen lassen und bekrittelt allenfalls geschmäcklerisch die Nuancen. Als Beispiel für solche Oberflächenbehandlung sei die Börsen-Berichterstattung angeführt: Im Stil der Sportreporter kommentieren Wirtschaftsjournalisten die Schwankungen der Finanz-und Aktienmärkte, die Befindlichkeiten der Groß-Anleger und Tricks der Investment-Fonds, ohne auch nur zu erwähnen, dass durch solche Machinationen Tag für Tag Tausende von Arbeitsplätzen und Sparguthaben einfacher Leute vernichtet werden oder sich neue Global Player mit Hilfe der Politik an die Macht, deren Erhaltung ökologische und soziale Nachhaltigkeit nicht zulässt, spielen.

Dass Bild heute die Schlagzeilen formuliert, die morgen das AFD-Programm inspirieren, ist zwar schlimm, läuft aber wenigstens nicht so klandestin ab wie die meisten Manipulationen und Schweigegelübde der seriösen Presse.

     

Geschichte: Die Vergesslichen

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelobten die Politiker und Publizisten der BRD, nie wieder Rassismus und faschistische Tendenzen auf deutschem Boden zuzulassen. Es war ein wohlfeiles Lippenbekenntnis in der Adenauer-Republik,die sich längst alter Nazi-Seilschaften in den Ministerien und Sicherheitsdiensten bediente. Eine kurze Zeit lang, ausgehend von der Studentenrevolte 1968, glaubte man tatsächlich, der braune Spuk sei durch den frischen Wind einer aktiven Basisdemokratie hinweggefegt worden, doch mit der Konsolidierung der traditionellen ökonomischen Hierarchien und dem Ausbau der internationalen ökonomischen Machtstellung begann ein argumentatives Rollback, das die politischen Eliten bis weit in die SPD hinein wieder überkommene nationalistische oder gar sozialdarwinistische Wertvorstellungen vertreten ließ. Der 1968 von Linken und grünen Vorläufern propagierte Marsch durch die Institutionen, der die Gesellschaft ändern und humaner gestalten sollte, versandete hinter den Schreibtischen der Institutionen (oder Chefetagen).

 

Die Ideologie der alternativlosen bürgerlichen Sachzwänge prägte nicht nur die stets karrieregeilen Mitglieder der Jungen Union oder den FDP-Nachwuchs, sondern auch die Jusos, die sich, erst zu Mandat und Pfründen gekommen, nicht mehr um ihr evolutionäres Geschwätz von gestern kümmerten. Auch wenn ab und zu noch den einen oder anderen ein Déjà-vu-Erlebnis an politische Verantwortung und Solidarität erinnert, bleibt dies meist folgenlos, führt jedenfalls kaum dazu, dass mit dem einfachen Volk, dem Stimmvieh sozusagen, in aller Ehrlichkeit und Härte darüber diskutiert wird, dass auch die weniger Privilegierten nicht nach unten treten dürfen, dass deren soziale Unsicherheit oder bereits prekäre Lage nicht von arabischen oder schwarzen Hilfesuchenden bedingt wurde. Wer kann zudem selbst ehrlich Engagierte noch ernst nehmen, die sich freiwillig von Opportunisten wie Gabriel oder Steinmeier lenken lassen?

 

Besonders erfolgreich agitieren AFD und Pegida im Osten der Republik, dort wo im anderen deutschen Teilstaat die SED-Regierung ein relativ gesichertes Auskommen auf mäßigem Niveau garantierte und Internationalismus sowie Völkerfreundschaft als Dogmen für den neuen Menschen verkündete. Doch die Bürger belustigten sich eher über inhaltsleere Propaganda-Formeln, zumal Kontakte zu Ausländern, selbst zu den in den Kombinaten arbeitenden Gästen aus Vietnam, Kuba oder Mosambik, unerwünscht waren, und so blieben sie lieber alte Menschen und zeigten sich nach der Wende als höchst empfänglich für besonders alte rassistische Parolen.

 

Das politische System hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die Fetischisierung des omnipotenten Marktes und der sozialen Konkurrenz sowie durch eine neue nationale Hybris ein Wahlvolk herangezogen,das vermutlich zu zwei Dritteln fremdenfeindlich eingestellt ist. Rechtsextreme Ausschläge wie Pegida werden von den Verantwortlichen zwar nicht gern gesehen, weichen aber meistens nach einiger Zeit einer gewissen Normalisierung. Dann aber muss man genau zuhören. Denn es wäre nicht verwunderlich, wenn in nicht allzu ferner Zukunft die Forderungen und Schlussfolgerungen einer möglicherweise dann wieder in die Bedeutungslosigkeit abgeglittenen AFD in gemäßigterer Wortwahl wieder auftauchen würden – in den Reden von Herrn Gabriel, Frau von der Leyen oder Herrn de Maizière.

 

03/2016

          

Dazu auch:

Sekundärtugendbold in der Rubrik Helden unserer Zeit  



 

Trüber SPIEGEL

 

Der SPIEGEL gilt als eines der weltweit einflussreichsten Politikmagazine.  Als er 1962 den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß des Missmanagements und der Korruption bezichtigte, schlug die Staatsmacht brachial zurück und ließ Herausgeber Rudolf Augstein und seinen Redakteur Conrad Ahlers als Landesverräter verhaften. Studenten, Linke, liberale Bürger gingen auf die Straße, die SPIEGEL-Leute wurden  freigelassen und obsiegten  juristisch, Strauß musste gehen, und Augstein feierte sein Magazin als „Sturmgeschütz der Demokratie“. Mehr als 50 Jahre später häufen sich jedoch die Rohrkrepierer der medialen Superwaffe.

 

Aufklärung und Beliebigkeit

 

Noch immer finden sich im SPIEGEL Reportagen und Recherchen, die dem einst formulierten Anspruch, aufklärerisch zu arbeiten, als „Vierte Gewalt“, als Kontrollinstanz der Politik, zu wirken, gerecht werden, wenn etwa die Verdienste kurdischer PKK-Kämpfer (nach offizieller Lesart Terroristen) um die Rettung der im Sindschar-Gebirge vom IS eingeschlossenen Jesiden, Christen und Turkmenen beschrieben oder Straßenbauprojekte in privater Regie als Gelddruck-Lizenzen für Unternehmen und Versicherungen entlarvt werden. Doch mittlerweile gehen solche Beiträge ebenso wie brisante Umweltstorys und unkonventionelle Analysen in einem Brei aus oberflächlichen Bestandsaufnahmen der neuesten Zeitgeist-Moden, geschmäcklerisch zu Papier gebrachten Eitelkeiten bestimmter Redakteure und sinnarmen Kolumnen unter.

 

Flach-Rubriken wie Eine Meldung und ihre Geschichte oder Was war da los, Herr XY? würde man eher Bild und der Bunten zutrauen, und manchmal enthalten die Kurzmeldungen am Anfang eines Magazinteils wie Ausland oder Wirtschaft wesentlich relevantere Inhalte als der aufgrund kryptischer Gewichtungskriterien groß aufgemachte und breitgetretene Quark im Inneren.

 

Wie in allen bürgerlichen Printmedien sitzen die größten Zyniker, deren neoliberale Systemmodelle weder Menschen noch Nachhaltigkeit oder gar gesellschaftliche Verantwortung kennen, sondern lediglich auf Kursbewegungen, Gewinnsteigerungen um jeden Preis, Konkurrenz und beinahe imperialen Verdrängungsstrategien basieren, im Wirtschaftsressort. Dort war auch einst Jan Fleischhauer tätig, der – inzwischen als Autor für den Deutschland-Teil – in seinen Kolumnen und Kommentaren ein Weltbild offenbart, das man einst ganz weit rechts vom SPIEGEL vermutet hätte, das aber offenbar jetzt den zu einer national-bürgerlichen Pampe gerinnenden Magazin-Mainstream prächtig reflektiert.

 

Das elegante Über-Ich von Pegida

 

Fleischhauer studierte einst Philosophie, hielt aber wohl den SPIEGEL-Wirtschaftsteil für näher am Materiellen, am Schmierstoff des käuflichen Geistes somit angesiedelt und wurde dessen stellvertretender Leiter. Wahrscheinlich entwickelte er sich dort zum Propagandisten eines süffisanten Sozialdarwinismus, den er fortan in seine Glossen einfließen ließ. In Freud ̉scher Verirrung gab er den (rechts gewendeten) Wiedergänger des unsäglichen DDR-Polemikers Karl-Eduard von Schnitzler und überschrieb folgerichtig seine zunächst bei Spiegel Online, später auch in der Druckversion erscheinende Kolumne mit „Der schwarze Kanal“.

 

Stets mit einem imaginären Dandy-Grinsen zwischen den Zeilen leistete sich Fleischhauer xenophobe Ausbrüche, die bei Springer-Gazetten zu Rügen durch den Presserat geführt hätten. So verglich er 2012 nonchalant das gesamte italienische Volk mit Francesco Schettino, dem bis zur Kriminalität fahrlässigen und unfähigen Kapitän der havarierten Costa Concordia, was ihm Rassismus-Vorwürfe in den Zeitungen eintrug und Roms Botschafter in Berlin auf den Plan rief. Wir können nur hoffen, dass die Italiener fürderhin nicht jeden Deutschen für einen Fleischhauer halten.

 

Nach Merkels folgenloser Absichtsbekundung „Wir schaffen das!“ erging sich der reuige Bestseller-Autor („Unter Linken: Von einem, der aus Versehen konservativ wurde“), der auch noch für die rechtspopulistische Website freiewelt.net und einen evangelikalen Verband schrieb, hämisch über Gutmenschen und nicht zu integrierende Flüchtlinge. Von Pegida und AFP unterschied ihn eigentlich nur noch der etwas distanziertere Stil. Mit seinem letzten Beitrag „Masse und Macht“  in der Kolumne „Der schwarze Kanal“ aber sprengt Fleischhauer endgültig die Ketten journalistischen Anstands sowie eines (möglicherweise) bis dahin gültigen SPIEGEL-Ethik-Codex und missbraucht argumentativ den Pegida-Pöbel,  dem er ja streckenweise inhaltlich zustimmt, als personifiziertes Corpus Delicti, mit dessen Widerwärtigkeit er eine ganz eigene Herrenmenschen-Ideologie rechtfertigt.

       

Die harte Hand der Elite

  

Fleischhauer bezieht sich auf den rechten Mob, der in Clausnitz einen Flüchtlingsbus belagerte und dazu grölte: „Wir sind das Volk.“ Man kann der Argumentation des Kolumnisten noch einigermaßen folgen, wenn er andere Kommentatoren oder Politiker wie den sächsischen Ministerpräsidenten Tillich dafür rügt, dass sie den Pegida-Hooligans das Recht auf eben jenen Satz absprechen. In der Tat genießen letztere nämlich beim Gebrauch dieser Pauschal-Parole die Zustimmung von weiten Teilen der Bevölkerung, vor allem im Osten der Republik. Doch statt die Gründe für das rassistische Verhalten zu hinterfragen, nutzt Fleischhauer im arroganten Stil eines Ernst Jüngers für Arme die vulgären Entgleisungen, um dem (jedem) Volk das Recht abzusprechen, an politischer Gestaltung mitzuwirken:

„Viele sind der Meinung, dass es gut wäre, wenn die Politiker mehr auf das Volk hören müssten. Hierarchien gelten heute als etwas Fragwürdiges. … Ich persönlich habe nichts gegen Hierarchie. In der Regel sind die Leute, die es nach oben schaffen, fähiger und klüger als diejenigen, denen das nicht gelingt.“

Vielleicht sind diese Parvenüs (und jene, die immer schon oben waren) aber auch nur skrupelloser, mit kriminellerer Energie ausgestattet, opportunistischer, durch ein Bildungssystem, das Chancengleichheit verhindert, statt fördert, bevorteilt oder durch ein materielles (nicht genetisches) Erbe mit Vorsprung ins Rennen gegangen. Jan Fleischhauer indes preist die Herrschaft einer (durch göttliche Vorsehung oder edle Abstammung?) auserwählten Elite, die laut Heinrich Heine dem "Volk, dem großen Lümmel“, das „alte Entsagungslied“ singt. Vermutlich glaubt der SPIEGEL-Schreiber, dass er selbst zu dieser Elite gehört oder zumindest zu ihren bevorzugten Werbetextern. In seiner Zeit im Wirtschaftsressort des Magazins dürfte er auch tatsächlich gelernt haben, wie man die Welt aus der Sicht der Austeritätspolitiker, Hedgefonds-Investoren oder Konzern-Oligarchen erklärt (bzw. verschleiert); oder um seine gar nicht so neue Leier mit Heine zu umschreiben:

 

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
ich kenn' auch die Herren Verfasser;
ich weiß, sie tranken heimlich Wein
und predigten öffentlich Wasser.

 

Doch Fleischhauer geht in seiner Sehnsucht nach einer Hierarchie,  welche „den Pöbel“ die „harte Hand des Staates“ spüren lässt, noch viel weiter, obwohl er als humanistisch Gebildeter eigentlich wissen müsste, dass das altgriechische Wort Demokratie auf Deutsch Herrschaft des Staatsvolkes bedeutet:

„Außerdem ist es von der Volksherrschaft zur Pöbelherrschaft nur ein kleiner Schritt.“

Bei Fleischhauer ist es von der Hybris zur Verfassungsfeindlichkeit auch nur noch ein winziger Schritt. Im derzeitigen NPD-Verbotsverfahren könnten solche Aussagen dem Belastungsmaterial zugeschlagen werden.

 

Es sind genau Journalisten wie er, die durch Kaschierung der Hintergründe, Verschweigen der Zusammenhänge und Vertuschung der ökonomischen Ursachen erlebter Realität weite Teile der Bevölkerung in Ahnungslosigkeit halten und Aversionen schüren. Um bei der martialischen Diktion der eingangs zitierten Metapher von Rudolf Augstein zu bleiben: Der SPIEGEL hat mit Jan Fleischhauer ein Luftgewehr gegen die bürgerliche Demokratie in Stellung gebracht.

 

03/2016 

     


Menschenkenner

 

Niemand wird ernsthaft behaupten können, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung und das Gros der Journalisten in der Bundesrepublik tiefgründig mit Menschen fremder Kultur, Religion, Sprache oder verschiedenartigem Aussehens beschäftigen würden. Umso überraschender wirken das jäh erworbene einschlägige Fachwissen und die absolute Gewissheit, mittels derer Hunderttausende von Asylbewerbern in ihrer Gesamtheit plötzlich als Risiko für die innere Sicherheit, den Wohlstand, die geistigen Werte und die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen (bis Köln kein Lieblingsthema maskuliner Deutschtümler) in diesem Land erkannt werden.

 

Unschärfe fördert Hysterie

 

AFP und Pegida werfen den Medien vor, nicht korrekt, umfassend und schonungslos genug über die verbrecherischen Umtriebe der das Abendland bedrohenden Flüchtlinge und die verständlichen Ängste sowie begründeten Aversionen recht(s)schaffender Bürger zu berichten („Lügenpresse“). Tatsächlich ist vor allem in den Printmedien eine gewisse Unschärfe zu konstatieren, wenn die aus den Reizwörtern Flüchtlinge, Kriminalität und Sicherheitsrisiken zusammengerührte Mischung aufbereitet wird, de facto aber fördern mediale Oberflächlichkeit, das Ignorieren sozialer Zusammenhänge und eine gewisse Willkür bei Vergleichen und Statistiken die Panikmache der xenophoben Populisten eher, als dass es sie negiert oder entlarvt.

 

Niemand wird bestreiten, dass es in der Silvesternacht sexuelle Übergriffe durch Migranten gegenüber Frauen in Köln und anderen Städten gab. Die Täter stammten mehrheitlich aus Nordafrika, lebten wohl auch schon eine Zeit lang hier,  gehörten folglich jenen aktuellen Flüchtlingsmassen, vor denen uns die Rechtsradikalen, etliche Politiker und viele Kommentatoren unablässig warnen, gar nicht an. In der Kriminalitätsstatistik sind Syrer, Iraker und Afghanen im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtheit der Asylbewerber bei weitem unterrepräsentiert.

 

Natürlich gibt es in jeder ausreichend großen Gruppe von Menschen solche, die Gesetze brechen oder zumindest umgehen. Während aber die allgemeine Flüchtlingsstatistik eine steil nach oben kletternde Kurve zeigt, weist die Grafik keine signifikante absolute Verbrechenshäufung bei Immigranten aus. Dieses im Spiegel veröffentlichte Faktum wird ebenso selten (und zumindest nicht an prominenter Stelle) publiziert wie das Gros der Polizeiberichte, die von geringen Problemen mit Flüchtlingen künden.

 

Es ist kein Wunder, dass (wie die Boulevardpresse eifrig berichtet) in der Umgebung von Massenunterkünften eine Mehrung von Gesetzesverstößen festgestellt wird; nur handelt es sich vornehmlich um Bagatelldelikte wie Schwarzfahren oder Ladendiebstahl (Sexualdelikte machen 0,8 Prozent aus!). Gewalttätig werden Flüchtlinge fast ausschließlich gegen Leidensgenossen. Angesichts der Tatsache, dass die Behörden Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft auf engstem Raum unterbringen, während sie zum Beispielt sensibel genug sind, randalierende Anhänger von Schalke 04 nicht mit Dortmunder Hooligans in dieselbe Haftzelle zu sperren, sind sogar diese aggressiven Übergriffe erstaunlich selten.

 

Um beim Fußball zu bleiben: Innerhalb weniger Stunden ereignen sich an Samstagnachmittagen in der Umgebung von Großstadtstadien ungleich mehr Straftaten (etwa Schlägereien, Trunkenheitsfahrten oder Sachbeschädigungen) als eine ganze Woche lang in der Nähe von 50 großen Flüchtlingszentren. Wegen der hausgemachten Sport-Randale aber würde Bild nie die Sicherheit Deutschlands in Gefahr sehen.

 

Die Flüchtlingsexperten

 

Wo Informationen, Fakten und Recherche nicht opportun sind, gedeihen Märchen wie Fakes und verbreiten sich im Schneeballsystem. Die wohl perfideste Fälschung trieb Tausende von Russlanddeutschen zur Manifestation kollektiver Hysterie auf die Straßen und Plätze der Republik. Ein 13-jähriges Mädchen aus dieser Bevölkerungsgruppe hatte sich wegen schulischer Probleme bei einem Bekannten versteckt, nach ihrem Wiederauftauchen aber eine Entführung und Vergewaltigung durch „südländisch aussehende Migranten“ angezeigt. Dass die Polizei die Geschichte rasch als Lügen-Story entlarvte, änderte nichts an der Empörung von Menschen, die doch selbst bei ihrer Ankunft hierzulande rechtsradikalen Schmähungen und Angriffen ausgesetzt waren. Zusätzlich angeheizt wurde die bereits ansatzweise an Pogrom-Vorbereitungen erinnernde Stimmung gegen Flüchtlinge noch durch die zunehmend gleichgeschalteten russischen Medien und das Moskauer Außenministerium, ganz so, als wollten Lawrow und Putin der NATO nach deren Ukraine-Manipulationen zeigen, dass sich auch der Kreml auf schmutzigste Propaganda versteht und die Armen im Geiste effizient manipulieren kann.

 

Dieses Beispiel bezeichnet nur die absurdeste und bislang folgenschwerste einer ganzen Reihe von gefälschten Anschuldigungen. In Schwäbisch-Gmünd sei eine 14-jährige von Asylanten genot züchtigt worden, desgleichen Frauen in Traunstein und Kleve. Die „Taten“ waren ebenso frei erfunden wie die Vergewaltigung einer 21-jährigen durch drei Flüchtlinge im thüringischen Sonneberg. Die rechtsradikale Dame gestand die Lüge zwar bei der Polizei, hat aber dennoch ein ihr wichtiges Ziel erreicht: Neonazis konnten die Gräuelmär im Internet verbreiten und besorgte Bürger mobilisieren. Ein Gerücht ist schnell in die Welt und ins Netz gesetzt, verschwindet nach der Falsifizierung aber nur ganz langsam (wenn überhaupt) wieder. Es scheint nur eine Frage der Zeit, wann eine clever gesteuerte Facebook-Kampagne die Deutschland-Premiere fremdenfeindlich motivierter Lynchjustiz initiiert.

 

Selbstredend finden wirklich Übergriffe gegen deutsche Frauen oder Raubüberfälle auf deutschen Straßen statt. Bleibt aber oft im nachhinein die Frage, woran die Betroffenen erkannt haben wollen, dass es sich um Asylbewerber, Nordafrikaner oder Araber handelte, wie die Zeitungen in schöner Regelmäßigkeit und vorsichtshalber im Konjunktiv kolportieren. Schwarze Haare und einen „orientalischen“ Teint können auch griechische, italienische oder spanische Ansässige haben, und so mancher Straßenräuber mit mediterran wirkender Physiognomie blickt auf eine rein-germanische Ahnenreihe bis zu den Nibelungen zurück. Wenn er dann noch listig ein wenig gebrochen Deutsch simuliert, ist die Tarnung perfekt. Die Presse müsste mehr Vorsicht bei der Aufzählung negativ anmutender Stereotypien, die von der Volksmeinung Flüchtlingen zugeschrieben werden, walten lassen.   

 

Angstmacher und Verhinderer

 

Die Medien berichten nicht, dass die Bedrohungssituation hierzulande trotz massenhafter Zuwanderung an den meisten Orten überschaubar ist, dass die persönliche Sicherheit des Bürgers in den letzten Jahren kaum gelitten hat, und sie differenzieren nicht zwischen den sozialen Immigranten-Gruppen. Dass einzelne Viertel in Berlin, Hamburg oder Duisburg existieren, wo sogenannte Parallelgesellschaften entstanden sind, weil sich junge Leute nach Jahren als ausweglos erlebter staatlich verordneter oder zumindest tolerierter Verwahrlosung eine Art rücksichtslose No-Future-Haltung aneigneten und zu Banden zusammenschlossen, berechtigt nicht dazu, Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen, die jetzt ins Land strömen, um ihr bloßes Leben oder die Zukunft ihrer Kinder zu retten. Im Gegenteil: Es müsste verdeutlicht werden, dass die absolute Mehrheit der in den letzten Monaten Angekommenen, also der eigentlichen Auslöser kleinbürgerlicher Panik und politischen Versagens, mehr Friedfertigkeit, Geduld und Integrationswillen an den Tag legt, als es angesichts des durch- und überlebten Grauens zu erwarten war.

 

Deutsche Auslandskorrespondenten machen mit (korrekt) mahnendem Zeigefinger das Versagen der französischen Behörden und der Pariser Regierung für die Unruhen in den banlieues verantwortlich. Die meisten Inlandsreporter indes schweigen lieber zu der Vernachlässigung und Abdrängung in Ghettos seitens der Ämter hierzulande, durch die Asylbewerber in der Vergangenheit diskriminiert wurden und die Flüchtlinge jetzt in die soziale Sackgasse verbannt werden (wobei ihnen immerhin nahegelegt wird, ihre kurze Laufbahn zur Verinnerlichung der deutschen Leitkultur zu nutzen). Dabei hätte es diesmal eine Chance zu wirklicher Inklusion gegeben: Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sympathisierte mit den Hilfesuchenden, war (und ist) sogar bereit, die entwurzelten Menschen materiell zu unterstützen, Kinder zu betreuen, Neuankömmlinge zu begleiten, ihnen beim Deutschlernen oder bei der Orientierung in fremder Umgebung und im hiesigen Verwaltungslabyrinth zu helfen.

 

Gestützt auf solche personellen Ressourcen hätte der Staat nur noch die Rahmenbedingungen, etwa eine menschenwürdige Unterbringung oder Integrations- und Ausbildungsmaßnahmen, schaffen müssen. Aber obwohl die Flüchtlinge lautstark aufgefordert wurden, Kurse zu besuchen, klappte es vielerorts mit der Organisation der Lehrgänge nicht, verließen die Behörden sich bei der Gewährleistung der Existenzgrundlagen überwiegend auf Freiwillige, um diese im Notfall dann völlig im Stich zu lassen. Trotz vieler ehrenamtlicher Mitarbeiter können die Wohlfahrtsverbände die soziale Betreuung nicht mehr stemmen, denn die professionelle Hilfe wird von den regionalen Körperschaften (die wiederum den Bund für das Ausbleiben der Mittel verantwortlich machen) nur unzureichend oder überhaupt nicht mehr finanziert.

 

Investiert wurde nämlich lieber in Abschottung, Abschiebung, Ausweisung und Abriegelung: Mehr Beamte, um Asylanträge abschlägig bescheiden zu können, mehr Personal für den Rausschmiss ganzer Familien, Versendung deutscher Polizisten an die Grenzen verschiedener Balkanstaaten, Abkommandierung deutscher Soldaten in NATO-Abfangmission auf das Mittelmeer – allesamt Maßnahmen, die von den Medien nicht mehr kritisch kommentiert werden. Und niemand fragt, was mit den Flüchtlingen, die – auch wegen westeuropäischer Interventions- und Exportpolitik – nun einmal da sind, geschehen soll. Wird man sie auf dem Westbalkan, zwischen den Schengen-Grenzen Sloweniens und Griechenlands, festhalten? Werden ganze Generationen in türkischen, jordanischen oder libanesischen Lagern, in Ländern also, die mit eigenen Problemen zu kämpfen haben und nicht über die ökonomischen Mittel der EU-Staaten verfügen, verkommen? Egal, denkt die Bundesregierung und sagt Seehofer, Hauptsache, unser bedrohtes Vaterland hat sie vom Hals.

 

Eigentlich könnten nur die Flüchtlinge selbst die dem Kabinett so unangenehme Zwangslage entschärfen – indem sie sich in Luft auflösen. Bis dahin werden viele Politiker und Journalisten weiterhin ihr Möglichstes tun, die deutsche Heimat als gefährdet und die Asylbewerber als potentielle Gefährder hinzustellen. Und je weniger Konkretes die Bürger über die ungebetenen Gäste wissen, desto radikaler ist die Ablehnung. Die Nürnberger Nachrichten fragten unlängst lokale Disco- und Clubeigner nach Eintrittsbeschränkungen für Flüchtlinge. Während einige keine besonderen Regelungen für nötig erachteten,erklärten andere, Asylbewerbern bliebe der Zugang verwehrt, weil sie sich so aggressiv verhielten. Die für ihre Sensibilität bekannten Türsteher und Rausschmeißer können also auch den Flüchtling schon von weitem erkennen und verhindern.

 

Anders reagierte das Concertbüro Franken, das eine  ehemalige Fabrikhalle betreibt, in der Auftritte internationaler Rock-Bands und Sound-Partys stattfinden. Die Veranstalter luden junge Asylsuchende und deren Betreuer zum kostenlosen Besuch von Konzerten ein; sie lernten also die angeblich aggressive Klientel tatsächlich kennen. „Nullkommanull Probleme mit Flüchtlingen“ habe es bisher gegeben, sagte eine Agentur-Sprecherin der Zeitung.

 

02/2016          

 

Dazu auch:

Asyl nach Wert in der Rubrik Politik und Abgrund

      


  

Nazi und Gendarm

 

Umfang, Platzierung und (latente) Kommentierung eines Beitrags zeigen in den Medien an, für wie wichtig, wie erfreulich oder wie gefährlich die Verfasser und die leitenden Redakteure ein Thema halten. Wendet man diese Faustregel an, so kommt man zwangsläufig zu dem Schluss, dass ein Silvester-Mob mit Migranten-Hintergrund und ein von ehemaligen RAF-Mitgliedern verübter (missglückter) Raubüberfall die Sicherheit dieses Landes weit mehr gefährden als das Untertauchen ganzer Hundertschaften polizeilich gesuchter Neonazi-Täter. Etwas stimmt nicht in der medialen Wahrnehmung und Aufbereitung gesellschaftlich relevanter Sujets, und man muss sich langsam fragen, ob es sich bei dieser absurden Gewichtung um bloße Fahrlässigkeit oder doch Methode handelt.

 

Massenhaftes Abtauchen

 

Es war die Süddeutsche Zeitung (SZ), die zuerst über eine katastrophale Bilanz berichtete, die nach den zehn Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) eigentlich die Alarmglocken in der Republik hätte schrillen lassen müssen. Auf eine Anfrage der grünen Abgeordneten Irene Mihalic antwortete die Bundesregierung, dass bis zum 15. September 2015 mehr als 450 Haftbefehle gegen 372 rechtsextreme Straftäter nicht vollstreckt worden seien. Dies lässt nur den Schluss zu, dass die Polizei entweder den Aufenthaltsort der Verbrecher kannte, sie aber nicht festnahm, oder – was wahrscheinlicher ist – die Gesuchten Zeit und Gelegenheit hatten unterzutauchen, und dann nicht mehr gefunden werden konnten. Bei den meisten handelte es sich um Mehrfachtäter, deren Delikte von rassistischen Angriffen, schwerer Körperverletzung und Bankraub bis hin zu Totschlag und in einem Fall zu Mord reichten. Erinnerungen an die drei NSU-Haupttäter werden wach.

 

Um das Ausmaß rechtsradikal motivierter Kriminalität in unserer Gesellschaft einigermaßen einschätzen zu können, sei noch einmal an ein Resümee der Polizei vom Ende vorigen Jahres erinnert: Von Januar bis November 2015 haben die Beamten 12.600 von Neonazis begangene Straftaten gezählt, allein im Oktober waren es 1.717, bei denen 582 Menschen verletzt wurden.

 

Wo bleibt die mediale Empörung?

 

Man könnte nun natürlich von einer akuten Gefährdung der inneren Sicherheit sprechen, die übrigens alle von einer Minderheit unter den Flüchtlingen begangenen Vergehen in den Schatten stellt; man könnte fragen, wie es möglich ist, dass die Polizei serienmäßig zu spät kommt oder ob die Mitarbeiter und Spitzel der Landesverfassungsämter ertaubt und erblindet sind, respektive das kriminelle Handeln und anschließende Verschwinden von 372 Neonazis gedeckt oder logistisch unterstützt haben, vielleicht sogar selbst in die Taten verwickelt waren; man müsste von einem Versagen der Exekutive und einem Tiefschlaf der Legislative, die einen braunen Untergrund mit erheblichem Gewaltpotential begünstigen, sprechen oder schreiben. Doch von einigen ausgewogenen, eher knappen Artikeln in SpiegeltazSZ und kurzen Funk-Erwähnungen, etwa im Bericht aus Berlin (ZDF), abgesehen, verbucht die bürgerliche Journalistik den Skandal unter den Kurzmeldungen. Es fehlt wohl das exotische Flair nordafrikanischer Grapsch- und Diebesorgien, Nazi-Brutalität scheint der deutschen Leitkultur eher  als integrativer Bestandteil zugerechnet zu werden.

 

Der Platz für den Vierspalter mit Foto wird stattdessen für andere deutsche Täter reserviert, und zwar solche, die man im Gegensatz zu gewaltbereiten Glatzen, die ja lediglich die verbalen Attacken „besorgter“ Pegida-Anhänger manuell umsetzen, von vornherein als Volksfeinde identifizieren kann: Drei ehemalige Mitglieder der 1998 aufgelösten Roten Armee Fraktion (RAF) überfallen so dilettantisch wie vergeblich zwei Geldtransporter in Wolfsburg und bei Bremen. Selbst die Staatsanwaltschaft schließt einen terroristischen Hintergrund aus und vermutet, dass die Veteranen eines gründlich gescheiterten Versuchs, Deutschlands Unterprivilegierte mit Waffentaten zum Aufstand zu bewegen, einfach nur Geld für ihren Lebensunterhalt benötigten.

 

Die Medien aber nutzen die Chance, ein Feindbild aus jener guten alten Zeit, da die dem Staat drohende Gefahr klar in der linksradikalen Ecke verortet werden konnte, neu zu beleben, eine ausführliche Berichterstattung zu pflegen, die solchen Ereignissen einen Stellenwert verleiht, den sie längst nicht mehr besitzen. Endlich kann man Täter beim Namen und bei der Konfession nennen, während man doch nach den untergetauchten Neonazis im amorphen Untergrund stochern müsste.

         

Lieb gewonnene Terroristen

 

Mehr als 30 Menschen sind zwischen 1971 und 1993 dem Terror der RAF zum Opfer gefallen. Die Anschläge richteten sich in erster Linie gegen Bankiers, Großindustrielle, die Justiz und den Strafvollzug, in der kruden Logik, dass man nur ein paar Verantwortliche liquidieren und einige Einrichtungen beschädigen müsse, um das kapitalistische System ins Wanken zu bringen. Den Tod von Fahrern und Polizisten nahmen die RAF-Ideologen wohl billigend als Kollateralschäden in Kauf, mit der Ermordung von sechs US-Soldaten sollte wahrscheinlich der weltweite Imperialismus der Yankees gestoppt werden.

 

So irrsinnig diese Argumentation und die daraus entwickelte Strategie auch anmuten – die damaligen Terroristen machten wenigstens ihre Intentionen, die Gründe und die Methoden in Bekennerschreiben deutlich und drohten ihrer Ziel-Klientel offen, quasi in einer Kriegserklärung. Die Neonazi-Gewalttäter heutzutage bleiben hingegen anonym, lassen sich auf keinerlei Diskurs zu ihrem Weltbild ein und schlagen scheinbar ziellos zu. Während die deutschen Medien sich einst in ihren Bemühungen überboten, per Dämonisierung der RAF (und der ganzen linken Mischpoke gleich mit) und Heroisierung des eisernen Kanzlers Schmidt ein ganzes Volk zum einig Feind der Aufrührer zu machen, erwähnen sie aktuell die Verbrechen der Neonazis nur am Rande. Allerdings haben sie auch Probleme mit der Zuordnung der Taten, sickert doch die Wahrheit nur tröpfchenweise durch die Filter der Sicherheitsbehörden, schreitet doch die polizeiliche Aufklärung – wenn überhaupt – quälend langsam voran.

 

Aufgeschreckt durch die Ungeheuerlichkeiten und Ungereimtheiten der NSU-Mordserie, die ausnahmsweise genug Skandalpotential besaß, um die zuvor gleichgültige Presse auf den Plan zu rufen, fanden deutsche Kriminalisten vor mehr als zwei Jahren plötzlich 3.300 in den Asservatenkammern abgelegte Fälle aus der Zeit zwischen 1990 und 2011, die nochmals wegen möglicher Neonazi-Täterschaft aufzurollen seien. „Die Zeit“ und der Berliner„Tagesspiegel“ hatten kurz vorher für etwa denselben Zeitraum über 152 Todesopfer rechter Gewalt berichtet.

 

Die größere Gefahr

 

Die Täter aus dem Nazi-Milieu morden, zündeln und sprengen, um einerseits Andersdenkende sowie -farbige zu "entfernen" und zum andern um die Bevölkerung zu verunsichern, nicht um direkt die Stützen des Staates zu treffen. Nun erfreuen sich ausländerfeindliche und rassistische Motive in der geordneten Welt vieler Normalbürger, die um ihren Status, ihre Freiheit (zwischen AldiRewe und Karstadt wählen zu können), ihre angeblich gefährdeten Arbeitsplätze und die plötzlich bedrohte Sicherheit fürchten, eines gewissen Verständnisses. Für den Versuch, einen afrikanischen Flüchtling totzuschlagen, wird so zumindest teilweise das Opfer selbst verantwortlich gemacht, weil es mit seiner problembelasteten Anwesenheit das Delikt erst provoziert hat.

 

Natürlich werden die braunen Aktivisten in der Bundesrepublik keine NS-Diktatur mehr errichten können, aber ihre brutale Botschaft wirkt unterschwellig bis in die sogenannte politische Mitte hinein, beeinflusst die Gesetzgebung im Law-and-Order-Sinn und schafft langsam eine Stimmung, die derart xenophob ist, dass eine explizit rechtsradikale Propaganda als normal bzw. als Klartext  empfunden wird. Es hat sich eine seltsame Arbeitsteilung eingespielt: Neonazis sorgen mit ihren Gewalttaten für ein Klima der Angst, und rechtsextreme Parteien und Bündnisse bieten den Verunsicherten als Zufluchtsort eine Trutzburg, errichtet aus Recht, Ordnung und Hybris in deutscher Bauart.

 

Duldung durch die traditionell rechtslastigen Verfassungsschutzämter, ja sogar materielle und ideologische Unterstützung durch deren Mitarbeiter und V-Leute haben in der Vergangenheit ebenso zum sicheren Aufenthalt der braunen Straftäter im gut vernetzten Untergrund beigetragen wie die Schludrigkeit der kriminalpolizeilchen Ermittlungen, kein Wunder bei einem Personal, das sich ebenfalls eher aus dem nationalbürgerlichen Spektrum rekrutiert. Dass Terror mit faschistischem Hintergrund stets weniger genau observiert und selten oder lasch geahndet wurde, beweist das Beispiel der fränkischen Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann. Diese wurde Anfang 1980 vom damaligen Bundesinnenminister Baum verboten, durfte aber in Bayern weiterhin nach Belieben schalten und walten. Im selben Jahr war sie in den Doppelmord an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin sowie in den Anschlag auf das Oktoberfest, der 13 Menschen das Leben kostete, verstrickt. Beide Verbrechen wurden nie vollständig aufgeklärt, die Drahtzieher blieben im Hintergrund. Die WSG galt samt ihrem schnauzbärtigen Anführer den Medien als folkloristischer Haufen von Ewig-Gestrigen, nicht als gefährliche Vorhut eines chauvinistischen Kampfbündnisses. So wurde nie nachgefragt, ob zum kostspieligen Unterhalt der paramilitärischen Truppe nicht vielleicht auch honorige nordbayerische Unternehmer beitrugen. Journalistische Einzelgänger wie der BR-Autor Ulrich Chaussy, der die Ermittlungspannen nach dem Münchner Massenmord aufdeckte, gehörten zu den rühmlichen, aber raren Ausnahmen.

 

Das bis heute anhaltende öffentliche Desinteresse an der Aufklärung von Gewalttaten mit  rechtsradikalen Motivation, an einer lückenlosen Opferstatistik und einer Analyse der Reaktionen verunsicherter oder heimlich sympathisierender Bürger wird konterkariert von dem geradezu hysterischen Eifer, mit dem plötzlich auch als seriös angesehene Publikationen vor dem Untergang des Abendlandes oder besser des deutschen Wirtschaftswunders durch den Einfall orientalischer und afrikanischer Flüchtlingshorden warnen – und dabei verschweigen, dass die Menschenlawinen, wie die Hilfesuchenden in einer Art abwertender Verdinglichung beschrieben werden, unter anderem von deutscher Macht-, Freihandels- und Waffenexportpolitik losgetreten wurden.           

Es scheint so, als spielten die Neonazis Räuber und Gendarm mit den Sicherheitsbehörden, und die politisch Verantwortlichen würden die Partie nicht ernst nehmen, während einige ihrer bediensteten Spielfiguren heimlich mit der Gegenseite sympathisieren. Und die Reporter berichten über ganz andere Spiele…

 

01/2016

 

Dazu auch:

Blind mit System im Archiv der Rubrik Medien

Der taubblinde Agent im Archiv von Helden unserer Zeit



 

Nazi und Gendarm


 

Umfang, Platzierung und (latente) Kommentierung eines Beitrags zeigen in den Medien an, für wie wichtig, wie erfreulich oder wie gefährlich die Verfasser und die leitenden Redakteure ein Thema halten. Wendet man diese Faustregel an, so kommt man zwangsläufig zu dem Schluss, dass ein Silvester-Mob mit Migranten-Hintergrund und ein von ehemaligen RAF-Mitgliedern verübter (missglückter) Raubüberfall die Sicherheit dieses Landes weit mehr gefährden als das Untertauchen ganzer Hundertschaften polizeilich gesuchter Neonazi-Täter. Etwas stimmt nicht in der medialen Wahrnehmung und Aufbereitung gesellschaftlich relevanter Sujets, und man muss sich langsam fragen, ob es sich bei dieser absurden Gewichtung um bloße Fahrlässigkeit oder doch Methode handelt.

 

Massenhaftes Abtauchen

 

Es war die Süddeutsche Zeitung (SZ), die zuerst über eine katastrophale Bilanz berichtete, die nach den zehn Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) eigentlich die Alarmglocken in der Republik hätte schrillen lassen müssen. Auf eine Anfrage der grünen Abgeordneten Irene Mihalic antwortete die Bundesregierung, dass bis zum 15. September 2015 mehr als 450 Haftbefehle gegen 372 rechtsextreme Straftäter nicht vollstreckt worden seien. Dies lässt nur den Schluss zu, dass die Polizei entweder den Aufenthaltsort der Verbrecher kannte, sie aber nicht festnahm, oder – was wahrscheinlicher ist – die Gesuchten Zeit und Gelegenheit hatten unterzutauchen, und dann nicht mehr gefunden werden konnten. Bei den meisten handelte es sich um Mehrfachtäter, deren Delikte von rassistischen Angriffen, schwerer Körperverletzung und Bankraub bis hin zu Totschlag und in einem Fall zu Mord reichten. Erinnerungen an die drei NSU-Haupttäter werden wach.

 

Um das Ausmaß rechtsradikal motivierter Kriminalität in unserer Gesellschaft einigermaßen einschätzen zu können, sei noch einmal an ein Resümee der Polizei vom Ende vorigen Jahres erinnert: Von Januar bis November 2015 haben die Beamten 12.600 von Neonazis begangene Straftaten gezählt, allein im Oktober waren es 1.717, bei denen 582 Menschen verletzt wurden.

 

Wo bleibt die mediale Empörung?

 

Man könnte nun natürlich von einer akuten Gefährdung der inneren Sicherheit sprechen, die übrigens alle von einer Minderheit unter den Flüchtlingen begangenen Vergehen in den Schatten stellt; man könnte fragen, wie es möglich ist, dass die Polizei serienmäßig zu spät kommt oder ob die Mitarbeiter und Spitzel der Landesverfassungsämter ertaubt und erblindet sind, respektive das kriminelle Handeln und anschließende Verschwinden von 372 Neonazis gedeckt oder logistisch unterstützt haben, vielleicht sogar selbst in die Taten verwickelt waren; man müsste von einem Versagen der Exekutive und einem Tiefschlaf der Legislative, die einen braunen Untergrund mit erheblichem Gewaltpotential begünstigen, sprechen oder schreiben. Doch von einigen ausgewogenen, eher knappen Artikeln in SpiegeltazSZ und kurzen Funk-Erwähnungen, etwa im Bericht aus Berlin (ZDF), abgesehen, verbucht die bürgerliche Journalistik den Skandal unter den Kurzmeldungen. Es fehlt wohl das exotische Flair nordafrikanischer Grapsch- und Diebesorgien, Nazi-Brutalität scheint der deutschen Leitkultur eher  als integrativer Bestandteil zugerechnet zu werden.

 

Der Platz für den Vierspalter mit Foto wird stattdessen für andere deutsche Täter reserviert, und zwar solche, die man im Gegensatz zu gewaltbereiten Glatzen, die ja lediglich die verbalen Attacken „besorgter“ Pegida-Anhänger manuell umsetzen, von vornherein als Volksfeinde identifizieren kann: Drei ehemalige Mitglieder der 1998 aufgelösten Roten Armee Fraktion (RAF) überfallen so dilettantisch wie vergeblich zwei Geldtransporter in Wolfsburg und bei Bremen. Selbst die Staatsanwaltschaft schließt einen terroristischen Hintergrund aus und vermutet, dass die Veteranen eines gründlich gescheiterten Versuchs, Deutschlands Unterprivilegierte mit Waffentaten zum Aufstand zu bewegen, einfach nur Geld für ihren Lebensunterhalt benötigten.

 

Die Medien aber nutzen die Chance, ein Feindbild aus jener guten alten Zeit, da die dem Staat drohende Gefahr klar in der linksradikalen Ecke verortet werden konnte, neu zu beleben, eine ausführliche Berichterstattung zu pflegen, die solchen Ereignissen einen Stellenwert verleiht, den sie längst nicht mehr besitzen. Endlich kann man Täter beim Namen und bei der Konfession nennen, während man doch nach den untergetauchten Neonazis im amorphen Untergrund stochern müsste.

         

Lieb gewonnene Terroristen

 

Mehr als 30 Menschen sind zwischen 1971 und 1993 dem Terror der RAF zum Opfer gefallen. Die Anschläge richteten sich in erster Linie gegen Bankiers, Großindustrielle, die Justiz und den Strafvollzug, in der kruden Logik, dass man nur ein paar Verantwortliche liquidieren und einige Einrichtungen beschädigen müsse, um das kapitalistische System ins Wanken zu bringen. Den Tod von Fahrern und Polizisten nahmen die RAF-Ideologen wohl billigend als Kollateralschäden in Kauf, mit der Ermordung von sechs US-Soldaten sollte wahrscheinlich der weltweite Imperialismus der Yankees gestoppt werden.

 

So irrsinnig diese Argumentation und die daraus entwickelte Strategie auch anmuten – die damaligen Terroristen machten wenigstens ihre Intentionen, die Gründe und die Methoden in Bekennerschreiben deutlich und drohten ihrer Ziel-Klientel offen, quasi in einer Kriegserklärung. Die Neonazi-Gewalttäter heutzutage bleiben hingegen anonym, lassen sich auf keinerlei Diskurs zu ihrem Weltbild ein und schlagen scheinbar ziellos zu. Während die deutschen Medien sich einst in ihren Bemühungen überboten, per Dämonisierung der RAF (und der ganzen linken Mischpoke gleich mit) und Heroisierung des eisernen Kanzlers Schmidt ein ganzes Volk zum einig Feind der Aufrührer zu machen, erwähnen sie aktuell die Verbrechen der Neonazis nur am Rande. Allerdings haben sie auch Probleme mit der Zuordnung der Taten, sickert doch die Wahrheit nur tröpfchenweise durch die Filter der Sicherheitsbehörden, schreitet doch die polizeiliche Aufklärung – wenn überhaupt – quälend langsam voran.

 

Aufgeschreckt durch die Ungeheuerlichkeiten und Ungereimtheiten der NSU-Mordserie, die ausnahmsweise genug Skandalpotential besaß, um die zuvor gleichgültige Presse auf den Plan zu rufen, fanden deutsche Kriminalisten vor mehr als zwei Jahren plötzlich 3.300 in den Asservatenkammern abgelegte Fälle aus der Zeit zwischen 1990 und 2011, die nochmals wegen möglicher Neonazi-Täterschaft aufzurollen seien. „Die Zeit“ und der Berliner„Tagesspiegel“ hatten kurz vorher für etwa denselben Zeitraum über 152 Todesopfer rechter Gewalt berichtet.

 

Die größere Gefahr

 

Die Täter aus dem Nazi-Milieu morden, zündeln und sprengen, um einerseits Andersdenkende sowie -farbige zu "entfernen" und zum andern um die Bevölkerung zu verunsichern, nicht um direkt die Stützen des Staates zu treffen. Nun erfreuen sich ausländerfeindliche und rassistische Motive in der geordneten Welt vieler Normalbürger, die um ihren Status, ihre Freiheit (zwischen AldiRewe und Karstadt wählen zu können), ihre angeblich gefährdeten Arbeitsplätze und die plötzlich bedrohte Sicherheit fürchten, eines gewissen Verständnisses. Für den Versuch, einen afrikanischen Flüchtling totzuschlagen, wird so zumindest teilweise das Opfer selbst verantwortlich gemacht, weil es mit seiner problembelasteten Anwesenheit das Delikt erst provoziert hat.

 

Natürlich werden die braunen Aktivisten in der Bundesrepublik keine NS-Diktatur mehr errichten können, aber ihre brutale Botschaft wirkt unterschwellig bis in die sogenannte politische Mitte hinein, beeinflusst die Gesetzgebung im Law-and-Order-Sinn und schafft langsam eine Stimmung, die derart xenophob ist, dass eine explizit rechtsradikale Propaganda als normal bzw. als Klartext  empfunden wird. Es hat sich eine seltsame Arbeitsteilung eingespielt: Neonazis sorgen mit ihren Gewalttaten für ein Klima der Angst, und rechtsextreme Parteien und Bündnisse bieten den Verunsicherten als Zufluchtsort eine Trutzburg, errichtet aus Recht, Ordnung und Hybris in deutscher Bauart.

 

Duldung durch die traditionell rechtslastigen Verfassungsschutzämter, ja sogar materielle und ideologische Unterstützung durch deren Mitarbeiter und V-Leute haben in der Vergangenheit ebenso zum sicheren Aufenthalt der braunen Straftäter im gut vernetzten Untergrund beigetragen wie die Schludrigkeit der kriminalpolizeilchen Ermittlungen, kein Wunder bei einem Personal, das sich ebenfalls eher aus dem nationalbürgerlichen Spektrum rekrutiert. Dass Terror mit faschistischem Hintergrund stets weniger genau observiert und selten oder lasch geahndet wurde, beweist das Beispiel der fränkischen Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann. Diese wurde Anfang 1980 vom damaligen Bundesinnenminister Baum verboten, durfte aber in Bayern weiterhin nach Belieben schalten und walten. Im selben Jahr war sie in den Doppelmord an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin sowie in den Anschlag auf das Oktoberfest, der 13 Menschen das Leben kostete, verstrickt. Beide Verbrechen wurden nie vollständig aufgeklärt, die Drahtzieher blieben im Hintergrund. Die WSG galt samt ihrem schnauzbärtigen Anführer den Medien als folkloristischer Haufen von Ewig-Gestrigen, nicht als gefährliche Vorhut eines chauvinistischen Kampfbündnisses. So wurde nie nachgefragt, ob zum kostspieligen Unterhalt der paramilitärischen Truppe nicht vielleicht auch honorige nordbayerische Unternehmer beitrugen. Journalistische Einzelgänger wie der BR-Autor Ulrich Chaussy, der die Ermittlungspannen nach dem Münchner Massenmord aufdeckte, gehörten zu den rühmlichen, aber raren Ausnahmen.

 

Das bis heute anhaltende öffentliche Desinteresse an der Aufklärung von Gewalttaten mit  rechtsradikalen Motivation, an einer lückenlosen Opferstatistik und einer Analyse der Reaktionen verunsicherter oder heimlich sympathisierender Bürger wird konterkariert von dem geradezu hysterischen Eifer, mit dem plötzlich auch als seriös angesehene Publikationen vor dem Untergang des Abendlandes oder besser des deutschen Wirtschaftswunders durch den Einfall orientalischer und afrikanischer Flüchtlingshorden warnen – und dabei verschweigen, dass die Menschenlawinen, wie die Hilfesuchenden in einer Art abwertender Verdinglichung beschrieben werden, unter anderem von deutscher Macht-, Freihandels- und Waffenexportpolitik losgetreten wurden.           

Es scheint so, als spielten die Neonazis Räuber und Gendarm mit den Sicherheitsbehörden, und die politisch Verantwortlichen würden die Partie nicht ernst nehmen, während einige ihrer bediensteten Spielfiguren heimlich mit der Gegenseite sympathisieren. Und die Reporter berichten über ganz andere Spiele…

 

01/2016

 

Dazu auch:

Blind mit System im Archiv der Rubrik Medien

Der taubblinde Agent im Archiv von Helden unserer Zeit




2015




Gesellschaftsfähig


Das Städtchen Pottenstein liegt, umrahmt von markanten Felstürmen, nahe einer grandiosen Tropfsteinhöhle im Herzen der Fränkischen Schweiz, jener Landschaft, die Tieck und Wackenroder einst zur Wiege der deutschen Romantik verklärten. Weniger idyllisch zeigt sich die jüngere Vergangenheit des Touristenorts: Von 1942 bis 1945 war eine Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg hier angesiedelt. Beunruhigen sollte aber auch die Gegenwart: Mit einer neuen Stele ehrt Pottenstein einen früheren Bürgermeister und Ehrenbürger, ungeachtet der Tatsache, dass Hans Dippold ein überaus engagierter Nationalsozialist war.


Der Ehren-Nazi

 

Als der Journalist und Buchautor Peter Engelbrecht („Touristenidylle und KZ-Grauen“) einen niederländischen Kollegen, der sich für die düsteren Seiten der Pottensteiner Vergangenheit interessierte, über den dortigen Friedhof führte, entdeckte er die an einer unlängst aufgestellten Stele angebrachte Ehrentafel für den ehemaligen Bürgermeister Hans Dippold. Ein Blick auf die Vita der solcherart memorierten Lokalgröße zeigt, dass Pottenstein mit der eigenen Geschichte im besten Falle fahrlässig, möglicherweise aber auch vorsätzlich verharmlosend umgeht.

 

Hans Dippolds biografische Weste wies nicht nur einige Flecken auf, sie war nach heutigem Kenntnisstand durchgängig braun eingefärbt. Er gehörte im Dritten Reich offenbar nicht zu den Duckmäusern und Opportunisten, die sich Hitlers Horden aus Kalkül, nicht aus Überzeugung anschlossen, sondern zu den treibenden Kräften. Als SA-Scharführer, NSDAP-Ortsgruppenleiter und Bürgermeister im Auftrag der Partei bekleidete er Leitungsfunktionen, was ihm im Spruchkammerverfahren 1947 auch die Einstufung als „Aktivist“ eintrug. Erst später wurde er zum „Mitläufer“ degradiert, weil ihm Zeugen attestierten, ein „hochanständiger Nationalsozialist“ gewesen zu sein. Diese in Entnazifizierungsverfahren gängige Entlastung durch Freunde und Gesinnungsgenossen stellt einen Widerspruch in sich dar: Ein Mensch, der Rassenhass, Diktatur und Vernichtung unwerten Lebens propagiert, mag vielleicht im persönlichen Umgang, im unverfänglichen Gespräch angenehm wirken und im Alltag korrekt handeln, hochanständig kann er dennoch nicht sein.

 

Die meisten Pottensteiner Bürger ließen solche Erwägungen kalt. Nach einer ziemlich kurzen Schamfrist wählten sie Dippold 1953 erneut zum Bürgermeister und machten ihn 1972, drei Jahre vor seinem Tod, zum Ehrenbürger. Davon wollen sie auch heute nicht abrücken. Im Gegenteil: Per Ehrentafel bestätigen sie einem Mann, er habe sich um den Ort verdient gemacht, der auch schon das Sagen hatte, als rund 700 KZ-Häftlinge, in der Mehrheit aus Polen und der Sowjetunion, unter menschenunwürdigen Bedingungen die heutige Tourismus-Infrastruktur vorbereiteten, als sie u. a. das Tropfstein-Prunkstück Teufelshöhle erschlossen.

 

Als Oberaufseher und Antreiber der Häftlinge fungierte übrigens Hans Brand, der Gründer und Leiter der SS-Karstwehr, die später in Slowenien und Venetien kämpfte und für das Massaker von Avasinis verantwortlich war. Auch Brand, der 1959 gestorben war, wurde von den Pottensteinern geehrt: Sie brachten 1961 eine Gedenktafel am Eingang der Teufelshöhle an und benannten eine Straße nach ihm. Die Ehrenplakette an der Höhle wurde allerdings wegen Brands SS-Vergangenheit wieder entfernt.

 

In ganz Deutschland existieren zahllose Beispiele für diese traurige Abart der Vergangenheitsbewältigung, in Franken allerdings häufen sie sich in signifikanter Weise.

 

Fränkische Geschichtsvergessenheit

 

Man könnte meinen, es sei Tradition in der nordbayerischen Region, dem einstigen Faible für menschenverachtenden Chauvinismus wenn nicht Sympathie, so doch Verständnis entgegenzubringen bzw. nach Entschuldigungen zu suchen. Dabei hätte Franken, allen voran die von einer unheilvollen Allianz protestantischen Erwerbssinns und nationalsozialistischer „Spießer-Ideologie“ (Prof. Hermann Glaser) geprägten Städte wie Ansbach, Coburg oder Nürnberg (Stadt der Reichsparteitage), in Sachen Schuld und Wiedergutmachung mehr aufzuarbeiten als die meisten anderen deutschen Gegenden.

Doch ehemalige Parteigenossen, auch wenn sie als überregionale Entscheider und Wehrwirtschaftsführer noch wesentlich tiefer in die „Erfolgsgeschichte“ und die Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus verstrickt waren als der vergleichsweise unbedeutende Bürgermeister von Pottenstein, wurden von willigen Politikern, Journalisten und Juristen im Handumdrehen rehabilitiert und neuer Ehrungen für würdig befunden.

 

Sie profitierten von der Aufrüstung und der Kriegswirtschaft der Nazis, sie rissen sich das Eigentum zunächst genötigter, dann vertriebener Juden unter den Nagel, sie beuteten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge aus, sie sandten dem Führer peinliche Ergebenheitsadressen – und doch waren sie bald nach dem Krieg bereits wieder Ehrenbürger, wurden Straßen nach ihnen benannt. Und wo das nicht sofort geschah, wie etwa in Coburg, setzte der milliardenschwere Enkel unter Androhung ökonomischen Liebesentzugs die Stadträte unter Druck und zog einen allzu willfährigen SPD-Oberbürgermeister auf seine Seite.

 

Rüstungsunternehmer Karl Diehl durfte sich trotz NS-Vergangenheit und Verwicklung in spätere Rüstungsskandale Ehrenbürger von Röthenbach und Nürnberg nennen, Gustav Schickedanz wurde ungeachtet seiner dubiosen Aneignung jüdischen Vermögens Fürths geachteter Pate, und nach Max Brose, der den Nazis diente wie sie ihm, wurde vor einigen Monaten eine Straße in Coburg genannt. Dazu noch kamen noch Schaeffler in Herzogenaurach, Schöller in Nürnberg und andere weniger bekannte Unternehmer, denen im Entnazifizierungsverfahren routinemäßig bloßes Mitläufertum bescheinigt wurde.

      

Brandstifter werden zu Mitläufern

 

Es ist kein Wunder, dass die in den genannten Fällen von den Unternehmern bzw. deren Nachkommen bestellten und bezahlten (beschönigenden) Biografien aus Professorenfeder ebenfalls aus Franken stammten, genauer: aus dem Zentrum für Angewandte Geschichte an der Uni Erlangen. Dessen Leiter Professor Gregor Schöllgen, im September erst mit einer Schröder-Biografie in der Presse auf- und in Historikerkreisen durchgefallen, machte sich anheischig, den erwähnten Wirtschaftsgrößen gegen hohe finanzielle Kompensation einen tadellosen Lebenslauf zu konstruieren, der, in edle Buchform gepresst, Brose, Diehl und Konsorten als bescheidene Mitläufer ausweist.

 

Auf eine solche „wissenschaftliche“ Arbeit Schöllgens beruft sich Coburgs OB Norbert Tessmer, wenn er die Benennung einer Straße nach dem Nazi Max Brose rechtfertigt. Und ähnlich argumentiert auch Pottensteins Bürgermeister Stefan Frühbeißer von den Freien Wählern, wenn er sich gegenüber den Nürnberger Nachrichten darauf beruft, Hans Dippold sei als „Mitläufer“ eingestuft worden. Er gehe davon aus, dass der Stadtrat 1972 die Voraussetzungen für die Ehrenbürgerwürde „gewissenhaft geprüft hat“. Nun ist Gewissen ein amorpher, individuell interpretierbarer Begriff; manchen mag sein spezielles Gewissen gemahnt haben, alte Kameraden aus brauner Vergangenheit nicht im Stich zu lassen.

 

Selbst wenn die Mitläufer-These nicht nach Faktenlage völlig falsch wäre, müssten sich ihre Vertreter eigentlich fragen, ob ein Lavieren als Schleimer in der NS-Zeit eine spätere Überhäufung mit Ehrungen nicht per se ausschließt.

  

Die Erinnerung verblassen lassen

 

Dass Vorgänge wie in Pottenstein oder Coburg mittlerweile ohne größere Proteste zur Kenntnis genommen werden, hat mit der latenten Relativierung der Nazi-Verbrechen zu tun und mit einer sich im Laufe der Jahre verstärkenden Vernebelung des Blickes auf deren gesellschaftliche Ursachen.

 

Von jeher herrschte in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen, an gewissen Stammtischen und in manchem informellen Meinungsaustausch die Ansicht vor, nicht alles im Dritten Reich sei schlecht gewesen. Dazu kam, dass sich der eine oder andere an gewisse Vorteile und Vergünstigungen während der Nazi-Zeit erinnern konnte oder sie als Spätgeborener vom Hörensagen zu kennen glaubte. So ist es ein offenes Geheimnis, dass in strukturschwachen bayerischen Gegenden selbst die Einrichtung von KZs bzw. Außenlagern begrüßt wurde, profitierten die Einheimischen doch von der für die Wachmannschaften bereitgestellten medizinischen oder baulichen Infrastruktur (während die häufig kranken und unterernährten Häftlinge im Dreck dahinvegetieren mussten).

 

Von anderer Qualität hingegen ist der zunehmend offen geäußerte Überdruss, ständig mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Immer lauter wird der Schlussstrich unter deutsche Verantwortlichkeit und Sühne gefordert – meist ergänzt durch Empörung über die Undankbarkeit anderer Nationen, denen Deutschland angeblich eine Wohltat nach der anderen erweist. Nach Meinung gestandener Bürger hat unser Land die Schuld an Krieg, Massenmord und Verfolgung nun langsam ausgesessen. Mit anderen Worten: Wen interessiert noch der (blutige) Schnee von gestern?

 

Die mangelhafte Aufarbeitung deutscher Vergangenheit und die weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber einstiger Bestialität verhindern die Erkenntnis, dass gewisse Strukturen unserer bürgerlichen Gesellschaft gar nicht so verschieden von denen in Weimarer Republik sind, dass mithin die zur Ideologie stilisierte Verachtung andersdenkender und anderssprachiger Menschen auch in der Gegenwart noch Nährboden findet. Zwar ist keine nationalsozialistische Machtübernahme in der Bundesrepublik zu befürchten, aber Politiker und Verantwortliche lassen sich von den Orbáns und den Anhängern von Pegida oder AFD, deren fremdenfeindliches Gedankengut faschistische Elemente aufweist, beispielsweise bei der Durchsetzung des Asylrechts vor sich her treiben.

 

Es beginnt scheinbar harmlos: Erst ehrt man die Protagonisten von damals, dann werden deren Parolen der braunen Xenophobie wieder gesellschaftsfähig – nur dass diesmal nicht die Gefahr aus dem Osten droht, sondern von heimatlosen Flüchtlingsfamilien ausgeht, die ihre Kultur in unser Vaterland (dessen Täterschaft einst wie auch heute nicht mehr gern diskutiert wird) einschleppen…

 

12/2015

 

Dazu auch in derselben Rubrik:

Coburger Schande

Professor Persil

 

 


Das sagt man nicht!

 

Dass in der Politik nicht Inhalte, sondern ökonomische Partikularinteressen zählen, dass die meisten Abgeordneten oder Minister nicht ihren Wählern, nicht gesellschaftlicher Vernunft und schon gar nicht ihrem Gewissen verpflichtet sind, sondern ihren Sponsoren aus der Finanz- und  Wirtschaftselite, allenfalls noch dem eigenen Machttrieb, weiß jeder, der unsere bürgerliche Demokratie ohne Wohlfühl-Filter betrachtet. Mit Hilfe welch kreativer (böse Zungen behaupten perfider) Wortschöpfungen aber seit einiger Zeit in öffentlichen Erklärungen verharmlost, geschönt, gelogen oder ins Gegenteil verkehrt wird, verblüfft selbst abgebrühte Journalisten; und so nehmen die Medien die politische Kunstsprache weitgehend kritiklos in ihr Repertoire auf.


Die Bundeskanzlerin und ihre sozialdemokratischen Koalitionspartner wollten sich nicht von Horst Seehofer, dem lame lion des bayerischen Staatsopportunismus, vor sich her treiben lassen. Sie lehnten Obergrenzen für die Aufnahme von Immigranten aus Krisengebieten ab. Zu Recht, denn gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und dem deutschen Grundgesetz muss jeder Immigrant, der aus triftigen Gründen hierzulande Asyl beantragt, Asyl, also Schutz vor Verfolgung und Gefahr für Leib und Leben, erhalten, ganz egal, wie viele vor ihm schon eingereist sind. Weil aber Angela Merkel und ihr Vize Gabriel keinen Plan hatten, wie man mit den Menschen aus den failed states dieser Welt umgeht, weil sie den Unmut der Stammtisch-Massen, die Fremdenangst der Spießbürger und die rechtsradikalen Ränder der eigenen Parteien fürchteten, beschlossen sie de facto Mengenbeschränkungen zu propagieren, diese aber, um den Rest ihres Gesichts zu wahren, ganz anders zu nennen. Und schon prescht der flinkeste Wendehals der SPD, Fraktionschef Oppermann, vor die Mikrofone und verkündet, mit Kontingenten könne man leben.

 

Nun beinhaltet – genau besehen – der Terminus Kontingent noch ganz andere Grausamkeiten als die inkriminierte Bezeichnung Obergrenze. Während letztere nämlich nur eine Zahl fixiert, die nicht überstiegen werden darf, kann das Kontingent neben der mengenmäßigen Begrenzung auch noch eine qualitative Auslese implizieren, eine Art soziale Triage also, durch die syrische Ingenieure nach Deutschland geholt werden können, somalische Kleinbauern, deren Existenz und Familie ebenso gefährdet sind, aber draußen bleiben müssen. Dass hier die Vielfalt der Sprache für Verharmlosung und Betrug genutzt wird, interessiert diese Regierung nicht, solange sie aus Image-Gründen das böse O-Wort vermeiden kann.

 

Herz und Seele sind die Koalitionspartner, was die Einrichtung von Abschiebelagern für Personen betrifft, bei denen großzügig auf die zwingend vorgesehene Einzelfallprüfung verzichtet wird, weil sie aus „sicheren Herkunftsländern“ zu uns kommen, also etwa aus mafiös regierten Balkanrepubliken oder den Hungerstaaten der Sahelzone. Zur Beruhigung zart besaiteter Sozialdemokraten wurde allerdings der Schmusebegriff Ankunfts- und Rückführungszentren für die asylrechtswidrigen Ex-und-Hopp-Camps kreiert. Und da mittlerweile fast die ganze Welt zum sicheren Herkunftsgebiet erklärt wird, wie sich am Beispiel Afghanistan zeigt, wird man künftig weniger prüfen müssen, aber schneller abtransportieren dürfen.

 

Gerade in Afghanistan sowie in anderen Mittel- und Nahoststaaten läuft die Wortschöpfungsmaschinerie der NATO auf Hochtouren: Wenn bei Bombardierungen und Drohnenangriffen unbeteiligte Zivilisten zerfetzt oder verstümmelt werden, wenn die Luftwaffe aus Trauungsfeiern Bluthochzeiten macht und arme Dörfler, die sich ein wenig Benzin holen wollen, massakriert, spricht man nicht mehr von Kriegsverbrechen, sondern von Kollateralschäden. Und schon klingt alles nicht mehr ganz so schlimm; wenn die heimische Feuerwehr mit dem Schlauch auf die Flammen zielt, geht schließlich auch immer einiges daneben.

 

Umgekehrt hat das eigentlich positiv besetzte Wort Reform seit Gerhard Schröders anti-sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik eine gegenteilige, negative, Bedeutung gewonnen. Die „rotgrüne“ Regierung leitete eine nachhaltige Umverteilung von unten nach oben ein, indem sie u. a. die Vermögenssteuer abschaffte, gleichzeitig die Arbeitslosenhilfe strich und mit der Heraufsetzung des Bezugsalters auf 67 Jahre eine verkappte Rentenkürzung beschloss. Den kriselnden Südstaaten Griechenland, Spanien und Portugal verordnete später das in der EU maßgebliche Berliner Duo Merkel/Schäuble noch rigidere Reformen: Die einst funktionierenden Gesundheitssysteme werden scheibchenweise an private Investoren verscherbelt und damit für sozial Schwache unzugänglich, das Arbeitsrecht wird im Sinne der Unternehmer kastriert, Reallöhne und Renten sinken, und die hasardierenden Banken müssen auf Kosten der sozialen Infrastruktur via Rückzahlung fiktiver (nie in den Ländern angekommener Kredite) vorrangig befriedigt werden.

 

Eine Sozialpolitik, die über viele Jahrzehnte erkämpfte Errungenschaften und Rechte im Namen des Neoliberalismus streicht und in die schrankenlose Ausbeutung des Frühkapitalismus, der nicht einmal für die ausreichende Reproduktion der Lohnabhängigen sorgte, zurück führt, hat, volkswirtschaftlich und historisch gesehen, nichts mit Reformen zu tun, man kann - ganz im Gegenteil - von Restauration sprechen.

         

Natürlich tut vor allem die SPD, die im Gegensatz zur volksmundigen klassischen Rechten populäre Ressentiments eher durch die Blume bedient, gut daran, besänftigende Poesie in die Umschreibung ihrer Ziele einfließen zu lassen, zeigt doch die Geschichte, wie sehr man sich durch ein offenes Wort kompromittieren kann: Fragt man Historiker oder Publizisten, wann schon vor den Nazis das Wort Konzentrationslager im offiziellen Sprachgebrauch zu finden war, werden die meisten auf die von der britischen Kolonialarmee im südafrikanischen Burenkrieg eingerichteten concentration camps verweisen. Weniger bekannt in der politischen Öffentlichkeit dürfte sein, dass bereits das deutsche Kaiserreich 1915 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in so genannte Konzentrationslager sperrte. Diesen Namen griff 1920 der preußische Innenminister Wolfgang Heine explizit wieder auf – ein Sozialdemokrat von derart reaktionärer Ausprägung, dass selbst die rechtsradikalen Kapp-Putschisten erwogen, ihm einen Regierungsposten anzubieten. Bei Ingolstadt und Cottbus ließ Heine Juden, die vor Pogromen in Osteuropa ausgerechnet nach Deutschland geflohen waren, in solchen Transitzonen zwecks zeitnaher Abschiebung internieren…

 

11/2015

 

 

 

 

 Fürsorgliche Zensur

Rechtes Denken will gelernt sein!


Eine Zensur findet nicht statt. In anderen (feindlichen) Ländern vielleicht, aber doch nicht in Deutschland! Weit gefehlt: Dass sich die Lobbyisten des wirtschaftlich-militärischen Komplexes längst nicht mehr damit begnügen, ihre Sicht der Dinge mit konventionellen Methoden unters Volk zu bringen, sondern gezielt und aufwendig steuern, welche Inhalte auf welche Weise vermittelt werden sollen, und dabei von der Politik und den Medien (erfolgreich) Verbote alternativer Denkansätze einfordern, wird durch zwei besonders eklatante Beispiele deutlich.

 

Wirtschaftsfrommes Lehren

 

In Schulen und an Universitäten herrsche weitgehend Sprach- und Ahnungslosigkeit hinsichtlich der ökonomischen Leitsätze, Handlungsweisen und deren Voraussetzungen, beklagen die Vordenker der deutschen Wirtschaft. Also haben die Interessengemeinschaften der Industrie und der Banken zur Selbsthilfe gegriffen und überschütten angehende Lehrer wie Dozenten mit Informationsmaterial, das die rechte Sichtweise auf neoliberale Wirtschaftspolitik bedenkenlos bewirbt und diese als „alternativlos“ darstellt. In den Schulmaterialien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), bei der der Terminus sozial versehentlich in den Namen gerutscht zu sein scheint, etwa heißt es unverblümt: „In der Realität hat der Mindestlohn nur eine Folge: dass noch mehr Menschen arbeitslos werden.“

 

Baden-Württemberg, das Musterländle des grünen Rechtsaußens Winfried Kretschmann, führt in vorauseilendem Gehorsam nächstes Jahr das Pflichtfach „Wirtschaft“ an allen allgemeinbildenden Schulen ein. Das rot-grüne (?) Kultusministerium kann dabei auf Unterrichtsmaterial der Initiative Wirtschaft Verstehen Lernen der Holtzbrinck-Stiftung zurückgreifen, die übrigens gleich auch noch eine Honorarprofessur an der Uni Tübingen alimentiert, auf dass auch ja Rechtes gelehrt werde. In den NachDenkSeiten kommentierte Jens Berger solche Entwicklungen sarkastisch (oder einfach nur realistisch): „Die Wirtschaftslobbyisten haben zum Kampf um die Deutungshoheit in den Köpfen unserer Kinder geblasen.“

 

Nun ist es ja per se völlig richtig, Verständnis für ökonomische Zusammenhänge zu wecken. Allerdings geht dies nicht durch die Romantisierung von Unternehmern zu stets verantwortungsvollen Patriarchen, von Banken zu sicheren Maxi-Sparschweinen und von Börsen zu unverzichtbaren Glücksspielpalästen, aus denen jeder als Gewinner nach Hause geht. Das muss sich auch die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Bonn gedacht haben, als sie den 356 Seiten starken Band „Ökonomie und Gesellschaft“ herausgab. Zum Inhalt heißt es: „Kritisch hinterfragt wird, ob und inwieweit die inzwischen hochspezialisierten Wissenschaften die sozialen Hintergründe der ökonomischen Entwicklung adäquat zu erklären und sogar zu prognostizieren vermögen.“ Zwölf Unterrichtsbausteine sollen Lehrkräfte dabei unterstützen, „eine ganzheitliche Perspektive auf wirtschaftspolitische Probleme und auf ökonomisch geprägte Lebenssituationen zu eröffnen“.

 

BDA befiehlt, Ministerium kuscht

 

Endlich stehen also einmal umfangreiche kritische Materialien jenseits lobby- und börsentauglicher Spiel-, Monetarismus-, oder Shareholder-Value-Theorien, die das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital, zwischen einer Wirtschaftspolitik und ihrer sozialen Wirkung ausloten wollen, zur Verfügung von Pädagogen, die BWL und VWL nicht als theoretisches Rüstzeug für künftige Aktienbroker, Investment-Banker oder DAX-Manager betrachten. Möchte man das Kompendium nun bei der bpb, einer dem Bundesinnenministerium nachgeordneten Behörde, bestellen, findet man auf deren Website den lapidaren Hinweis vergriffen. Kaum freut man sich darüber, dass Lehrer und Dozenten regen Gebrauch von unorthodoxen und differenzierten Inhalten zu machen scheinen, muss man sich von Spiegel Online aufklären lassen, dass der Vertrieb des Buches vom Ministerium gestoppt wurde. Wie nun, haben eifrige Beamte des multiplen Versagers Thomas de Maizière den Text gelesen und für zu seicht oder tendenziös befunden? Mitnichten, rein bildlich gesprochen, hat der Hund nur mal wieder die Stimme seines Herren gehört.

 

Zwar behauptet ein Ministeriumssprecher, das Ressort komme damit seiner Rolle als Fachaufsicht nach, doch kann er so nicht erklären, warum ausgerechnet die fachlichen Experten, nämlich der wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale und die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, die faktische Zensur rigoros ablehnen. Was offiziell verharmlost wird, ist die entscheidende Intervention durch den Bundesverband Deutscher Arbeitgeber (BDA). Dessen Hauptgeschäftsführer Peter Clever hatte nämlich einen Brief an das Ministerium geschrieben, in dem er bemängelte, dass die deutschen Unternehmer nicht angemessen wegen ihres Engagements gewürdigt würden. Weiter nannte er es „skandalös und nicht hinnehmbar“, dass die Bundeszentrale ein Buch empfehle, das „ideologische und voreingenommene Anschuldigungen“ transportiert, und deklarierte den Befehl als Bitte, „den Band in dieser Form nicht weiter zu vertreiben“.

 

Gesagt, getan. Die bpb, zu deren satzungsgemäßen Aufgaben es gehört, „Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern…und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken“, gaukelt Interessenten nun gehorsam vor, das Buch sei aus, vergriffen, nicht mehr vorhanden. So einfach geht es: die Sachverhalte erst einmal durch einen Filter laufen lassen, der die Substanz zurückhält, und nur die Braven, die Karrieristen und Angepassten, die nichts Hintergründiges wissen wollen, zur Mitarbeit animieren. Vorausgesetzt, man sitzt im Cockpit und lässt die ministeriellen Flugbegleiter springen.

           

Krieg muss wieder attraktiv werden

 

Was dem BDA recht ist, muss der NATO billig sein. Auch sie stört sich an kritischen Medienäußerungen zu ihren Interventionen und macht in der deutschen Bevölkerung eine gefährliche friedenswillige Stimmung aus. Um die globale Durchsetzung von Freiheit und Demokratie mit etwas brutalen Mitteln ideologisch vorzubereiten und defätistischen Kriegsgegnern mit Propaganda, Pardon: Argumenten, begegnen zu können, veranstaltet das in Kalkar beheimatete Joint Air Power Competence Centre (JAPCC) Ende November eine dreitägige Konferenz mit dem sinnträchtigen Titel „Luftkriegsführung und strategische Kommunikation“ in Essen.

 

Zu den Referenten der Tagung zählen nach Informationen des die bundesdeutsche Außenpolitik kritisch beobachtenden Web-Dienstes German-Foreign-Policy der Militärhistoriker Philipp Fraund von der Uni Konstanz und der ARD-Hauptstadtkorrespondent Christian Thiels. Wissenschaft und öffentlich-rechtlicher Journalismus dienen also Hand in Hand der Interventions-PR. Denn es gilt in Essen vor allem, die Akzeptanz von Luftschlägen in Krisengebieten zu steigern. Letztere seien zwar wichtig für den „strategischen Erfolg“, zögen aber immer wieder massive öffentliche Kritik wegen der von Aufständischen und „radikalen Gruppen“ lancierten Berichte über zivile Opfer und Kollateralschäden nach sich.

 

Ziel der JAPCC-Konferenz ist es, „Informationsstrategien“ zu entwickeln, mittels derer die Luftkriegsführung der NATO als völkerrechtlich korrekt und „human“ charakterisiert werden könne. Die Zerstörung der Klinik im afghanischen Kunduz durch US-Kampfflugzeuge, der ungehemmte Drohnenkrieg, der allein im vorletzten Jahr 1188 Opfer, darunter 41 Terroristen (Anteil der Kollateralschäden: 96,5 Prozent), forderte, die Bombardierungen von Hochzeitgesellschaften, der Einsatz von Streubomben – all das soll künftig in eine derart milde Form der Berichterstattung gegossen werden, dass es die Bevölkerung als „anständige“ Kriegsführung versteht und Kritik daran als radikale Spinnerei abtut. Denn Fakt ist nur, was der Allianz nützt, alles andere ist krude Propaganda, wie das JAPCC apodiktisch feststellt: „Wann immer die NATO Gewalt anwendet, sind die Deutschen weit empfänglicher für anti-militaristische Desinformationskampagnen als alle anderen NATO-Staaten.“

        

Das Schweigen der Schafe

 

Ob die Deutschen gegenüber dem expansiven Militarismus weiterhin unempfänglich bleiben, ob sie endlich die wirtschaftlich-politischen Verflechtungen mit ihren sozialen Weiterungen zu verstehen lernen, ist höchst fraglich. Zu raffiniert kommen einerseits Manipulation und Lobbyismus in den Medien mittlerweile daher, zu einseitig sind zum anderen das Vorwissen, zu skrupellos die Absichten der meinungsbildenden „Eliten“. Den meisten Volontären, Jung-Redakteuren und Öffentlichkeitsarbeitern fehlen die Geschichtskenntnisse, die Diskursbereitschaft und die kritische Reflexion der eigenen Position, um andere als systemimmanente Ware abliefern zu können, während sich die alten Hasen im berufstypischen Zynismus üben. Das Traurige daran ist, dass Leser, TV-Zuschauer oder Net-User sehr wohl ein vages Unbehagen angesichts des Nachrichten-Mainstreams verspüren, sich aber nicht dazu in der Lage sehen, die Ungereimtheiten zu analysieren und punktgenau zu benennen.

 

Dass kaum jemand mehr die wirtschaftliche Machtkonzentration, die Kurzzeit-Wahrheiten der Politik oder das abgestimmt aggressive Vorgehen von NATO und Rüstungskonzernen hinterfragt, ist das Verdienst einer Medienmaschinerie, die durch taktische Gewichtung oder Zurückhaltung von Fakten ein nebulöses Meinungsbild in den Köpfen der Konsumenten erzeugt, das eher von Sympathien, Antipathien und Vorurteilen als von logischem Denken genährt wird. Und dieses System verdummt oder verroht auch die eigenen Dienstleister: Welchem Wirtschaftsjournalisten, der launige Sottisen zum Geschehen an der Frankfurter Börse oder zum griechischen Spardiktat von sich gibt, ist noch bewusst, dass hinter seiner impressionistischen Skizze der Arbeitsplatzverlust oder die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung von Abertausenden stehen können? Und sollte er doch einmal darüber ins Grübeln geraten, genügt ein Blick auf seinen Audi Quattro und sein schniekes Häuschen, um ihn in seiner Konformität zu bestärken.

 

Natürlich ahnen viele Bürger, dass in den Medien getrickst wird, gehen aber von einer gewissen Unumgänglichkeit und Eleganz aus. Holzschnittartig ist sicherlich Putins Propaganda, etwa im Ukraine-Konflikt; westliche Meinungsmache hingegen tarnt sich normalerweise geschickter mit Schein-Objektivität, gesundem Menschenverstand (kalter Krieger) oder scheinheiligen Appellen an Gewissen und Moral. Umso überraschender ist daher das brachiale Vorgehen unserer Meinungslenker in den zitierten Fällen: Nicht über die Opfer der NATO-Strategie und die künftige Vermeidung von Kollateralschäden wird nachgedacht, sondern darüber, wie sich Mord in der Öffentlichkeit als „human“ verkaufen lässt. Dass Schüler Grundlegendes über die Zusammenhänge zwischen Kapital, Arbeit und sozialer Zugehörigkeit erfahren, wird verhindert, indem man einfach ein Buch aus dem Verkehr ziehen lässt.

 

Dem Artikel 5 des Grundgesetzes muss leider widersprochen werden: Eine Zensur findet doch statt - aber nur aus Fürsorglichkeit, um unseren gesellschaftlichen Status quo nicht zu beschädigen.


11/2015


Dazu auch:

Pressefreiheit??? im Archiv dieser Rubrik      

 


 

 

Die Ratte im Sack

 

An die 250.000 Menschen demonstrierten am 9. Oktober in Berlin gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Dass die größte Kundgebung in diesem Land seit Jahrzehnten in den TV-Nachrichten nach hinten und in den meisten Zeitungen auf die Seiten 4 bis 8 gerückt wurde, war nicht nur anderen brisanten Themen wie dem Terror-Anschlag in der Türkei oder der Flüchtlingskrise geschuldet – die wirtschaftsfreundlichen Medien mussten erst einmal Munition zum Gegenschlag sammeln. Das Rollback überraschte dann aber mit abenteuerlichen Thesen: Die Demonstranten repräsentierten bräunlich gefärbten Nationalismus, zudem hätten sie keine Ahnung von den TTIP-Inhalten. Aus gewissen Gründen mag detailliertes Wissen über diesen speziellen Vertrag fehlen, dafür aber haben seine Gegner die Lehren aus bi-, tri- oder multilateralen Freihandelsabkommen der Vergangenheit nicht vergessen. Im Gegensatz zu den blauäugigen Befürwortern!

 

Wirre Diffamierung

 

Während also die einen Redaktionen schwiegen und abwiegelten, ließen die anderen ihre wirtschaftsliberalen Journalisten zwecks pauschaler Diffamierung der TTIP-Gegner von der Kette. Ohne jede Beißhemmung warf so Welt online linke Demonstranten mit Neonazis und Pegida-Anhängern in einen Topf, nur weil sich unter einer Viertelmillion Menschen einige braune Dumpfbacken befunden hatten. Den Vogel aber schoss Alexander Neubacher auf Spiegel online ab, der, ein wenig an die plakativ-hammerartige Bild-Diktion gemahnend, behauptete: „Die Proteste gegen das Freihandelsabkommen TTIP bedienen sich vor allem rechtspopulistischer Ressentiments. Wer da mitmarschiert, findet offenbar nichts daran, sich gedanklich bei Pegida-Bachmann, Marie Le Pen und Donald Trump unterzuhaken.“

 

Das ging selbst dem linker Sympathien unverdächtigen Magazin für das gehobenen Bürgertum, Cicero, zu weit ins reaktionäre Abseits: „Fakt ist: Die Veranstalter distanzierten sich eindeutig und sogar auf der Bühne von US-Feinden, der AfD und rechten Gruppierungen.“

 

Spiegel-Neubacher, immerhin Schreiber in einem Magazin, das völkisch angehauchte Edelfedern wie Jan Fleischhauer und Großdichter Botho Strauß die Überfremdungsgefahr durch Immigranten beschwören ließ, verwechselte munter weiter lechts mit rinks: „Die dümmsten Parolen auf den Anti-TTIP-Plakaten bedienen genau jene Ressentiments, mit denen in rechten Kreisen schon immer gegen die Hochfinanzdie Konzerne und das Kapital gehetzt wurde.“ Und ich hatte immer angenommen, die ganz rechten Kreise seien gerade mit Hilfe der genannten Instittutionen einst in diesem Land an die Macht gekommen...

 

Spiegel-Stuss beiseite: Den TTIP-Gegnern geht es darum, die Reste bürgerlicher Verfassungen, sozialer Kompromisse, ökologischer Nachhaltigkeit und individueller Einflussmöglichkeiten vor dem absoluten Zugriff der Wirtschaftsmonopole zu bewahren. Wenn beim Kampf gegen die perfektionierte Anonymisierung von Macht und Herrschaft mal ein Rechter dazwischen kräht, wird der Denkansatz trotzdem nicht falsch. Ich möchte wetten, dass unter den Menschen, die den Flüchtlingen derzeit die Unterstützung zukommen lassen, die unser Staat nicht leistet, überdurchschnittlich viele TTIP-Gegner, die meisten davon Linke, sind.

 

Was kann man über TTIP wissen?

 

Ernster zu nehmen, sind Vorwürfe, wie sie unterschwellig etwa im Nachrichtenradio Bayern 5 anklangen, die meisten Demonstranten gegen das Freihandelsdiktat seien über die Inhalte der Verhandlungen gar nicht richtig informiert. Zunächst sei allerdings der Umkehrschluss gestattet: Ist es nicht so, dass die meisten Befürworter mindestens ebenso wenig über die Haken und Ösen der Vereinbarung wissen?

 

Denn es ist gar nicht so leicht, sich ein umfassendes Bild über das Sujet zu machen, auch für die nicht, die darüber abstimmen müssen. Als die Grüne Britta Haßelmann monierte, dass die „konsolidierten“ (also nicht mehr strittigen) Texte der US-Verhandlungsdelegation zwar in der Botschaft Washingtons auslägen, jedoch nur für 139 Mitarbeiter von Bundesbehörden, nicht aber für die Berliner Parlamentarier, schritt der Ältestenrat des Bundestages ein und erreichte, dass auch ein stinknormales MdB die heiligen Hallen betreten, unter Aufsicht Einsicht nehmen, aber nichts kopieren durfte.

 

Auf Druck der NGOs hatten sich die EU-Kommission und die USA dazu bereit erklärt, einen Teil (!) der Verhandlungstexte einem ausgewählten (!) Kreis von Personen zugänglich zu machen. Dabei ging es aber nur (!) um die Positionen der EU-Unterhändler. Als die dann auf einem internen Server des Bundestags eingesehen werden konnten und durch einen verantwortungsvollen Whistleblower an die Öffentlichkeit weitergereicht wurden, stoppte die zuständige EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström sofort den Server-Service. Was hat man angesichts der Tatsache, dass ohnehin nur inkompatible Puzzle-Bausteine portionsweise ans Licht kommen, eigentlich zu verbergen? Obskurer kann es bei den Initiationsriten der Mafia auch nicht zugehen.

 

Frau Malmström signalisierte übrigens auch listig, man habe die Proteste verstanden und werde auf sie eingehen, so seien ja auch die krudesten Folterwerkzeuge der Konzerne, die anonymen Schiedsgerichte beim Investitionsschutz, in ihrer rigidesten Form vom Tisch. Ein billiges Zugeständnis angesichts der Tatsache, dass diese Erpressungspotentiale aber weiterhin im Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada stehen. Und jedes US-Unternehmen von Rang verfügt über eine Niederlassung jenseits der Großen Seen, von der aus es nach Herzenslust gegen europäische Gesetze, Vorschriften und Schutzbestimmungen klagen kann.

 

Es macht wenig Sinn, auf mehr Transparenz bei den Verhandlungen und günstigere Kompromisse bei den Abschlüssen zu dringen. Man wird stets nur harmlose Details in vorsichtiger Dosierung erfahren und am Ende den Finten der Profiteure erliegen. Daher sind die gesamten Vereinbarungen TTIP, CETA und TiSA kategorisch abzulehnen. Die Geschichte der supranationalen Handelsverträge kennt keinen Fall, bei dem nicht der schwächere Partner übervorteilt und Menschenrecht gebrochen worden wäre.   

 

Was man über Freihandel wissen muss

 

Bereits die ersten Wege des modernen Freihandels im 19. Jahrhundert waren mit Leichen gepflastert und von Entwurzelten gesäumt. Als in Irland die Kartoffelfäule grassierte und das Grundnahrungsmittel der Bevölkerung vernichtete, vereinbarte Großbritannien schrankenlosen Handel mit dem Kontinent, führte dessen billigeres Getreide ein, verurteilte damit die Kornbauern, Pächter und Tagelöhner auf der grünen Insel zu bitterster Armut und stieß sie ins Heer der Verhungernden. In südamerikanischen Ländern wie Argentinien verhinderte das Empire auf ähnliche Weise dank seines Produktions-und Handelsmonopols den Aufbau einer konkurrenzfähigen Industrie.

 

Die Freihandelsunion zwischen den USA, Mexiko und Kanada (NAFTA) ist eine einzige Erfolgsgeschichte - für die Yankee-Konzerne. Wenn der Partner im Süden die Verklappung von US-Giftmüll in seinen Naturschutzgebieten per Gesetz verbot, klagten sie ebenso vor den ominösen Schiedsgerichten,  wie sie gegen den Partner im Norden vorgingen, weil dessen Umweltvorschriften den Prospektoren aus Texas das Fracking untersagten. Positive Effekte für die Arbeitsmärkte der drei Länder? Weitgehend Fehlanzeige.

 

Natürlich würde auch eine Reihe europäischer Unternehmen von TTIP profitieren, wissen doch längst auch sie, wie es schön schmutzig geht. Sie hatten ja Zeit, in Afrika zu üben. So zwang die EU westafrikanische Staaten zu Freihandelsverträgen, durch die Fischer, Kleinbauern und Geflügelzüchter ihre Lebensgrundlage verloren. In Ostafrika wurde vor allem das widerspenstige Kenia dazu genötigt, minderwertige europäische Waren weitgehend zollfrei ins Land zu lassen, sonst wären die Importe in die EU mit 30 Prozent Strafmaut belegt worden. Manche Opfer solcher Politik sehen sich mittlerweile in deutschen Zeltlagern vom NPD- und Pegida-Gesindel belagert.

 

Wer also Wirtschaftsverträge, bei denen zwingend ein großer (meist der größere) Teil der von den Folgen Betroffenen benachteiligt und entmündigt wird, ablehnt, muss gegen Freihandelsabkommen in der bisherigen Form sein; in jedem Fall aber gegen TTIP und Konsorten, weil hier die Ohnmacht öffentlicher Kontrolle und Mitbestimmung in alle Ewigkeit festgeschrieben werden soll.

 

Geheim läuft es besser für die Lobby

 

Ein prächtiges Verhältnis zur Öffentlichkeit und zur Mündigkeit der in die Parlamente gewählten Volksvertreter offenbaren derzeit die verantwortlichen Politiker/innen in Ausübung ihrer servilen Dienstleistungen für die internationalen Konzerne. Wenn sie sich jemandem verpflichtet fühlen, dann jedenfalls nicht dem Stimmvieh.

 

Die schwedische Handelskommissarin Cecilia Malmström, die von Verständnis für die TTIP-Zweifler säuselte und Besserung in Sachen Transparenz gelobte, erklärte gegenüber einem Journalisten des britischen Independent, der sie auf die Europäische Bürgerinitiative mit mehr als 3 Millionen Unterschriften gegen das Abkommen sowie auf die Berliner Demonstration ansprach, knallhart: „I do not take my mandate from the European people.“

 

Angela Merkel wiederum verteidigte bereits voriges Jahr das Vertuschungsgebot bei den TTIP-Verhandlungen mit Nonchalance (oder Chuzpe). Es könnten „ nicht alle Strategien und Taktiken im Vorfeld veröffentlichte“ werden. „Wenn ich alles sofort auf den Tisch lege, dann kriegt man meistens nicht das beste Verhandlungsergebnis.“ Irgendwie klingt das nach Beuteteilung im kriminellen Milieu.

 

Statt mit Offenheit versucht es die Bundesregierung mit teuren Werbekampagnen für TTIP in der Presse. Der Sack mit der Katze, den man das Volk kaufen lässt, soll schön sein. Da es sich bei Katzen um bisweilen nützliche und liebenswerte Tiere handelt, könnte man sich auch vorstellen, dass sich Schädlicheres in der glänzenden Verpackung verbirgt.

 

10/2015

 

Dazu auch:

Die Erpressung im selben Archiv

Der TTIP-Flüsterer im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 

 


 

Tödliche Trickserei

 

Der Volkswagen-Konzern hat in den USA (und auch anderswo) Käufer betrogen und die Umweltbehörden getäuscht, Testwerte manipuliert und die Luft in unzulässigem Maße mit Dieselruß verschmutzt. Er muss deshalb mit milliardenschweren Strafen rechnen, und seinen in den Staaten tätigen Managern drohen u. U. sogar Haftstrafen. Kein Wunder, dass die Medien hierzulande voll der Hiobsbotschaften, den Absturz des VW-Aktienkurses und das schwindende Vertrauen in die Marke Made in Germany betreffend, sind. Weitgehend unerwähnt bleibt, dass soeben ein Verbrechen aufgedeckt wurde, durch das Gesundheitsschäden verursacht werden und sich die Lebenserwartung von Millionen Menschen verringern kann. 

  

Das Beben an der Börse

 

Weil die Abgassysteme des US-Jetta zu viel Sprit gebraucht hätten, um den zu kleinen Schadstoff-Filter bei normalem Straßenverkehr ausreichend zu reinigen, kamen die VW-Planer nicht etwa auf die naheliegende Idee, größere Filter einzubauen, was nach Ansicht niederländischer und deutscher Experten lediglich zwischen 77 und 100 Euro pro PKW mehr gekostet hätte, vielmehr beschlossen sie, die Ergebnisse der vorgeschriebenen Tests mit Hilfe einer Spezial-Software zu manipulieren. Was sich also bei der Probe als reinliches Diesel-Auto vorstellte, erwies sich später auf der Straße als Dreckschleuder.

 

Die Environment Protection  Agency (EPA) bemerkte den Schwindel und leitete die Strafverfolgung ein. So effektiv arbeiten die Behörden in Deutschland, dessen Regierung unter der „Klimaschutz-Kanzlerin“ Merkel ohnehin verschärfte Abgas-Normen in der EU blockiert, normalerweise  nicht, und wenn doch einmal, begnügt man sich mit Sühnezahlungen aus der Portokasse, während in den USA bis zu 18 Milliarden Dollar (die Forderungen einzelner Bundesstaaten und der gelinkten Käufer nicht eingerechnet) fällig werden können.

 

Wenige Tage nach der Ankündigung der US-Strafverfolgungsbehörden war VW, der Konzern, der damit geprahlt hatte, Toyota demnächst endgültig an der Weltspitze abzulösen, an den Börsen nur noch die Hälfte wert. Industrie- und Exportverbände fürchteten um den Ruf deutscher Wertarbeit und distanzierten sich von den Wolfsburgern, als habe sich die Zunft nicht schon durch die Bestechungsskandale von Siemens oder die Diktatoren-Liebesdienste von Daimler weltweit gründlich desavouiert.

 

In einer bewegenden Video-Botschaft erheischte VW-Chef Winterkorn Mitleid mit dem verstoßenen Konzern: „Es wäre falsch, wenn wegen der schlimmen Fehler einiger weniger die ehrliche Arbeit von 600.000 Menschen unter Generalverdacht gerät.“ Kurz danach erkannte Winterkorn, dass zu den fehlerbehafteten „einigen wenigen“ nicht nur untere Chargen vor Ort zählten, dass vielmehr auch er als Verantwortlicher sich nicht in der Masse der 600.000 Ehrlichen verstecken konnte. Folgerichtig trat er zurück.

     

Innovativer Betrug

 

Was bringt Manager, Ingenieure, Tüftler und Techniker dazu, ihr zweifellos vorhandenes innovatives Potential nicht zur Optimierung eines Produkts und damit potentiell für den gesamtgesellschaftlichen Nutzen, sondern zur Manipulation, zur Umgehung von Vorschriften und Gesetzen, die Gesundheit und Leben der späteren Nutzer schützen sollen, einzusetzen?

 

Es ist der ständige Druck zur Kosteneinsparung auf der einen und Gewinnmaximierung auf der anderen Seite, zur kurzfristigen Erhöhung der Marktanteile und des Börsenwertes, der Unternehmen zu mafiösen Konglomeraten und deren Verantwortliche zu Hasardeuren und Betrügern macht. Der inhumane, aber vergleichsweise gemütliche Kapitalismus, dem eine allmähliche, aber stetige Profit-Steigerung genügte, hat in Zeiten, da die „Einsparung“ von 1000 Arbeitsplätzen oder der kostengünstige Verzicht auf nachhaltige Sicherheitskomponenten den Aktienkurs von einem Tag auf den andern in die Höhe schnellen lässt, längst ausgedient. Virtuelle (und medial leicht zu hochzujubelnde)Expertisen, Prognosen und „Phantasien“ ersetzen die frühere (schwerer zu frisierende) Bestandsaufnahme der Produktionskapazität, des Warenwertes und der originären Nachfrage.

 

Nun verfügt jedoch das Land Niedersachsen über die Sperrminorität von 20,2 Prozent des Aktienbesitzes bei VW. Es hätten also Experten und Verantwortliche im öffentlichen Dienst die Aktivitäten ihres privaten Partner beobachten, überprüfen und notfalls stoppen können – wenn sie sich nicht nur auf dem zuletzt immer praller werdenden Anteilskissen ausruhen hätten wollen (was nun aber zum Aufwachen auf harter Bettstatt führen könnte). Der Staat, hier durch die Regierungen in Hannover vertreten, dient den Industrie-Oligarchien immer mehr als der Nachtwächter, der den Profit absichert, sich aber selbst in das unappetitliche Geschäft nicht einmischt oder es sogar fördert, wie es sich die Wirtschaftsliberalen immer schon gewünscht hatten.

 

Kein Wunder, dass nicht die zuständigen Behörden im bürokratisch ordentlich durchorganisierten Post-Preußen mit seinen dem schnellen Wirtschaftserfolg gegenüber devoten Politikern und Amtsdienern den Umweltverbrechen oder Bestechungen deutscher Konzerne auf die Schliche kamen, sondern akribische, im besten Sinne rücksichtslose Fahnder im anarchischen Wirrwarr der staatlichen US-Verwaltungskompetenzen.

 

Für VW kam die Aufdeckung der Schandtaten allerdings etwas zu früh. Sollte nämlich nächstes Jahr ein Republikaner die Präsidentschaftswahlen gewinnen, könnte es mit dem Investigationseifer der EPA vorerst vorbei sein. Den rechts-populistischen Lobbyisten der aggressiven Wirtschaftsmultis, vor allem der Energie-Unternehmen, gilt die Umweltschutzbehörde nämlich als Haupthemmnis für die Entfaltung der freien Markwirtschaft und das grenzenlose Geldverdienen.

         

Schwebstaub gegen das Altwerden

 

Dass es sich bei der Manipulation der Abgas-Tests nicht um die übliche Trickserei übermotivierter Produzenten und Verkäufer, den Kavaliersdelikt der freien Marktwirtschaft sozusagen, gehandelt hat, sondern um eine mit enormer krimineller Energie geplante und realisierte Täuschung, die perspektivisch das Leben von Verkehrsteilnehmern abzukürzen hilft, beweisen nüchterne Fakten.

 

Im Straßenverkehr nehmen Diesel-Fahrzeuge eine prominente Position als Umweltschädiger ein. Der von ihnen ausgestoßene Dieselruß, der zu den übelsten Abgas-Komponenten zählt, wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „definitiv krebserregend“ eingestuft und auf eine Stufe mit Asbest und Arsen gestellt. Je kleiner die Partikel sind, umso gefährlicher werden sie für den Menschen. Die WHO weist darauf hin, dass moderne Dieselmotoren derart winzige Teilchen emittieren, dass diese nicht mehr von der Nase ausgefiltert werden und sogar über die Haut in die Blutbahn bis ins Gehirn dringen können.

Diese Mikro-Zeitbomben werden zu den Feinstäuben gezählt, jener todbringenden Gruppe von Substanzen, deren Absenkung derzeit die EU unter Strafandrohung von deutschen Großstädten fordert. Was die Kommunen hierzulande bislang versäumen, hat wohl VW in den USA kaltblütig umgehen wollen: die Verbesserung der Luft- und damit der Lebensqualität. 

 

Eine Herde schwarzer Schafe

 

Die gesundheitlichen Spätfolgen des VW-Verbrechens interessieren die Medien allerdings weit weniger als die neuen Gesichter an der Konzernspitze, die eine neue Offenheit versprechen, weniger auch als die neuen Sanktionen, die den PKW-Absatz in verschiedenen Ländern stören, als die rasante Talfahrt des Aktienkurses und als ein Statement, das sich Alexander Dobrindt jetzt (!) zu Praktiken, auf die auch Experten hierzlande längst hingewiesen hatten, abringt. Das eigentliche Vergehen wird als lässlicher Unterschleif (ist ja schließlich nicht der erste), bei dem der Autobauer sich dummerweise hat erwischen lassen, eingeordnet, vergleichbar den Unterlassungen und Vertuschungen anderer deutscher KFZ-Hersteller und Industrieunternehmen.

 

Kurzzeitig wird Volkswagen das schwarze Schaf in der angeblich gediegenen deutschen Exportwirtschaft geben müssen, dabei findet man doch – unabhängig von Herkunft und Branche - auf der Weide der weltweit agierenden Markt-Monopolisten kaum noch ein weißes Lamm. Ob die Textil-Fabrikation in Länder mit den Standards von Sklavenhalter-Gesellschaften ausgelagert wird, ob Monsanto seine Kunden zur Verseuchung ihrer Felder mit krebserregenden Pflanzenschutzmitteln zwingt, ob Pharma-Konzerne in den Slums Lateinamerikas Durchfall-Hemmer, die Kleinkinder töten, verkaufen oder Heckler & Koch Kriege durch Waffenverkäufe anheizt – die Regierungen nehmen die menschenfeindlichen Aktivitäten ihrer übergeordneten Wirtschaftsinstanzen meist billigend in Kauf, manchmal in der (allerdings häufig vergeblichen) Hoffnung auf Steuereinnahmen und Arbeitsplätze, oft auch, weil sie den Sponsoren der sie bildenden Parteien Gegenleistungen bieten müssen oder weil sie gar keinen Einfluss mehr auf das Geschehen haben.

 

Versuchen Staaten doch einmal, die schlimmsten Exzesse der internationalen Konzerne zu stoppen oder wenigstens zu umschiffen, gleichen ihre Kontrollgremien der Titanic, die zahlreiche Spitzen von Eisbergen gewissenhaft ortet, aber dann an den unter der Oberfläche verborgenen Hauptmassiven zerschellt.

 

Und die meisten Medien kommen dem Investigationsgebot auch nur sporadisch nach. Wer außer der Wahrheitsfindungskommission in Brasilia hat sich eigentlich dafür interessiert, dass Volkswagen einst das Leben von Menschen sehr viel schneller als durch jahrelanges Krebs-Siechtum zur Disposition stellte? VW do Brasil denunzierte während der brasilianischen Militärdiktatur eigene Mitarbeiter bei den Behörden und stellte den Geheimdienstspezialisten auch noch ein Werksgebäude bei Sao Paulo als Folterzentrum zur Verfügung.

 

Das Land Niedersachsen schlief damals auf dem Ruhekissen seines Veto-Rechts, mit dem es alle wichtigen Konzernentscheidungen blockieren könnte, den tiefen Schlaf des Ignoranten. So wie es heute regungslos im selbstgewählten Koma liegt, wie die Herren aus Wolfsburg es befahlen.

 

09/2015

 

Dazu auch:

Service für Folterer im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund           

 

 

 

"Deutscher Sang" 

 

Unlängst mokierte sich der Spiegel über die Bemühungen eines Vereins, der Eidgenossenschaft per Volksabstimmung eine neue Nationalhymne zu bescheren. Den Text des „Schweizerpsalms“ kenne niemand, ohnehin kämen Metrik und Reim allzu holprig daher, was nicht von der Hand zu weisen ist, wie auch dieser kleiner Auszug belegt: „Wenn der Alpenfirn sich rötet/Betet, freie Schweizer, betet!“ Nun spotten viele gern über das von calvinistischer Bigotterie und habgierigem Biedersinn geprägte Image der knorrigen Helvetier, und oft nicht ohne Grund. Was allerdings die Hymne angeht, hätte der Spiegel besser vor der eigenen Haustür kehren sollen.

 

Man könnte gut und gern auf alle Hymnen dieser Welt verzichten, spornten sie doch in der Vergangenheit nur zu oft zu chauvinistischen Entgleisungen und Bluttaten an. Und Millionen von TV-Zuschauern langweilen sich bei jeder Fußball-WM oder Olympiasieger-Ehrung, wenn des Textes unkundige Sportler lautlose Lippenbewegungen zur hehren Weise machen. Den Deutschen aber blieb es vorbehalten, eine bis zur Lächerlichkeit schwülstige und realitätsfremde Hymne mit geklauter Melodie trotz ihrer hochgradig belasteten Vergangenheit zum nationalen Dauerbrenner zu machen.  

 

Die Verse hatte der bekennende Antisemit August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der nebenher auch noch Franzosen hasste und Dänen verachtete, 1841 auf der damals noch britischen Insel Helgoland verfasst. Die Musik stammte von dem österreichischen Komponisten Joseph Haydn, der 1797 ursprünglich den auch nicht eben urdemokratischen Wunsch „Gott erhalte Franz, den Kaiser!“ damit hatte untermalen wollen.

 

Dass nach dem Zweiten Weltkrieg viele Menschen in Europa und auch deutsche NS-Opfer beim Erklingen einer für Hitlers brutale Macht-Hybris instrumentalisierten Hymne zusammenzuckten, focht 1952 Bundeskanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss nicht an, als sie sich in einem offenen Brief auf die Wiedereinführung des schaurigen Liedchens verständigten. Die junge BRD beschritt den gleichen Sonderweg der Vergangenheitsbewältigung wie bei der Rekrutierung ausgewiesener Nazis für die Geheimdienste, das Auswärtige Amt oder die führenden Finanz- und Wirtschaftskreise.

 

Auf die erste Strophe musste man indes verzichten. Zu ambitioniert hatte Fallersleben die landsmännischen Grenzen gezogen und das Deutschtum heroisiert (was sicherlich Hitlers Großmachtphantasien befeuerte):


 

         Von der Maas bis an die Memel,

         Von der Etsch bis an den Belt –

         Deutschland, Deutschland über alles,

         Über alles in der Welt!

 

Da auch 1952 bereits die Maas im Westen nur noch durch Frankreich, Belgien und die Niederlande floss, die Memel russische, weißrussische und litauische Regionen durchquerte, der Belt als Meeresenge zwei dänische Inseln voneinander trennte und die Etsch durch Norditalien der Adria zueilte, war dieser Abschnitt von Adolfs Lieblingshit nicht mehr zu halten. Verboten, wie häufig kolportiert wird, ist die erste Strophe allerdings nicht. Als baden-württembergischer Kultusminister wies Gerhard Mayer-Vorfelder (später als rassistisch-sinistere Witzfigur an der Spitze des Deutschen Fußballbundes auffällig) die Lehrer im Ländle an, auch den ersten Teil der germanischen Imperial-Ode in den Klassen wieder singen zu lassen.

 

Auf der Suche nach einem unverfänglicheren Text schied die zweite Strophe wegen kaum zu unterbietender Trivialität aus. „Deutsche Frauen, deutsche Treue, /Deutscher Wein und deutscher Sang“ sollten (wohl des Reimes wegen) ihren „Klang“ behalten. Das war wohl selbst den deutschesten Bundesbrüdern zu dick aufgetragen. Oder es gemahnte sie in allzu frivoler Weise an das ordinär-süffige Lust-Trio Wein, Weib und Gesang.

 

Aber die Versteher der deutschen Seele mussten nicht weit in die Ferne schweifen, es gab ja noch eine dritte Strophe, und die machte man dann – alleinig – zur „neuen“ Landeshymne, in die ab dem 3. Oktober 1990 auch die Brüder und Schwestern aus dem Osten mit einstimmen durften. „Brüderlich mit Herz und Hand“ sollen nun alle nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ fürs Vaterland streben. Das Hirn blieb außen vor, so dass auch durch das geschlechtsneutrale geschwisterlich nicht mehr viel Esprit zu retten gewesen wäre. Da scheinen sich die Schweizer wesentlich mehr Mühe mit einem aktuellen National-Jingle zu geben.

  

Was aber beweist diese kleine Hymnen-Kunde? Die jüngere deutsche Geschichte ist immer auch eine Historie des kollektiven Vergessens, des nationalistischen Kitsches und eines sich Einrichtens in jenem gedankenfaulen Hier und Jetzt gewesen, dessen verklemmtes, geistfeindliches Milieu einst Franz-Josef Degenhardt treffend in „Deutscher Sonntag“ besang: „Dies ist die Zeit / Da frier ich vor Gemütlichkeit“.

 

06/2015      


 

 

Die Kindle-Falle

 

Dass wenigstens beim Lesen die Gedanken frei sind, ist eine Binsenweisheit, die allerdings künftig so nicht mehr gelten wird. Internet-Versandgigant Amazon will ein neues Geschäftsmodell für die von seinen E-Book-Töchtern Kindle Unlimited und KindleOLL vertriebenen Texte einführen: Die Autoren sollen nicht mehr pro  Buch pauschal honoriert werden, sondern nur noch für jede gelesene Seite. Dazu müssen die Kindle-Nutzer exakt kontrolliert werden – ein kleiner, aber besonders origineller Einstieg in die totale Überwachungsgesellschaft.

 

Der gläserne Leser

 

Dass Amazon Kunden und Interessenten genau beobachtet, deren Verhalten analysiert und – wo immer möglich – manipuliert, ist längst bekannt. Die differenzierte Auflistung und Auswertung genutzter Textstellen innerhalb eines literarischen oder publizistischen Werkes indes stellt eine neue Qualität der nachrichtentechnischen Vermessung und Einordnung ahnungsloser Kunden dar.

 

Konnte bisher nur die Neigung von Käufern oder Abonnenten nur grob in der Tendenz festgestellt werden, so lassen sich nun aufgrund der exakten Erfassung von aufgesuchten Seiten und Passagen (vermeintlich) valide Aussagen hinsichtlich der politischen Ausrichtung, der sexuellen Orientierung, der geistigen oder religiösen Präferenzen sowie des intellektuellen Hintergrunds des Lesers treffen und zu Schlagwörtern verdichten, die zunächst vom Anbieter selbst und später möglicherweise von der NSA oder hiesigen „Diensten“ durch ihre Algorithmen-Filter gejagt werden.

 

Doch nicht nur für den Amazon-Kunden ändern sich die Spielregeln, auch der Autor gerät unter Druck, wie der deutsche Schriftstellerverband VS moniert.

    

Der  getriebene Autor

 

Die langsame Entwicklung eines epischen Stoffes, einer Geschichte oder eines Romans, birgt die Gefahr, dass der Leser etliche Seiten überspringt oder das Buch weglegt. Was früher nur aus Gründen des künstlerischen Anspruchs ärgerlich war, kostet jetzt Geld und kann die Existenz bedrohen. Der VS bezeichnet diese Entwicklung als eine „Katastrophe für die Literaturlandschaft“. Die Gedankenfreiheit der Leser und Autoren werde „einem fortschreitenden rein ökonomisch orientierten Zugriff“ unterworfen.

 

In der Tat müsste ein Buchautor, der von seinem Metier leben will, jede Seite mit künstlicher Spannung aufpeppen, um den Leser auf die nächste zu locken. Überspitzt ausgedrückt: Der schnelle Mord ersetzt die sorgsam aufgebaute Atmosphäre, grelle Action eine differenzierte Handlung, eine Karikatur die nachhaltige Charakterisierung der beschriebenen Person.

 

Um einigermaßen seinen Lebensunterhalt zu verdienen(was ihm allerdings schon seinerzeit nicht gelang), müsste James Joyce gemäß neuer Textentlohnung seinen Ulysses-Helden Leopold Bloom in einem kurzen Kapitel statt einem langen Roman durch Dublin und zu Molly ins Bett hetzen. Im nächsten Abschnitt dann vielleicht durch Triest, Zürich oder eine andere Stadt und zu einer anderen Frau.

 

Übertragbarkeit des Modells

 

Die „klassischen“ Buchhändler setzen weiterhin auf das haptische Leseerlebnis und die Tatsache, dass der Mensch Gedrucktes konzentrierter rezipiert als Bildschirmtexte. Sie könnten sich nun versucht sehen, ebenfalls das Modell Kohle pro Seite einzuführen. Angesichts der Kunden-Handhabung der letzten Printausgaben des Duden oder der Brockhaus-Enzyklopädie, würden sie so nur noch ein Zehntel bis ein Hundertstel der bisherigen Preisanteile an die Verlage abführen müssen. „Aber wir können das ja nicht kontrollieren“, würden die Buchhändler einwenden. „Wir schon!“ tönt da Netz-Monopolist Amazon.

 

Eher denkbar wäre - dank beobachtbarer Fakten - die Implementierung der Geschäftsidee in der Politik, also einem Bereich, in dem hierzulande ohnehin nicht mehr viel kaputtzumachen ist. Ein Bundesminister wie Alexander Dobrindt etwa, der Hundertschaften von Beamten und Juristen folgenlos an einer fixen Maut-Idee tüfteln lässt und per Autobahn-Privatisierung große Teile künftiger Staatseinnahmen an Versicherungs- und Baukonzerne verschenkt, bekäme dann nicht nur kein Gehalt mehr, er müsste sogar noch Geld mitbringen…

 

08/2015


 


 

Nicht auf der Liste

 

Bisweilen geistern durch die Medien unkommentiert Nachrichten, deren Inhalte korrekt wiedergegeben werden, deren Bedeutung und Genese aber ziemlich abstrus sind. So konnte man unlängst allerorten lesen und hören, dass im Zuge der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Washington und Havanna die US-Administration Kuba von ihrer Liste der den Terror unterstützenden Staaten gestrichen habe.

 

Wie sich die Normalisierung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten für die Karibik-Insel auswirken wird, muss abgewartet werden. Ist einerseits die in einen Würgegriff ausartende Umarmung durch den US-Kommerz zu befürchten, bietet sich Kuba andererseits endlich die Chance, Agrarprodukte oder Medizintechnik in den potentiell relevantesten (aber bisher verschlossenen) Markt zu liefern. Nordamerikaner könnten die Insel als Gesundheitsoase für Operationen und Reha-Maßnahmen nutzen, die sie sich zu Hause nicht leisten könnten. Leidtragende werden die kanadischen Touristen sein, die sich demnächst die Strandplätze in Varadero mit den ungeliebten Yankees teilen müssen.

 

Um eine wichtige Vorbedingung für das Ende der Abriegelung Kubas zu erfüllen, strich US-Präsident Obama die Zuckerrohrinsel nach 33 Jahren von der Liste der Terror-Unterstützer. Bei dieser Tabelle handelt es sich um ein höchst kurioses und leider unvollständiges Dokument, wie ein kurzer Rückblick belegt: Die Kubaner haben sich in der Vergangenheit aktiv, auch militärisch, in Drittwelt-Konflikte eingemischt. Sie bauten das Gesundheitssystem Nicaraguas während des Kriegs gegen die Contras auf und stabilisieren derzeit dasjenige von Venezuela. Als 1975 Truppen des südafrikanischen Apartheid-Regimes in Angola einmarschierten, um im Einvernehmen mit den USA und in Allianz mit der Terror-Organisation UNITA die dortige Befreiungsfront MPLA zu vernichten, stoppten kubanische Streitkräfte den Vormarsch und halfen, die Invasoren aus dem Land zu werfen.

 

Sehen wir uns dagegen die Bilanz der Nation an, die Kuba so großmütig von der Terror-Liste strich: Schon Präsident Kennedy versuchte, den damaligen kubanischen Staatschef Fidel Castro unter Federführung der CIA und mit Unterstützung der Mafia ermorden zu lassen. Die US-Geheimdienste nahmen auch dankbar Gelder von der exilierten Rum-Familie Bacardi an, um Anschläge auf Touristenzentren der Insel zu inszenieren.

 

Die USA, die das bettelarme Laos ohne Kriegserklärung flächendeckend vermint hatten, organisierten den Sturz gewählter Regierungen in Guatemala, Argentinien oder Chile und gestatteten ihren Günstlingen dort blutige Massaker. Nebenher finanzierten sie noch die afghanischen Mujahedin sowie den pakistanischen Geheimdienst und standen so Pate bei der Geburt der Taliban. Auch an der Entstehung von Al-Qaida und des Islamischen Staates waren sie nicht ganz unbeteiligt, versorgten sie doch ihre finanzkräftigen Verbündeten Saudi-Arabien und Qatar mit Logistik und ließen ihnen freie Hand bei der Alimentierung islamistischer Fanatiker in allen Krisen dieser Weltregion.

 

Da sich die Medien hierzulande angewöhnt haben, die internationalen Konflikte strikt aus dem Blickwinkel der NATO und der USA zu betrachten, blieb all dies unerwähnt (oder wurde ganz im Sinne der jeweiligen Bundesregierungen rabulistisch umgedeutet).

 

Zum Glück hat sich die kubanische Regierung nicht der Mühe unterzogen, ihrerseits eine Aufstellung von Staaten, die den Terror unterstützen, zu erstellen. Sie täte sich jetzt nämlich schwer damit, die USA von dieser Liste zu streichen.

 

07/2015

 

Dazu auch

Terror auf Bestellung in der Rubrik Politik und Abgrund


 

         

 

 

Finstere Hellenen

 

Die Griechen haben abgestimmt, aber nicht so, wie unsere Regierung es ihnen befohlen hat. Sie wollten keine weitere Zerstörung ihrer sozialen wie kulturellen Strukturen und zogen sich so die Wut der Investment-Banker, der Ingenieure neoliberaler Wirtschaftslenkung und deren politischer Assistenten in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten zu. Besonders aber trifft die unbotmäßigen Hellenen nun der deutsche Volkszorn, von alters her ob seiner vernichtenden Wucht und irrationalen Stoßrichtung gefürchtet.

 

Von wegen „Väter der Demokratie“!

 

Im Folgenden soll nun nicht der drohende Grexit mit seinen möglichen Konsequenzen beleuchtet werden, sondern der hiesige mediale Umgang mit einem Volk, das sich gegen die von oben verordnete Verarmung wehrt. Denn der Ton, den manche Journalisten, aber auch Politiker anschlagen, gemahnt an germanische Hybris und Rassendünkel vergangen geglaubter Zeiten. Regelrecht gemäßigt klang da noch Finanzminister Schäuble, der im Vorfeld der Volksabstimmung der Athener Politik attestierte, sie sei „ohne Sinn und Verstand“. Regelrechte Breitseiten unter allen Wasser- und Gürtellinien aber feuerte die sogenannte Qualitätspresse ab.

 

Die Tsipras-Regierung sei „unverschämt“ und „frech“ (wohl den Berliner Zuchtmeistern gegenüber), kommentierte die FAZ, für den geifernden Universal-Dilettanten Jörges vom Stern handelte sie gar „pervers“. Im Handelsblatt wird Alexis Tsipras als „Teppichhändler“ beschimpft – obgleich sich doch ein Ex-Bundesminister wie Dirk Niebel in diesem Metier besser auszukennen schien. Den Vogel indes schoss die Welt ab, die ein für alle Mal mit dem Athener Mythos von der Wiege europäischer Demokratie und Kultur aufräumte: Bei den Nachfahren des historischen Hellas handele es sich „um eine Mischung aus Slawen, Byzantinern und Albanern“. Zwar brillierte unser vaterländisches Aushängeschild , die Fußball-Nationalmannschaft, immer schon mit einer Vielzahl polnisch klingender Namen und später mit schwarzen Verteidigern und türkisch-stämmigen Mittelfeldspielern, doch ist die sportliche Integration zu Siegeszwecken natürlich nicht vergleichbar mit dem griechischen Gemenge, dem offenbar nur noch Juden und Zigeuner zu einer richtig finsteren Mischpoke in der Definition der einstigen Rassenhygieniker fehlen. Einzelne verbale Entgleisungen von Mitgliedern der in die Enge getriebenen griechischen Regierung wirken demgegenüber wie hilflose Rüpelworte angesichts einer Kampagne des Völkischen Beobachters.

  

Nichts verloren, trotzdem wütend

 

Auch in der Talkshow des Beliebigkeits-Heroen Günther Jauch ging es unmittelbar nach dem „Nein“ der Griechen zu ihrer sozialen Strangulierung hoch her. Das Argument, dreieinhalb Millionen Hellenen hätten keinen Zugang zur Gesundheitsfürsorge mehr, konterte Unions-Fraktionsvize Ralph Brinkhaus souverän, wenn auch vielleicht ein klein wenig menschenverachtend: „Es gibt keine humanitäre Katastrophe. So etwas haben wir im Sudan.“ Elend fängt also erst in Afrika an, wo richtig gehungert und gestorben wird. Immerhin tritt auch dort die EU mit ihren Freihandelsdiktaten als Verursacher auf.

 

Der frühere Bild am Sonntag-Chefredakteur und Stoiber-Wahlkampfmanager Michael Spreng gab wie in altdeutscher Untergangssehnsucht den fatalistischen Propheten eines griechischen Armageddon: „Ein Volk hat das Recht, in Würde unterzugehen, wenn es das will.“

 

Fragte sich nur, wo in diesem Propaganda-Sumpf die CSU steckte. Von ganz tief unten meldete sich endlich ihr Generalsekretär Andreas Scheuer zu Wort: „Die linken Erpresser und Volksbelüger wie Tsipras können mit ihrer schmutzigen Tour nicht durchkommen.“ Beleidigung, üble Nachrede, Volksverhetzung möchte man denken, doch dann fällt einem ein: Der Scheuer, das ist ja der Wissenschaftler von der traurigen Gestalt, der seinen von der Uni Prag verliehenen Doktortitel laut Gerichtsbeschluss bundesweit nur in Berlin sowie Bayern – und im Internet überhaupt nicht – führen darf, und dessen Dissertation selbst die rechte Welt nach Begutachtung als Fall für die Satire-Zeitschrift Titanic einordnete. Nein, den Mann müssen wir nicht ernstnehmen.

 

Von ihren finanzpolitischen Manipulatoren in die richtige Hooligan-Stimmung gebracht, ergeht sich auch die deutsche Bevölkerungsmehrheit gern in Verbalinjurien, wenn es um die Situation auf Peloponnes-Halbinsel geht.  Nicht eingedenk des politisch tolerierten Hanges zur Steuerverkürzung und –vermeidung hierzulande werden die Griechen pauschal als Fiskus-Betrüger abgestempelt, die faul und unverschämt seien. Und natürlich korrupt, wobei unsere elegantere Art der Bestechung, der allumfassende Lobbyismus, schamhaft verschwiegen wird…

 

Der am häufigsten geäußerte Vorwurf aber, die Griechen hätten unser Geld, zeugt zwar von Existenzangst, entbehrt aber jeglicher Grundlage. Selbst wenn Athen all die Milliarden an Hilfsgeldern, die nur zu einem winzigen Bruchteil ins Land tröpfelten, sogleich zurückzahlen würde, käme kein Cent da an, wo er hierzulande nötig wäre, in den Projekten der Vorschulerziehung, der Inklusion oder des Naturschutzes etwa. Die Mittel würden in den altbekannten Kanälen versickern und zur Sanierung des heiligen Bankensystems eingesetzt.

 

07/2015

 

Dazu auch:

Fragen an die Irren im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund     

   

 

 

 

Das Wintermärchen

 

Einige Handlungen, Unterlassungen und Äußerungen Berliner Regierungspolitiker legen den Schluss nahe, dass die deutsche Vergangenheit nach einigen Betroffenheitsformalitäten nun abgehakt werden kann, dass es nicht weiter nötig ist, Lehren aus der Verantwortung für das entsetzlichste Kapitel der neueren Menschheitsgeschichte zu ziehen: Da werden die ökonomisch schwächeren EU-Partner nach Gutsherrenart bevormundet, da tut man so, als gingen einen die im Süden angelandeten Flüchtlinge nichts an, und da träumen einige besonders Vergessliche in Amt und Würden bereits wieder von einer „Führungsrolle“ mit weltweiten Einsätzen deutscher Soldaten. Ein großer Teil der Bevölkerung applaudiert, die Mahner kommen in den Medien immer weniger zu Wort. Es drängt sich die Frage auf: Ist Deutschland nun ein „normaler“ Staat mit all den nationalistischen Dummheiten, wie sie auch in Frankreich oder Großbritannien anzutreffen sind? Oder wird die Meinungsbildung von einer Tradition des geistfeindlichen Chauvinismus, der seinen Höhepunkt in einem zwölfjährigen Jahrtausend der Unmenschlichkeit fand, latent mit beeinflusst? Ein kürzlich erschienenes Buch über Hitlers programmatisches Pamphlet „Mein Kampf“ und seine Entstehungsgeschichte könnte bei der Wahrheitssuche helfen.

   

Intoleranz und Hybris

 

Als Heinrich Heine, dessen Bücher bereits 1835 vom Bundestag in Frankfurt am Main verboten worden waren, im Jahre 1843 für ein paar Wochen aus seinem Pariser Exil nach Deutschland reiste, fiel ihm dort soviel Bedenkenswertes und Beunruhigendes auf, dass er seine Beobachtungen in einem teils satirischen, teils melancholischen, in jedem Fall aber zeitkritischen Versepos festhielt. In „Deutschland. Ein Wintermärchen“ artikulierte er unter anderem sein Unbehagen bezüglich des Fortwirkens einer aus Vorurteilen gebildeten, mittelalterlichen Geistestradition und des Mangels an Bewältigung einer grausamen Vergangenheit.

 

Die Flamme des Scheiterhaufens hat hier
Bücher und Menschen verschlungen;
Die Glocken wurden geläutet dabei
Und Kyrie Eleison gesungen.

 

Und in schockierender Weitsicht ergänzt der Dichter in der nächsten Strophe:

 

Dummheit und Bosheit buhlten hier
Gleich Hunden auf freier Gasse;
Die Enkelbrut erkennt man noch heut
An ihrem Glaubenshasse. –

 

Wie prophetisch diese Zeilen zu den lang zurückliegenden Pogromen in Köln waren, zeigte sich nicht nur in der (perfektionierten) Wiederholung der Menschen- und Ideenvernichtung durch die Nazis im 20. Jahrhundert, sondern auch daran, dass sie eben jenes finstere Mittelalter in ihrer eklektizistischen Ideologie als Zeitalter der wahren Helden verklärten.

Ähnlich holzschnittartig, zweidimensional und inhuman wie die damaligen Scharfmacher wird auch heute noch an deutschen Stammtischen diskutiert, wenn es um ausländische Mitbürger, Flüchtlinge, Angehörige anderer Ethnien, andere Religionen, die deutsche Überlegenheit, den deutschen Fleiß und eben jene deutsche Präzision geht, die einst beinahe ganze Völker ausgerottet hätte. Nicht dass es in anderen Ländern keinen Nationalismus und Rassismus gäbe, nicht dass in nächster Zeit hierzulande mit staatlich organisierter Verfolgung Fremder oder Andersdenkender gerechnet werden müsste, aber die Kontinuität in der xenophoben Argumentation, die brachiale Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten und des eigenen Wesens, die neue Hybris in der deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik verstärken den fatalen Eindruck, dass etwas noch virulent im nationalen Unterbewusstsein ist, was in routinierten Gedenkfeier-Reden und vom Blatt abgelesenen rückwirkenden Bekundungen offiziellen Bedauerns längst vielfach beerdigt wurde.

  

Wie konnte es geschehen? 

 

Das Gefühl, dass es einen deutschen Sonderweg gab, der bis in die Gegenwart reicht, dass es nicht ausreicht, den Nationalsozialismus und seine menschenvernichtende Intensität nur ökonomistisch oder durch historische Vereinfachungen (Versailles!) zu erklären, wird zur Gewissheit, wenn man ein unlängst erschienenes Buch über einen verhängnisvollen Propagandatext liest: Adolf Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf“ (Allitera Verlag München). Der frühere Nürnberger Kulturdezernent Hermann Glaser, der als Pionier der „soziokulturellen“, Basisdemokratie implizierenden Stadtgestaltung über die deutschen Grenzen hinaus bekannt wurde, hat sich in mehreren Bänden mit der Genese und Realität des Dritten Reichs beschäftigt (u. a. in „Spießer-Ideologie“).Glaser, der in seiner Kindheit und frühen Jugend Diktatur und Krieg als Zeitzeuge erlebte, analysiert nun messerscharf, woher der braune Odel kam und wie er, zu einer Stumpf-Ideologie verdichtet, aus dem „Volk der Dichter und Denker“ eine Geißel der Menschheit machen konnte. Seine auch den Kanon der deutschen Kulturgeschichte nicht schonende Abrechnung definiert jenes Unbehagen an der nationalen Gesinnung, das schon Heine empfand, und entlarvt als Ursache einen verhängnisvollen Irrweg großer Teile des Bildungsbürgertums; ein Weg, der noch nicht gänzlich zugeschüttet zu sein scheint…

 

Natürlich haben wirtschaftliche Eliten den Aufstieg der Nazis zunächst toleriert, dann gefördert, auch das Faible der „gehobenen“ Bürger, Lehrer oder Juristen etwa, ist bemerkenswert (während die Arbeiterschaft lange Zeit resistent gegen die braune Propaganda blieb); doch hatten diese Sympathien keinerlei ideellen Hintergrund? War Adolf Hitler der brillante Rhetoriker, der intelligente Charismatiker, der unversehens in die Bütt sprang und ein ganzes Volk bezauberte? Glaser widerlegt die gängigen Legenden, wonach der Führer aus dem Nichts kam, als ambivalentes Genie die Macht an sich riss und eine ganz neue,wenn auch krude, Philosophie kreierte. Der Erfolg eines im Grunde mittelmäßigen Mannes, der sich in den langen Original-Passagen aus „Mein Kampf“ vom Geisteszwerg voller Neid, Hass und Minderwertigkeitsgefühl mittels Ideologie-Rabulistik zum Scheinriesen aufplustert, war auch deutschsprachigen Vordenkern in der Kunst und Philosophie ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert geschuldet.

 

Die vergiftete Tradition

 

In Frankreich wählen Menschen den neofaschistischen Front National, weil sie Angst vor den Banden der von Staat und Gesellschaft vernachlässigten farbigen Jugendlichen aus den banlieues haben. In Großbritannien ist die rechtspopulistische Anti-Europa-Partei UKIP erfolgreich, weil sie Ressentiments gegen alles Ausländische schürt. Diese nationalistischen Trends werden aus größtenteils irrealen Ängsten um den eigenen Arbeitsplatz und die persönliche Sicherheit sowie aus kleinbürgerlichen Intoleranz gespeist und nicht wie einst in Deutschland mit einer Pseudomythologie vom gottgegebenen germanischen Herrenmenschentum unterfüttert. Viele Dichter des Sturm und Drang oder der Romantik, Musiker, Maler und Philosophen träumten von der reinen arischen Rasse, die Super-Helden wie Siegfried (und Hagen von Tronje) hervorbringen mochte. In Großbritannien erschöpfte sich diese regressive Idol-Suche im Ossian, einer schwülstigen Fälschung des listigen Schotten Mcpherson, die dem Goethe-Mentor und Verkünder des Germanentums, Herder, als wahre Volkskunst galt, und später im Märchenepos „Der Herr der Ringe“ des erklärten Anti-Demokraten Tolkien, in dem blonde Reiter aus Rohan fiesen Orks aus dem Osten die Köpfe abschlugen.


Auch die Vorkämpfer der deutschen Einheit, die Jünger von Turnvater Jahn sowie Burschenschaftler, strebten nach dem teutonischen Großreich ohne „jüdische Durchrassung“. Sie wollten offenbar den Sprung aus der Kleinstaaterei in die imperiale Weltbeherrschung ohne Umweg über den bürgerlichen Nationalstaat schaffen. Und mag Richard Wagner auch ein großer Komponist gewesen sein – in seinen politischen Pamphleten outete er sich als schäbiger Antisemit. Es waren also Mitglieder der geistigen und künstlerischen Eliten, die in Deutschland den Boden für Hitlers Plump-Ideologie düngten, während in anderen Ländern Kleinbürger und Unterprivilegierte ihren Rassismus ohne ideologischen Unterbau und ohne intellektuelle Unterstützung pflegen mussten. Und diese Vordenker durchtränkten die deutsche Erde so perfide und gründlich mit ihrem Gift, dass die viel gepriesene nationale Tüchtigkeit es nicht bei Diskriminierung beließ, sondern zur akribischen Massenvernichtung schritt. Und wo die Dichter nicht ins neue (alte) Weltbild passten, da interpretierte man ihre Aussagen einfach um, wie es Hitler mit Schiller und Goethe tat, oder verbot und verbrannte sie einfach (so auch Heine - wieder einmal).

 

Selbst die menschenverachtende Ideologie des Faschismus führt nicht automatisch zu Pogromen und Massenvernichtung, wie die Beispiele Francos in Spanien oder Horthys in Ungarn belegen, Diktatoren, die brutal gegen jede Opposition vorgingen, aber keine Judenvernichtung initiierten. Es bedurfte schon einer systematischen Ausschaltung aller humanistischen Ideen und empathischen Regungen, wie sie der im Alltagsleben gescheiterte, beschränkte Sozialdarwinist Hitler und – noch perverser – sein Chef-Organisator Himmler forderten, um Euthanasie und Holocaust in Gang zu setzen. Glaser zitiert den österreichischen Dramatiker Grillparzer, der bereits im 19. Jahrhundert den Tiefpunkt deutscher Geschichte und Sozialisation, „die Bestialisierung“, voraussah. Und für ihre erbarmungslose Blut- und Boden-Ideologie konnten die Nationalsozialisten aus dem Vollen einer schwärmerischen Vorliebe für primitiv-brachiale Mythen und einer Aufklärungs- und/oder Menschenfeindlichkeit schöpfen, die sich quer durch die Bildungseliten, von Romantikern wie E.T.A Hofmann über Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte, der die Juden zurück ins Gelobte Land schicken wollte, bis hin zum Idol der Kämpfer für die nationale Einheit, Friedrich Ludwig Jahn („Polen, Franzosen, Pfaffen, Junker und Juden sind Deutschlands Unglück“), ausbreitete.

 

Was anders ist, was überlebt hat…

 

Hitler war also kein Betriebsunfall, sondern Sammler und Verwerter des geistigen Schrotts einer in großen Teilen wenig nachdenklichen und noch weniger humanen „Bildungselite“. Es ist Glasers Verdienst, mit seinem Buch zur „Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus“ (so der Untertitel) eine Verständnislücke geschlossen zu haben: Wie konnte ein so wenig originelles, argumentativ so niveauloses und so mies geschriebenes Machwerk wie „Mein Kampf“ im Verein mit dem barbarischen Auftreten unsäglich brutaler, überheblicher und anti-zivilisatorischer „Persönlichkeiten“ die größte Katastrophe der Neuzeit so erfolgreich in Gang setzen? Ganz einfach (aber bislang kaum konstatiert): Der Gedankenmüll war in vielerlei Form bereits vorhanden, man musste sich nur seiner bedienen und eine Kloake, die alles überschwemmen würde, zusammenrühren.

 

In jedem Kapitel seziert Glaser eine Facette der in „Mein Kampf“ kolportierten Geschichts-, Kultur- und Gesellschaftsklitterung. So werden das diskriminierende Rollenbild der Frau, eine Erziehung, die den rücksichtslosen Geist im stahlharten Körper schulen sollte, „Krieg als Lebenserfüllung“, „Rassenwahn und Blutmystik“ oder die „Sprachzerstörung“ durch martialische Tiraden („mit Volkes Stimme“) thematisiert. Für alle „Denkansätze“ beutete Hitler ähnlich gesinnte (aber harmlosere) Vorgänger früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte aus und schuf so eine sich als stolze germanische Identität gerierende Vogelscheuche, angetan mit Fetzen aus Judenhass, Kriegsverherrlichung, blinder Heldenverehrung und ländlicher Schmonzette à la Ganghofer.

 

Bleibt die Frage, ob man sich heutzutage noch mit diesem aggressiven und demagogischen Kitsch auseinandersetzen muss? Hat dieses Machwerk noch irgendeine Bedeutung für Deutschland in der Jetztzeit? Dazu ist festzuhalten: Ein korrekter, vollständiger und valide begründeter Bruch mit einer Unrechtsepoche und ihrer Phänomenologie ist erst dann vollzogen, wenn man deren Inhalte und Erscheinungsformen erkannt, aufgearbeitet und intellektuell wie emotional verworfen hat. Dies ist nicht geschehen, zumindest nicht ausreichend, und so ist es nicht verwunderlich, dass die braunen Stereotypien, die Hass-Gespenster und Allmacht-Phantasien immer noch durch etliche Alltags-Milieus wabern.

 

Natürlich wird man nicht mehr die deckungsgleiche Wiedererrichtung einer  nationalsozialistischen Diktatur fürchten müssen, aber bestimmte Inhalte (besser: Phrasen) aus der braunen Vergangenheit wirken in Einschätzungen, Gesprächen und Aversionen bis heute nach. Da herrscht nach zwei verlorenen Weltkriegen (aber vier gewonnenen Fußball-Weltmeisterschaften) an jedem Stammtisch Konsens, dass die Deutschen das tüchtigste Volk im Erdenrund seien, dazu Zahlmeister Europas und von Überfremdung bedroht. Egal dass die Schweizer, Norweger oder Dänen weit mehr verdienen, die US-Amerikaner um ein Vielfaches mehr Nobelpreisträger stellen, die Finnen bessere Schulen haben, die Bundesrepublik nach dem Krieg durch internationale Hilfe wirtschaftlich aufgepäppelt werden musste und ohne „Gastarbeiter“ aus dem Süden wohl auch keinen rapiden Aufschwung erlebt hätte…

 

Wenn Franzosen sich über einen Deutschen ärgern, verpassen sie ihm den unschönen Titel boche, die Engländer sprechen in ähnlichem Fall herablassend von einem kraut. Beides wird nicht halb so bösartig und hasserfüllt gebraucht wie jenes Stakkato-Wort, das viele Bundesrepublikaner seit Jahrzehnten pauschal auf alle, die sich in der Sprache oder dem Aussehen vom germanischen Übervolk unterscheiden, anwenden: Kanaken! (Auch in der DDR fand man eine herabwürdigend gemeinte Bezeichnung, die aus Ozeanien stammt: Fidschis.). Der größte amerikanische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Herman Melville, hatte in seinem ersten Roman „Typee“ die Südsee-Insulaner noch als schöne und liebenswerte Menschen beschrieben, für die rechtslastigen Dumpfbacken der deutschen Gegenwart, die vermutlich noch nie einen Bewohner von Samoa oder Hawaii gesehen und gesprochen haben, sind sie schlicht  Synonyme für die „neuen Untermenschen“, die Ausländer. Was die Dummheit nicht kennt, setzt sie herab.


Hätten die Deutschen mehrheitlich ihre Lehren aus einer Zeit gezogen, in der ihre Besten in vielen Ländern der Erde Asyl erbitten mussten, würden sie nicht nach den zum Abendbrot üblichen Tagesschau-Aufnahmen von gerade noch vor dem Ertrinken geretteten Flüchtlingen im Brustton der Überzeugung erklären: „Das Boot ist voll.“ Und ungeachtet der Tatsache, dass viele Afrikaner und Araber gerade vor den in hiesiger Präzisionsarbeit hergestellten Waffen fliehen, heißt es dann: „Wir können doch nicht jeden aufnehmen.“ Und überhaupt: Das Einwanderungsland Deutschland (aus Gründen der Ökonomie) ist gar kein Einwanderungsland (aus Gründen der Humanität), eine Argumentation, die übrigens Hitler, einen erklärten Feind jeglichen Mitgefühls gefreut haben dürfte. Wie begeistert wäre er erst gewesen, hätte er im sächsischen Schneeberg eine Demo gegen neue Unterkünfte für Asylbewerber, auf der NPD-Funktionäre, unterstützt von fast 2000 Bürgern, „Wir sind das Volk“ skandierten, miterleben können.

 

Wer glaubt, dass tumbe Stammtischparolen und Ausländerhetze im Bierdunst an sich harmlos seien und zur Wirtshausfolklore gehörten, sei daran erinnert, dass Hitlers Aufstieg vom Putschisten zum späteren Führer 1923 in der von Alkohol und Hass geschwängerten Atmosphäre des Münchner Bürgerbräukellers begann.


Aber auch ein Historiker wie Ernst Nolte trug sein Scherflein zur posthumen Verharmlosung des Nationalsozialismus bei, etwa als er 1980 den Holocaust als deutsche Reaktion auf die Gulag-Verbrechen in der UDSSR erklärte, Hitler sozusagen zur etwas unappetitlichen, aber verständlichen Antwort auf Stalin verniedlichte. Diese zumindest fahrlässige Interpretation (die viele Kollegen Noltes, allen voran Jürgen Habermas, im Historikerstreit vehement widerlegten), die das ganze sorgsam aufgebaute Hass-Instrumentarium der Nazis und die Einzigartigkeit ihrer Verbrechen relativierte bis negierte, wurde unlängst von Dirk Kurbjuweit, im seicht gewordenen Spiegel mittlerweile der Spezialist für besondere gedankliche Untiefen, beiläufig als erwägenswerte  These wieder eingeführt.

 

Und dann gibt es noch die Burschenschaften, jene trinkfesten, nationalistisch gesonnenen Männerbünde, deren Antisemitismus und geistige Intoleranz einst das geistlose Terrain für die blutige Spießer-Ideologie schufen. Man sollte meinen, archaisch-idiotisches Brauchtum mit Trinkgelagen bis zum Kotzen und vorsichtiger Selbstverstümmelung bei Mensuren habe sich längst überlebt. Im Gegenteil: Auch heute noch stellen Vorstände der Wirtschaftsunternehmen, hochrangige Juristen, Chefärzte und Schuldirektoren stolz ihre Schmisse zur Schau, kungeln in Logen demokratiefeindlichen Ursprungs Posten aus, schließen nicht ganz astreine Geschäfte ab und halten ihr Korps ausländerfrei.

 

Die jüngere deutsche Vergangenheit ist also nicht passé, doch leider wird sie immer weniger als Mahnung wahrgenommen, sondern bedingt in verschiedensten Kreisen eine ungebrochene, allenfalls zeitweise verborgene Kontinuität. Warum wir nicht mehr energisch gegen alte Seilschaften, neue Nazi-Propagandisten und publizistische Verharmloser protestieren? Ich fürchte, wir haben uns langsam an sie gewöhnt.

 

09/2014

 

Dazu auch:

Nur 25 Prozent im Archiv der Rubrik Medien

 

 

              

 

 

Wessen Geiseln?

 

Berufspendler und Fernreisende hilflos auf den Bahnsteigen, empörte Stimmen in den Wartesälen – derzeit zeichnen die deutschen Medien in ihrer überwältigenden Mehrheit das Bild eines Landes, das sich verkehrstechnisch im Würgegriff einer kleinen, böswilligen Gewerkschaft, der GDL, befindet, die ihre taktischen Spielchen auf dem Rücken unschuldiger Bürger austrägt. Die PR-Profis der Bahn haben im Gegensatz zu dem oft holzschnittartig argumentierenden GDL-Chef Claus Weselsky ganze Arbeit geleistet, das Gros der Presse begibt sich bei der Motivsuche freiwillig in den Blindflug, und die Politik, angeführt von Alexander Dobrindt, der wegen seines Maut-Irrsinns selbst von keinem mehr verstanden wird, äußert ihr Unverständnis. Grund genug, sich die Ursachen des Streiks näher anzusehen.


Die Bahn lässt leiden

 

Als die Deutsche Bundesbahn ohne Not privatisiert wurde, wollten die Verantwortlichen sie für die Börse schlank trimmen. Das Personal wurde ausgedünnt, der Schalterverkehr samt Kundenberatung minimiert, und  notwendige Wartungsarbeiten sowie Reparaturen vergab man fremd. Wegen der Turbulenzen auf dem Aktienmarkt musste dann der Börsengang verschoben werden; der Bund blieb Hauptanteilseigner, und der Staat, der sonst als weitgehend wehrloser Empfänger von Befehlen und Drohungen seitens der Wirtschaft  fungiert, durfte endlich einmal selbst Kapitalist spielen – mit Outsourcing, Lohndumping, überzogener Profiterwartung und allem, was so dazugehört.


Da traf es sich gut, dass sich manche Gewerkschaften von der Unternehmerseite handzahm dressieren ließen. Zwei davon schlossen sich zur EVG zusammen, die zwar dem DGB angehört, sich aber vorzugsweise als Juniorpartnerin in einem vom Bahnvorstand dominierten netten Debattierclub geriert. Gestützt auf einen solchen Verbündeten konnte Konzernchef Rüdiger Grube die berechtigten Forderungen der kleineren, aber kampfeswilligeren GDL ablehnen bzw. durch eine geschickte Hinhaltetaktik auf eine Bank schieben, die so lang ist, dass sich die Inhalte darauf verlieren. Unterstützung nahte nämlich noch von anderer Seite. Die Bundesregierung, selbst ja als Eigentümer Partei in diesem Streit, lässt durch die Arbeitsministerin Nahles (natürlich SPD) eine Änderung des Streikrechts vorbereiten, die der größten Gewerkschaft in einem Betrieb die Alleinvertretung bei den Tarifverhandlungen zubilligt. Bis es so weit ist, glaubt die Bahn den Streik aussitzen zu können, auch wenn ihre Kunden darunter zu leiden haben.

 

Es ist beschämend für Gabriel & Co., dass es ein Christdemokrat, dem die Polit-Karriere offenbar noch nicht den letzten Rest an sozialem Gewissen geraubt haete, war, der eine inopportune Schuldzuweisung wagte. Heiner Geißler, einst selbst Schlichter bei der Bahn, stellte zutreffend gegenüber dem Münchner Merkur fest: „Man kann diesen Arbeitskampf nur entschärfen, wenn die Bundesregierung ihren Gesetzesentwurf über die Tarifeinheit zurückzieht.“

    

Die Schlichtungslüge

 

Der eigentliche Skandal bei dieser Auseinandersetzung liegt nicht darin begründet, dass die GDL die normalen und legitimen Methoden eines Streiks anwendet, sondern in der nonchalanten Ignorierung ihrer Forderungen als Verhandlungsgrundlage durch den Bahnvorstand.


Voraussetzung für die Einigung oder Schlichtung in einem Tarifkonflikt ist die Abwägung der Forderungen und Angebote beider Gegner. Die Bahn aber kommt der Gewerkschaft nur bei den Löhnen, dem angesichts der miesen Bezahlung des Bahnpersonals viel zu bescheidenen Ansinnen (5 Prozent mehr Geld), einigermaßen entgegen, die wichtigeren Punkte werden einfach unterschlagen:

 

- Die Arbeitszeit soll um zwei auf 37 Wochenstunden verkürzt werden, was endlich zu Neuanstellungen führen würde.

- Statt sieben Schichten in sechs Tagen sollen maximal fünf Arbeitsschichten in fünf Tagen möglich sein, was Überlastung und Stress vieler Mitarbeiter reduzieren würde.

- Die DLG soll endlich auch für Schaffner und Rangierer verhandeln dürfen, was deren Position gegenüber dem Arbeitgeber deutlich stärken würde.

 

Zu diesen berechtigten Forderungen schweigt die Bahn, und die mit ihr sympathisierenden Medien üben sich weitgehend in Diskretion. Stattdessen wird ein „Schlichtungsangebot“ mit dem Sozialdemokraten Platzeck als Moderator unterbreitet. Welche gegenteiligen Vorstellungen aber stehen zur Schlichtung an, wenn eine Seite die Mehrzahl der strittigen Sujets glatt ausblendet?

 

Es ist klar, dass die Bahn auf Zeit spielt, schließlich hat ihr größter Anteilseigner, der Staat, noch eine besonders delikate Waffe bei der Hand. Wenn – wie Gerichte festgestellt haben – die DLG nicht gegen die derzeit geltenden Regeln verstößt, dann ändert man halt per Kabinettsbeschluss und Bundestagsmehrheit die Regeln. Zwar gehen die meisten Juristen in der Einschätzung konform, dass Nahles` Flickschuster-Gesetz der „Tarifeinheit“ später vom Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen die Koalitionsfreiheit kassiert werden dürfte, doch das wird dauern – und bis dahin könnte die aufständische DLG Geschichte sein…

 

Keine Lobby für Eisenbahner

 

Dass es den Medien so leicht gelingt, den Volkszorn auf die GDL zu lenken, hat wohl auch damit zu tun, dass hierzulande das Bahnpersonal keine Lobby und kaum Sympathisanten hat. Wenn ein weitgehend ferngesteuertes Flugzeug einigermaßen glatt auf der Rollbahn eines mediterranen Ferienziels aufsetzt, klatschen die Touristen dem hochbezahlten Piloten, der dem Kinderbuch ihrer Berufsträume entsprungen scheint, Beifall. Wenn ein auch im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich entlohnter Lokführer einen ICE sicher von München nach Hamburg bringt, wird man ihm allenfalls die drei Minuten Verspätung anrechnen, für die er nichts kann.


Wenn die Erzieherinnen in kommunalen Kindergärten in einen langen Streik treten, um – verdientermaßen – eine wesentlich bessere Bezahlung zu erhalten, können sie sich einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung sicher sein (obwohl sie viele Familien in Probleme stürzen), schließlich gehen sie verantwortungsbewusst und liebevoll mit den Kleinen um. Die Rangierer der Bahn hingegen, ohne die nichts ginge, bleiben unsichtbar wie einst die Heinzelmännchen, und von den Zugbegleitern fühlen sich die kontrollierten Fahrkarteninhaber eher genervt.


Wenn das Erbringen einer Dienstleistung weder Glamour noch persönliches Engagement unmittelbar sicht- oder spürbar macht, interessiert es die Öffentlichkeit anscheinend nicht, dass Hungerlöhne dafür gezahlt werden. Wehe aber, eine kleine Organisation nimmt den Kampf für die Unterprivilegierten mit wirksamen (und legitimen) Mitteln auf, dann fühlt sich die Volksmehrheit gemobbt und große Gewerkschaften schwadronieren unisono mit ihren sonstigen Tarifgegnern von „Spaltung“.

  

Gute und böse Gewerkschafter

 

Ein mächtiger und schlagkräftiger Dachverband nationaler Gewerkschaften kann ein Segen für ein Land sein. Wenn aber – wie im Falle der Bahn – einzelne Mitgliedsorganisationen nicht sonderlich handlungsfähig sind oder weitgehend vom System absorbiert wurden, ist das entschlossene Handeln einer separaten, nicht angepassten Gewerkschaft denkbar, vielleicht sogar notwendig. Eine seltsame Koalition aus Arbeitgeberverbänden, dem DGB-Vorstand, der sich immer staatstragender gebärdenden IG-Metall, Unionspolitikern und führenden Spezialdemokraten (SPD) in der Regierung will diese Möglichkeit per Gesetz zur Tarifeinheit künftig verhindern. DGB-Einzelgewerkschaften wie Ver.di oder die GEW warnen vor einer Aushöhlung des Streikrechts, und sie haben recht.

Wenn tatsächlich nur noch die mitgliederstärkste Gewerkschaft in einem Betrieb mit der Arbeitgeberseite verhandeln darf, sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet. Konzerne könnten ihre Belegschaften so lange kreativ umgruppieren und in neue Gesellschaften überführen, bis an den brisanten Standorten die ihnen genehme Organisation bei Tarifverhandlungen das Sagen hat. Oder sie könnten kurzerhand eigene Gewerkschaften gründen (wie es Siemens bereits vorexerziert hat), um den DGB ganz aus dem Werk herauszuhalten.

 

Manchen satt und behäbig gewordenen Funktionär im DGB stören auch die Radikalität und die Kampfbereitschaft der GDL. Ihm schwebt eine schöne neue Welt vor, wie sie beim größten Autobauer der Republik bereits Gestalt angenommen hat: Berthold Huber, einst Chef der IG Metall, eröffnete dieser Tage als (interimistischer) Aufsichtsratschef die Hauptversammlung des VW-Konzerns. Was früher die Aktienkurse in den Keller hätte fallen lassen und als sozialistische Machtübernahme interpretiert worden wäre, animiert heute nur noch zu höflichem Applaus. Manager, Vorstände und Großaktionäre dachten wohl: Der Berthold ist ja quasi einer von uns, nur nicht ganz so mächtig und viel braver…

 

05/2015

Dazu auch:

Den Arm abhacken In dieser Rubrik   

   

 

 

 

U-Bahn-Wahnsinn

 

Beispiele für kurzsichtige Städte- und Verkehrsplanung liefern größenwahnsinnige  Metro-Projekte überall in der Welt. Da geht ehrgeizigen Bauvorhaben in Großbritannien, Indien oder Armenien nach zehn Kilometern Streckenlänge die Luft aus, und da werden in Deutschland U-Bahn-Linien mit vielen Millionen gefördert, die ganze Viertel veröden lassen, sich nach Fahrgastaufkommen nicht lohnen und enorme Folgekosten heraufbeschwören.

  

Subventionierter Boom

 

Ein besonders eklatantes Beispiel für planerische Hybris ist Nürnberg, eine überschaubare Halbmillionenstadt, die sich – von einem Burgberg in der Mitte, den ohnehin kein öffentliches Verkehrsmittel ansteuert, abgesehen – weitgehend flach und nicht allzu weit in alle Richtungen erstreckt. Untergrund-Bahnen mögen in Mega-Metropolen wie Greater London, New York oder Mexiko-Stadt mit einfachen Streckenentlängen von 50 Kilometern und mehr sowie Massenandrang von Berufspendlern und Suburbia-Shoppern einen Sinn machen, sie aber im vergleichsweise beschaulichen Nürnberg, wo bis dato Bus und Straßenbahn genügt hatten, durch teure Röhren sausen zu lassen, gleicht dem Versuch, die defizitäre Wasserstraße zwischen Rhein, Main und Donau auf das Niveau des Panama-Kanals hochzurüsten.

    

Es waren das Land Bayern und der Bund, die in den 1960er Jahren mit hohen Kostenbeteiligungen den Nürnberger Stadtrat zu einem Bauvorhaben „überredeten“, das wohl das durch die Übermacht Münchens angeschlagene Selbstbewusstsein aufzupäppeln vermochte, sich im Nachhinein aber mehr und mehr als Kostenfalle entpuppte. Einmal war auch die relativ geringe Eigenbeteiligung der Stadt in absoluten Zahlen noch eine enorme Summe, zum anderen sind die Aufwendungen für den Erhalt, kurzfristige Reparaturen und umfassende Sanierungen des U-Bahnsystems allein Sache der Kommune. Zwar muss Nürnberg auch beim neuesten Metro-Abschnitt ins eher ländliche Großreuth, der gerade fertiggestellt wird, nur 15 Millionen von insgesamt 65 Millionen Euro selbst aufbringen, doch kann man auch in die Insolvenz trudeln, wenn man sich zu viele Schnäppchen aufschwätzen lässt.


Böses Erwachen

 

U-Bahnhöfe sind die Kathedralen unserer Zeit. In mit modernen Artefakten, Mosaiken oder Ausstellungsvitrinen aufgehübschten Gewölben soll den Fahrgästen das Warten auf den nächsten Zug angenehm gestaltet werden. Doch während der oberirdische Bau der Großkirchen im Mittelalter oft Jahrhunderte dauerte, um solide Werke für die Ewigkeit zu generieren, beginnen die Pracht-Katakomben des öffentlichen Nahverkehrs bereits kurz nach der Einweihung zu bröckeln. So schnell und imposant die Schmuckkästchen des Untergrunds erstellt wurden – dauerhaft ist an ihnen nur der Sanierungsbedarf.  

 

So muss 2015 Nürnberg allein sechs Millionen Euro aufwenden, um drei U-Bahnhöfe im Süden der Stadt zu renovieren. Im nächsten Jahr sind dann reparaturbedürftige Stationen im Westen dran; und so geht es die ganzen Strecken entlang, bis man durch ist und wieder von vorne anfangen kann. Dafür und für den Erhalt der Elektro-Installationen und der Gleiskörper sind keine Subventionen, deren Gewährung das Prestige von Kommunal-, Landes- und Bundespolitikern steigert, vorgesehen. Diese Lasten, die bei nachhaltiger Planung zu denken gegeben hätten, tragen die Stadt und ihre Bürger allein. In den Nürnberger Nachrichten schrieb die Journalistin Claudine Stauber denn auch völlig korrekt: „Überschlägt man die Summen, die nach und nach für die Sanierung und den Erhalt der Infrastruktur unter der Erde fällig werden, so ahnt man, welch teures Erbe auf die nächsten Generationen zukommt.“

   

Sterbende Straßenzüge

 

Aber mit der U-Bahn kommt man am schnellsten von A nach B, und außerdem wurden während der Bauphasen Arbeitsplätze geschaffen, wenden Befürworter der kostspieligsten Nahverkehrsvariante ein. Das Tempo-Argument muss in mehrfacher Hinsicht relativiert werden:


- Durch Ampel-Vorrangschaltungen für Bus undTram könnten die

  Fahrtzeiten dieser öffentlichen Verkehrsmittel signifikant verkürzt

  werden.

- U-Bahnstationen liegen weiter auseinanderals Haltestellen von Bus und

  Straßenbahn. Zudem sind sie meistens an großen Verkehrsachsen

  platziert und nicht auch an kleineren Straßen und in den Wohnvierteln

  direkt. Das verlängert die Wege und somit den Zeitaufwand, um

  überhaupt die Abfahrtspunkte zu erreichen.

 

Von San Francisco bis Paris, von Granada bis – ja auch bis Nürnberg erlebt die gute alte Tram weltweit eine Renaissance. Alte aufgegebene Linien werden reaktiviert, neue Strecken erschlossen. Mittlerweile ist nämlich offenkundig, dass die Geschäfte und Gaststätten davon profitieren, dass sie beim Oberflächen-Personentransport wahrnehmber sind und von den Haltestellen aus in wenigen (ebenerdigen) Schritten erreicht werden können. Die U-Bahnen hingegen lassen die Straßenzüge veröden. Was man nicht sieht, nicht sinnlich erfassen kann, regt im Normalfall auch nicht zu näherer Beschäftigung damit bzw. zum Besuch an.

 

Was die „Belebung der Wirtschaft“ und den Bedarf an Arbeitsplätzen betrifft, ist festzuhalten, dass sehr wohl die großen Baukonzerne profitieren, während lokale Unternehmen und Subunternehmen, die etwa bei Bahnhofsaufgängen oder Verglasungen zum Zug kommen, unter der säumigen Zahlungsmoral der Kommunen leiden, die – und das ist ihr gutes Recht –so penibel wie möglich die Ausführung prüfen und so spät wie möglich zahlen, eine Sitte, die bereits zur Insolvenz so manchen Kleinbetriebs ohne ausreichendes Kreditvolumen führte. Dass Metro-Baustellen Schwarzarbeit und Lohnsklaverei ohne behördliche Genehmigung förmlich anziehen, sei nur am Rande vermerkt.

 

Statt den extrem kostspieligen Größenwahnsinn im Untergrund zu bedienen, könnte man die konventionellen Möglichkeiten mit einem Bruchteil des finanziellen Aufwands ausbauen und die frei werdenden Mittel in städtische Schulbauten oder Fahrradwege stecken. Selbst die dringend notwendige bessere personelle Ausstattung von kommunalen Kinderkrippen und Horten wäre bei einer Umwidmung der Gelder denkbar; der Aspekt eines zusätzlichen dauerhaften Lohnkostenfaktors (auch bei angemessener Entlohnung) verliert angesichts des enormen Erhaltungs- und Renovierungsbedarfs von U-Bahnen seinen Schrecken.

  

Morlock-Städte

 

Ausgangs des 19. Jahrhunderts beschrieb H. G. Wells in seinem Roman „Die Zeitmaschine“ eine zukünftige Welt mit zweigeteilter Menschheit, in der die Elois, schöne Müßiggänger, tagsüber auf der Erdoberfläche lustwandeln, während die lichtscheuen Morlocks im Untergrund malochen und nur des Nachts aus ihren Höhlen hervorkommen.


Als würden die heutigen Nahverkehrsplaner die Umsetzung dieser SF-Vision beabsichtigen, legen sie ähnliche Rahmenbedingungen für die  Massenmobilität fest: Während die Schönen und Reichen oder zumindest Motorisierten sich des städtebaulichen Panoramas im alltäglichen Stau erfreuen dürfen, werden Berufstätige und Schüler durch enge Tunnel unter mehreren Vierteln hindurch gekarrt. Dies kann dazu führen, dass etliche Menschen die Stadtteile, die sie täglich durchqueren, nie sehen, dass jede visuelle Rezeption einer urbanen Umgebung einer rein funktionellen (und sündhaft teuren) Beschleunigung geopfert wird.

 

Es bleibt zu hoffen, dass künftig wieder mehr auf oberirdischen Nahverkehr gesetzt wird. Zwar kann man bereits bestehende U-Bahn-Linien nicht einfach stilllegen, doch sollte zumindest auf den Bau neuer Metro-Strecken und die Erweiterung schon bestehender im Namen der fiskalischen Vernunft und der humanen Stadtplanung verzichtet werden. Allerdings is tGegenteiliges zu befürchten, denn die Gigantomanie solcher Verkehrsprojekte dient dem Prestige-Denken der Lokalpolitiker und den Interessen bestimmter Unternehmen…

 

04/2015       

 

 

 

Neue Alte Kameraden

 

Was haben die Sozialdemokraten Gerhard Schröder und Egon Bahr mit den Unionspolitikern Roman Herzog, Eberhard Diepgen oder Lothar de Maiziere gemeinsam? Sie waren allesamt knallharte Machtpolitiker, aber sie haben auch in Kindheit und Jugend den Zweiten Weltkrieg oder zumindest das Elend nach dem blutigen Zusammenbruch des Zwölfjährigen Reichs erlebt, was sie wohl hinsichtlich einer möglichen Gefährdung des Weltfriedens sensibilisiert hat. Deshalb forderten sie gemeinsam mit Kulturschaffenden und Publizisten eine neue Entspannungspolitik, die auch legitime Interessen Russlands berücksichtigt. Die heutige Politiker-Generation in Berlin indes spielt lieber mit dem Feuer. Und unbemerkt von der Öffentlichkeit wird in der Bundeswehr ein neuer Korpsgeist propagiert, der dem verhängnisvollen Militarismus alter Schule huldigt.

 

Biederfrau und Brandstifter

 

Ende letzten Jahres unterschrieben mehr als 60 (meist ältere) Prominente aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Journalistik (darunter auch viele aus dem  konservativen Spektrum) einen denkwürdigen Appell zur Ukraine-Krise, den übrigens Horst Teltschik, einst Kohls Spin-Doctor, mit verfasst hatte: „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ Darin erinnern sie die putinophoben Medien hierzulande an ihre „Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung“ und warnen die deutschen Politiker: „Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen…“ Die Unterzeichner billigen zwar die Annexion der Krim nicht, erklären Motive hierfür aber in erster Linie mit der aggressiven NATO-Einkreisungspolitik: „Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer.“

 

Ausdrücklich loben sie die„Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands“ und die „Weitsicht Gorbatschows“ (der eben erst erklärt hatte, er sei vom Westen, der ihm die Blockfreiheit der ehemaligen Sowjetrepubliken, etwa Georgiens oder der Ukraine, garantiert hatte, betrogen worden). Die Mahner kommen zu dem traurigen Ergebnis: „Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben.“

 

Die jetzige Bundesregierung ficht solche Einsicht nicht weiter an. Zwar gibt die Bundeskanzlerin angesichts des Vorpreschens der befreundeten Supermacht (US-Militärberater und -Söldner in der Ukraine; Manöver und Paraden an den Grenzen zu Russland) die besonnene Bremserin, tatsächlich aber stellt Deutschland den Kern einer schnellen Eingreiftruppe im Osten (Arbeitsname „Speerspitze“). Und was die schleichende Eskalation von Konflikten bis hin zum militärischen Crash betrifft, hat Angela Merkel ja ihren Mann fürs Schmutzige, Frank Walter Steinmeier.           

Demontage eines Denkmals

 

Im Bund hat die SPD nur noch wenig zu lachen, und wenn sie doch einmal feiern will, dann wird Egon Bahr als lebendes Monument erfolgreicher Ostpolitik aus ruhmreicher Vergangenheit auf die Bühne gezerrt. Kürzlich aber sprach der ehemalige Brandt-Vertraute, der bei aller diplomatischen Ranküne den Frieden in Europa stets als wichtigstes Anliegen verstand, Klartext, und nun musste die SPD ihr letztes triumphales Denkmal selbst demontieren, wobei den Abrisshammer – natürlich – Frank Walter S. schwang.

 

Als Bahr dem Sender n-tv gegenüber erklärte, das Ziel der USA sei bereits zu Beginn der Ukraine-Krise eine massive Schwächung Russlands gewesen, und die Annexion der ohnehin an Moskau orientierten Krim partout nicht als so gravierend ansehen wollte, dass man sie nicht (ohne völkerrechtliche Anerkennung) „respektieren“ könne, stellte Steinmeier den Genossen in seinem Leib- und Magenblatt BILD als seniles Alterchen hin: „Egon Bahr, den ich sehr schätze, argumentiert aufgrund seiner Erfahrungen in der Ostpolitik der 60er und 70er Jahre. Das war eine ganz andere Situation.“

 

Stimmt irgendwie. Damals hätte wohl kein Kanzleramtschef den völkerrechtswidrigen Angriff auf Serbien mit koordiniert oder den BND in einem Krieg, an dem Deutschland offiziell nicht teilnahm, dazu abkommandiert, für die US-Airforce die irakischen Bombenziele  auszuspionieren. Es hätte auch wenig später kein Außenminister in Kiew einen Schein-Kompromiss zwischen Opposition und Regierung ausgehandelt und wäre dann zum Flugzeug geeilt, während die guten Freunde, bewaffnete Nationalisten unter den Maidan-Demonstranten, zum Putsch antraten. Wenn Frank Walter Steinmeier vom Frieden spricht, ist die verdeckte militärische oder die offene logistische Einmischung Deutschlands nicht fern. Und immer wenn die Bundesregierung erklärt, sie werde in dieses oder jenes Land keine Waffen liefern, werden in den deutschen Rüstungsbetrieben die Sonderschichten eingelegt.

 

Nicht dass einem die Separatisten in der Ost-Ukraine mit ihrem Macho-Gehabe oder Putin in seiner autokratischen Hybris besonders sympathisch sein müssten, Tatsache aber bleibt, dass die Bevölkerung im Donbass mehrheitlich nicht länger unter einem Kiewer Regime leben möchte und dass die Lawine, die ein fragiles Staatsgebilde vermutlich für immer zerschlagen hat, zuallererst durch den Expansionsdrang der NATO losgetreten wurde.

 

Natürlich geben sich Merkel und Steinmeier nicht offen militaristisch wie weiland Franz Josef Strauß („Ein Kalter Krieger ist mir lieber als ein warmer Bruder.“), aber sie haben mitgeholfen, die friedliche Koexistenz in Europa zu gefährden – im Dienst oder zumindest auf Wunsch des großen transatlantischen Freundes. Albrecht Müller, einst Planungsleiter der Kanzler Brandt und Schmidt, stellt auf seiner kritischen Website NachDenkSeiten (s. Achtung, Links!) fest, dass bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz die Mahner wie Genscher, Gorbatschow oder sogar Kohl nicht mehr auftraten; das große Wort führten stattdessen die Scharfmacher wie Soros, McCain, von der Leyen und – Steinmeier.

 

Eine aggressive Politik der „Vorwärtsverteidigung“ setzt natürlich auch die entsprechende Mentalität in der Truppe voraus. Und die wird derzeit von jungen Offizieren in einer Weise zurecht geschliffen, die nicht einmal dieser Koalition gefallen dürfte…

 

Landser statt Bürger in Uniform

 

Abgesehen von Berichten über Beschaffungspannen und –skandale sowie traumatisierte Afghanistan-Heimkehrer und außerhalb aufdringlicher Freiwilligen-Werbung findet die Bundeswehr in den Medien kaum statt. Das wäre auch in Ordnung so, hätten ihr nicht die zuständige Ministerin und der non-pazifistische Bundespräsident eine wichtigere Rolle bei der künftig „offensiven“ Ausrichtung der deutschen Außen-und Militärpolitik zugedacht. Bislang dringt auch wenig von der geistigen Verfassung des Offizierskorps nach draußen, seit neugierige Zwangseingezogene nicht mehr die Kreise der Kriegsprofis stören können.

 

Nun haben aber 16 Studierende und Absolventen der Bundeswehr-Akademien in Hamburg und München Aufsätze für das Kompendium „Armee im Aufbruch“ geschrieben, die Einblicke in die „Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr“ (so derUntertitel) vermitteln sollen. Und in den Hirnen der Nachwuchs-Krieger geht es ziemlich braun zu. So stellt Leutnant Jan-Philipp Birckhoff, dem zufolge „Diskurs und politische Differenzen“ wie in der Zivilkultur „als Charakterzug eines militärischen Führers wie lähmendes Gift“ wirken, den 1949 als Kriegsverbrecher verurteilten NS-General Erich Manstein („Das jüdisch-bolschewistische System muss ein für allemal ausgerottet werden.“) als leuchtendes Vorbild in der Entwicklung „unkonventioneller“ Ideen zur Erringung militärischer Siege heraus. Zudem schlägt er eine „Reinigung des Offizierstandes“ von „falsch verstandene(r) Toleranz und liberale(n) Auffassung(en)“ vor (s. german-foreign.policy unter Achtung, Links!).

 

Für seinen Bruder im Geiste und Mitautor Leutnant Skwara ist es völlig unverständlich, dass Oberst Georg Klein, der in Afghanistan das Bombardement anordnete, dem 130 Zivilisten zum Opfer fielen,kritisiert wurde, schließlich habe der pflichtbewusste Offizier ja nur Aufständische vernichten wollen, und der Begriff „vernichten“ gehöre immerhin zum „taktischen Wortschatz der Bundeswehr“. Überhaupt ist in dem Band viel von Pflichtgefühl und „Streben nach Ehre durch eine hohe Opferbereitschaft“ (Fragt sich nur: Wer opfert wen oder was?) die Rede, Tugenden, wie sie im Gegensatz zu einer „postheroischen“, von „Pazifismus“, „Hedonismus, Dekadenz“ und – oh Schande! –dem „Wunsch nach Selbstverwirklichung“ geprägten deutschen Zivilgesellschaft stehen.

 

Der Sammelband wurde von Vertretern der Bundeswehrspitze und des Verteidigungsministeriums unisono hoch gelobt. Oberst Uwe Hartmann vom Kommando Heer schrieb einleitend, „Armee im Aufbruch“ liefere sowohl „innovative Ideen“ als auch „kritische Reflexionen“. Na also, Frau von der Leyen und Herr Gauck! Das geistige Terrain ist geebnet für die heldenhafte Rolle rückwärts in die nächste deutsche Präsenz auf internationalen Kriegsschauplätzen.

 

03/2015

Dazu auch:

Glaubt ihnen nicht! im Archiv derselben Rubrik

Tod aus Deutschland im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

 

         

 

 

Verbrechen der Armut

 

Elend in Athen und Hamburg 

 

Elendsstatistiken und Armutsberichte sagen oft sehr wenig über die Befindlichkeit und die Behandlung von Betroffenen in ihrer jeweiligen Umgebung aus. Sie sind manchmal im Sinn der Auftraggeber geschönt und lassen zumeist keine Vergleiche mit ähnlichen Lebensbedingungen an anderem Ort zu. Wenn man nun das Verhältnis von Politik und Medien zur Unterversorgung beträchtlicher Bevölkerungsteile in Deutschland und Griechenland gegenüberstellt, kommt sofort die Kritik, man könne Äpfel und Birnen nicht miteinander vergleichen. Beide Früchte aber gehören zur Gattung des Kernobstes, weshalb wir den Versuch dennoch wagen, verkürzt und zugespitzt, wie man es von uns gewohnt ist.

 

Impertinenter Klartext

 

Griechischer Winter: Die Menschen frieren, weil sie sich die Heizkosten nicht mehr leisten können oder gleich vor die Tür gesetzt worden sind. Das staatliche Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps, weil Ärzte und Pfleger entlassen wurden, keine Mittel mehr für Therapien, Arzneien oder Operationen gewährt werden. Der öffentliche Dienst wird ausgedünnt, Löhne und Renten sinken, und die Rechte der Arbeitnehmer existieren nicht mehr; Kündigungen erfolgen nach dem Gutdünken der Betriebseigner. Zum Trost können die Hellenen den Lügen der Privatsender lauschen, denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde auch abgeschaltet. Die EU-Kommission und die Troika der europäischen Finanz-Statthalter loben die devote konservativ-sozialdemokratische Regierungskoalition für diese Wirtschaftsreformen: „Griechenland ist auf dem richtigen Weg.“

 

Unglücklicherweise werden im Ursprungsland der Demokratie immer noch freie Wahlen abgehalten. Wider alle väterlichen Mahnungen und Drohungen seitens der EU erteilten die Griechen der Linkspartei SYRIZA das Mandat, die Regierung zu bilden. Und nun geschieht Ungeheuerliches: Der neue Ministerpräsident Alexis Tsipras nennt die Hauptverantwortlichen für die Krise beim Namen – die heimische Oligarchie, ihre Verbündeten in Brüssel und Berlin, die enthemmt spekulierenden Banken, Weltkonzerne wie Siemens, die erst richtig ins Geschäft kamen, nachdem sie die Bestechlichkeit in den alten Parteien, in der Athener Beamtenschaft und im Beschaffungswesen der Armee ausgenutzt und befeuert hatten – und er erklärt, dass Schulden, die größtenteils nicht auf Darlehen, die nach Griechenland geflossen sind, sondern durch Zinzeszins, der durch Bewertungen dubioser Rating-Agenturen in die Höhe getrieben wurde und auf dessen Potenzierung Hedgefonds wetteten, nicht 1:1 zurückgezahlt würden. Das war unverzeihlicher Klartext, denn jeder weiß, dass solche fiktiven und durch Tricks entstandenen Geldsummen gar nicht beglichen werden könnten – man redet nur nicht darüber.

 

Zugleich kümmert sich die neue Regierung um die Obdachlosen, senkt die Energiepreise, erhöht die Mindestrenten und verfügt Wiedereinstellungen – lauter Maßnahmen, die von den Banken, den Wirtschaftsweisen und den EU-Schuldturmwächtern Merkel, Schäuble sowie Juncker gar nicht goutiert werden. Auch wenn Tsipras vielleicht am Ende vor der Übermacht der Wirtschaft und ihrer Polit-Büttel kapitulieren muss: Was er bis jetzt für die sozial Schwachen in Gang gesetzt hat, ist mehr, als alle EU-Regierungen in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet in ihren Ländern bewirkt haben.

 

Da wird es Zeit, dass ntv einen Börsenexperten mit dem von ehrlichem Abscheu diktierten Statement zitierte, Tsipras zeige „rücksichtsloses Geisterfahrerverhalten“. Der berühmte anonyme Börsenexperte! Der Fachmann in allen Spielarten von Roulette und Blind Poker, der den Ruin eines Betriebs und den Verlust tausender Arbeitsplätze für ein Schnäppchen billigend in Kauf nimmt, besitzt offenbar ein solch ausgewiesenes Gespür für Rücksicht, dass ihn der Spiegel und etliche andere staatserhaltende Presseorgane gerne zu Wort kommen lassen.

  

Verschämtes Schweigen

 

Szenenwechsel: Das Statistische Bundesamt in Karlsruhe kommt in der Erhebung „Leben in Europa 2011“ zu dem Ergebnis, dass jeder fünfte Deutsche arm ist. Rund 1,2 Millionen Mädchen und Jungen leben hierzulande gemäß einer UNICEF-Studie in „relativer Armut“, also in bedrückendem Milieu mit null Bildungs- und Aufstiegschance. In Griechenland wird ob solch düsterer Resultate die Regierung abgewählt, in Deutschland, das sich selbst als EU-Vorbild sieht, werden sie achselzuckend zur Kenntnis genommen. Die Medien berichten unter ferner liefen darüber und räumen dieser entscheidenden Information über den Zustand der Gesellschaft nur einen Bruchteil der Zeit und des Umfangs ein, die der Börsenberichterstattung, einem redundanten Gewäsch mit der inhaltlichen Substanz von Kommentaren zur Ziehung der Lottozahlen, zugestanden werden. Die paar ertappten Sozialhilfe-Betrüger haben ebenfalls wesentlich bessere Chancen auf fette Schlagzeilen (auch eher als Banker und Spekulanten, die Milliarden vernichten). Armut wird tabuisiert.

 

Und wo sie trotzdem sichtbar wird, kriminalisiert man sie einfach. Der Hamburger Flughafen hat im letzten Jahr 97 Strafanzeigen gegen Pfandsammler gestellt. Offenbar war die Leitung des Airports der Ansicht, man dürfe Fluggästen aus aller Welt, die in die hanseatische Geld- und Handelsmetropole die in Elbphilharmonie-Hybris schwelgt, einschweben, den Anblick dieses Teils der deutschen Realität nicht zumuten. Der Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer erklärte dazu: „Die meisten der Flaschensammler, die zu mir kommen, sind ehrliche und fleißige Menschen. Sie versuchen, sich legal über Wasser zu halten.“ Das ist in den Zeiten der finanztechnischen Manipulation und des wirtschaftspolitischen Betrugs wohl der falsche Weg. Dessen ungeachtet startete Karrenbauer eine Petition, in der die Flughafenverwaltung aufgefordert wurde, die Strafanzeigen zurückzunehmen und das Pfandsammeln wieder zu erlauben. Als binnen weniger Tage 57000 Unterschriften beisammen waren, lenkte die Airport-Gesellschaft ein: „Wir haben verstanden.“ Es darf bezweifelt werden, dass die Verantwortlichen Grundlegendes kapiert haben, sie haben nur erkannt, dass ihr asoziales Vorgehen ein noch schlechteres Bild in der Öffentlichkeit abgibt als ein paar in Abfalleimern stochernde Arme.

 

"Geisterfahrer" auf richtigem Kurs

 

Was in den Wirtschaftsteilen der großen deutschen Zeitungen und in den Märchenstunden vieler ARD-Nachrichtensendungen als Reform angepriesen wird, ist in Wirklichkeit Restauration, der Rückfall in vor-kapitalistische Formen der Machtausübung. Die Bürger verlieren nach und nach ihre gesetzlichen Ansprüche auf Gesundheitsfürsorge und soziale Infrastruktur, dazu vieles oder alles von dem, was an Arbeitsrechten und Alterssicherung einst erkämpft wurde. Sie werden zu Leibeigenen in einem virtuellen Feudalsystem, in dem ihnen die von ihren politischen und journalistischen Söldnern abgeschirmten Herren des wirtschaftlich-finanziellen Komplexes je nach Kalkül und Laune Wohltaten zukommen lassen oder Lebensgrundlagen entziehen. Und wer kann sich schon gegen die Luftnummern-Akrobatik von Banken, Börsen und Investment-Fonds zur Wehr setzen, wenn er vor sich nur noch dichten Nebel sieht?

 

Dieses System will die SYRIZA-Regierung nicht mehr bedienen, sondern zunächst das Überleben derer organisieren, die durch die Machenschaften der Profiteure aus der „interessanten“ kaufkräftigen Vasallen-Masse gefallen sind. Insofern fährt Alexis Tsipras eigentlich in die richtige Richtung, nämlich die der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Nur kommen ihm viele Geisterfahrer entgegen, die seinen Weg blockieren wollen.

 

Gut möglich, dass er scheitert, wenn die griechischen Milliardäre ihre mobilen Vermögenswerte aus Griechenland abziehen, wenn Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds die Embargo-Front anführen und Heuschrecken – wie im Falle Argentiniens – auf die Rückzahlung von Geldern, die mehrheitlich nie beim Schuldner ankamen, klagen. Wenn aber Podemos nach den Herbstwahlen in Spanien eine entscheidende Rolle spielen sollte, könnte das eine Lawine der Unterstützung in anderen Staaten lostreten. Die Gebeutelten und Fremdbestimmten nähmen dann die Allmacht von Finanzmarkt und Freihandel nicht mehr widerstandslos hin. Vielleicht nicht einmal mehr in Deutschland.

 

02/2015

 

Dazu auch:

Kanarische Lehren im Archiv derselben Rubrik

Ehrung des Pfennigs im Archiv derselben Rubrik

 

 

 

Rauch der Unschuld?

 

Colorado und drei andere US-Bundesstaaten haben es getan, Uruguay hat es auch getan, und Holland sowieso: Sie ließen den mäßigen Konsum der Cannabis-Produkte Marihuana und Haschisch auf ihren Hoheitsgebieten zu. Was als Traum der sanften Hippie-Generation galt, was einst eine Revolution aus Love, Peace and Happiness auslösten sollte, ist mancherorten also Wirklichkeit geworden, doch taugt die weiche Droge nicht mehr zum Symbol für Bewusstseinserweiterung - auch wenn die positiven Effekte der Legalisierung trotz des zu erwartenden Gerangels um die Marktanteile überwiegen.

 

In den USA ist es den regionalen Steuerbehörden und den Tabakkonzernen, die sich schon vor Jahrzehnten Namensrechte wie Acapulco Gold schützen ließen, ziemlich egal, ob die mild halluzinogene Wirkung des Raucherhanfs nun psychodelische Weiterungen zeitigt, also Konsumenten die fünfte Dimension öffnet, wie einst die Byrds meinten; es geht ihnen schlicht um zusätzliche Einnahmen und tatsächlich traumhafte Profite.

 

Rechtswissenschaftler, Psychologen und einige Sheriffs mit für diesen Job unüblichem Weitblick plädieren seit langem für die Freigabe des Marihuana-Gebrauchs. Einerseits weisen sie darauf hin, dass Verbote den Reiz einer Droge erhöhen, wie die wahnwitzige Suff-Welle im Nordamerika der Prohibitionsjahre belegt, zum anderen wird Cannabis bei Psycho-Therapien und in der Palliativmedizin bereits eingesetzt.


Entscheidend aber sei, so argumentierte vor allem die Regierung in Montevideo, dass durch die Legalisierung Konsum und Handel der Droge der Kontrolle der großen Rauschgiftkartelle entzogen würden. Tatsächlich lassen öffentlicher Verkauf und eine vernünftige Preisgestaltung unter Aufsicht des Staates die Fallzahlen der Beschaffungskriminalität im Kleinen und in größerem Maßstab die Profite der Mafia, für die Cannabis zwar nur eine nette,aber doch der Mitnahme werte Beiladung zum wesentlich lukrativeren Kokain-Geschäft darstellte, bescheidener ausfallen. Die großen Banken dieser Welt wird letzteres nicht freuen, weil es eine doch ansehnliche Geldsumme weniger zu waschen für sie gibt.

 

Wäre also der Weg frei für Mary Jane, Pot, Shit, Tonikum der Rock-Stars, Stimulans der Blumenkinder, Kraut der freien Liebe in den 60er und 70er Jahren. Doch in den Coffeeshops von Amsterdam ist nicht viel übriggeblieben von der Romantik der frühen Jahre, und einem jungen Kiffer aus Colorado oder Oregon, der gerade am PC ganze Welten zerschießt, würde die Suada eines Woodstock-Veteranen, der zufolge „Legalize it“ seinerzeit eine politische Forderung gewesen sei, nur ein müdes Lächeln abnötigen. Doch die angeblich transzendentale, mit der Welt aussöhnende Wirkung der (oftmals ordentlich gepantschten) Edelsorten wie Schwarzer Afghan, Roter Libanese oder Super-Grass aus Mexiko war schon zuvor gründlich entmystifiziert worden.

 

Klar, der Joint kreiste einst in unseren Runden und schuf – zur richtigen Musik genossen – ein hehres Gemeinschaftsgefühl, das oft mehr der Autosuggestion als einer heilsstiftenden Wirkung zuzuschreiben war; zudem kreißte er auch und gebar eine metaphysisch geprägte Vorstellung von Globus und Kosmos, über die wir heute nur noch nostalgisch bewegt lächeln können.


Dass aber Haschisch nicht unbedingt eine Friedensdroge sein muss, glaubten bereits Historiker herausgefunden zu haben, die über die (nach dem Stoff benannten) Assassinen forschten. Die aus der Islam-Sekte der Nizariten hervorgegangenen Attentäter und Erpresser, die im Mittelalter zwei Jahrhunderte lang ganze Landstriche in Persien und Syrien beherrschten (und auch mit den Kreuzrittern paktierten),  bereiteten ihre Krieger mittels exzessiver Cannabis-Verabreichung auf die Mordunternehmungen vor.


Und während in subversiven Zirkeln Chillums die Runde machten und Aktivisten die Joints im Protest gegen den Krieg gen Himmel reckten, turnten sich die Marines von Leutnant Calley mit Marihuana an, bevor sie im vietnamesischen My Lai mehr als Dorfbewohner massakrierten. Indischer Hanf wirkt eben nicht nur angstlösend – er kann auch zivilisatorische Beißhemmungen beseitigen.

 

Wie ambivalent sich das Verhältnis zur Gewalt auch bei gestandenen Kiffern äußerte, konnte man im Kultfilm Easy Rider zwei Songs der kanadischen Rock-Band Steppenwolf entnehmen: In „Don`t Step on the Grass, Sam“ wird die Symbolfigur Uncle Sam noch süffisant aufgefordert, die Pfoten vom Ganja zu lassen. Gleich das nächste Lied, „The Pusher“, gibt (die tatsächlich üblen) Heroin-Händler in reaktionärster Redneck-Manier zum letalen Abschuss frei.

 

Ob jemand sein Glas Wein braucht, zum Joint greift oder sich mit schwarzem Kaffee aufputscht, bleibt sich vom Motiv her gleich; Stress oder Einsamkeit, Reizüberflutung oder Gruppenzwang mögen die Auslöser absichtlich hervorgerufener Rauschzustände sein. Vielleicht ist es in einer Zeit der rasend flutenden Informationen und Desinformationen, eines schwer durchschaubaren Wechselspiels von Oberfläche und Hintergrund, Belanglosem und Entscheidendem kaum mehr möglich, ständig nüchtern und hellwach zu bleiben. Insofern ist Cannabis sicherlich den schleichend entmündigenden Tranquilizern, Amphetaminen oder Opiaten vorzuziehen – und es besitzt weniger Suchtpotential als Klosterfrau Melissengeist, die fromme Einstiegsdroge für den Altersalkoholismus hierzulande. Nur sollten wir uns (Und diese Erkenntnis wird altgedienten Noch- und Ex-Kiffern wirklich wehtun!) von der Vorstellung des psychodelischen Wundermittels verabschieden. Woodstock war vorgestern, das Big Business mit den wohlfeilen Träumen wird morgen anlaufen.

 

02/2015

 

Dazu auch:

Kokain im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

 

                 

 


 

Totschlag verbannt?

 

Das eine kulturelle Phänomen hat mit roher Gewalt zu tun, mit vorsätzlicher Körperverletzung und anrüchigem Milieu; das andere war ursprünglich dazu gedacht, das Informations- und Unterhaltungsbedürfnis der Bürger zu befriedigen und die Volksbildung zu heben. Als sich die beiden, so unterschiedlichen Massen-Amüsements zusammentaten, kamen dabei die Box-Nächte in der ARD heraus, und am Samstagabend polierten sich direkt nach dem Wort zum Sonntag irgendwelche von dubiosen Profi-Verbänden anerkannte Weltmeister und Herausforderer die Visagen. Damit soll es nun vorbei sein. Oder doch nicht?

 

Dass der Hochleistungssport für die ihn Betreibenden meist schlimme gesundheitliche Spätfolgen zeitigt, wissen zumindest die Mediziner, die sich an Bundesliga-Kickern mit abgehobelten Gelenken, Ski-Stars, die kaum mehr normal laufen können, oder Gewichthebern, deren Bandscheibenvorfälle Legion sind, versuchen müssen. Immerhin schaden sich die übereifrigen Akteure nur selbst. In einer Spielart der Schwerathletik aber versuchen die Cracks, ihren Gegnern (Sportsfreunden?) größtmögliche körperliche Schäden zuzufügen: im Boxen, und da vor allem im seit langem besonders umstrittenen Profi-Boxen.

 

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen verteidigt sich gegenüber Vorwürfen der auf die schnelle Quote und den langen Werbeblock fixierten Privat-Konkurrenz, es sei wegen der Zwangshonorierung durch den Bürger mit Wohnung und Rundfunkgerät bevorteilt, mit dem Hinweis auf seinen Bildungsauftrag und seine thematische Ausgewogenheit. Zweifellos gäbe es ohne die von der Allgemeinheit alimentierten Bundes- und Regionalprogramme weniger Qualität in der Glotze: keine Monitor-Recherchen mehr, die sich nicht um Proteste potentieller Reklamekunden scheren; auch die grandiose Anstalt dürfte ihre Spitzen sicherlich nicht auf Pro7 oder RTL verschießen, und etliche großartige Dokumentationen oder weniger massenkompatible Spielfilme hätten ohne die Ableger ARTE,  

3 SAT und Phoenix nie den Weg ins Wohnzimmer gefunden. Vielleicht muss man dafür auch tausende Stunden lang „Volksmusik“ für Halb-Debile, lieblose Ausrottung der skandinavischen Bevölkerung in endlosen Krimi-Serien aus dem hohen Norden oder Wetten-dass-Sie-Spaß-verstehen-Schrott in teurer Kulisse (oder alternativ dazu fernsehlose Abende) ertragen.

 

Pervers aber wurde es, wenn die um einen humanitären Anspruch bemühte ARD seit 2000 jedes Jahr in acht bis zehn Samstagnächten versuchten Totschlag en vivo zeigte und dem Boxstall Sauerland dafür an die 13 Millionen Euro überwies. Am Ring drängten sich Kiez-Größen, vergessene Models oder Schauspieler und andere B-Prominente ins TV-Bild, während sich im Seilgeviert oft schon schwer gezeichnete Veteranen um irgendwelche, von irgendjemandem ausgelobte Welt- oder Europa-Titel prügelten. Im April 2014 endlich kündigte die ARD den Vertrag mit Sauerland zum Jahresende nach heftigen Querelen in den Rundfunkgremien (das ZDF war schon 2010 ausgestiegen). Diese Entscheidung war längst überfällig, wie im folgenden belegt wird, und doch hielten sich die Intendanten des Ersten ein Hintertürchen offen, um auch fürderhin mit Blutrausch Quote zu machen.

 

Allein seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts starben an die 300 Profis im Ring oder unmittelbar nach dem Kampf. Meist gingen sie K.o., wobei ihr Gehirn bei Rotationsbewegungen des Kopfes, die das 50-fache der Erdbeschleunigung erreichen können, gegen die Schädelknochen prallte oder sie sich das Haupt auf dem Ringboden zerschmetterten. Nicht erfasst sind dabei die tödlichen Spätfolgen, denn die Fighter riskieren neben physiognomischen Entstellungen u. a. Schädigungen von Nervengewebe und Blutgefäßen, Risse von Leber und Milz oder Herzversagen. Selbst gute Boxer wie Muhammad Ali kassierten so viele Schläge, dass sie sich mit Parkinson durchs Alter schleppen müssen. Im Stammhirn und in den Schläfenlappen lagern sich vermehrt Neurofibrillen und Amyloide Plaques ab, was sonst für Alzheimer-Erkrankte typisch ist. Dazu werden die Hör- und Riechfunktion sowie der Gleichgewichtssinn stark beeinträchtigt.

 

Warum eine „vorsätzliche Körperverletzung wie der gezielte, regelkonforme K.o. straffrei gestellt und als sportlich vorbildlich präsentiert“ werde, fragte ein wissenschaftliches Autorenteam um den Münchner Psychiatrieprofessor Hans Förstl im Deutschen Ärzteblatt. Die Neurologen und Sportmediziner bezweifelten, dass „öffentlich-rechtliche Sendeanstalten mit Gewalt verherrlichenden Darbietungen ihrem Auftrag gerecht“ werden.

 

So viel Zweifel an der Darstellung der Faust-Gemetzel befiel die Intendanten der ARD-Regionalsender offenbar nicht. Vor allem der Bayerische Rundfunk und der MDR hätten gern an dem Brutalo-Spektake lfestgehalten und erreichten immerhin, dass auch künftig besonders wichtige Gladiatorenkämpfe mit Einzelfall-Genehmigung im Ersten gezeigt werden können.

 

Der Berliner Sauerland-Boxstall aber wandert mit Schlägern und Halbwelt-Publikum dorthin ab, wo er (wenn überhaupt) hingehört: ins private Fernsehen, zu Sat.1.

 

01/2015




2014

               

 

Deutsch muss gutt!

 

Lehrkräfte, die Einwanderer und Flüchtlinge in deutscher Sprache unterrichten, erklären ihren Schülern immer wieder, wie wichtig es für sie ist, das Erlernte auch in der Freizeit zu erproben. Die CSU, die darauf spezialisiert ist, aus einem Informationsfragment, verbreiteten Vorurteilen und unreflektierter Volksmeinung ein populistisches Allheilmittel anzurühren, hat daraus das ultimative Rezept für erfolgreiche Integration abgeleitet: Ali soll in Küche und Schlafzimmer mit Eheweib und Kindern zwingend nur noch die süße deutsche Sprache praktizieren. Angesichts des mit Hohn und Spott angereicherten Gegenwindes ruderte Generalsekretär Scheuer flugs zurück: Nur noch „motivieren“ möchte er nun die renitenten Fremdsprecher.

 

Pädagogen wissen, dass Kinder, die sich noch in der Phase der Sprachprägung befinden, Fremdsprachen spielend schnell und in spielerischer Manier erlernen, ohne sich mit Grammatik, Syntax oder Semantik, beschäftigen zu müssen – jenen Grundlagen, Konstruktionen und Sinneszusammenhänge, die ihre Eltern oft für lange Zeit in die Verzweiflung treiben. Würde in einer typischen Immigranten-Familie nur noch deutsch gesprochen, könnten die Kleinen, die ja keine Ahnung von den altersbedingten Unterschieden bei der Aneignung neuer Idiome haben, ihre radebrechenden Eltern auf Dauer nicht mehr ernst nehmen.

 

Ob die Nachwuchs-Muttersprachler später allerdings die CSU und vor allem das rhetorische Rüstzeug ihrer Spitzenpolitiker ernst nehmen werden, ist höchst fraglich, sieht und hört man sich deren bisweilen krude Redebeiträge an. Ja es drängt sich dem aufmerksamen Beobachter sogar die Frage auf: Welches Deutsch kann die Christsozialunion bei ihrem Motivierungsbefehl eigentlich gemeint haben? Oder: Handelt es sich bei dem Artikulationsgeröll der CSU noch um die deutsche Sprache, die wir alle zu kennen glaubten?

 

Schon der Gottvater der bayerischen Union, Franz Josef Strauß, ließ, zu den Massakern der chilenischen Armee nach dem Putsch gegen die Regierung Allende befragt, ein etwas eingetrübtes Verhältnis zur Sprache seiner Kindheit erkennen: „Wenn die Militärs eingreifen, ist das etwas anderes, als wenn Franziskaner Suppe verteilen.“ Ich möchte nun die Aufmerksamkeit der Leser nicht auf die menschenverachtende Essenz dieser Äußerung lenken, sondern auf ihre metaphorische Schieflage und das Schotterbett des Ausdrucks. Würde ich einen ähnlich sinnentleerten Vergleich und holprigen Duktus bemühen, könnte ich mich des folgenden Satzes auf jedem Politischen Aschermittwoch rühmen: „Wenn Zuwanderer integriert werden, ist das doch etwas anderes, als wenn CSUler Dummheiten an Stammtischen vor sich hin brabbeln.

 

Der erfolglose Strauß-Nachfolger und Skandal-Amigo Max Streibl legte ganz harte Bandagen an, wenn es sich um die Spezies der Außerbayerischen (boarisch: Saupreißn, fränkisch: Gschwaddl) handelte: „Wenn einer glaubt, er muss sich mit Bayern anlegen, der muss wissen, dass wir dann auch etwas härter hinlangen.“ Aus dem herrlich eigenwilligen Bajuwaren-Platt ins Hochdeutsch übertragen: Wer auch nur glaubt, etwas gegen die südlichen Freistaatler vorbringen zu können, wird sehr schnell wissen, dass es dann auf die Schnauze gibt.

 

Dass die CSU nicht nur in ewig-gestrigem Slang verharrt, sondern sich zumindest in Teilen bemüht, den Sprachtrends der Moderne zu folgen, vor allem, wenn sie Sachverhalte knapp und klar deutlich machen, zeigt das Beispiel ihres Stadtratskandidaten Fabian Giersdorf im mittelfränkischen Roth. Auf seinem Wahlplakat steht unter einem Milchbubi-Konterfei die markige Textzeile des Gangsta-Rappers Haftbefehl: Chabos wissen, wer der Babo ist!“ By Jove, echt fettes Deutsch, Alter!

 

Unkommentiert soll der folgende (völlig unveränderte) Auszug aus einem unvergesslichen Statement des ehemaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber („Wer randaliert, fliegt raus, und wer kein Deutsch kann, kommt gar nicht erst rein.“) bleiben, in dem dieser den Bau der Transrapid-Geisterbahn zu rechtfertigen suchte:

 

 „Wenn Sie vom Flug … vom Hauptbahnhof starten – Sie steigen in den Hauptbahnhof. Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen Franz Josef Strauß. Dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München. Das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern … an die bayerischen Städte heranwächst, weil das ja klar ist, weil auf dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.“

 

Zunächst die gute Nachricht: Stoiber ist immer wieder nach Deutschland reingekommen und auch hier geblieben. Für die Herren und Damen Migranten allerdings fällt nur eine relevante Warnung ab: Wenn Sie sich mittels Erwerbs der deutschen Sprache vollständig in die hiesige Gesellschaft integrieren wollen, meiden sie CSU-Veranstaltungen und halten Sie sich von bayerischen Polit-Stammtischen fern!

 

12/2014

 

 

 

Den Arm abhacken

 

 

Man mag das innerbetriebliche Taktieren der GDL nicht unbedingt für solidaritätsfördernd halten, man kann die Existenz von Spartengewerkschaften als spalterisch ansehen, eins aber muss man zugeben: Erst durch die Abweichler gewinnen Herweghs Verse aus den Frühzeiten der Arbeiterbewegung „Alle Räder stehen still/Wenn dein starker Arm es will“ neue Bedeutung, während sich die müde gewordenen Arme mancher DGB-Funktionäre nur noch in Aufsichtsratssitzungen heben oder zur Unterzeichnung von Tarifverträgen, die nach viel Radau einvernehmlich und nicht sehr lukrativ für die Kollegen ausgehandelt wurden, aufs Papier senken. Nun aber naht Andrea Nahles und will die Grundlagen der Rebellion so gründlich einebnen, dass Tarif-und Streikrecht sowie ein Teil des beides schützenden Grundgesetzes nicht mehr wiederzuerkennen sein würden. 

 

Mehr Geld und Sicherheit

 

DLG-Chef Claus Weselsky, ursprünglich nur für die Zugfahrer zuständig, äußert sich oftmals etwas ungeschickt und macht es so den Medien leicht, seine aktuellen Forderungen auf eine "durchsichtige Kampagne" zur Rekrutierung neuer Gewerkschaftsmitglieder aus anderen Bahnbereichen und zur Mehrung der eigenen Macht zu reduzieren. Im Kern sind seine Postulate aber durchaus vernünftig: Wer könnte angesichts derTatsache, dass Lokführer mit durchschnittlich 2700 € brutto mehr als 500 € unter dem bundesdeutschen Mittellohn liegen, etwas gegen fünf Prozent mehr haben? Die im DGB organisierte Konkurrenzgewerkschaft EVG pocht sogar auf sechs Prozent, schweigt aber zum zweiten wichtigen Vorhaben der GDL. Die Arbeitszeit von 39 Stunden in der Woche soll um 120 Minuten verkürzt werden. Die Fahrer, die in jeder Sekunde höchst konzentriert sein müssen, denen ständig bis zur Dienstunfähigkeit eskalierende Traumatisierungen durch Unfälle und Selbstmorde auf den Schienen drohen, malochen also vier Stunden länger als ihre wesentlich besser verdienenden Kollegen in der Metall- oder Druckindustrie! Eine Verringerung der Regelarbeitszeiten und ein Abbau von Überstunden würden zwangsläufig zu Neueinstellungen führen und brächten, ganz nebenbei, mehr Sicherheit für die Fahrgäste der Deutschen Bahn.

 

Dass die GDL jetzt auch für die anderen Berufsgruppen des Zugpersonals verhandeln will, mag im Sinne einer solidarisch-starken Interessenvertretung fragwürdig erscheinen, Grund hierfür könnte aber auch sein, dass die EVG (im Spötter-Jargon die Hausgewerkschaft des Bahnvorstands) es bislang nicht geschafft hat, die Saläre der Zugbegleiter oder Rangierer, die mehrheitlich bei ihr organisiert sind, signifikant über die funktionale Armutsgrenze zu hieven; Schaffner verdienen rund 40 Prozent weniger als der normale deutsche Arbeitnehmer. Derzeit wirkt die GDL einfach schlagkräftiger als die meisten DGB-Einzelgewerkschaften.

 

Die Bahn als treusorgende Mutter

 

Die DB, jenes Staatsunternehmen, das sich schon vor Jahren zum privaten Global Player mausern und an die Börse gehen wollte, geriert sich nun als Fürsprecherin der vom GDL-Streik gebeutelten Passagiere und macht sich gramgebeugt Sorgen um die Tarifeinheit in Deutschland. Kahlschlag-Sanierer wie Mehdorn und Grube dünnten die Stammbelegschaft aus, betrieben ein radikales Outsourcing sicherheitsrelevanter Wartungsarbeiten, verkürzten die Schulungen der Lokführer und ließen das Gleisnetz verrotten. Die Fahrgäste litten und leiden unter Verspätungen, verlässlich kam nur die alljährliche Erhöhung der Fahrpreise. Und nun barmt dieses gnaden- und bodenlose Bahn-Management um die armen Menschen in den Wartesälen!

 

Der Bundesbürger zeigt gern Verständnis dafür, dass Menschen einen Anspruch auf bessere Bezahlung und anständigere Arbeitsbedingungen durchsetzen wollen – es sei denn, er selbst ist von einem Ausstand betroffen. Dann hört er lieber auf den Teil der Medien, der aus der GDL eine erpresserische Gang macht, oder gleich auf die Stimme der Vernunft, die DB also, die jetzt ihre Chance gekommen sieht, künftig nur mit einer Lieblingsgewerkschaft zu verhandeln.

 

Das Chaos und die Schuldigen

 

Es war die Wirtschaftsverbände und Unternehmen, die jede Einheit in der Produktion und Dienstleistung zerstört haben, die ein Chaos los traten, das sie zu nutzen und zu beherrschen glaubten. Unter dem Druck von Großinvestoren, Banken und Aktionären wurden kompakte Firmen in Profit Centers zerschlagen, Produktionsstrecken ins Ausland verlegt, originären Betriebsleistungen an Fremdfirmen vergeben, Tarifverträge unterlaufen, die Lohnkosten mittels Leiharbeit und Werkvertrag gesenkt, die Sozialabgaben minimiert. Nicht zu reden von den ständigen Schließungsdrohungen, mit denen die Betriebsräte kirre gemacht werden sollten...

 

Wer gegen ein mit Tricks und Nötigung arbeitenden Gegner kämpft, muss das Märchen von der Sozialpartnerschaft schleunigst vergessen und harte Bandagen anlegen. Wer die DB, eine halb öffentliche Institution, die sich als knallharter Player im neoliberalen Sinn versteht, zu substantiellen Zugeständnissen, zu weniger schlechter Entlohnung ihrer Beschäftigten und etwas moderateren Arbeitsbedingungen zwingen will, muss sie dort treffen, wo es ihr wehtut. Und dazu gehören nicht die Pfründe des Managements, denn dessen Hardliner haften nicht für Fehlentscheidungen oder Zugausfälle, sie verlieren auch keinen Cent aus der Privatschatulle; dazu gehört auch nicht das laufende Geschäft, denn die Auswirkungen von Stockungenwerden durch vertragliche Regelungen, Streikbrecher und eine stille Reserve von Beamten notdürftig im Rahmen gehalten. Empfindlich und nachhaltig kann die Bahn nur von der Unzufriedenheit und der Abwendung der Kunden, seien es Spediteure oder Fahrgäste, erschüttert werden.

 

Allerdings segelt Bahnchef Grube eine ganze Propaganda-Armada, von den Springer-Zeitungen bis zu den öffentlich-rechtlichen Nachrichten-Flaggschiffen zu  Hilfe, die – ohne über die Hintergründe des Streiks und die Zwangsläufigkeit der von der GDL angewandten Taktik zu berichten – in Claus Weselsky den Staatsfeind Nr. 1 ausgemacht haben. So richtet sich der Zorn der Kunden nicht gegen jene, die eine erträgliche Existenz Tausender zerstört haben und die anderer weiter gefährden, sondern gegen die Betroffenen, die es wagen, mit unorthodoxen Methoden zurückzuschlagen.

 

Eine Partei schafft sich ab

 

Und nun betritt die Politikin ihrer Lieblingsrolle als Pannenhelferin im Auftrag der Wirtschaft die Bühne. Großspurig war früher verkündet worden, man wolle die Finanzmärkte regulieren, die anarchische Brut des Raubtier-Kapitalismus einfangen und in den Käfig der sozialen Verantwortung sperren. Inzwischen hat man längst kapituliert – zu undurchsichtig war das gigantische Geflecht aus Lobbyismus, Shareholder-Value, Monopolisierung im Handel, Zersplitterung im Unternehmen - und der profitablen Verwicklung der eigenen Kollegen und Parteien.


Wenn wir schon der Macht keine Zügel anlegen können, sollten wir uns in ihren Dienst stellen und die andere (wesentlich schwächere) Seite ihrer Waffen berauben, um wenigstens dort marktgerechte Ordnung zu halten, dachten sich die deutschen Mehrheitsfraktionen. Schließlich war es ungebührlich, dass die GDL die bislang den Konzernvorständen vorbehaltene Maxime „Teile und Herrsche!“ nun plötzlich gegen eben diese in Stellung brachte. Entschärfen wir doch das Streikrecht ein wenig, hieß es in den geistesgelichteten Reihen der Großen Koalition.

 

Wie immer aber bedurfte es erst der SPD, um die Axt an den ohnehin dürren Baum der sozialen und arbeitsrechtlichen Errungenschaften zu legen. Arbeitsministerin Andrea Nahles, in ihrer Jugend als links verschrien, mittlerweile wohlfeile Lebendbeute des Systems, möchte vorgeblich die Einigung zwischen konkurrierenden Gewerkschaften vorantreiben, indem sie in einem Gesetzesentwurf zur Tarifeinheit der im Betrieb stärker vertretenen Organisation das Recht zum Vertragsabschluss zubilligt. Tatsächlich besorgt sie so das Geschäft der Arbeitgeberverbände.

 

Wir erinnern uns: Ein Helmut Kohl, reaktionär und marktfreundlich, wie er nun mal war, meinte stets, die Reichen sollten ihren Bimbes mehren, dafür aber einige Scherflein für die Allgemeinheit abdrücken. Rudimentäre Absicherungen für Arbeitslose wollte er nicht antasten, um den „sozialen Frieden“ nicht zu gefährden. Erst der Genosse der Bosse, Gerhard Schröder, schaffte die Vermögenssteuer ab und strich Mittellosen die Arbeitslosenhilfe (die sie sich zuvor verdient hatten) zu Gunsten der  Hartz-IV-Almosen. Auch jetzt hält sich Kanzlerin Merkel merklich zurück und überlässt es ihrer SPD-Ministerin, die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer auszuhöhlen. Während die CDU für solche fortgesetzten un- und asozialen Aktivitäten wütenden Protest geerntet hätte, sehen die Betroffenen einer ehemaligen Arbeiterpartei weitgehend sprachlos zu, wie sie wieder einmal – diesmal zum Glück nur in übertragenem Sinne – den „Bluthund“ (nach SPD-Noske) stellt.

 

DGB vor der Zerreißprobe


Leider ist der Artikel 9 Abs. 3, der die Gründung von Gewerkschaften in allen Betrieben und für alle Berufe garantiert, kein Grundrecht, sondern eine „zivilrechtliche Vorschrift in Verfassungsrang“. Mit einer einfachen (nicht absoluten) Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag – und über die verfügt unsere Sozialdemokratenunion – ließe er sich ändern und einschränken.

 

Welche Gefahr sich bei dem Vorhaben, Tarifabschlüsse in einem Betrieb exklusiv einer Mehrheitsgewerkschaft zu gestatten, auftut, erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Was ist überhaupt ein Betrieb? Eine separate Abteilung? Ein Werk? Ein Standort? Eine Produktionseinheit? Oder ein ganzer Konzern? Aus Profit- und Steuergründen haben Unternehmen auf diese Fragen immer schon die für sie passenden Antworten gefunden.  

 

Eine Gruppe linker Ver.di-Mitglieder, die auch zur Unterschriftenaktion „Hände weg vom Streikrecht!“ (s. Website Unruhestiften unter Wichtige Links) aufrufen, warnen vor diesem Hintergrund: „Wer hat denn große Belegschaften in viele kleine Einheiten gespalten und so eine gemeinsame Interessenvertretung der Beschäftigten immer schwieriger gemacht? Wer hat … einzelne Beschäftigte, kleinere Betriebseinheiten oder ganze Standorte erpresst und aus dem Flächentarif vertrieben?“  Und tatsächlich sind es die Brandstifter, die nach der Feuerwehr rufen, um nach deren Einsatz die Unternehmen so zu zerlegen, dass sie immer mit der ihnen genehmen Arbeitnehmerorganisation verhandeln können. Erfahrung besitzen sie bereits genügend mit Intrigen wie der von den Vorständen initiierten Gründung von Pseudo-Gewerkschaften bei Siemens und Daimler oder der Kungelei mit den Lohndrückern der mittlerweile vom Bundesarbeitsgericht zerschlagenen Tarifgemeinschaft christlicher Gewerkschaften.

 

Eigentlich müsste der DGB geschlossen aufbegehren, geraten doch auch seine Einzelgewerkschaften in die Gefahr, durch das „Zuschneiden von Betrieben“ wie die GDL in die Minderheit zu geraten bzw. dort gehalten zu werden und somit als Verhandlungspartner für die Konzerne auszufallen. Doch der schwache Dachverband windet sich hin und her (mit Tendenz zur neuen „Tarifeinheit“), und die mächtigen Industrie- wie Dienstleistungsgewerkschaften stehen sich in beinahe antagonistischer Unversöhnlichkeit gegenüber. Die IG Metall, die sich in Fragen der Rüstungsexporte und Auslandseinsätze immer staatstragender gibt, will die kleine, aber kampfstarke Konkurrenz vom Hals haben und unterstützt Nahles. Ihr sekundiert die IG Bergbau, Chemie, Energie, die immer schon gern mit den Konzernvorständen kuschelte (wie man es ja auch der EVG bei der Bahn nachsagt).


Dagegen warnt Ver.di, sekundiert von der NGG (Nahrungs- und Genussmittel, Gastronomie) und der kleinen Lehrergewerkschaft GEW, vor einer Kastration des Streikrechts. Das eine oder andere ältere Mitglied mag sich auch noch daran erinnern, wie prachtvoll die syndikalistisch organisierten Spartengewerkschaften in Großbritannien einst ihre Forderungen durchsetzten.

 

Die DB kann dieser Diskussion im anderen Lager gelassen zusehen. Sie legt einfach kein tragfähiges Angebot vor und wartet ab, bis die GDL, jetzt schon als Spielverderberin denunziert, von Arbeitsministerium und Volksmund endgültig disqualifiziert wird.

 

11/2014      

    

 

   

Comeback der Narren 

 

Es gibt wenig Positives zu vermelden aus einer Medienlandschaft, hinter deren informellen Nebelschleiern und (ver)blendenden news flashs sich nur noch konturlose Tiefebene zu verbergen scheint. Umso überraschender ist es, dass gerade in einem Genre, das sich vermeintlich dem Zeit-Ungeist besonders bereitwillig unterworfen hatte, dem Kabarett nämlich, neuer Widerstand gegen die Halb- und Unwahrheiten in Presse und Politik aufflammt. Die ZDF-Sendung „Neues aus der Anstalt“ konterkariert seit einigen Monaten die üblichen harmlosen Nummern-Revuen der deutschen Gesellschaftssatire mit aggressiver Aufklärungsarbeit, ohne dabei den nötigen (Galgen-)Humor missen zu lassen.

 

Vorbei die Zeiten, da sich Franz-Josef Strauß bei der ARD über das „bayernfeindliche“ Bild beschwerte, das der Münchner Kabarettist Dieter Hildebrandt von seinem schwarzen Musterland entworfen hatte. Und der „Scheibenwischer“, den der BR 1986 sogar für eine Folge absetzen ließ, um das Freistaatsvolk vor linker Nestbeschmutzung zu schützen, wurde nach Hildebrandts Abgang 2003 von Beschwichtigungs-Oberlehrern wie Bruno Jonas oder Klamauk-Spezialisten wie Mathias Richling, der Stimmenimitation für Sozialkritik hielt und schmissige Travestie allemal wichtigen Inhalten vorzog, in die Untiefen des Mainstreams manövriert. Nachdem mit Georg Schramm der letzte provokante Denker den „Scheibenwischer“ verlassen hatte und nach weiteren Wirren Richling das Brettl ebenso lauten wie platten Comedians öffnen wollte, untersagte Dieter Hildebrandt die Weiterführung des Namens.

 

Kabarettisten verändern die Welt nicht, sie können ihr– im besten Fall – nur verklickern, wie sie wirklich ist, ihr die eigene bodenlose Falschheit und ihre Feigheit gegenüber der Macht um die Ohren hauen. In Feudalzeiten waren es die Hofnarren, die zwar ihren gekrönten Herren zur Belustigung dienen mussten, ihnen aber als einzige Untertanen ungeschminkte Wahrheiten an den Kopf warfen und dabei hoffen durften, ungeschoren davonzukommen. Das politische Kabarett versuchte später, dem neuen Souverän, dem Volk, den Spiegel so vorzuhalten, dass die Strippenzieher im Hintergrund sichtbar wurden. Von solch entlarvenden Intentionen verabschiedete sich die Polit-Satire im deutschen Fernsehen mit atemberaubender Geschwindigkeit.  Was ist in Zeiten der gedanklichen Kurzlebigkeit die dröge Wahrheit, selbst in sorgfältiger humoristischer Metamorphose, schon gegen den seichten, aber schrillen Gag?

 

Als 2007 der umtriebige Urban Priol und Georg Schramm, der das Auflachen zum Nachdenken gefrieren ließ, im ZDF die „Anstalt“ aufschlossen, gab es wieder Hoffnung. Dubiose Dinge und oftmals deren Urheber wurden so unverblümt beim Namen genannt, wie das bei der biederen Mainzer Institution noch zehn Jahre zuvor kein Mensch hätte erahnen können. Allerdings neigte der durchaus witzige Priol dazu, Bedenkenswertes im Fass der Pointen-um-jeden-Preis-Manie unterzubuttern, als über die Bühne fegendes Rumpelstilzchen die Nachhaltigkeit einer Sottise der Situationskomik zu opfern (was auch seine neue Sendung „Ein Fall fürs All“ bislang auf niedrigem Niveau hält). Als sich Schramm, wohl auch ein wenig erschöpft, zurückzog, zeigte Frank-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig, dass er sehr wohl als Komiker mit Lokalkolorit zielgenau Missstände (oder besser: anrüchige Kooperationen) attackieren kann (legendär seine Verflechtungsstudie zu Merkel & Konsorten und Trilateraler Kommission & Konsorten). Dennoch muss man sich fragen, ob die Figur des bauernschlauen, nissigen Kleinbürgers mit Handtäschchen, Hütchen und unterfränkischem Proll-Dialekt der Erweiterung und Vertiefung der Themen noch angemessen ist oder langsam zum Präsentationsklischee durchaus wichtiger Inhalte verkommt.

 

Als Pelzig und Priol Ende 2013 die „Anstalt“ verließen, musste man das Schlimmste für die letzte verbliebene Oase (zumindest ansatzweise) systemkritischer Satire fürchten. Doch es kam anders: Die „Neuen“, Max Uthoff und Claus von Wagner, stürzten sich mit einer im deutschen Kabarett seltenen Angriffslust und rücksichtsloser Frechheit auf alle möglichen herumliegenden Probleme, die medial bislang eher verschwiegen, verzerrt dargestellt oder völlig umgedeutet worden waren, nannten die Fälscher in Politik, Wirtschaft sowie öffentlicher Meinung beim Namen und drehten den Popanz aus Heuchelei, Rechtfertigung eigener Machtdurchsetzung bei gleichzeitiger Diffamierung anderer Interessen (besondere Spezialität des deutschnationalen Traumpaars Merkel/Steinmeier) vom Kopf auf die Füße zurück.

 

Uthoff und von Wagner mögen keine klar typisierten Kunstfiguren wie Priol und Pelzig verkörpern, es fehlt ihnen vielleicht ein wenig an Hildebrandts Nachdenklichkeit, aber sie verbinden die Ernsthaftigkeit eines Georg Schramm mit der Genauigkeit von System-Chirurgen; sie recherchieren einfach besser als andere. Wenn sie die tatsächlichen Hintergründe der Ukraine-Krise (und die Journalisten-Lügen dazu), den tolerierten Charme der Steuerhinterziehung, den TTIP-Wahnsinn oder die ursprünglichen Ziehväter des Islamischen Staates ins Visier nahmen, lieferten sie Fakten und interpretierten diese im Dissens zum monopolisierten Meinungskanon. Dass sie beim Aufgreifen heißer Eisen auf Tempo, Slapstick und gelegentlich auf Kalauer setzen, ist ihnen nicht anzulasten – ein Kabarettabend ist schließlich kein Seminar in politischer Ökonomie. Bleibt nur zu hoffen, dass die Zuschauer nach der Sendung darüber nachdenken, über welche Bloßstellung irrwitzigen Machtmissbrauchs sie da eben gelacht haben, und vielleicht ein paar Fakten im Netz nachschauen.

 

Das ZDF wäre nicht das ZDF, hätte es nicht in Sorge um die Seelenruhe seines Publikums „Neues aus der Anstalt“ schon längst in die späten Stunden verlegt. Zu viel Kritik am frühen Abend beeinträchtigt den friedlichen Schlummer und leistet politischen Nachtmahren Vorschub. Daher lassen die öffentlich-rechtlichen Anstalten zunächst das Sandmännchen los, strahlen ihre Märchensendungen wie „Heute“ oder die „Tagesschau“ aus und hoffen, dass der strebsame Malocher, das Salz der Erde sozusagen, längst im Bett liegt, wenn diese subversive Anstalt öffnet.

 

11/2014

 

Dazu auch:

Gedanken zum Tod Dieter Hildebrandts: Wen der Geier lobt… im Archiv derselben Rubrik          

 

 

Ehrung des Pfennigs

 

Kreatives Denken und Einfallsreichtum haben sich längst von der realen Wirtschaft verabschiedet und das Parallel-Universum eines Finanz- sowie Börsenhandels generiert, in dem mit Phantasie-Produkten und imaginärem Warentausch sehr viel (tatsächlich vorhandenes) Geld gescheffelt wird. Geschädigt wird dadurch unter anderem der Staat, doch können dessen Behörden nicht zeitnah auf Lug und Betrug in großem Stil reagieren, da sie damit beschäftigt sind, die Verstöße von Hartz-4-Empfängern gegen ein ausgefeiltes Regelwerk in diesem Bereich schärfstens zu ahnden, sozusagen akribisch auf das Kupfergeld zu achten, während  Milliarden Silberlinge abfließen.

 

Soeben hat die Münchner Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Verantwortlichen eines Kapitalanlagefonds wegen sogenannter Cum-Ex-Geschäfte aufgenommen. Bei diesen auch als Dividendenstripping bezeichneten Deals sollen Steuern in Höhe von 350 MillionenEuro hinterzogen worden sein.


Zu solchen Wirtschaftsdelikten ist eine besonders intensive kriminelle Energie nötig, denn hier wird dem Fiskus nichts verschwiegen, vielmehr fordern die (mutmaßlichen) Delinquenten vom Finanzamt frech die Rückerstattung von Steuern, die sie gar nicht entrichtet haben. Und da der Gesetzgeber Wichtigeres zu tun hatte und dabei vergaß, für eine wirksame Regelung zu sorgen, ist nicht einmal sicher, ob für diesen Diebstahl von Volksvermögen überhaupt ein Akteur bestraft werden kann …

 

Eine knappe und möglichst einfache Beschreibung des Sachverhalts: Ein Investor verkauft eine Aktie, die ihm noch gar nicht gehört (!) und die er sich erst bei einem Dritten besorgen muss (Fachterminus: Leerverkauf). In juristischem Sinn hat das arme Wertpapier nun gleich zwei Besitzer, nämlich den Käufer und jenen Dritten, der geliefert ,aber noch keinen Gegenwert erhalten hat. Das Ganze findet stets kurz vor der Dividendenausschüttung statt, so dass einer der Eigentümer-Zwillinge den Aktienbonus kassiert und dafür Kapitalertragssteuer abführt. Die Rückerstattung dieser Steuer beantragen und erhalten aber beide Eigner!

 

Bereits 2002 warnte sogar der Bankenverband den damaligen Finanzminister Hans Eichel (SPD) vor der Gesetzeslücke; der jedoch unternahm nichts. Erst 2007 untersagte die Regierung Ex-Cum-Geschäfte, wenn sie über inländische Banken liefen, nicht aber solche ausländischer Geldinstitute. Laut Spiegel wurde unter Nachfolger PeerSteinbrück (SPD) sogar detailliert in Bundesdrucksachen beschrieben, wie die Abzocke funktioniert (was einige Banken beflügelte). Während Zeitungen wie das Handelsblatt oder der Berliner Tagesspiegel 2013 sofortige Regelungen anmahnten, blieb auch Merkels Finanzminister Wolfgang Schäuble weitgehend untätig. Erst jetzt wird gegen die langjährigen Profiteure einesBeschaffungssystems, das wie die geistige Ausgeburt eines genialischen Irrenhaus-Insassen anmutet, vorgegangen, nur dass im Grunde der Straftatbestand nicht klar ist.

 

Die Übeltäter sollen  (vermutlich zu Peanut-Strafen) verurteilt werden, obwohl sie nur taten, was ihnen legal erschien, was zumindest nicht dezidiert zum Verbrechen erklärt worden war. Und das, obwohl der deutsche Staat im Laufe der Jahre um bis zu zwölf Milliarden Euro geschädigt worden war!

 

Die Beamten des Finanzministeriums antworteten schon im vorigen Jahr auf eine Bundestagsanfrage, es existiere gar keine Gesetzeslücke, die „betriebenen Modelle sind illegal“. Der gesunde Menschenverstand wird ihnen in dieser Einschätzung gerne folgen – schließlich dürfte man auch niemanden umbringen, wenn die Legislative vergessen hätte, den Tatbestand Mord ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Ob allerdings die Justiz das auch so sieht, muss sich erst noch erweisen.

 

Milliarden wurden also von Spekulanten, Investmentbankern und Fonds-Managern entwendet. Zwar berichteten SZ, WDR und NDR unlängst darüber, zwar ordnete der Spiegel den Skandal in seiner Brisanz durchaus richtig ein, doch bleibt die Empörung aus, die einschlägige Medien bei Berichten über Unterschleif  und Schludrigkeit in der Dritten Welt oder südeuropäischen Staaten verlässlich befällt? Wer posaunt die Versäumnisse (oder zeitweise Komplizenschaft) der Politik in der Öffentlichkeit aus, ereifert sich über die brutale Raffgier der Finanzgeier, über das volkswirtschaftlich relevante Ausmaß der Betrügereien?


Vielleicht ist es schon zur liebgewordenen Gewohnheit des deutschen Bürgers geworden, sich allabendlich amüsiert zu wundern, wie souverän die hessischen Behörden vier Steuerfahnder, die ihre Nasen zu tief in die goldenen Eselsäpfel der Finanzaristokratie steckten, psychiatrieren konnten, wie fix die Justiz einen Uli Hoeneß für eine knapp bemessene Spanne in den Knast schickte, bevor er möglicherweise noch mehr ausplaudern und ehrenwerte Menschen belasten konnte, wie gediegen die Chefs der Deutschen Bank bei den Vorladungen wirken, die sie wegen Falschaussage oder Manipulation von Indizes erhalten haben: Kavaliersdelikte allesamt.  Da machen die auf echte Übeltaten von echten Asozialen, auf die man herabschauen kann, erpichten Journalisten lieber Jagd auf Sozialhilfe-Schwindler und Hartz-Lügner, die den Staat um Hunderte, seltener um Tausende, geprellt haben und noch 500 Jahre so weiter machen müssten, ehe sie einen dem White-Collar-Crime vergleichbaren Schaden anrichten könnten - an der vordersten publizistischen Front finden sich dabei natürlich die Schreiber von Bild und anderen Krawallblättern.


Diesem Land scheint nicht nur der Sinn für Verhältnismäßigkeit und gesellschaftliche Relevanz abhanden gekommen zu sein, es lässt sich mittlerweile von Gentleman-Gangstern nicht nur ausrauben, sondern auch prächtig unterhalten – wenn es deren Machenschaften überhaupt wahrnimmt.

 

Fast scheint es, als würden Politik, Behörden und Medien die Dachzeile „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ des von Georg Büchner herausgegebenen Hessischen Landboten konterkarieren wollen: Geschnüffelt wird in Sozialwohnungen, während die Wolkenkratzer im Bankenviertel meist unbehelligt bleiben.

 

10/2014    

          

 

 

Pressefreiheit???

Versuch einer Annäherung

 

Als Maßstab für den Grad kultureller Entwicklung und individueller Gestaltungsmöglichkeiten in einer Gesellschaft wird immer wieder die Pressefreiheit (mittlerweile auch angesichts neuer Informationsformen Medienfreiheit genannt) angeführt. Doch bei Begriffen mit Absolutheitsanspruch wie diesem stößt man häufig auf Fragen und Kritik, die aus verschiedenen Richtungen und Motiven vorgebracht werden und belegen, dass man sich einem Phänomen, das umso vielschichtiger oder amorpher wird, je konsequenter man die verschiedenen Sichtweisen betrachtet, nur annähern kann. Die „landläufige“ Definition legt meist fest, wer über Einfluss, Geld und (Meinungs-)Macht verfügt.

 

Abwesenheit von Gefahr

 

Schon der Begriff „Freiheit“ zieht unzählige unterschiedliche Interpretationen nach sich. Für die Mehrzahl der Erdbevölkerung bedeutet Freiheit als (nie kennengelernter) Idealzustand die Abwesenheit von Hunger, Krieg, Unterdrückung, Armut, Krankheiten etc. (je nach Weltregion differieren die Prioritäten). Im großen Dreiklang der Französischen Revolution (liberté, fraternité, egalité) ist die bürgerliche Freiheit gemeint. Die „Freiheit des Eigentums“, spottete einst Friedrich Engels, verwandelte sich dabei für Kleinbürger und Kleinbauern aufgrund der Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzes sehr schnell zur „Freiheit vom Eigentum“.

 

Die künstlerische Freiheit verstanden Musiker, Maler oder Literaten als die Entfaltung der Kreativität ohne Rücksicht auf politische oder pekuniäre Interessen, während im Gegensatz dazu die Neo-Liberalen die Freiheit des Marktes als von keiner Gemeinschaft und keiner Rücksicht eingeschränkte Option zur Ausbeutung von Menschen und Natur-Ressourcen postulieren.

 

Was ist dann Pressefreiheit? Die internationale Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) stellt alljährlich eine globale Rangliste von Ländern hinsichtlich des Grads der dort herrschenden Medienfreiheit auf, begibt sich dabei allerdings in Gefahr, Äpfel mit Birnen zu vergleichen und die Unabhängigkeit von staatlichen Interessen ein wenig einzubüßen.


So landet Mexiko, das über angesehene Blätter wie Excelsior (zwar mit der Regierungspartei PRI verbandelt, aber auch mit hochwertigem Kulturteil), UnomásUno (regierungskritisch) oder La Jornada (die vielleicht beste linke Tageszeitung in spanischer Sprache) verfügt, nur auf Platz 152. Hier berücksichtigt ROG, dass zahlreiche Journalisten in den letzten Jahren (vornehmlich von der Kokain-Mafia) umgebracht wurden: Gefahren für Leib und Leben, Menschenrechtsverletzungen und Repressionen gegen Andersdenkende sind tatsächlich Indizien für eingeschränkte Freiheit. Warum dann aber Thailand, dessen informativ dürftige Medien ein Schattendasein in der politischen Meinungsbildung führen, 22 Ränge besser postiert ist, obwohl der Herausgeber eines Magazins zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er die Veröffentlichung eines Berichts über unsaubere Machenschaften eines Mitglieds der Königsfamilie zuließ, wird wohl das Geheimnis der ROG-Juroren bleiben. Und dass Staaten wie Haiti, Belize und Kap Verde, wo die Medienfreiheit schon wegen des weitgehenden Mangels an Publikationen relativ wenig eingeschränkt wird, weit vorne zu finden sind, verzerrt das Bild ebenso wie die Platzierung des immer restriktiver werdenden Ungarns an 64. Stelle.

        

Vielfalt für wen und wozu?

 

Michael Rediske, einst Chefredakteur der taz und Manager der später insolventen Spiele-Firma citikey, bevorzugt als geschäftsführender Vorstand gegenüber dem Ver.di-Medienmagazin M die eher einfältige Argumentation: „Wir als ROG beurteilen dabei die Vielfalt der Medien eines Landes, nicht deren Qualität.“ Demnach könnte Schund in mannigfaltiger Ausführung als Beleg für die Pressefreiheit dienen…

 

In der überaus blutigen mexikanischen Revolution war der Indianer-Führer Emiliano Zapata einer der wenigen politisch denkenden und sozial bewussten Handelnden. In einem Aufruf entlarvte er die Parolen der Regierung als hohle Versprechen: „Was bieten uns Carranza und seine Leute?...Pressefreiheit für jene, die nicht lesen können.“ Tatsächlich müsste man zunächst fragen, wem eine qualitativ nicht hinterfragte, oberflächliche Medienvielfalt nutzen soll: dem „Konsumenten“, dem Journalisten oder dem Verleger?

 

Sieht man sich die Kriterien, nach denen die ROG-Juroren die Staaten-Rangliste aufstellen, genauer an, stößt man auf bemerkenswerte Prioritäten: An Journalisten in aller Welt wird ein Fragenkatalog gesandt, der gleich im zweiten Punkt (nachdem zunächst korrekt die Menschenrechtssituation eruiert wird) den Privatbesitz von Medien in den Mittelpunkt stellt. Nicht öffentlich-rechtliche Modelle werden also als Garanten für unabhängige Publikation gesehen, sondern marktgerechte Eigentumsverhältnisse. In diesem Zusammenhang ist es sicher kein Zufall, dass sich ROG, eigentlich eine Nichtregierungsorganisation, seit der Reagan-Zeit Projekte von NED, einem Fonds des US-Kongresses, und später auch von der EU finanzieren ließ.

      

Die Freiheit des Verlegers

 

Linksgerichtete Regierungen fast aller lateinamerikanischen Staaten sehen sich Medien gegenüber, die von Großverlegern kontrolliert werden, deren Macht und Vermögen in den Zeiten der Rechts-Diktaturen und konservativen Klüngel-Regimes gedeihlich wuchsen. Das Gesellschaftsbild, das von Zeitungen in Venezuela oder Ecuador propagiert wird, orientiert sich an den Segnungen des US-Kapitalismus und diffamiert Ansätze zu sozialem Wandel und Förderung elementarer Bildung als kommunistische Wühlarbeit. Pressefreiheit wird quasi dazu genutzt, Alphabetisierung zu bekämpfen. Wehren sich die Regierungen und versuchen, einen Staatsfunk aufzubauen (der sicherlich auch gegen-propagandistisch genutzt wird), werden sie von ROG mit hinteren Platzierungen abgestraft.

  

In Argentinien schreibt die wichtigste Tageszeitung Clarín gegen die ziemlich chaotische Regierung Kirchner an – das gute Recht eines oppositionellen Blattes, hätte Clarín nicht alle Reputation verspielt, als die Verleger und Redakteure schamlos mit der Diktatur der Generäle, die mindestens 30.000 Menschen das Leben kostete, kungelten.


Wes Brot ich ess…

 

Hierzulande tragen die zunehmende Konzentration auf dem überregionalen Zeitungsmarkt und die Monopolstellung etlicher Heimatblätter innerhalb ihres Verbreitungsgebiets nicht gerade zur Vielfalt und Qualität des

Journalismus bei. Da werden früher unabhängige Gazetten in verschiedenen Städten von einer Kernredaktion mit uniformen Inhalten beliefert, zu dem dann Rumpfbelegschaften vor Ort lediglich noch etwas Lokalkolorit beisteuern dürfen. Wenn ein Zeitungsverlag auch noch den Alleinvertrieb in einer Region organisiert, hat er kaum mehr Konkurrenz zu fürchten, was häufig dazu führt, dass immer schludriger recherchiert und immer ungenierter mit den politischen Provinzgrößen geflirtet wird. Die Textqualität hatte zuvor schon abgenommen, als wegen technischer Entwicklungen die Setzer und die Korrektoren entlassen worden waren.

 

Der Redakteur einer deutschen Tageszeitung verdient nicht schlecht, sollte aber nicht gegen den politischen Tenor seines Blattes und die Interessen seines Verlegers anschreiben, will er weiter Karriere machen und nicht Opfer der nächsten Rationalisierungswelle werden. Nicht immer ist die Gängelung so offensichtlich wie beim Springer-Verlag, der in der Tradition von Tendenzbetrieben wie denen von Kirchen oder Parteien die journalistischen Berufsanfänger eine arbeitsvertragliche Verpflichtung zum „Unternehmensleitsatz“ unterschreiben lässt, der zufolge sie „sich für die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den USA einsetzen“ müssen. Mit anderen Worten: Bei NATO-Kritik endet für Springer die Pressefreiheit.

 

Journalisten in Lohn und Brot sind erpressbar, denn sie wollen nicht ihren gesellschaftlichen Status und ihre materielle Absicherung verlieren. Doch neben den Redakteuren kämpfen noch ganze Heere arbeitsrechtlich weniger abgesicherter „fester freier Mitarbeiter“ sowie weitgehend rechtloser Honorarschreiber und Praktikanten um einen Platz an der Medienfront und um ein wenig Zeilengeld. Wer will sich da den Unwillen des Verlegers durch abweichende Meinungen zuziehen? Dass es dennoch bisweilen zu herausragenden investigativen Artikeln und erhellenden Meinungsbeiträgen kommt, erklärt sich aus pluralistischen Spielwiesen, die guten Stilisten immer noch eingeräumt werden. So findet man im Spiegel hin und wieder gut recherchierte Reportagen, die so mancher systemischer Verwerfung nachspüren, obwohl das Magazin in der Grundtendenz nach rechts in eine nationale Ecke abgleitet. Und während in der FAZ die tonangebenden Ressorts Politik und Wirtschaft stramm neoliberale Züge erkennen lassen, dürfen sich im Feuilleton die kritischen Geister austoben.

 

Viele Journalisten haben sich im „geschützten“, aber von kommerziellen Domänen eingegrenzten Raum bequem eingerichtet oder sich resigniert in die „innere Emigration“ geflüchtet. Immerhin aber gaben 77 Prozent der für eine Allensbach-Studie befragten Redakteure an, die Pressefreiheit sei „durch einen Zwang zur Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Interessen des eigenen Medienhauses“ gefährdet. Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger sieht derweil die Risiken anderswo: Nach seiner Ansicht würde die Pressefreiheit durch die Einführung von Mindestlöhnen für Zeitungszusteller gefährdet…

          

Die Hüter der „Wahrheit“

 

Ausgerechnet ein erzkonservativer Ex-General, der scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower, warnte 1961 vor dem „militärisch-industriellen Komplex“, einem Konglomerat von Wirtschafts- und Rüstungslobbyisten sowie Politikern, dessen Ziel die Erhaltung und der Ausbau des Einflusses der herrschenden Eliten war. Diese klandestine Macht hinter der administrativen Fassade organisierte sich in meinungsbildenden Grüppchen und Zirkeln, die sich von den USA aus global ausbreiteten und deren bekanntester Think Tank die Trilaterale Kommission wurde.

 

Neben Politikern (u. a. Henry Kissinger, Angela Merkel), Geheimdienstchefs wie dem späteren US-Präsidenten George Bush und Finanzmagnaten (David Rockefeller, Josef Ackermann) gehörten zunehmend leitende Journalisten solchen Think Tanks an, so dass man mittlerweile von einem militärisch-publizistisch-wirtschaftlichen Komplex sprechen könnte.

Den Anfang in Deutschland machte der frühere Zeit-Herausgeber Theo Sommer (Trilaterale Kommission). Inzwischen gehören dem Think Tank "Atlantik-Brücke", der von Bild-Chef Kai Dieckmann geleitet wird, die Außenressort-Verantwortlichen Frankenberger (SZ) und Kornelius (FAZ), Welt-Korrespondent Stürmer sowie Herausgeber Joffe (Zeit) an; im Kuratorium sitzt Claus Kleber, ZDF-Nachrichtenleiter, der auch noch Mitglied des ähnlich gestrickten Aspen-Instituts ist. Schlicht ausgedrückt, besteht die Aufgabe der Atlantik-Brücke darin, die Vormachtstellung der USA und die globale Durchsetzung westlicher Interessen strategisch zu zementieren. Journalisten sind in solchen „Denkfabriken“ eher Juniorpartner oder Erfüllungsgehilfen der tatsächlichen Entscheider. Da solche Organisationen wie Freimaurer-Logen arbeiten, müssen die Edelfedern jede Selbstverpflichtung zur Pressefreiheit (und Machtkontrolle) an der Garderobe abgeben, denn sie dürfen nur die für die Öffentlichkeit freigegebenen Ergebnisse publizieren, unterliegen hinsichtlich der Vorgehensweise und tatsächlichen Absichten aber der Schweigepflicht (in ähnlichen Milieus auch als omertà bekannt).

 

Die wohl bekannteste (und berüchtigtste) meinungsbildende Geheimorganisation in Europa ist die nach einem belgischen Hotel benannte Bilderberg-Konferenz, auf der seit 1954 üppig dekorierte Militärs, Staatmänner wie Helmut Schmidt, Industrielle wie FIAT-Eigentümer Giovanni Agnelli und Hochadelige wie Prinz Bernhard der Niederlande den leitenden Redakteuren von Zeit oder Spiegel nahebrachten, wie die Politik der NATO (aktuell auch bei der Befriedung der Ukraine) oder die Entwicklung des interkontinentalen Warenaustauschs zu kommentieren seien. Derzeit gehört die Propagierung des (für soziale Standards und unabhängige Rechtsprechung fatalen) Freihandelsabkommens mit den USA (TTIP) zu den vornehmsten Aufgaben der „Bilderbergler“, die mit Sicherheit das Phänomen „Pressefreiheit“ ganz anders umschreiben würden als moralisierende Kolumnisten…

 

07/2014

Dazu auch:

Qualitätsente (in ebenfalls in der Rubrik Medien)

Kahlschlag ( im Archiv der Rubrik Medien

 

 

 

Doofe Spione?

 

Da haben wir dann mal die Türkei ausspioniert und zufälligerweise Hillary Clintons Gesäusel abgehört, äh… und das von US-Außenminister John Kerry auch... Tröpfchenweise erfährt die Öffentlichkeit, was der Bundesnachrichtendienst (BND) so treibt, und fragt sich, ob unsere Agenten nun besonders abgefeimt oder schlichtweg doof sind, wenn es um die Planung und Einschätzung der eigenen Aktivitäten geht. Die Antwort ist gar nicht so leicht, eines aber kristallisiert sich bei einigem Nachdenken heraus: Die deutschen Geheimdienste sind gefährlich – vor allem für die Demokratie.

 

Wo man suchen könnte…

 

Was BND, MAD (Militärischer Abschirmdienst) und Verfassungsschutz in den letzten Jahrzehnten so alles veranstaltet haben, lässt viele Fragen offen, etwa solche nach den Absichten, den Strategien (so vorhanden), dem Sinn und der mentalen Gesundheit der Initiatoren, vor allem aber sollte man sich sorgen, wes Ungeistes Kinder eigentlich die Mitarbeiter unserer Geheimorganisationen sind. In der noch jungen Bundesrepublik waren die Dienste (wie andere Behörden auch) von Alt-Nazis durchseucht. Zwar hat sich dieses Problem mittlerweile aus biologischen Gründen erledigt, doch könnte man bei näherem Hinsehen zu dem Schluss kommen, viele geistige Abkömmlinge dieser Brut seien auch weiterhin für unsere Sicherheit zuständig. Dazu stoßen vor allem beim BND noch Schnüffler, die ihre Vorbilder offensichtlich in den Big Brothers von der NSA finden.

 

Aber auch James-Bond-Filme scheinen einst die deutschenTop-Spione inspiriert zu haben: Vor 25 Jahren wurden auf dem Münchner Flughafen 363 Gramm waffenfähiges Plutonium sichergestellt und ein Kolumbianer sowie zwei Spanier festgenommen, die das gefährliche Material in Moskau erworben und in einem Koffer nach Deutschland geschmuggelt hatten, um es dort für 435 Millionen Mark zu verkaufen. Skandal! Russische Schludrigkeit! tönten unisono Presse und Bundesregierung, die bereits Atombomben in den Händen von Terroristen wähnten, bis sich herausstellte, dass die Schieber vom BND angeworben worden waren. V-Leute der Pullacher Behörde hatten den Deal eingefädelt; ob aus Geldgier, aus Geltungsbedürfnis oder aus morbider Abenteuerlust – darüber rätselt die Öffentlichkeit bis heute vergebens.

 

Inzwischen wird klar, warum der frühere Kanzleramtschef Frank Walter Steinmeier, Verbindungsmann der Schröder-Regierung zu den Geheimdiensten, so beredt schwieg, als die Lauschangriffe der NSA auf seine jetzige Vorgesetzte ruchbar wurden. Einerseits arbeitete der BND in Pullach auf Geheiß des jetzigen Außenministers eng mit den US-Agenten zusammen, zum anderen hörte der Dienst wohl auch in eigener Regie die Telefonate nordamerikanischer Politiker systematisch ab.

 

Es habe sich „um Zufallsprodukte anderer Operationen gehandelt“, verteidigt sich der BND. Jedes Mal, wenn das Telefon bei einem klingelt, muss man nun befürchten, dass sich Hillary Clinton oder John Kerry schon wieder verwählt haben und man so aus Versehen im Mitschnitt-Archiv unseres Auslandsgeheimdienstes landet. Der hat aber auch die Türkei ausspioniert, was sogar Jürgen Trittin gut findet. Schließlich grenzt unser NATO-Freund ja auch an Syrien sowie den Irak und wird von Islamisten als Auf- und Abmarsch-Basis genutzt. Bequemer, effektiver und diplomatisch weniger anrüchig wäre es allerdings für die Nachrichtendienstler, die deutsche Rüstungsindustrie, deren Export-Partner und Handelswege zu observieren. Bei den Empfängern und Nutzern der Präzisionswaffen Made in Germany würden sie sicherlich genügend verdächtige Elemente finden…

 

Offenbar möchte der BND ein ganz Großer werden. Gauck und von der Leyen träumen ja bereits von der Weltmacht Deutschland, die tunlichst international überall mitmischen soll – auch wenn man dabei ein paar Soldaten verheizen muss. Da möchten die Spione natürlich nicht zurückstehen und sich auf den Schutz der Heimatfront beschränken, sondern auch mit zündeln wie CIA und NSA. Die Bundesregierung zeigt Verständnis für den Ehrgeiz der Pullacher und wird ihnen im Rahmen der „Digitalen Agenda“ mehr als 300 Millionen Euro bis 2017 zusätzlich zur Verfügung stellen, um intensiveres Daten-Abgreifen im Internet (vornehmlich auch bei Facebook und Twitter) zu ermöglichen.

 

Financiers des NSU

 

Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz soll 55 neue Planstellen sowie technische Analysewerkzeuge erhalten, um seine IT-Aktivitäten voranzutreiben, also intensiver und flächendeckender digital bespitzeln zu können. Dass die Inlandsspionage mit ihren 16 Landesämtern dringend eine Mittelaufstockung benötigt, erklärt sich schon aus der großzügigen Alimentierung der Neonazis, die in Scharen als V-Leute geführt werden.

 

Der Untersuchungsausschuss des Thüringer Landesparlaments, der sich – übrigens wesentlich intensiver als sein Pendant im Bundestag – mit dem Fahndungsversagen der Behörden vor, während und nach der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) befasste, bezeichnete die Arbeit von Innenministerium, Landeskriminalamt und vor allem Verfassungsschutz als „Fiasko“ und „Desaster“. Auf der (vorgeblichen) Suche nach den mutmaßlichen Serienkillern Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sei so viel verschwiegen, vertuscht und verpfiffen worden, dass man nicht mehr nur von „unglücklichen Umständen“, „Pannen“ oder „Fehlern“ sprechen könne. Und dann kommt das Gremium (fast) auf den Punkt: Der „Verdacht gezielter Sabotage oder des bewussten Hintertreibens des Auffindens der Flüchtlinge“ liege nahe.


Auch Polizisten und Staatsanwälte sagten aus, die Zielfahnder seien kurz vor dem Zugriff „immer wieder verraten“ worden, der Verfassungsschutz habe ihnen ständig Informationen zum Verbleib der damals noch nur wegen Sprengstoffbesitzes Gesuchten vorenthalten. So konnten die drei NSU-Terroristen 13 Jahren lang untertauchen und zehn Menschen ermorden. Anscheinend waren sie die meiste Zeit finanziell ganz gut gestellt, denn sie hatten genügend Unterstützer in der rechtsextremen Szene – offenbar auch solche, die auf der Honorarliste des Thüringer Verfassungsschutzes standen. Die Grundgesetzhüter begnügten sich nämlich laut Ausschuss-Bericht nicht nur damit, Spitzel in das Neonazi-Umfeld einzuschleusen, sie statteten auch die geistigen Väter der braunen Horden mit den nötigen Mitteln aus. So wurden an den Gründer des rechtsradikalen Thüringischen Heimatschutzes (THS), Tino Brandt, der als V-Mann tätig war, „neben Sachmitteln übermäßig hohe Prämien ausgereicht“. Neben dem THS gehörte die mittlerweile verbotene Organisation Blood & Honour zu den Unterstützergruppen des NSU. Über deren Thüringer Sektionsleiter, der ebenfalls als V-Mann agierte, nahm der Verfassungsschutz möglicherweise direkt Einfluss auf das Wirken der rechten Rassisten.

 

Einen kleinen Schritt hätte der Untersuchungsausschuss noch gehen müssen und er wäre zu den Kernfragen vorgestoßen: Bestehen die deutschen Neonazi-Gruppen und ihre Leitungen bereits zur Hälfte aus Verfassungsschützern und deren Spitzeln, die – finanziell gut ausgestattet – inzwischen die Strategien festlegen und  Handlungsanweisungen geben? Oder sind gar die Verfassungsschutzämter der Länder bereits überwiegend von gewaltbereiten Faschisten infiltriert?

    

Schützt uns vor den Verfassungsschützern!

 

Man kann davon ausgehen, dass die wenigsten Mitarbeiter des Verfassungsschutzes das Grundgesetz so gut kennen wie die Übeltäter, denen sie Jahrzehnte lang nachspürten, linken Studienreferendaren, Anti-Kriegs-Demonstranten oder NATO-Kritikern also. Wer verpflichtet sich schon bei den staatlichen Gesinnungsschnüfflern, wenn er gesellschaftliche Emanzipation anstrebt? Folglich wird unser Grundgesetz aus der Tradition heraus ebenso wie in der kontrollwütigen Gegenwart von rechts-konservativen Beamten „geschützt“, von denen der eine oder andere durchaus Sympathien für abseitige Ideologien hegen und Verbindungen zu Hitlers Erben pflegen dürfte…

 

Ähnliches gilt für die anderen beiden Geheimdienste, den von Reinhard Gehlen (der 1941 den Überfall auf die Sowjetunion mit geplant hatte) gegründeten BND und für den MAD, der ebenfalls seine Insider-Kontakte zum NSU unterhielt: Uwe Mundlos hatte nämlich 1994/95 in der Bundeswehr gedient und war den militärischen Abschirmern wegen seiner extremistischen Neigungen aufgefallen. Eine Befragung durch einen Mitarbeiter hat der MAD zugegeben, nach Aussagen eines früheren Schulfreundes müssen aber mehrere Gespräche stattgefunden haben. Offenbar war der MAD mit der Haltung des späteren Terroristen so zufrieden, dass er ihn nicht durch Protokoll-Niederschriften desavouieren wollte.

 

Der Verfassungsschutz schützt und finanziert Neonazis, der MAD plaudert offenbar zwanglos und ohne schriftliche Aufzeichnung mit potentiellen Rechts-Terroristen, der BND späht im Zweistromland Angriffs- und Bombenziele für die US-Army aus und macht Deutschland de facto zum Kriegsteilnehmer, während sich die Bevölkerung in der stolzen Gewissheit sonnt, ihr Land nehme nicht an Bushs Irak-Invasion teil. Die Geheimdienste hierzulande belügen die Menschen, vertuschen Verbrechen, stiften womöglich als agents provocateurs selber zu solchen an, bespitzeln kritische Geister, decken Neonazis – und kosten sehr viel Geld.


Das Fazit kann deshalb nur lauten: Schafft sie ab, sie schaden dem Land und erbringen keinerlei Nutzen! Faschisten können in Zukunft von Menschenrechtsgruppen korrekter beobachtet werden, für gewaltbereite Dschihadisten ist die Polizei zuständig, und den in der Tat nötigen Schutz vor wirtschaftlicher oder politischer Ausspähung im Internet könnte der Chaos Computer Club übernehmen. Dessen Mitglieder handeln jedenfalls kompetenter und verantwortungsbewusster als durchgeknallte oder rechtsextreme Spione mit staatlichen Tantiemen.

 

08/2014

Dazu auch:

Blind mit System im Archiv dieser Rubrik

Partei der V-Leute im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

 

 

 

Glaubt ihnen nicht!

 

Eigentlich müsste man derzeit nach Erkennungsmelodie und Publikumsbegrüßung von den Moderatoren und Sprechern der Tagesschau, des Heute-Magazins, der ARD-Brennpunkte oder der Tagesthemen folgendes hören: "Liebe Zuschauer, wir möchten uns dafür entschuldigen, dass wir Sie in den letzten Monaten getäuscht und belogen haben, dass wir Ihnen Fakten verschwiegen und Fälschungen vorgesetzt haben." 

 

Dies wird natürlich nicht geschehen, auch wenn harsche Kritik des ARD-Programmbeirats und des ZDF-Fernsehrats an der Ukraine-Berichterstattung ihrer eigenen Sender einen solchen Kotau nahelegen. Die Mentoren des Zweiten waren durch einen Beitrag in der Jüdischen Allgemeinen aufgeschreckt worden, in dem der Autor monierte, dass die Hakenkreuze und SS-Runen auf Uniformen und Helmen des Bataillon Asow im ZDF unkommentiert geblieben seien. Stattdessen seien die in der Ostukraine an der Seite der von Kiew entsandten Armee kämpfenden Neonazis in der TV-Reportage als "Freiheitskämpfer" stilisiert worden.

 

ZDF-Intendant Tom Buhrow und WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn machten intern kein Hehl aus ihrer journalistischen Präferenz, "die westlichen Positionen zu verteidigen". Sekundiert wurden sie dabei von ARD-Chefredakteur Thomas Baumann, der den Vorwurf der tendenziösen Berichterstattung "energisch" zurückwies, und von der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen, die schon früh vor Kritik an den Faschisten unter den Majdan-Demonstranten warnten, da Moskau eine solche für seine Zwecke "instrumentalisieren" könne. Um die NATO-Verbündeten nicht zu diskreditieren, schreckten die öffentlich-rechtlichen Sender, die sich gern als Hüter der journalistischen Objektivität gerieren, auch vor Tatsachenverdrehungen nicht zurück: Als die ukrainische Nationalgarde während des Sezessions-Referendums im Osten des Landes beim Sturm auf ein Wahllokal um sich schoss und zwei Menschen tötete, berichteten ARD und ZDF übereinstimmend, Separatisten hätten die Zivilisten angegriffen.   

 

Einen havarierten syrischen Helikopter präsentierte die ARD als "von russischen Separatisten abgeschossenen Hubschrauber", und die Bilder von einer Demonstration der Sezessionsgegner in einem Stadion in Donezk waren ebenfalls getürkt: Die Tagesthemen zeigten eine volle Arena in orangefarbenem Fahnenmeer - Aufnahmen dubioser Herkunft. Tatsächlich war das Stadion nämlich fast leer gewesen. Da fragte selbst Ursula Scheer in der keiner Russland-Sympathien verdächtigen FAZ: "Hat das Erste also mit Bildern gelogen?"    

 

Mit Ausnahme einiger weniger, um Ausgewogenheit bemühter Beiträge in ttt, Monitor oder Panorama (und der entlarvenden Satire in Neues aus der Anstalt) befleißigten sich ARD und ZDF einer rabiaten anti-russischen Propaganda und der Sprache des Kalten Krieges. Präsident Putin, durchaus nicht über inhaltliche Kritik erhaben, wurde zum finsteren Schurken dämonisiert, während der Expansionismus des Westens und dessen Komplizenschaft mit korrupten Oligarchen sowie ausgewiesenen Faschisten bagatellisiert oder ganz totgeschwiegen wurde.

 

Folgerichtig monierte der ARD-Programmbeirat auch, dass weder eine differenzierte Berichterstattung über die politischen und strategischen Interessen der NATO und die Inhalte des Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine noch über die Interessen Russlands stattgefunden habe, dass der Einfluss rechtsradikaler Kräfte im Maidan-Rat ebenso wenig untersucht worden sei wie die Verfassungskonformität der Absetzung Janukowitschs. Weiter bemängelte der Beirat, die Rolle der (korrupten) Magnatin Julia Timoschenko und des Ex-Boxers Witali Klitschko (Oligarchen-Günstling und Faschistenpartner) sei nicht analysiert worden. Zudem habe man keine belastbaren Belege für die oft wiederholte Behauptung, russische Armeeangehörige hätten die Krim infiltriert, vorgelegt.

 

Die öffentlich-rechtlichen Anstalten stehen weiterhin unter dem Kuratel der Politik, ihre führenden Redakteure beziehen ihre Doktrinen aus den  Thinktanks der NATO-, EU- und Wallstreet-Strategen (etwa der Bilderberg-Konferenz). Zwar sind Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von ARD und ZDF in der Bevölkerung angesichts allzu offensichtlicher Manipulation in den Keller gefallen, doch steter Gifttropfen höhlt den Stein...

 

Dass die Ukraine-Berichterstattung in den westlichen Medien kein fahrlässiger "Ausrutscher" oder kurzzeitiger Blackout der journalistischen Sorgfaltspflicht ist, zeigt ein anderes Beispiel: In Spanien wurde der Report einer Gruppe von Medienwissenschaftlern aus verschiedenen Ländern zur Rezeption Venezuelas in der Weltpresse veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass die vier größten Medienkonzerne Südamerikas eine konzertierte Kampagne gegen die linksgerichtete Regierung in Caracas gestartet haben und alle Nachrichten aus dem Land sorgsam filtern, frisieren und international verbreiten. So sorgen sich regelmäßig 80 der größten internationalen Zeitungen (darunter auch die New York Times oder El País in Spanien) um die Pressefreiheit in Venezuela, obgleich dort fast 90 Prozent aller Medien in der Hand von Oppositionellen sind. Die Popularität der Regierungspartei wird ebenso verschwiegen wie deren Erfolge bei der Armustsbekämpfung, in der Gesundheitsfürsorge oder bei der Alphabetisierung. Die "demokratische Zensur", die auch in deutschen Medien Wirkung zeigt, führt dazu, dass international nur ein Prozent aller Berichterstattung über dieses unbotmäßige Land positive Aspekte enthält.

 

10/2014

 

Dazu auch:

Pressefreiheit??? im Archiv derselben Rubrik       

   

 

  

Die Macht des Autors

 

Viel ist in den letzten Wochen über Gabriel García Márquez geschrieben worden, Anekdotisches, Interessantes und durchaus auch Erhellendes über sein Leben und sein Schaffen. Der Medienrummel um den Tod des kolumbianischen Schriftstellers macht letztmals ein Phänomen sichtbar, das bislang selten zu registrieren war und das es möglicherweise nie wieder in dieser Ausprägung geben wird: Die Prosa eines Giganten in Phantasie und Sprachgestaltung fasziniert Kritiker, beschäftigt Staatsmänner und wird sogar von Menschen geliebt, die gar nicht in der Lage sind, sie zu lesen. Was in manchen Hommagen zu kurz kommt: García Márquez war zeitlebens ein engagierter Mahner, und sein literarisches Werk ein Politikum.

 

Chancen und Grenzen von Literatur

 

Es existieren Legenden und es gibt harte Fakten, wenn es um den gesellschaftlichen, historischen oder politischen Einfluss von Literatur geht. „Onkel Toms Hütte“, der etwas sentimentale, aber humanistisch ambitionierte Roman von Harriet Beecher Stowe habe den nordamerikanischen Bürgerkrieg ausgelöst – behauptet die Legende. Tatsächlich wollten die zunehmend industrialisierten Staaten der Union die Sezession des vom Landadel dominierten Südens nicht hinnehmen. Fakt ist aber auch, dass Beecher Stowe`s Buch viele Menschen im Norden aufrüttelte, die zuvor zwar die konföderierte Sklavenhalter-Gesellschaft abgelehnt hatten, nicht  aber den Handel mit Sklaven, an dem auch die Union verdiente.

 

Die Französische Revolution von 1789 wurde durch den sieben Jahre zuvor veröffentlichten Roman „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos geistig vorbereitet, ein Intrigenprotokoll, das die Skrupellosigkeit und den menschenzerstörenden Zynismus des Adels den Bürgern und vor allem Bürgerinnen gegenüber entlarvt.

 

Weniger wirkungsmächtig zeigt sich die Relevanz eines Literaten, wenn er – wie Günter Grass – so lange unkontrolliert verbale Rundumschläge austeilt, bis auch seine wichtigen Argumente nicht mehr ernstgenommen werden, oder wenn er – wie der spätere Nobelpreisträger-Kollege Vargas Llosa - sich vom linken Saulus zum neoliberalen Paulus wandelt und in Peru als reaktionärer Präsidentschaftskandidat scheitert.


Solche Schwächen leistete sich Gabriel García Márquez nicht. Er blieb auf der Seite der Ausgebeuteten, klagte den Kulturimperialismus europäischer und nordamerikanischer Provenienz an und stieg doch zum meistgelesenen Schriftsteller in spanischer Sprache nach Cervantes auf, inspirierte gleichzeitig mehr Kollegen in aller Welt als jeder andere Autor in den letzten Jahrzehnten und galt selbst den mäkeligsten Kritikern als unangreifbares Genie.

   

Nachlese: Kosmos in der Nussschale

 

Schon der erste Roman „Laubsturm“ war ein filigranes Meisterwerk, in dem die flirrend heiße Tropenwelt, ein wirres Mosaik aus Farben und Düften, vom bis zur Selbstaufgabe sturen Wesen ihrer Bewohner konterkariert wird. Schritt für Schritt führte der Weg zu immer dichteren Panoramen, von „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“ über „Die böse Stunde“ bis hin zum vielleicht größten Roman unserer Zeit, „Hundert Jahre Einsamkeit“, mit dem der Autor die Joyces`sche Forderung, die „Welt in einer Nussschale“ darzustellen, einlöste. Dem globalen Durchbruch folgten weitere Werke auf ähnlich hohem sprachlichem Niveau wie „Chronik eines angekündigten Todes“, „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ und vor allem das wunderschöne „Von der Liebe und anderen Dämonen“, doch wird die Geschichte des ewigen Scheiterns der Buendías im allegorischen Dorf Macondo für immer das opus magnum Lateinamerikas, in seiner grenzenlosen Phantasie und stilistischen Bedeutung nur  dem „Don Quijote“ oder dem „Ulysses“ vergleichbar, bleiben.

 

Auch in den – großenteils differenzierten und lesbaren – Nachrufen der deutschen Literaturkritik wurde García Márquez als „Weltmaestro“ (FAZ) oder „Magier für Millionen“ (SZ) gewürdigt. Die größte spanische Tageszeitung „El Pais“ widmete dem Verstorbenen sogar 60 (!) Seiten, vielleicht auch zum Dank dafür, dass „Hundert Jahre Einsamkeit“ nach seinem Erscheinen 1967 ein wenig Licht in die trüben letzten Jahre der geistesfeindlichen Franco-Ära warf.

 

Beispiellos war der Einfluss des Kolumbianers auf die Literatur außerhalb des europäisch-amerikanischen Kulturkreises. In Afrika entstanden fiktive Diktatoren-Porträts nach dem Vorbild von „Der Herbst des Patriarchen“, und die jungen chinesischen Autoren fanden nach ihrer Gängelung durch die Kulturrevolution bei García Márquez neue Ausdrucks- und Darstellungsformen. Der Nobelpreisträger Mo Yan: „Er ist wie ein Glutofen, der eine unglaubliche Energie ausstrahlt. Wir chinesischen Schriftsteller sind da wie Eisblöcke.“ Und auch „Die Mitternachtskinder“, ein früher (und der beste) Roman von Salman Rushdie, gilt noch heute als indische Replik auf „Hundert Jahre Einsamkeit“.  

 

Held der Analphabeten

 

In den deutschen Feuilletons klingt immer wieder an, man müsse García Márquez die lebenslange Freundschaft mit Fidel Castro wie eine Jugendsünde verzeihen. Doch schon sein argentinischer Kollege Julio Cortázar hatte geschrieben, der Sieg der kubanischen Revolution habe „nicht nur eine bloße geschichtliche oder politische Genugtuung“ für ihn bedeutet, sondern auch „eine Verkörperung der Sache des Menschen, wie ich sie schließlich erfasst und ersehnt hatte“. Man darf nicht vergessen, dass auch heute noch Kuba trotz aller – zumindest teilweise einem den Revolutionären in Havanna von Washington aufgezwungenen Krieg auf Leben und Tod geschuldeten – Repressionsmaßnahmen für viele Lateinamerikaner das einzige dauerhafte Bollwerk gegen den Neokolonialismus der USA darstellt. García Márquez, der bei seiner Nobelpreis-Rede das Unverständnis Europas gegenüber seiner Heimat angeprangert und das Recht des Subkontinents auf einen eigenen Weg propagiert hatte, war ein Ratgeber Castros, nicht dessen Hofdichter. Er setzte sich für die Freilassung vieler Dissidenten ein, und der Máximo Líder hörte auf ihn.


Mit den reichlich fließenden Tantiemen gründete der Autor Literatur- und Filmfachschulen auf Kuba und in Kolumbien. Doch mehr als sein Humanismus und seine Großzügigkeit trugen seine politische Parteinahme für die Ausgebeuteten und sein Wirken als Journalist (u. a. durch Reportagen wie „Die Abenteuer des Miguel Littin“) zu der immensen Popularität in Lateinamerika bei. Niemand würde heute „Jim“ sagen, wenn er von James Joyce spricht, würde Faulkner respektlos „Will“ oder Thomas Mann „Tommy“ nennen, für Millionen südlich des Rio Grande, darunter Analphabeten, die nur vom Hörensagen wissen, dass ihre eigene Geschichte literarisch abgebildet wurde, ist Gabriel García Márquez schlicht „Gabo“ oder sogar „Gabito“.

 

Eine solche Beliebtheit ließ selbst die notorisch reaktionären Regierungen in Kolumbien einlenken. Einst hatte ein Minister dem Autor, der die häufigen Stromausfälle in seinem Wohnviertel monierte, höhnisch geantwortet:„Balzac hat bei Kerzenschein geschrieben. Und Balzac war ein viel besserer Schriftsteller als Sie.“ Doch die Zeiten änderten sich: García Márquez, der einst nach Mexiko flüchtete, weil er in Kolumbien vor den paramilitärischen Killer-Trupps (und wohl auch „verirrten“ Polizeikugeln) nicht mehr sicher war, kehrte sporadisch nach Bogotá und Cartagena zurück und wurde sogar gebeten, im latenten Bürgerkrieg zu vermitteln, weil er auch von der FARC-Guerilla respektiert wurde. Und so klangen plötzlich die rechten Präsidenten: „Wir brauchen keine Fußball-Weltmeisterschaft, wir haben einen Literatur-Nobelpreisträger!“ (Betancourt); „Wir waren es, die seine Nähe suchten.“ (Michelsen); „Der größte Kolumbianer aller Zeiten ist gestorben.“ (Manuel Santos, derzeitiger Amtsinhaber)

 

Jenseits des politischen Glamour aber erkennen länderübergreifend die Menschen in den barrios, den Fabriken und auf dem Land die Chronik der eigenen Hoffnungen, des eigenen Scheiterns und der hartnäckigen Neuanfänge in den Romanen des Mannes wieder, der in etwa zeitgleich mit dem Guatemalteken Ásturias und dem Mexikaner Rulfo (beide siehe Rubrik Literatur) den Magischen Realismus, jene Erzähl-Philosophie, die den Überlieferungen des Volkes Raum einräumt, ohne die bittere Gegenwart aus den Augen zu lassen, schuf.

 

Der letzte „Weltmeister“?

 

Allein von „Hundert Jahre Einsamkeit“ wurden international über 30 Millionen Exemplare verkauft. Die Epiloge, die dem Ableben des zuletzt dementen Schriftstellers folgten, dürften einen weiteren Boom auslösen, so dass man davon ausgehen kann, dass die Weltauflage aller Werke in die Hunderte von Millionen gehen dürfte – eine weitere Verbreitung als bei jedem anderen Autor der Gegenwart.

 

Entscheidend für die künftigen Stellenwert von Gabriel García Márquez aber ist, dass er im kollektiven Gedächtnis der Lateinamerikaner (und im selektiven der Restwelt-Leserschaft) bleibt. Wenn der jetzige Hype langsam abklingt, wird vielleicht abzusehen sein, welchen Einfluss der Kolumbianer perspektivisch auf die Gesellschaft und auf die Literatur ausüben wird. Hoffentlich einen großen, denn in den Zeiten des Internets, der sinnentleerten Massenunterhaltung und der Oberflächen-Belletristik wird es vermutlich keinen Weltmeister von solch inhaltlicher Strahlkraft mehr geben…

 

05/2014

 

 

Reiche sind gut!

  

Sie tauchen alle zwei Wochen in den Medien auf, die Milliardäre, die ein Herz für die Armen, die Kranken, die Behinderten oder Lernwilligen zeigen, indem sie spenden, sponsern oder Stiftungen gründen. Weltweit an der Spitze der altruistischen Dagobert Ducks stehen der laut Forbes Magazine zweitreichste Mann der Welt, Bill Gates, und der Bronzemedaillen-Gewinner in der Disziplin Scheffeln, Warren Buffett. Beide haben die Extrem-Stiftung The Giving Pledge gegründet, die ihren Mitgliedern mit den neun Nullen hinter der Anfangszahl auf dem Konto nahelegt, die Hälfte ihres Vermögens für humanitäre Zwecke einzusetzen.

 

Kürzlich wurde kolportiert, SAP-Mitbesitzer Hasso Plattner, seinerseits ein veritabler Mäzen, sei dem exklusiven Verein beigetreten. Der deutsche Milliardär ließ umgehend dementieren, aber schon waren sie wieder in den Schlagzeilen, die reichen Gutmenschen. Es soll hier nicht bestritten werden, dass die einzelnen Spenden, etwa für die Aids-Hilfe in Südafrika oder die Ausbildung von Jugendlichen der Dritten Welt, Sinnvolles bewirken können. Auch soll hier nicht nach den Motiven (christliches Sendungsbewusstsein, schlechtes Gewissen, PR-Effekte, Abgabenvermeidung oder ähnliches?) gefragt werden; es interessiert vielmehr, wie die Medien, die vermeintlichen Hüter der kritischen Information, die caritativen Aktivitäten begleiten.

 

Und tatsächlich äußert ein Großteil der Tagespresse, befeuert von den Agenturen, vorsichtige Kritik an Gates & Gleichgesinnten. Die beinahe wie Mantras wiederholten Argumente allerdings zielen elegant an des Pudels Kern vorbei:

  

Die superreichen Wohltäter entließen durch ihr soziales Wirken die Staaten und ihre Regierungen aus der Pflicht, heißt es. Außerdem sei das großspurige Auftreten der US-Gönner nicht Sache der deutschen Moguln, die seien nämlich zu bescheiden, um Gutes zu tun und auch noch darüber zu reden.

 

Dabei wird nicht hinterfragt, wie die Milliardäre überhaupt  zu dem Spendengeld gekommen sind. Ein Gates versucht seit Jahrzehnten, die PC-Hersteller, Verwaltungen und Büros der Welt mittels seiner Microsoft-Programme in monopolistische Geiselhaft zu nehmen. Ein Warren Buffett gilt zwar nicht als Finanzmarkt-Hasardeur, aber als Großinvestor von Unternehmen achtet er sehr wohl scharf darauf, dass seine 20-prozentigen Jahresrenditen durch optimierte Ausbeutung der Mitarbeiter und börsenaffine Verschlankungen des Personals (d. h. Entlassungen) garantiert werden. Auch zahlen die beiden edlen Gemüter kaum Steuern, was wiederum die Frage aufwirft, womit der Staat die soziale Infrastruktur, für deren gigantische Lücken unsere Samariter ein paar Heftpflaster bereithalten, grundlegend verbessern soll – wenn er denn dazu willens wäre.

 

Die Philosophie der obersten Zehntausend in den USA weist Staat und Gesellschaft (manchmal nicht ganz zu Unrecht) die Rolle kurzsichtiger Dummerchen zu, die mit Geld nicht umgehen können. Also müssen die Macher jetzt das Heft verantwortlichen Handelns selbst in die Hand nehmen.

  

Eine Vision, die schaudern macht: Eben jene Unternehmer, Banker oder Investoren, die mittelbar, aber maßgeblich für Niedrigstlöhne, inhumane Arbeitsbedingungen, Produktionsverlagerungen, Überschuldung, Hausenteignungen und – nicht einmal selten - Selbstmorde verantwortlich sind, sorgen in Zukunft aus freien Stücken dafür, dass alles wieder ein bisschen besser wird. Wer was und wie viel wofür bekommt, bestimmen die Stiftungen nach Gutsherrenart: eine neue Qualität gesellschaftlicher Bevormundung...

 

Der Creme der Verhüllungsjournalisten hierzulande dürften solche Überlegungen allerdings keinen Gedanken oder zumindest keine Zeile wert sein.

 

Und die bescheidenen deutschen Milliardäre? Wenn bestimmten Anteilseignern fünf Prozent Rendite in der Elektro-Branche zu bescheiden sind, werden Menschen entlassen; wenn eine Handelskette (nicht keinen, sondern nur) zu wenig Profit abwirft, wird die Kassiererin im Supermarkt angesichts einer „den wirtschaftlichen Gegebenheiten“ angepassten Bezahlung noch drei weitere Jobs für den Lebensunterhalt benötigen. Nicht Stiftungen, sondern Arbeitssicherheit und adäquate Bezahlung braucht das Land.

 

Und jetzt stelle ich mir vor, wie es sich Herr D. Duck mit breitem Grinsen auf dem Sofa im Elite-Club der Mega-Spender bequem macht und sein ewig junges Mantra rezitiert: „Da haben wir sie doch schon wieder, die Neid-Diskussion...“

 

P.S. An dieser Stelle sei noch an den Vorläufer, sozusagen den Paten, der Gönner-Milliardäre erinnert: Pablo Escobar. Der kolumbianische Drogenhändler ließ Tausende von Politikern, Polizisten, Juristen, Guerilleros und Konkurrenten umbringen, verschaffte seiner Heimatstadt Medellín den Ruf der Weltmordmetropole und brachte es zum Parlamentsabgeordneten sowie gemäß Forbes Magazine zum siebtreichsten Mann der Welt. Aber er baute auch Wohnungen für Obdachlose, galt als großzügiger Arbeitgeber und spendete viele Millionen für die Infrastruktur des Medellín-Slums Popular Uno, ehe er 1993 auf der Flucht erschossen wurde. Letzteres wollen wir Herrn Gates und Herrn Buffett natürlich nicht wünschen. 

 

 

 

Dem Vieh verboten

 

Die Befürchtung, wegen der Ukraine könne es zu einer Neuauflage des Kalten Krieges kommen, klingen angesichts der aggressiven Sturheit aller beteiligten Länder und Parteien wie eine Verharmlosung – die Auseinandersetzung könnte durchaus hitziger (und damit blutiger) werden. Fragt sich nur, wer an dieser brandgefährlichen Situation die Hauptschuld trägt, wer zuerst gezündelt hat.

 

Kampf der Oligarchen

 

Das hat es in der Meinungsbildungshistorie der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Die Regierung, die (grüne) Opposition, die Rundfunksender und die Print-Medien ziehen in Sachen Ukraine weitestgehend an einem Strang – und die Bevölkerung glaubt mehrheitlich die präsentierten Halb- und Unwahrheiten einfach nicht, wie Umfragen belegen, und scheint ein Gespür für Hintergründe, die ausgeblendet werden, zu entwickeln.

 

Es schien zunächst business as usual in Kiew: Korrupte Politiker, skrupellose Oligarchen und ihre Marionetten kämpften um Pfründe und Einfluss. Diesmal jedoch mischte der Westen von Anfang an mit, bot – öffentlich– Kredite an, finanzierte – heimlich – dubiose Oppositionsgruppen und lockte mit EU-Assoziierung. Solches Vorgehen rief zwangsläufig Russland auf den Plan, das seinerseits wirtschaftliche Unterstützung versprach (und auch ein wenig mitdem Zudrehen des Gashahns drohte). Putin setzte auf den übel beleumundeten Präsidenten Janukowitsch, Westeuropa zunächst auf die darbende Raubkapitalistin Timoschenko, denn auf den Ringhelden Vitali Klitschko, die USA hingegen setzten von Beginn an auf Subversion und Gewalt.

 

Fünf Milliarden Dollar hatte es sich Washington kosten lassen, die Ukraine zu destabilisieren und finstere Verbündete ideologisch und logistisch aufzurüsten. Diese Summe nannte im Dezember 2013  jedenfalls die Abteilungsleiterin im US-Außenministerium, Victoria Nuland, vor der U.S.-Ukraine Foundation. Da die Westeuropäer, die nur die Rohstoffe und die Marktbeherrschung eines bevölkerungsreichen Landes im Auge hatten, ihr zu zögerlich handelten, verstieg sich die Dame, die im Sinne ihrer Regierung die militärische Dominanz in Osteuropa präferiert, in einem Telefonat zu jener Äußerung, die deutlicher als je zuvor die Wertschätzung der Obama-Administration für ihre Verbündeten illustrierte: „Fuck the EU!“. Wer sich dafür interessiert, welche zweifelhaften, oft eigens zum Empfang der Mittel gegründeten NGOs und Interessenverbände in der Ukraine bereits 2012 von Washington mit Millionen finanziert wurden, kann die Liste auf den vom früheren Planungschef der Kanzler Brandt und Schmidt, Albrecht Müller, redigierten NachDenkSeiten (siehe Links) nachschlagen.

 

In der Tat blamierten sich die westeuropäischen Chefdiplomaten, allen voran der deutsche Außenminister Steinmeier und die EU-Außenbeauftragte Ashton, nach Strich und Faden, als sie einen Kompromiss zwischen Janukowitsch und den Oppositionsparteien aushandelten, der bereits Makulatur war, bevor die Unterschriften auf dem Papier trocknen konnten. Der Maidan nämlich wurde zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr von bürgerlichen Demonstranten beherrscht, sondern von den Ultra-Nationalisten der Swoboda-Partei und von den Neonazi-Milizen des Rechten Sektors. Die gewaltbereiten Alliierten der US-Administration hatten das Heft des Handelns (sprich: Umsturzes) in die Hand genommen.

 

Die Bundesregierung hielt weiter an Klitschko fest, obwohl jeder Arzt hätte attestieren können, dass auch ein guter Boxer zu viele Schläge aufs Hirn bekommt. Wenig später räumte der Ex-Weltmeister, ganz braver Platzhalter, das Kandidaten-Feld für den Oligarchen Petro Poroschenko. Die mittlerweile eingesetzte Interimsregierung ging unterdessen zunächst einmal daran, Russisch, das Mutter-Idiom eines Fünftels der Bevölkerung, als zweite Amtssprache auszumustern.

 

Putin: machtgeil, aber nicht immer schuld

 

Nun trat auch der Schurke aus Sicht der westlichen Medien auf den Plan. Wladimir Putin liefert seinen Kritikern tatsächlich allerhand Munition: Er ist machtfixiert, handelt innenpolitisch oft rücksichtslos und scheint von Demokratie sowie Meinungsfreiheit nicht allzu viel zu halten. In der Außenpolitik indes hatte er sich bislang eher vorsichtig und zurückhaltend gezeigt.

 

Man mag ihm vorwerfen, dass sein Blitzreferendum auf der Krim und die anschließende Eingliederung der Halbinsel nicht allen internationalen Regeln entsprachen. Tatsache ist aber auch, dass dies dem Mehrheitswunsch der Krim-Bewohner entsprach, dass Putin das NATO-Vorgehen im Kosovo als Rechtfertigungsgrund anführen konnte - und dass er im Gegensatz zu den Serbien-Feldherren Schröder, Fischer, Clinton u. a. nicht eindeutig Völkerrecht brach.


Man kann Putin nicht dafür in die Ecke stellen, dass er sich angesichts bewaffneter rechtsradikaler Horden und einer Interimsregierung in Kiew, die Unrecht nur bei den Kontrahenten im Osten des Landes sieht, um die russisch-stämmige Bevölkerung (und die Ukrainer, die wirtschaftliche kulturelle Bindungen eher zu Moskau als zu Brüssel suchen), Sorgen macht. Es steht natürlich zu befürchten, dass die von ihm unterstützten Separatisten aus dem Ruder laufen und eine russische Intervention Moskauer Machtgelüste intensiviert, die ursprüngliche Provokation aber ging von der anderen Seite aus.

 

Der Westen: Wortbruch und Intervention

 

Nach dem Zusammenbruch der UDSSR war Moskau zunächst zugesichert worden, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken als neutrale Puffer zwischen Russland und Westeuropa bestehen bleiben würden (eine Konstellation, die Finnland oder Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht schlecht bekam). Im Zuge der Nato-Osterweiterung indes wurden nicht nur Länder des früheren Warschauer Paktes, sondern auch die baltischen Staaten in das westliche Militärbündnis aufgenommen. Russland verhielt sich dennoch in der Folge wesentlich friedlicher, als dies die USA in ihrem lateinamerikanischen „Hinterhof“ taten, wenn sie Sozialismus oder auch nur polit-ökonomische Unabhängigkeitsbestrebungen witterten.

 

Zum Schutz vor der angeblichen Atom-Macht Iran installierte die NATO ein Raketenabwehr-System ausgerechnet in Polen, unweit der russischen Grenze. In Georgien und der Ukraine intrigieren westliche Geheimdienste, spähen die Gegner jenseits der Grenzen aus und bereiten gegebenenfalls Umstürze vor. Wenn die Regierung in Moskau (und die russische Bevölkerung) das eigene Territorium umzingelt und bedroht sieht, ist dies nicht unbedingt ein Indiz für Paranoia…

 

Jupiters Faible

 

Im antiken Rom kursierte das Sprichwort Quod libet Jovi, non licet bovi. Frei übersetzt: „Was Jupiter beliebt, ist dem Rindvieh noch lange nicht erlaubt.“ Die Journalisten und Politiker hierzulande scheinen in hrer Majorität dieses Bonmot verinnerlicht und sich selbst die Urteilskraft bezüglich göttlicher Weisheit zugesprochen zu haben, wobei die Ochsen-Rolle den bösen Russen und ihren ukrainischen Verbündeten vorbehalten bleibt.

 

Wenn auf der Krim über nationale Zugehörigkeit abgestimmt wird, ist das von Übel, im Kosovo hingegen ist ein solches Votum der Beweis für Volkssouveränität.

 

Wenn in Kiew nach Demonstrationen auf dem Maidan öffentlicheGebäude gewaltsam besetzt werden, gehört das zum Demokratisierungsprozess; ahmen Russland-Sympathisanten in der Ost-Ukraine dieses Vorgehen detailgetreu nach, handelt es sich um Terror und Gesetzesbruch.

 

Die in Genf ausgehandelte Entwaffnung der paramilitärischen Gruppierungen gilt bitteschön nur für die Separatisten, keinesfalls für die Faschisten aus der West-Ukraine.

 

Wenn die USA und die EU einen Staat unterminieren und ihn dann kaufen, ist dies als Vermittlung westlicher Werte zu verstehen; wenn Russland dagegenhält, ist das Einmischung.

 

Wie eingangs bemerkt, nimmt nicht einmal die sonst so leichtgläubige deutsche Bevölkerung diese besonders raffinierte Form von Rabulistik für bare Münze. Anlass zu Hoffnung auf kritischeres Denken in der Zukunft ist dennoch nicht gegeben. Millionen Deutsche kaufen die Bild-Zeitung. Neun von zehn Lesern behaupten, sie glaubten nicht, was in dem Blatt steht. Doch die Verdrehung von Tatsachen ist ein schleichendes, langsam, aber tödlich wirkendes Gift.

  

04/2014        

 

 

Entlassen ist sexy!

 

Vor dem Landgericht Essen wird gegen einen der großen Zampanos bundesdeutscher Chefetagen verhandelt: Thomas Middelhoff, einst bei Bertelsmann am Ruder, soll seinem letzten Arbeitgeber, der mittlerweile in Insolvenz gegangenen Arcandor-Holding, der Karstadt und Quelle angehörten, 1,1 Millionen Euro an betriebsfernen Kosten aufgebürdet haben. Auf „Untreue“ lautet die schnöde Anklage. Uns interessiert nicht, ob Middelhoff nach der Sommerpause des Gerichts mit reinen Händen, einem blauen Auge oder gar deren zwei dastehen wird (an den Bettelstab dürfte ihn nichts bringen), uns faszinieren vielmehr die Sujets, für die der Manager-Star die Kohle ausgegeben hat, und die Rechtfertigungen, mit denen er und seine Kollegen jetzt aufwarten.

 

Teure Flüge mit Chartermaschinen und Hubschraubern wiesen wohl eher einen privaten Charakter auf, aber das kennen wir ja schon von mehr oder weniger bedeutenden Politikern dieses Landes. Interessanter ist da schon die selbstlose Herstellung einer Festschrift für Middelhoffs Vorbild bei Bertelsmann, Frank Wössner, im Werte von stolzen 180.000 Euro. Zum Vergleich: Für diese Summe hätte man 50.000 Exemplare von García Márquez` „Hundert Jahre Einsamkeit“ an Schulen verteilen oder – um näher am Thema zu bleiben – 100.000 Mal „Lohnarbeit und Kapital“ von Karl Marx unters Volks bringen können.

  

In einen gewissen Erklärungsnotstand bringt Middelhoff auch die Einladung zu einem Meeting auf seiner vor Saint Tropez ankernden Yacht, die arbeitstechnische Programmpunkte wie „Powershopping“, „Drinks, Dinner, Lunch“ und Teilnahme an exzessivem Nachtleben oder, alternativ, „Faulenzen auf dem Boot“ sowie die Aufforderung, die Lebenspartnerin mitzubringen, beinhaltete – selbstverständlich alles auf Kosten der darbenden Arcandor-Holding.

 

Vor Gericht sprangen die (selbst belasteten) Vorstandskollegen ihrem ehemaligen Boss mit gewichtigen Argumenten bei. So rühmte einer die didaktische Wirkung dieser Einladung auf die Ehefrauen, die wohl als Daheimgebliebene die Gemahle eher im Lotterbett von Luxusnutten gewähnt hätten: „Die sollten mal sehen, wie hoch unsere Arbeitsbelastung ist.“ Ex-Finanzvorstand Peter Diesch sah sich und Kumpane gar in einer Art Märtyrer-Rolle: „Brutal harte Arbeit“ sei das damals in Saint Tropez gewesen, schilderte er in realistischer, aber realitätsfremder Attitüde.

 

Den Gipfel des rabulistischen Panoptikums aber erklommen die Anwälte Middelhoffs mit einer Einlassung zu Beginn des Prozesses: Die Arcandor-Vorstände hätten vor der malerischen Kulisse der Provence-Küste einen massiven Stellenabbau im Unternehmen geplant. Unsereins aus der amorphen Masse der Sozialneider kann sich das nur folgendermaßen vorstellen: Nach den Austern und vor den Langusten an weißem Trüffel-Sorbet strichen die Manager schweren Herzens die ersten hundert Jobs, später mussten bei perlendem Dom Pérignon, dessen Anschaffung für einen einzigen  Abend das Äquivalent zu  mehreren Monatsgehältern einer Karstadt-Verkäuferin darstellte, weitere hundert Mitarbeiter weichen. Beim Powershopping in exquisiten Boutiquen kamen dann die nächsten „Verschlankungsideen“…

 

Der Kapitalismus hat sich längst von der Variante der „sozialen Marktwirtschaft“, die wirtschaftlich Abhängige vor völliger Verelendung schützte, um Unruhen zu vermeiden, verabschiedet. Die „freie“ Finanz- und Marktherrschaft der Jetztzeit kennt keine Skrupel mehr und inszeniert ihre Kahlschlag-Spektakel ohne (vorgetäuschte) Scham. Ob Krise oder vorübergehende (relative) Prosperität – sie hat nichts und niemanden mehr zu fürchten, denn die Leidtragenden haben sich durch die Leitmedien zu Konkurrenten, Strebern, Ignoranten, Nationalisten oder Egoisten, kurz: zu unsolidarischen und vereinsamten Individuen ohne Widerstandskraft, auseinanderdividieren lassen.

  

07/2014           

 

 

 

Qualitätsente

 

Nur der professionelle Journalismus, vorzugsweise in den Printmedien, und nicht das von Laien im Netz bearbeitete News-Spektrum garantiere die Standards einer umfassenden Information. Deutschlands Zeitungsverleger werden nicht müde, solche Lobeshymnen auf die eigenen „Qualitätsstandards“ abzusondern, während sie gleichzeitig im Namen des Profits die Redaktionen ausdünnen, Traditionsblätter willkürlich zusammenlegen, freie Mitarbeiter mit Cent-Taschengeldern abfinden und ungeschulte Praktikanten an brisante Themen setzen.

 

Welch hohes Niveau die bürgerlichen Presse auf diese Weise mittlerweile erreicht hat, belegt ein Text vom 23.12. in den Nürnberger Nachrichten (NN), die den nordbayerischen Raum mit ihren Mantelzeitungen beherrschen und eines der auflagenstärksten Regionalblätter der Bundesrepublik sind. Über einem dreispaltigen Farbfoto, das Soldaten in Tarnuniformen zeigt, die auf einer staubigen Straße in Deckung liegen und von afrikanischen Kindern beobachtet werden, prangt die Dachzeile:

 

Rebellen im Südsudan setzen den französischen Soldaten zu 

 

Derzeit gibt es Aufständische im Südsudan, dem jüngsten Staat der Welt, und irgendwo in Afrika ist auch das französische Militär im Einsatz. Jedes für sich stimmen also die Details, im Verbund allerdings sind sie Blödsinn, denn offenbar wurden zwei verschiedene Meldungen der Nachrichtenagentur agence france presse munter zu einem Nonsens-Cocktail verrührt (oder geschüttelt). Im Begleittext heißt es nämlich:

 

Mit dem Vormarsch der Rebellen (etwa in dem für die Ölindustrie zentralen Bundesland Unity) spitzt sich die Lage im Südsudan dramatisch zu. Auf unserem Bild sehen Bewohner der Hauptstadt Bangui französischen Soldaten zu, wie sie eine Straße verteidigen.

 

Freundlicherweise und ohne Honorar übernehme ich für die NN die Richtigstellung dieser „Information“: Die Hauptstadt des Südsudan heißt Juba und ist fest in der Hand des Regimes. Rebellen wurden bislang dort ebenso wenig gesichtet wie französische Soldaten. Diese wiederum kämpfen tatsächlich gegen Aufständische, und zwar in Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, die allerdings keinerlei Ölindustrie ihr Eigen nennen kann. Vermutlich stammt das Foto dorther, für die NN aber bleibt Afrika offensichtlich der dunkle Kontinent.

 

In einer Presselandschaft, deren „Stützen“ darauf vertrauen, dass jeder halbgebildete Schreiber seine Elaborate sozusagen ungefiltert in die Druckmaschinen eingeben kann, weil die Korrektoren, die nicht nur nach Rechtschreibfehlern, sondern auch nach (fehlenden) Sinnzusammenhängen suchten, entlassen wurden und die Chefs vom Dienst sowie leitenden Redakteure immer weniger Allgemeinwissen und Sorgfalt offenbaren, darf man sich nicht wundern, wenn die Menschen den Blogs mehr vertrauenals den Zeitungsenten. Eigentlich ist dies schade, denn gerade in unseren diffusen Zeiten bräuchten wir ausführlichen, verantwortungsbewussten und kritischen Qualitätsjournalismus, wie ihn vor allem gut recherchierende Printmedien leisten könnten. Nimmt man aber das angeführte Beispiel (mitnichten eine einmalige Entgleisung), muss man resigniert feststellen: Den Amateuren von Wikipedia wäre das nicht passiert.

 

12/2013             

     

  

 

Markt-Frank, Kriegs-Niko

 

Der umtriebige Frank-Walter Steinmeier war wieder in der Ukraine. Die Wenigsten wissen, was er dort wollte, zumal er sich doch schon beim Aushandeln eines Kompromisses mit dem Janukowitsch-Regime, der auf Betreiben der USA tags darauf bereits obsolet war, lächerlich gemacht hatte. Dabei hätten sie doch nur zur „Spiegel“-Ausgabe 18/2014 greifen brauchen, in der ein Interview des von „Bild“ abgeworbenen Vereinfachers Nikolaus Blome mit  Steinmeier die wirklich wahren Gedanken eines deutschen Regierungspolitikers und das schwarz-weiße Weltbild eines „Top-Journalisten“ offenlegt.

 

Seit Blome mit der Hauptstadtbüro-Leitung des ehemals in „linksliberalem“ Ruch stehenden Nachrichtenmagazins betraut ist, weht ein frischer Wind durch den „Spiegel“, der aus der Gerüchteküche des Springer-Konzerns die Botschaften mitbringt, der Mensch an sich schätze keine langen Texte sowie Nachdenken über Ursachen tue grundsätzlich weh im Kopf. Deshalb ist auch das Gespräch mit dem Außenminister, der von Absprachen mit US-Geheimdiensten über völkerrechtswidrige Angriffe auf Serbien bis hin zur Destabilisierung der ohnehin labilen Ukraine alles mittrug, was falsch, gefährlich und verantwortungslos war, mit einem Umfang von einer knappen Seite erstaunlich kurz geraten. Noch verblüffender allerdings ist, dass Steinmeier die Wahrheit sagt, auch wenn er sie vielleicht ganz anders meint…

 

Nikolaus Blome, noch ganz Axel Cäsars Kalter Krieger, stellt dem Außenminister bezüglich der Ukraine-Krise eine rhetorische Frage, die dieser auch ganz erwartungsgemäß beantworten wird: „Wären die Bundesregierung und die Nato gut beraten, ihre strategische Verteidigungsplanung und ihre Rüstungsschwerpunkte noch einmal zu überdenken?“ Darauf erwidert Steinmeier gehorsam: „Das war ja schon der Auftrag der Außenminister auf dem letzten Nato-Rat. Und das wird jetzt auch umgesetzt.“ Im Klartext: Nachdem es sich das westliche Militärbündnis nicht hat nehmen lassen,an der russischen Grenze Unruhen zu schüren, sieht es sich nun in der komfortablen Situation, die für diese Art von Vorwärts-Verteidigung nötige Aufrüstung forcieren zu können.

 

Ungeachtet der Tatsache, dass zunächst ganz andere Regierungen als Brandstifter auftraten, fragt Blome in jener simplen, aber pointierten Art, wie sie vergessliche und denkfaule „Bild“-, Pardon: „Spiegel“-Leser lieben: „Spielt die russische Führung mit dem Feuer?“ Und jetzt lässt die Berliner Sphinx die Katze aus dem Sack und sagt, wer wirklich über Recht und Unrecht, Wohl und Wehe in der Ukraine und anderswo entscheidet: „Schon jetzt fällen die Finanzmärkte ihr Urteil: Moskauer Aktien und Anleihen sind stark gefallen…“ Da nun feststeht, wer hier als Richter agiert, können sich westliche Politiker und Militärs getrost in der Rolle der Strafvollzugsbeamten hervortun.

 

Und dann entlarvt Frank-Walter doch tatsächlich die Hauptintriganten. Blome will nämlich wissen: „Warum ist die Lage in der Ostukraine so undurchsichtig, so chaotisch?" Steinmeier beendet seine Antwort mit einem Satz von schonungsloser Offenheit: „Jetzt in der Krise gibt es Akteure vor Ort, die uns über ihre wirklichen Motive und Taten im Ungewissen lassen, manche spielen auch mit gezinkten Karten.“ Damit kann unser Diplomaten-Chef eigentlich nur die US-Administration meinen, die nach eigenem Bekenntnis fünf Milliarden Dollar an dubiose Organisationen für die Putschvorbereitung (auf Neudeutsch: democracy building) verteilt hat und derzeit Söldner, sozusagen outgesourcte Militärs, in die Ostukraine schickt, und – nicht zuletzt sich selber.  

 

Schließlich hat Steinmeier, der so schön von Freiheit und Demokratie erzählen kann, nicht nur den rechtsextremen Swoboda-Führer Oleh Tyhanibok empfangen, sondern unlängst auch zwei Gespräche mit dem Oligarchen Rinat Achmetow geführt, der die südöstliche Donbass-Region mit Hilfe privater „Fabrik-Milizen“ unter die Kontrolle Kiews (und damit der „freien“ Finanzmärkte) bringen will. Behilflich ist dem Tycoon dabei Milliardärs-Kumpel und Gouverneur Ihor Kolomojskij, der nicht nur den Wahlkampf von Steinmeier-Darling Klitschko finanzierte, sondern auch ein in der Südost-Ukraine operierendes Freikorps des krypto-faschistischen Rechten Sektors. Der Trend in Kiew – so scheint es – geht zum Do-it-Yourself: Die Oligarchen lassen nicht mehr regieren, sie treten höchstpersönlich an die Spitze des Kiewer Regimes und lassen schießen.

 

Nicht erst seit Jugoslawien weiß man, dass bedenkenlose Einflusspolitik und (in)direkte Intervention in einem auseinanderbrechenden Land die übelsten Kräfte von der Leine lassen und die verhängnisvollsten Handlungen provozieren können – dies gilt partiell auch für Putins Schnellschüsse, zum anderen gleichfalls für einen großen Teil der ostukrainischen Separatisten; sollten jedoch in ferner Zukunft einmal Historiker das Verhältnis von Ursache und Wirkung am Beispiel der Ukraine untersuchen, haben Barak Obama und Frank-Walter Steinmeier gute Chancen, als Urheber und somit als Väter eines zweiten Kalten Krieges in die Geschichte einzugehen. Mit Frau Merkel zusammen, vielleicht als Eltern…

  

05/2014                

 

 

Eine ehrenwerte Frau

  

In Shakespeares Drama „Julius Cäsar“ entlarvt Antonius den vorgeblichen Freund und tatsächlichen Mörder des Imperators mit den ironischen Worten „Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann“. Krokodilstränen, geheucheltes Mitgefühl und zeitgleich skrupelloses Handeln kennzeichnen auch die Attitüde der maßgeblichen EU-Politiker, wenn sie die Bevölkerung der südeuropäischen „Krisenstaaten“ in die ökonomische Geiselhaft nehmen. An der Spitze der Inkasso-Büttel: die Bundeskanzlerin.

 

Volk zahlt für Bank

 

Es ist schon richtig, dass sich in Spanien oder Griechenland die großen nationalen Banken vor allem auf dem Immobiliensektor verspekuliert haben und das eine oder andere Geldinstitut abgewickelt werden sollte. Und dass der Staat im Neo-Liberalismus Friedman`scher Prägung in der Planung nichts zu sagen, im Gewinnfall nichts zu kassieren, aber bei einem Crash für die Folgen geradezustehen hat, gehört auch längst zum Glaubensbekenntnis angehender Betriebswirtschaftler. Krude aber wirkt die Logik, nach der nun die per se unbeteiligte Bevölkerung eines in die Bredouille geratenen Landes für die Fehler seiners Finanzjongleure aufkommen und die Gier ausländischer Spekulanten zu stillen hat.

 

Wenn deutsche Banken sich hinsichtlich hoher Zinsgewinne bei externen Staatsanleihen verzockt haben oder Export-Giganten um ihre Umsätze im betreffenden Staat fürchten, wird nun die Gesellschaft dort zur Kasse gebeten. Um den Schuldendienst brav zu bedienen und internationale Profite zu garantieren, muss die erpresste Regierung ihrem Volk Stück für Stückd ie Daseinsqualität schmälern, die Perspektiven verbauen und möglicherweise sogar die Lebenserwartung kürzen.

 

Zukunft ohne Hoffnung

 

Da im Sinne des herrschenden Monetarismus jede Initiative („Einmischung“) des Staates von Übel ist und die Märkte in ihrer Allwissenheit (deren gelegentliche Lücken der Steuerzahler auszufüllen hat) schlichtweg alles regeln sollen, werden hoheitliche Aufgaben ausradiert oder privatisiert, Steuerbelastungen möglichst ungerecht verteilt (siehe MWSt und Vermögensabgaben) und soziale Leistungen gekürzt oder ganz abgeschafft. Das Prunkstück der mega-kapitalistischen Wirtschaftspolitik aber ist die „Liberalisierung des Arbeitsmarktes“, eine euphemistische Umschreibung für die Präferenz kurzfristiger, also prekärer Jobs, allgemeine Lohnkürzungen, Ausweitung des Billiglohn-Sektors und Aushöhlung des Arbeitsrechts.

 

In den „gehorsamen“ Staaten Spanien, Griechenland und Portugal hat dies zu frappierenden Ergebnissen geführt: In Griechenland stieg die Jugendarbeitslosigkeit 2013 auf fast 60 Prozent; in Spanien, wo mittlerweile neun von zehn Jobverträgen befristet sind, waren es mehr als 54 Prozent, in Portugal immerhin noch über 36 Prozent. Korrespondenten berichten von der iberischen Halbinsel, dass die anfängliche Rebellion der jungen Menschen gegen diese Katastrophe einer Apathie gewichen ist, wie sie nur bittere Ausweglosigkeit in den Hirnen und Herzen generiert. Fast eine ganze Generation lebt ohne berufliche Option oder ist zumindest in Gefahr, von der Zukunft abgeschnitten zu werden. Dringend notwendige Strukturprojekte sind von den Regierungen dort nicht zu erwarten – die müssen den Finanzsektor sanieren und sparen. Immerhin bekommen sie dafür Lob von der EU-Kommission und Angela Merkel.

  

Todesursache Sparkurs

 

Anfang Januar starb eine herzkranke Frau in Madrid, nachdem sie vier Tage lang, nur dünn zugedeckt, auf dem Flur der Notaufnahmestation des Severo-Ochoa-Krankenhauses gelegen hatte. Im selben Hospital waren im vergangenen Jahr 130 Beschäftigte entlassen worden. Auf Druck der EU hatte das spanische Gesundheitsministerium die Ausgaben drastisch gekürzt. Von dem Kahlschlag profitieren nur Privatkliniken, die sich von den Regionalregierungen alimentieren lassen, gleichzeitig aber Patienten, die wegen ihrer Schmerzen einen zeitnahen Eingriff benötigen, abkassieren. So bezahlte in Tarragona eine Frau, die dringend an der Hüfte operiert werden musste, 9300 Euro (die gesamten Familienersparnisse) im Voraus, um an die Reihe zu kommen. Andernfalls hätte sie 14 Monate warten müssen.

 

Noch schlimmer ist Griechenland betroffen: Die Streichungen im Gesundheitsbereich haben einer neuen Studie zufolge zu einer „besorgniserregenden Unterversorgung“ geführt. Den asozialen „Umstrukturierungsprozess“, in dessen Verlauf 1,8 Milliarden Euro eingespart sowie 5000 Ärzte und 20.000 Krankenpfleger entlassen wurden, orchestrieren übrigens 15 Mitarbeiter der deutschen Entwicklungshilfe-Agentur GIZ. Die ohnehin gebeutelten Griechen müssen höhere Eigenbeteiligungen stemmen; werden sie arbeitslos, verlieren sie jeden Krankenversicherungsschutz.

 

Das britische Fachmagazin „The Lancet“ berichtete, die Kindersterblichkeit habe sich zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent erhöht, und fast ein Drittel aller nicht durch hohes Alter bedingten Todesfälle seien direkt auf die Krise zurückzuführen. Zwar hat sogar der Europäische Rat einen Report in Auftrag gegeben, der die Haushaltskürzungen in Griechenland kritisiert; zwar „bedauert“ auch das Europäische Parlament, „dass die Programme für Griechenland, Irland und Portugal eine Reihe von Vorschriften für Gesundheitsreformen und Ausgabenkürzungen enthalten“; die Tendenz indes, die notleidenden Ländern dazu zu zwingen, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode zu sparen, wird von den EU-Granden mit Angela Merkel an der Spitze, bedenkenlos verschärft. (Ein Schelm, wer sich etwas dabei denkt, dass die überdimensionierte Aufrüstung der griechischen Armee, an der vor allem deutsche Konzerne verdienen, vom Kürzungszwang ausgenommen ist!)

 

Kultur? Infrastruktur? Geschenkt!

 

Charles Dickens, der als Minderjähriger seinen Vater ins Schuldgefängnis begleiten musste, attackierte in seinen Romanen die grausame Behandlung von in Not geratenen Menschen. Was würde er heute angesichts ganzer in Schuldhaft genommener Völker schreiben? Eines ganz anderen (Un-)Geistes Kind ist da der Journalist Nikolaus Blome, der als Springers Hauptstadtbüro-Leiter die schäbige Kampagne von „Bild“ gegen die „Pleite-Griechen“, denen wir „Geld hinterher werfen“ und die uns ihre Ägäis-Inseln abtreten sollten, verantwortete. Zur Belohnung wurde Blome, ein hymnischer Merkel-Fan, zum stellvertretenden „Spiegel“-Chefredakteur berufen. Quo vadis, ehemaliges Zentralorgan des kritischen Bürgertums?

 

Natürlich macht Brüssels eiserner Besen auch keineswegs vor den verbliebenen kulturellen und infrastrukturellen Errungenschaften der Habenichtse halt. Auf Geheiß der EU-Kommission wurden am 11. Juni 2013 eine Stunde vor Mitternacht die TV- und Radiosender der Anstalt ERT abgeschaltet. Nach 75 Jahren war damit der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Griechenland weitgehend Geschichte (mit Tricks und der Hilfe des KP-Kanals konnte ein Notprogramm aufrecht erhalten werden).

 

Deutsche Touristen erfreuen sich an der Sauberkeit spanischer Städte, die sich wohltuend von der Vernachlässigung der Straßen in vielen Glasscherbenvierteln zu Hause unterscheidet. Wie lange noch? Wann werden die Austerity-Ideologen der EU befinden, dass die iberischen Kommunen viel zu viele Straßenkehrer beschäftigen? Wer keine Arbeit hat, unter mangelnder Gesundheitsfürsorge leidet, wenig Perspektiven für einen sich vermutlich verkürzenden Lebensweg sieht, findet sich sicherlich auch mit hygienischen Missständen ab und braucht weder Information noch kulturelle Angebote.

 

Die deutsche Bundeskanzlerin aber sieht die geschundenen Länder „auf einem guten Weg“. Und Angela Merkel ist eine ehrenwerte Frau…

  

04/2014      

 

 

  

Vernunft à la Rio


Zu den bezeichnenden Phänomenen des Neoliberalismus zählt die rücksichtslose Vermarktung der Lust am aktiven Sport und seiner Rezeption, am Spielen, Laufen oder Kämpfen und am Zuschauen somit. Besonders zwei globale Organisationen beweisen Jahr für Jahr, dass physische Leistung und emotionale Spannung Kapitalfaktoren sind, aus denen sich enorme Profite herausholen lassen.

 

Wie Raubkarawanen suchen das Internationale Olympische Komitee (IOC) und der Weltfussballverband (FIFA) Länder, deren Regierungen um Prestige ringen, heim und diktieren ihnen rigide Regeln für die Ausrichtung von Großveranstaltungen. Um die Einnahmen durch den Verkauf von Fernsehrechten und Produktlizenzen zu optimieren, muss das Spektakel immer teurer, luxuriöser und riskanter ausfallen, wobei man dabei eine Ko-Finanzierung durch Kürzung der Sozialsysteme (England, Russland) oder den Tod von Bauarbeitern (Qatar, Brasilien) als Kollateralschäden billigend in Kauf nimmt. Die Hinterlassenschaft der sportlichen Großereignisse besteht gewöhnlich aus leerstehenden Mammut-Stadien und verfallenden Aktiven-Unterkünften.


 

Nun ist also Brasilien an der Reihe, ein Schwellenland. Unter „Schwellenländern“ versteht man gemeinhin Nationen, die in der Rohstoff-Förderung, im Export und bezüglich der luxuriösen Lebensführung ihrer Oberschicht Erstwelt-Niveau erreicht haben,während die besitzlosen Massen ohne Bildung und Infrastruktur vor der Tür bleiben müssen. Bereits jetzt sind die Kosten der WM-Ausrichtung von geplanten 1,9 Milliarden auf mindestens 3,1 Milliarden Euro gestiegen (die Folgekosten für Wartung, Erhaltung oder Abriss der Überbleibsel nicht eingerechnet). Auch der „linken“ Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) waren Glamour und sinnentleerte Prachtentfaltung näher als die Forderungen ihrer einstigen Klientel nach besseren Schulen, niedrigeren Verkehrstarifen oder Anhebung der Hungerlöhne.


 

Bereits vor einem Jahr ereignete sich während des Confederations Cup, dem WM-Vorbereitungsturnier Erstaunliches: Hunderttausende gingen auf die Straße und skandierten: „Lehrer sind wichtiger als Fußball-Stars!“ Ausgerechnet im sportverrückten Brasilien, wo noch 1950 Hunderte Selbstmord begingen, weil die Seleçao es es nicht schaffte, im eigenen Land Champion zu werden, regt sich in großen Teilen der Bevölkerung jene Vernunft, die man allen Ländern die von den Korruptions-Granden der FIFA und des IOC geplagt werden, nur wünschen möchte.

 

An allen Austragungsorten protestieren Mitglieder der Bewegung obdachloser Arbeiter (MTST) zusammen mit linken Aktivisten und Gewerkschaftlern gegen die ungeheure Mittelvergeudung und stellen durchaus vernünftige Forderungen: Anhebung der Mini-Gehälter im öffentlichen Dienst, ein besseres Erziehungssystem oder Schutz der Indios vor krimineller Enteignung durch Minen- und Agrarkonzerne.

 

Unterstützt werden die Demonstranten auch von Prominenten, darunter dem ehemaligen Weltmeister Romario, der für die Sozialistische Partei

 im Parlament sitzt. Selbst Bestseller-Autor Paulo Coelho, ansonsten eher der Esoterik zugeneigt, findet realistische Worte des Beistands für die Aufbegehrenden: "Ich kann nicht in einem Stadion sein mit dem Wissen, was sich außerhalb in den Krankenhäusern und in der Erziehung abspielt und was auf die Vetternwirtschaft der PT zurückzuführen ist."

 

Kompliment den Brasilianern, die sich nicht von der chauvinistischen Welle haben überrollen lassen und die gesellschaftliche Verantwortung aufs Tapet bringen! Diesmal war es zu spät, um den WM-Wahnsinn noch zu verhindern, vielleicht klappt es ja mit den Olympischen Sommerspielen, die Rio 2016 drohen.

 

 

06/2014

 

Dazu auch:

Fifa-Sepp, Licht-Franz im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit  


 

 

 

Freund mit Bombe

  

Zuerst meldete die Nachrichtenagentur Reuters, die Volksrepublik China sei besorgt wegen der Weigerung Japans, waffenfähiges Plutonium an die USA zu übergeben. Dann berichtete Asian Weekly, ein in Hongkong erscheinendes Wochenmagazin, unter Berufung auf einen japanischen Militärexperten, dessen Land habe von den USA sogar die Rückgabe von 300 Kilogramm Plutonium gefordert und treibe heimlich ein Atomwaffenprogramm voran. In den deutschen Medien erfuhr man von dieser besorgniserregenden Einwicklung nur am Rande – wenn überhaupt. Japan ist schließlich nicht der Iran…

 

Die zwei Gesichter Japans

 

Die VR China gehört mit ihrem menschenverachtenden, die Umwelt zerstörenden Turbo-Kapitalismus, der in pseudo-marxistische Rhetorik verpackt wird, nicht gerade zu den Sympathieträgern der internationalen Gemeinschaft. Andererseits hat Peking (trotz verbaler Attacken gegen Vietnam, Japan oder die Philippinen wegen pazifischer Inselgruppen) in den letzten Jahrzehnten außenpolitisch überwiegend besonnen agiert. Wenn dort jetzt (historisch hergeleitet) berechtigte Ängste vor einer neuen Atommacht in Ostasien artikuliert werden, sollte man genauer hinsehen. Aber es scheint, als sei Warnen das Vorrecht der USA und der Westeuropäer.

 

Wenn wir an Japan denken, haben wir gern das sanfte Land der Kirschblütenfeste, der pazifistischen Buddhisten-Minderheit, der friedensbewegten Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki, die für eine weltweite Ächtung vonAtomwaffen kämpfen, und der lernfähigen Nation, die sich nach Fukushima von der Nuklear-Energie verabschiedete (vorübergehend, denn die Regierung Abe hatinzwischen eine Kehrtwende vollzogen), vor Augen.

 

Doch es gibt auch das andere Gesicht Japans, das übrigens nur deshalb erstes Opfer eines Atombomben-Angriffs wurde, weil die eigenen Wissenschaftler 1945 wegen Problemen, an spaltbares Material zu kommen, ins Hintertreffen geraten waren: Da ist der rechts-nationalistische Ministerpräsident Shinzo Abe, der den Gedenkschrein Yasukuni demonstrativ besucht und damit auch zum Tode verurteilten Kriegsverbrechern huldig - eine Geste, die in China und Südkorea Empörung hervorrief, vergleichbar dem Aufschrei, der in Europa zu vernehmen wäre, wenn Angela Merkel zum Grab von Rudolf Heß pilgern würde. Da macht der Verzicht auf jegliche Aufarbeitung der militaristischen Vergangenheit und auf eine angemessene Wiedergutmachung für die Verwüstung Südostasiens oder Koreas deutlich, wie wenig noch heute die Herrenmenschen in Tokio von den Einwohnern der einst besetzten Länder halten. Und nun der Drang zur eigenen Atombombe, obwohl Japan sich im Verteidigungsfall unter dem Nuklear-Schutzschirm der USA befände…

 

Hauptsache „unser Schweinehund“

 

Es ist verständlich, wenn die Staatengemeinschaft den Iran, ein Land, das schon aufgrund seiner theokratischen Ausrichtung zu einer gewissen Irrationalität neigt, argwöhnisch beobachtet. Niemand möchte Atomwaffen-Potential in den Händen jenseitig fixierter Geistlicher wissen. Nur ist bislang keineswegs bewiesen, dass Teheran nach der Bombe strebt; zudem ging in den letzten hundert Jahren kein Krieg von iranischem Boden aus. Japans Streitkräfte und Besatzer hingegen brachten nach dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg mindestens 30 Millionen Asiaten (darunter allein 23 Millionen Chinesen) um und verschleppten weitere Millionen in die Zwangsarbeit. Derzeit verfügt das Land über rund 1400 Kilogramm hoch angereichertes Uran und 45 Tonnen Plutonium. Auf die Frage, wie viel Zeit Japan benötige, um zur Nuklearmacht aufzusteigen, erfuhr der ehemalige CIA-Chef James Woolsey von einem japanischen Kollegen: „Etwas weniger als 200 Tage“.


Es darf nicht vergessen werden: Japan hat den Atomsperrvertrag unterschrieben! Aber im Gegensatz zum widerspenstigen, unheimlich wirkenden Iran gilt das fernöstliche Inselreich dem Westen als wichtiger Handelspartner und politischer Verbündeter. Wieder einmal zeigt sich, dass auch in existenziellen Fragen mit zweierlei Maß gemessen wird. Und man denkt unwillkürlich an eine Bemerkung über den einstmaligen Diktator Nicaraguas, die dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zugeschrieben wird: „Somoza ist zwar ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund.“


Die selektive Wahrnehmung des Westens

 

So wurde seinerzeit die Nachricht von der nuklearen Aufrüstung Pakistans in Washington gelassen hingenommen, galt doch das Regime in Islamabad damals als Verbündeter gegen den unsicheren Kantonisten Indien, der gleichfalls Atombomben zündete.

 

Über die Nuklear-Macht Israel wird vorsichtshalber überhaupt nicht gesprochen, obwohl sich der Nahost-Staat sogar der atomaren Proliferation schuldig machte, indem er dem Apartheid-Regime in Südafrika Material und Know-how zur dessen Bombenbau zur Verfügung stellte. Zu den bleibenden Verdiensten Nelson Mandelas zählt zweifellos der spätere Ausstieg Pretorias aus der Nuklear-Waffentechnologie.

 

Und jetzt Japan! Der von Obama so gern referierte Traum von einer atomwaffenfreien Welt zeigt erhebliche Risse: Ohne A-Bombe soll demnach nur das „Reich des Bösen“ (Vorgänger Reagan) bleiben, die Guten dürfen munter weiterrüsten.

 

 

03/2014    

 

 

 

Irre Helden

 

Zur gleichen Zeit, da die Gaucks, Steinmeiers und von der Leyens laut und öffentlich von einer verstärkt global agierenden Militärmacht Deutschland träumen, kehren viele traumatisierte, depressive oder gar paranoide Soldaten der Bundeswehr von ihrem so sinn- wie erfolglosen Einsatz in Afghanistan zurück. Da scheint es durchaus angebracht, dass sich die Bundespsychotherapeuten- kammer (BPtK) Sorgen um die seelische Gesundheit der Uniformträger macht. Fatal ist nur die Ausrichtung der angestrebten Rehabilitation: Nicht die Wiedereingliederung in Familie und Gesellschaft steht im Mittelprunkt, sondern die weitere Verfügbarkeit als Krieger in fernen Gefilden.

 

Folgerichtig führte Mitte März die BPtK zusammen mit der Bundeswehr in der Berliner Blücher-Kaserne ein Seminar zur Behandlung kriegstraumatisierter Militärs durch. Bevorzugte Ansprechpartner waren zivile Seelenärzte, die sich u. a. in Themen wie psychologische Betreuung von Soldaten „auf Patrouille“, „auf Wache“ oder „im Feldlager“ sowie  Einsatzsituationen in verschiedenen Kriegsgebieten (Potentielles Motto: Der afrikanische Feind ist anders als der afghanische!) fortbilden wollten. Dass dabei nicht das therapeutische Ethos im Mittelpunkt stand, sondern künftiges martialisches Funktionieren zeitweise destabilisierter Kämpfer, machte der Vorstandpräsident des BPtK, Dr. Rainer Richter, deutlich: Es spreche „nichts dagegen, dass ein Soldat, der psychisch krank war, aber erfolgreich behandelt wurde, seinen Dienst wieder fortsetzt – und auch an Auslandeinsätzen teilnimmt“. Der Krieg und die als verstörend wie sinnentleert erlebten Gefahrensituationen und Greuel, die eigentlichen Ursachen des „Versagens“, sind somit kein Thema, der Soldat hat weiterzumarschieren...

 

Einst hatte der BPtK zu Recht bemängelt, dass für die zwei Prozent Heimkehrer aus Afghanistan, die unter dem Posttraumatischen Belastungssyndrom litten, und die weiteren 25 Prozent (!) Veteranen mit anderen seelischen Erkrankungen, etwa Depressionen, permanenten Angstgefühlen und multiplen Erschöpfungssyndromen, zu wenige Behandlungskapazitäten innerhalb der Armee zur Verfügung stünden. Als der Therapeuten-Verband dann 2013 ein Abkommen mit der Bundeswehr abschloss, das privatärztliche Behandlungen von traumatisierten Soldaten bei Mehrkostenübernahme durch das Militär vorsah, wurde schon aus der Vorgeschichte klar, dass den Funktionären angesichts der zu erwartenden Honorarflut der eigene Geldbeutel näherliegen würde als die seelische Gesundung der Schutzbefohlenen. Bereits 2009 hatte die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung kritische Geister für den Dienst am kranken Soldaten kategorisch abgelehnt und gefordert, interessierte Ärzte sollten eine Erklärung unterschreiben, „den Aufgaben der Bundeswehr in ihren Auslandseinsätzen nicht ablehnend gegenüberzustehen“.

 

Wie der alternative Nachrichtendienst german-foreign-policy berichtet, wandten sich damals 200 Ärzte und Psychotherapeuten mit einem Schreiben, in dem sie erklärten, sich nicht für die Kriegsführung der Bundeswehr instrumentalisieren zu lassen, an das Verteidigungsministerium. Zum Vergleich: Die BPtK, die jetzt so wohlwollend die militärische Expansionsstrategie Berlins flankiert, hat 40.000 Mitglieder.

  

03/2014                

 

 

Blind mit System?

 

Es glich dem Stich eines Blindenstocks in ein Wespennest: Plötzlich entdeckten Deutschlands Kriminalisten 3300 bereits in ihren Asservatenkammern abgelegte Fälle aus den Jahren 1990 und 2011, die nochmals zu untersuchen seien, weil der Täter-Hintergrund oder die Opfer-Merkmale (etwa Homosexualität, Migrationsmilieu oder Behinderung) auf rechtsextremistische Urheberschaft hindeuteten. Nach erster Überprüfung blieben bundesweit 301 „vollendete“ und 327 versuchte Tötungen, die nun endlich näher unter die Lupe genommen werden. Die Behörden sollen nun also in dem Sumpf ermitteln und aufklären, über den sie bislang den Mantel der Diskretion gedeckt hatten. Zur Erinnerung: Als „Die Zeit“ und der „Berliner Tagesspiegel“ nach langwierigen Recherchen über 152 Todesopfern rechter Gewalttäter zwischen 1990 und 2012 berichteten, winkten die Verantwortlichen lässig ab; nur 63 seien es gewesen, die NSU-Toten inklusive.

 

Auslöser NSU

  

Vermutlich wären all die jetzt ans Licht einer etwas aufmerksamer werdenden Öffentlichkeit gezerrten Fälle brav unter dem Teppich „normaler“ Kriminalität geblieben, hätte nicht das Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ein Bekenner-Video gedreht, die Nerven verloren und ein Ende mit Schrecken gewählt. Zuvor jedenfalls war so ziemlich alles unterlassen worden, was zur Aufklärung der zehn Morde hätte führen können, während manche Ermittler vieles unternommen hatten, um zu vertuschen, zu decken oder falsche Spuren zu legen.

 

Es fällt manchmal schwer, an Zufall zu glauben, wenn wichtige Akten verschwinden, die ohnehin übelbeleumundeten Verfassungsschutzämter gute Freunde der Täter als V-Leute einsetzen und deren Identität verschweigen wollen und die Kollegen von der Kripo, die ihrerseits wieder ausnahmslos falsche Fährten bevorzugt, nicht oder nicht ausreichend informieren. Wäre der NSU-Abgang nicht mit solch lautem Knall erfolgt, würde die Exekutive in ihrer detektivischen Arbeit wohl bis heute Denkschemata folgen, denen zufolge die geistigen Enkel der Alten Kameraden den Frieden in der Gesellschaft weit weniger beeinträchtigen als linke Randalierer und ausländisches Gesocks.

 

Vielleicht sollte man nicht zu viel Genugtuung darüber empfinden, dass endlich gründlichere Ermittlungen angekündigt werden – schließlich sind es ja mehrheitlich immer noch dieselben Beamten, die jetzt plötzlich nach bestem Wissen, Gewissen (und bei inzwischen erworbener Eignung?) eigene Versäumnisse revidieren sollen...    

 

Rechte Idylle Bayern

 

Der „AG Fallanalyse“ in Berlin wurden die aus der Gesamtzahl herausgefilterten 628 Gewaltdelikte, die intensiver untersucht werden sollen, von den Bundesländern gemeldet. Dabei fällt auf, dass die fleißigen Baden-Württemberger gleich 216 Taten meldeten, die drei Ost-Bundesländer Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, deren Neonazi-Befall notorisch ist, hingegen insgesamt nur neun (!). In Bayern erachtete man immerhin 40 Fälle als überprüfenswert. Die haben es zum Teil allerdings in sich.

 

Als der Bayerische Rundfunk (BR) in der Sache zu recherchieren begann, nahm sich die Idylle im Freistaat noch relativ ungetrübt aus. Gut, fünf Morde in München und Nürnberg gingen auf das Konto des (außerbayerischen) NSU, ansonsten aber verzeichnete die offizielle Polizeistatistik seit der Wiedervereinigung nur einen Toten durch rassistisch motivierte Gewalt, den Mosambikaner Carlos Fernando, der 1999 in Kolbermoor erschlagen worden war.

 

Dann aber schien sich so manche Gedächtnislücke zu schließen, und man entsann sich eines Homosexuellen, der 1995 in Amberg getötet worden war, oder eines Mannes, den 2006 Rassisten inPlattling zu Tode geprügelt hatten. In letzterem Fall wird sogar eine NSU-Verbindung nicht ausgeschlossen. Und da wäre da noch der jugendliche Amokläufer in Bad Reichenhall, der vier Menschen erschoss und sechs verletzte. Wie es der Zufall will, war der junge Mann Hitler-Verehrer.

 

Was ist Neonazi-Hintergrund?

 

Wie in diesen Fällen fragt man sich auch bei einem weiteren Tötungsdelikt, was in Bayern bei Verbrechen überhaupt als „rechtsextremistischer Hintergrund“ gilt: Ein Memminger Neonazi erstach 2008 seinen Wohnungsnachbarn mit einem Bajonett (!), weil der sich über zu lauten Rechts-Rock beschwert hatte.

 

Waren der Anlass und das Vorhandensein einer solchen Tatwaffe nur „unglückliche Umstände“, die einen temperamentvollen Musikfreund unglücklicherweise zu einer überzogenen Reaktion verleiteten? Gerierte sich der Amokläufer von Bad Reichenhall eigentlich als braver Bub, der nur in der Freizeit dem Tausendjährigen Reich huldigte? Oder wurden (und werden) die Geringschätzung fremden Lebens, der fanatische Rassismus, die gewalttätige Homophobie, die aggressive Verfolgung Andersdenkender und der Hass gegen behinderte Menschen von den bayerischen Behörden immer noch als Kavaliersdelikte, als unpolitische Bagatellvergehen sozusagen, eingestuft?

 

Dann allerdings darf man sich nicht wundern, dass sie nicht in der Statistik rechtsextremistischer Gewalttaten auftauchen, dann gibt es – strenggenommen – nämlich überhaupt keine Morde durch Neonazis in Bayern.      

 

Die Fäden im Dunkeln

 

Die Ignoranz der Ermittler im Freistaat hat Tradition. Erinnern wir uns an das Oktoberfest-Attentat 1980, bei dem 13 Menschen starben und 211 zum Teil schwer verletzt wurden: Schnell hatte man einen Täter posthum entlarvt, der zum Glück nicht mehr auspacken  konnte. Dass Gundolf Köhler Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann unterhalten hatte, dass Zeugen von mehreren Tätern sprachen, dass eine seltsame Affinität zum Sprengstoffanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna bestand, durfte keine Rolle spielen, das offizielle Ermittlungsergebnis beschreibt Köhler nämlich ungewohnt einfühlsam als „Einzeltäter, der aus sozialer Vereinsamung und Verbitterung gehandelt“ habe.

 

Zeugen und mögliche Waffenlieferanten aus der rechtsextremen Szene erschossen sich, starben unvermittelt an Herzversagen oder hängten sich auf, die letzten Beweisstücke vom Tatort, darunter Bombensplitter und Körperteile, die sich keinem Opfer zuordnen ließen, wurden 1997 vernichtet, was bei ungeklärten Fällen nicht üblich ist, und die Wiederaufnahme der Ermittlungen wurde jahrzehntelang abgelehnt. Der „Spiegel“ schrieb von rechtsradikalen Bekannten Köhlers, die beste Beziehungen in die CSU hinein unterhielten, deren Chef und Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß versuchte, das Attentat via „Bild am Sonntag“ für seine Wahlkampagne zu instrumentalisieren, indem er der sozialliberalen Regierung Untätigkeit im Kampf gegen den Terrorismus vorwarf.

 

Manches deutet auch auf eine Beteiligung von Gladio hin, jener von westlichen Geheimdiensten gegründeten multi-nationalen Untergrund-Truppe, die auch für das Bologna-Attentat verantwortlich gemacht wird. Deren Auftrag war es damals, Unsicherheit in der Bevölkerung durch Sabotage-Aktionen zu schüren, die später linken Gruppen in die Schuhe geschoben werden konnten. Der BR-Journalist Ulrich Chaussy, Hauptfigur in dem das Thema behandelnden Film „Der blinde Fleck“, recherchierte auf eigene Faust nach Einstellung der Ermittlungen weiter, wobei sich ihm ein Kontrahent in den Weg stellte, dem an Aufklärung offenbar wenig gelegen war: Hans Langemann, Chef des Staatsschutzes im Bundesinnenministerium.

 

Investigative Journalisten wie Chaussy und Juristen wie der Opferanwalt Werner Dietrich halten Köhlers Alleintäterschaft für unwahrscheinlich. Zwar reiche die Quellenlage „im Moment noch“ nicht aus, um staatliche Stellen der Verwicklung in das Attentat zu überführen – Nebelgranaten gezündet mit der Intention, die wahren Hintergründe zu verschleiern und die Wahrheitsfindung zu behindern, haben diese aber in jedem Fall.

 

Und nun wie aus heiterem Himmel die neuen Ermittlungen in Fällen, die zumindest teilweise selbst von einem gänzlich unerfahrenen Polizei-Lehrling der rechtsradikalen Szene hätten zugeordnet werden können! Hat einst jemand geschlafen? Waren Ermittler zu unsensibel für Winke mit dem Zaunpfahl? Wollten Vorgesetzte das bayerische Idyll nicht durch peinliche Enthüllungen stören, passten die Fragen nach den geistigen Urhebern rechter Gewalt einfach nicht ins harmonische Bild des Super-Freistaats?

 

Thematisiert man das laxe Vorgehen, die oberflächliche Ermittlung und die permanente Abwiegelung durch Behörden und Politik, wenn die Aufklärung von Verbrechen mit rechtsradikalem Motiv ansteht, gerät man leicht in den Ruch des Verschwörungstheoretikers. Der verdächtigt die Regierung der Konspiration mit dem UFO über seinem Hausdach und glaubt, dass sie ihm Drogen in die Wasserleitung kippt. Das tun wir nicht, aber angesichts NSU, NSA, Ermittlungspannen, klandestiner Lobbykratie oder Strafvereitelung durch Bundesminister dürfen wir als denkende Menschen den Hütern unseres Systems doch einiges mehr an dubiosen Machenschaften zuschreiben als dem blinden Walten des Schicksals.

 

02/2014

 

 

Wer kommt nach?

 

Gedanken zum Tod Pete Seegers

 

Als die Nachricht um die Welt ging, der letzte große Songwriter und Interpret des politischen, zu bestimmten Zeiten umstrittenen, US-Folk sei mit 94 Jahren in einem New Yorker Krankenhaus gestorben, fühlten viele Musiker und Kritiker eine Art Phantomschmerz, über den sie sogleich öffentlich zu sinnieren begannen: Die Solidarität mit denSchwachen, der Friedenswille im stets kriegsbereiten Nordamerika und die permanente politische Rebellion – jene Überzeugungen und Verhaltensweisen, die ihnen von den Karrieregestaltern des internationalen Show-Business und denTaktgebern der Medien (nicht gegen ihren Willen und gänzlich ohne Narkose) amputiert worden waren – hatten auch in einer Zeit der sozialgeschichtlichen Amnesie noch eine Symbolfigur gefunden: den alten Mahner Pete Seeger. Bis vor wenigen Tagen.

 

In den Feuilleton-Nachrufen wurden Leben, Erfolge und Verfolgungen der „Folk-Legende“ zum Teil recht detailliert abgehandelt (mit am gründlichsten – allerdings punktuell ungenau -   in der Neuen Zürcher Zeitung), folglich bleibt nur, auf einige Aspekte, Zeitumstände und biografische Charakteristika hinzuweisen, die vom Mainstream übergangen oder zu gering gewichtet wurden.

 

Wenn der asketisch wirkende Banjo-Spieler Eigenkompositionen wie „Where Have All the Flowers Gone“ und „If I Had a Hammer“ selbst mit rauchiger Stimme interpretierte, klangen sie viel ehrlicher, aber auch fordernder und aufwühlender als die glamourösen oder sogar tanzbaren Versionen einer Marlene Dietrich („Sag mir, wo die Blumen sind“) oder eines Trini Lopez, wobei diese allerdings zu Welt-Hits wurden.

 

Von der Klammer „Vereinigte Staaten von Amerika“ wird ein Gemenge auseinanderstrebender Partikular-Interessen, sich misstrauender Ethnien, rücksichtsloser Global-Strategen und fanatischer Regionalisten, bitterster Armut und pervers zur Schau gestellten Super-Reichtums, großzügiger Gastfreundschaft und rassistischer Ressentiments ohne den Kitt gemeinsamer gesellschaftlicher Interessen zusammengefasst, wie es andere Staaten in solch extremer Ausprägung und in diesem permanenten Verfallsstadium kaum kennen. Dazu kommen unsichtbare Demarkationslinien, die weite Teile der Nation von anderen trennen. Zwischen der Finanz-Elite an der Ostküste und den erzkonservativen Rednecks im Bible Belt liegen ebenso Welten wie zwischen den Slums der Afroamerikaner in Detroit und den weißen Suburbs von Phoenix, Arizona. Einig sind sich viele US-Bürger nur in der Geringschätzung des Rests der Welt, die sich allerdings im eigenen Heim rasch auf den Nachbarn mit falscher Hautfarbe oder fehlender ökonomischer Konkurrenzfähigkeit übertragen lässt. Nur wenigen Stimmen gelang (und gelingt) es, diese splendid isolation zu durchdringen, die Herzverfettung bloßzustellen und doch im ganzen Land gehört zu werden; mehr als ein halbes Jahrhundert gehörte das sonore Organ von Pete Seeger zu diesen. Der Weltfrieden war für ihn nicht nur die Abwesenheit von Gewalt im eigenen Land. Für das Recht mexikanischer Feldarbeiter, sich gewerkschaftlich zu organisieren, sang und demonstrierte er ebenso wie gegen die Diskriminierung der schwarzen Ghetto-Bewohner oder die Allmacht der Finanzmärkte. Mit seinem Schiff „Clearwater“ deckte er die Verseuchung des Hudson durch die Industrie auf.

 

Pete Seeger war der letzte Vertreter des alten sozialkritischen Folk. Zusammen mit seinen frühen Kollegen Leadbelly („Good Night Irene“) und vor allem Woody Guthrie („Which Side Are You On?“) mischte er sich überall ein, wo er Ungerechtigkeit witterte, wurde von Sheriffs gejagt, mit Auftrittsverboten belegt und hatte mit seinen Bands The Almanac Singers und später The Weavers dennoch so viel Erfolg, dass ein riesiges Land seine Lieder kannte und liebte (oder hasste). Mitte der 50er Jahre wurde es für das System Zeit, zurückzuschlagen.

 

Das „Komitee für unamerikanische Aktivitäten“ unter Senator Joseph McCarthy lud in seinem Bestreben, die US-Kultur von linkem oder auch nur zu liberalem Gedankengut zu säubern, Musiker, Schauspieler und Schriftsteller vor, um sie vor die Alternative zu stellen, Freunde und Kollegen als „Kommunisten“ zu denunzieren oder „wegen Missachtung des Kongresses“ ins Gefängnis zu gehen. Für etliche berühmte Kunstschaffende bedeutete das nicht nur Kriminalisierung, sondern auch das Ende ihrer Karriere und – sich daraus ergebend – den finanziellen Bankrott. Viele hielten dem Druck nicht stand. So brach der erfolgreiche Hollywood-Regisseur Elia Kazan („Endstation Sehnsucht“) im Kreuzverhör zusammen und zeigte reihenweise Mitarbeiter und Bekannte an. Pete Seeger musste 1955 ebenso wie der große Dramatiker Arthur Miller („Tod eines Handlungsreisenden“) vor dem Ausschuss erscheinen. Seeger verweigerte die Aussage und wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er eins absaß. Viele Jahre lang galt er nun bei Rundfunk-Stationen oder Plattenfirmen als persona non grata.

 

Wie sehr die McCarthy-Ära auch in spätere Verwerfungen der US-Gesellschaft und nationalen Geschichte hineinwirkte, belegt die denkwürdige Tatsache, dass mit dem früheren engsten Mitarbeiter des Senators, Richard Nixon, und dem damaligen Scharfmacher in der Schauspieler-Gewerkschaft, Ronald Reagan, zwei besonders eifrige Spürhunde später Präsidenten wurden. Für Pete Seeger, der erste Wiedergutmachung erfahren hatte, als seine Songs kurz nach dem Aufkommen der Beatles wieder auf Sit-ins, an Lagerfeuern und auch auf deutschen Wiesen geklampft wurden, muss es eine Genugtuung gewesen sein, als ihn der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten zur Amtseinführung einlud, auf der er Guthries` "This Land Is Your Land" – angesichts des immer noch vorhandenen latenten Rassismus mit einigem Stolz  – intonierte. Die spätere Politik Obamas dürfte der hartnäckige Pazifist, der sich stets gegen jede Art von Bespitzelung gewehrt hatte, weniger goutiert haben.

 

Künstlerisch rehabilitiert wurde Pete Seeger Mitte der 60er Jahre, als der Folk von jungen Interpreten wiederbelebt wurde. Bob Dylans frühe Songs wie „Blowin` in the Wind“  oder „The Times They Are A-Changin`“ erinnerten doch sehr an die Handschrift des großen Mentors, und die Protest-Ikone Joan Baez nahm Versionen seiner Lieder auf. Obwohl der Akustik-Purist Seeger Elektro-Gitarren zunächst kategorisch ablehnte, machten die Byrds aus „Turn! Turn! Turn!“, seiner Vertonung eines Textes aus dem Alten Testament, einen psychodelischen Hit. Spätestens als Bruce Springsteen ihm 2006 das Album „We Shall Overcome“ (ein von Peter Seeger zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung gemachtes Spiritual) widmete, wird er mit dem härteren Sound versöhnt gewesen sein. Jedenfalls trat Seeger noch im September vorigen Jahres gemeinsam mit dem Rocker Neil Young und dem Country-Rebellen Willie Nelson auf einem Benefiz-Konzert für die Stiftung Farm Aid, die landwirtschaftliche Familienbetriebe gegen die Agrar-Industrie unterstützt, in Saratoga, Bundesstaat New York, auf.

 

Bleibt die Frage: Was kommt nach Pete Seeger? Die Unbequemen in der Folk- und Rock-Szene wie eben Young und Nelson oder Kris Kristofferson, obwohl Seegers Junior-Partner, sind mittlerweile auch in die hohen Jahre gekommen, und die jungen Unangepassten haben in einer Hype- und Kommerz-Szene, die Woody Guthrie wegen seiner Texte, Janis Joplin aufgrund ihres Aussehens oder Jimi Hendrix wegen unberechenbarer Virtuosität abgelehnt hätte, kaum Chancen, über das Binnen-Ambiente kleiner Clubs hinaus bekannt zu werden und eine kritische message zu verbreiten.

 

Don McLean – auch er wurde einst wie so viele von Pete Seeger gefördert – besang 1971 in seinem kryptischen Lied „American Pie“ den Todestag des Rock`n`Rollers Buddy Holly als „the day the music died“. Wollen wir hoffen, dass mit Pete Seeger nicht der amerikanische Folk zu Grabe getragen wurde.

  

01/2014




2013    

 

 

 

Unser täglich Müll

 
„Man spielt nicht mit dem Essen!“ Millionen von Kindern in der Ersten Welt hören diese Ermahnung, wenn sie mit mäßigem Appetit in den Tellerinhalten herumstochern. Was den Kleinen verboten ist, praktizieren gewisse Erwachsene mit krimineller Energie an den Börsen: Sie verzocken die Ernten ganzer Länder auf dem Terminmarkt oder setzen auf die Umwidmung fruchtbarer Böden zu Energiedepots, was hilft, die Geldbeutel von Spekulanten zu füllen, dabei aber die Mägen Hungernder leer lässt. Auch im Privaten werden hierzulande Getreide, Gemüse und Fleisch zunehmend als Ware mit geringem Geldwert und nicht mehr als Lebensmittel wahrgenommen. Foodsharing-Initiativen wollen das Bewusstsein (wieder)herstellen, dass Nahrung kein potentielles Abfallprodukt ist, sondern die – weltweit immer noch schlecht verteilte – Basisressource der menschlichen Existenz.

 

Mode und Bedürfnis

 

Auf den ersten Blick scheint sich in Deutschland alles ums Essen zu drehen: Wie man es zubereitet,welche Zutaten gesund sind, wie man sich per Diät schlank schlemmt – all dies wird in Hunderten von TV-Kochsendungen, Tausenden von Ernährungstipps, Myriaden von Magazinen, Frauenzeitschriften und Werbebroschüren thematisiert. Mit den Bedingungen, unter denen die Rohstoffe erzeugt, die Lebensmittel produziert und deren Verkäufe organisiert werden, beschäftigen sich hingegen die wenigsten. Der Konsument verfolgt in der Regel gebannt vor dem Fernseher, wie zwei Teams sich wegen der idealen Komposition eines Carpaccio vom schottischen Naturlachs duellieren, blättert amüsiert in Rohkost-Rezepten – greift dann zu seiner Cola, um die Hamburger-Reste herunter zu spülen, und wirft anschließend Konserven, deren Haltbarkeitsdauer abgelaufen ist, altes Brot oder die Paprikaschote mit der leichten Druckstelle in den Mülleimer. Der Discounter für den billigen Nachschub liegt ja gleich um die Ecke.

 

Natürlich kaufen heute mehr Leute als früher regionale Produkte, orientieren sich am Saison-Angebot und verzichten auf Knasthähnchen-Brust. Auch steuern nicht wenige die Öko-Läden an, wobei man sich fragen muss, ob die miserablen Arbeitsbedingungen der Ebl-Beschäftigten ohne Betriebsratsschutz dem soeben per Bewusstseinswandel in Ernärhungsfragen entlasteten Gewissen nicht neue – soziale – Skrupel aufbürden. Das Gros der Menschen hierzulande aber macht sich bei Einkauf und Verzehr keine Gedanken über Herkunft und Erzeugung der Fressalien – Hauptsache, sie sind erschwinglich und im Überfluss vorhanden. Wenn man zu viel einkauft, wird man nicht arm davon; und schließlich existiert eine gut funktionierende Müllabfuhr.

 

So wirft der Durchschnittsdeutsche im Jahr rund 82 Kilogramm Lebensmittel in die Tonne, Nahrung, die anderswo Abnehmer finden könnte. Dass diese Ressourcen-Vernichtung gedankenlos vor sich geht, ist großenteils teuren Werbefeldzügen des Handels und der Agro-Industrie geschuldet, in denen falsche Bedürfnisse geweckt werden und Essen als bloßes Wegwerf-, Image- oder Sekundärprodukt aufscheint.

 

Die sinnlose Produktion

 

Der Bäcker, Metzger oder Gemüsehändler im Wohnviertel versucht, einigermaßen den Bedarf seiner Kundschaft zu taxieren. Danach backt er Brötchen, füllt Wursthäute oder kauft Grünzeug auf dem Großmarkt und beim Bauern ein. Den Überschuss an Viktualien, der ihm fast zwangsläufig am Ende des Tages oder der Woche bleibt, führt er wenigstens teilweise einer Zweitverwertung (Semmelbrösel, Sülzen etc.) zu: an sich ein nachhaltiger Produktkreislauf. Nur verschwinden die kleinen Läden unter dem Ansturm der Handelsriesen und industriellen Produzenten zunehmend aus den innerstädtischen Bezirken. Viele Kinder glauben wohl schon, Brot käme aus dem Supermarkt.

 

Die mittelständischen Backwaren-Ketten und die überregional vertreibenden Fleischfabriken, deren Erzeugnisse wesentlich liebloser und billiger hergestellt werden, müssen eher darauf achten, ihre Waren durch gute Werbung an den Kunden zu bringen, als den tatsächlichen Bedarf zu decken. Ausschuss bildet in der Lebensmittel-Massenproduktion einen zu vernachlässigenden Kostenfaktor, und wichtig ist nicht der Wert der Nahrung für den Kunden, sondern dessen Kaufverhalten. Ein Mensch, der ständig Nahrung in den Müll wirft, am nächstenTag aber wieder zu viel oder das Falsche einkauft, ist ein guter Konsument.

 

Geradezu irrsinnig aber mutet die Manipulation der Verbraucher durch weltweit agierende Konzerne an. Verkauft und beworben wird, was den meisten Profit bringt – und wenn dafür die Agrar-Landschaft der halben Welt umgekrempelt werden muss und Ozeane zu artenarmen Tümpeln degenerieren.     

 

Vom wertvollen Gut zur Ramschware

 

Feldprodukte sind zur Manövriermasse für Lebensmittelkonzerne, Börsenspekulanten und Finanzjongleure geworden. Die gesamte Weltbevölkerung könnte mit Hilfe entsprechender Logistik problemlos ernährt werden, würden Lebensmittel nach Bedarf und nicht zwecks Profitmaximierung produziert und vertrieben werden. Tatsächlich aber werden agrarische Rohstoffe und natürliche Ressourcen, die einst die Existenz ganzer Völker sicherten, durch neue Monokulturen verdrängt, weil diese auf dem Weltmarkt kurzzeitig höher dotiert sind.

 

Im Hochland Guatemalas wurden die indianischen Kleinbauern, die dort das Hauptnahrungsmittel Mais anbauten, verjagt, damit auf ihrem Grund hochpreisiger Kaffee (der bekanntlich nicht essbar ist) kultiviert werden konnte. Mais wiederum liefert so viel gewinnträchtige Häckselmasse zur Herstellung von „Biokraftstoff“, dass er zum einen auf riesigen Ländereien den diversifizierten Ackerbau verdrängt, andererseits nicht mehr der Ernährung dient. (Aus demselben Grund müssen auf Borneo die Regenwälder endlosen Ölpalmplantagen weichen.) In Südamerika erobert Soja Territorien von der Größe ganzer Länder, nicht um als Primär-Nahrung in die einheimischen Kochtöpfe zu wandern, sondern um als Viehfutter den ungezügelten Billigfleisch-Hunger der Yankees und Europäer stillen zu helfen.

 

Natürlich greifen Food-Multis wie Nestlé auch aktiv in unsere Vorstellung, wie Lebensmittel zu schmecken und auszusehen haben, ein. Mit genormten Hybrid-Früchten, die von Pestiziden gezeichnete Lohnsklaven ernten, lehren sie uns die „Idealform der Banane“, mit künstlichen Aromen und suggestiven Werbekampagnen ziehen sie unsere Kinder zu Schokoriegel-Junkies heran. Nahrung wegzuwerfen (um neue Käufe zu tätigen),liegt ganz im Sinne dieser Marktgiganten.

 

Jeder Widerstand fängt klein an

 

Nicht nur im privaten Haushalt werden Lebensmittel aussortiert, Supermärkte, Gastronomie oder Hersteller von Fertigprodukten werfen in Deutschland jährlich Millionen Tonnen (oft noch essbarer) Nahrung auf den Müll. Um diese allgemeine Verschwendung zu stoppen oder wenigstens einzudämmen, bilden sich derzeit überall Foodsharing-Gruppen.

 

Die Idee hinter der Initiative ist denkbar einfach: Fast für jeden Haushalt und für alle Restaurants werden selbst bei gediegener Planung regelmäßig zu viele Vorräte eingekauft: Mal waren die Augen größer als der Magen, mal verhindern unvorhergesehene Ereignisse das Kochen, mal kommen zu wenige Gäste. Warum sollte man den Überhang verderben lassen und wegwerfen, wenn man ihn der Nutzung durch andere zuführen, schlicht: mit anderen – welch fürchterliches Wort in unserem System –teilen kann? Ob Konserven, Obst oder Schinken, ob aus privaten Küchen, Kneipen,Tante-Emma-Läden oder Lebensmittel-Discountern stammend – was noch essbar ist, sollte anderen Menschen oder den Tafeln für in relativer Anonymität lebende Arme angeboten werden. Deshalb wurden FOODSHARING-Datenbanken ins Netz gestellt und in vielen Regionen Standpunkte für die Abholung eingerichtet. Die einen tragen ein, was sie übrig haben,die anderen schauen nach, ob etwas offeriert wird, was sie nötig haben. Darüberhinaus kann man sich zum gemeinsamen Kochen verabreden.

 

Solche Aktivitäten, zu denen auch die Gründung von Läden, in denen Brot von gestern oder Gemüse, dessen Outfit nicht ganz der üblichen Hochglanz-Ästhetik vitaminarmer Ausstellungsstücke entspricht, zu günstigen Preise verkauft wird, gehört, werden die  

Herabstufung von lebensnotwendiger Nahrung zur marktkonform eingepreisten und geringgeschätzten Ware nicht generell umkehren; aber sie sind ein Anfang (wie auch die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen mit Lebensmittelkunde, Kochkursen und werthaltigem Mittagessen einer wäre), um erst einmal das Bewusstsein für nachhaltige Bevorratung, verantwortungsvollen Umgang und Verzehr im Ernährungsbereich zu wecken. Eins jedenfalls ist sicher: Den Food-Multis passt eine größer und lauter werdende Bewegung wie FOODSHARING nicht ins Gewinn- und Abfallmaximierungskonzept, zumal eine ressourcenorientierte Informationspolitik den Blick auf die Konzern-Machenschaften schärfen würde.

 

12/2013    

 

 

 

Von China lernen?

  

Wieder einmal verblüfft das Reich der Mitte die restliche Welt – oder zumindest deren von den Massenmedien hypnotisierten Teil: Alle 307.000 chinesischen Journalisten wurden von der Regierung der Volksrepublik  dazu verpflichtet, Kurse in marxistischer Theorie zu besuchen und am Ende sogar Prüfungen abzulegen. Einschlägige Kenntnisse der Reporter ließen zu wünschen übrig, schrieb die „Volkszeitung“, Organ der Kommunistischen Partei, deswegen müssten sich die Berichterstatter stärker auf die Kernwerte zurückbesinnen.

 

Nun täte ein wenig Fortbildung in Ökonomie und Philosophie den Medienschaffenden überall, speziell aber auch den Flachgründlern der hiesigen Journaille, gut, doch drängt sich dem interessierten Beobachter zunächst die Frage auf, was ausgerechnet die Führung der Volksrepublik China mit dieser Bildungsmaßnahme bezweckt. Folgende Begründungen wären denkbar:

 

Die hohen Funktionäre möchten von Presse, Funk und Fernsehen künftig an die sozialistischen Prinzipien erinnert werden, die sie im Stress individueller Bereicherung vergessen haben und zu denen die Ausbeutung von Fabrikarbeitern, die Deprivation des Agrar-Proletariats und die Verseuchung der Umwelt nicht so recht passen wollen.

 

Oder aber die Reporter müssen die Grundlagen der Marx`schen Kapitalismus-Analyse besser verstehen, um nicht aus Versehen das Verhalten der eigenen KP-Spitze sowie der neuen Wirtschaftsoligarchen öffentlich daran zu messen. Schließlich sollte jeder loyale Publizist genau kennen, was er besser verschweigt.

 

Bleibt nur die Frage, wer in einem Land, dessen Elite sich derzeit dadurch auszeichnet, alle intellektuellen Fähigkeiten für die Gewinnmaximierung einzusetzen, die neu erworbenen Kenntnisse der Journalisten überprüfen soll.

 

Zwar wäre die Forderung, auch die deutschen Meinungsbildner sollten sich intensiv mit gesellschaftlichen Denkansätzen beschäftigen, durchaus zu unterstützen, doch müsste man die andersartige Interessenlage und die vorherrschende Doktrin berücksichtigen: Was dem Chinesen sein Marx, wäre dem Wirtschaftsredakteur hierzulande sein Milton Friedman oder – in der eher praktischen Ausführung – der jeweilige Oberzocker der Deutschen Bank. Jetzt aber kommt die frohe Botschaft: Die Schreiber und Kommentatoren in der Bundesrepublik haben Schulungen gar nicht nötig, da sie die Gebote und Ausformungen des Kapitalismus bereits voll verinnerlichen und als der Weisheit letzten Schluss unters Volk bringen.

 

So wird zu 150 Prozent die Management-Sichtweise übernommen, der zufolge eine „Liberalisierung des Arbeitsmarktes“ (sprich: Niedriglohn-Sektor, Forcierung von Zeitarbeit und Werksverträgen sowie Aufweichung des Kündigungsschutzes) vonnöten sei, um die Konkurrenzfähigkeit eines Staates (will sagen: der wichtigsten, aber kaum Steuern zahlenden Konzerne einer Nation) zu garantieren. Aus dieser Perspektive sind nicht marodierende Banken oder Spekulanten wie der (gern zitierte) George Soros, der ganze Volkswirtschaften bedrohte, indem er gegen ihre Landeswährungen wettete, an der Krise in Südeuropa schuld, sondern „aufgeblähte“ Sozialsysteme. Firmenbelegschaften mutieren in den Augen der Ökonomie-Boulevardisten für die hart arbeitenden Unternehmensvorstände zu Kostenfaktoren, deren Minderung (durch Dumping-Löhne oder Entlassungen) die Aktionäre glücklich stimmt.

 

Überhaupt werden die Verschiebungen und Verwerfungen im Wettbüro des Kapitalismus, genannt Börse (von der übrigens selbst Monetarismus-Zar Friedmann einst sagte, sie habe nichts mehr mit Ökonomie zu tun), einfühlsam beschrieben und mit küchenpsychologischen Termini „erklärt“. Die Notierungen des DAX haben in den Medien die Ergebnisse und Quoten des Pferde-Totos abgelöst.

 

Wie sehr deutsche Edelfedern unser Wirtschaftssystem mögen, ja sogar leben, beweist nicht nur die verständnisvolle Zurückhaltung bei Enthüllungen, wenn diese die Interessen der Verleger, die sich eher den Werbekunden als den Lesern verpflichtet fühlen, tangieren könnten, sondern manchmal auch die eigene Vita, vor allem wenn es um deren kommerziellen Hintergrund geht. Durch unglückliche Umstände kam ans Licht der staunenden Öffentlichkeit, dass zwei Flaggschiffe der extrovertierten Rechtschaffenheit auf fremden Grund gelaufen waren: Alice Schwarzer, Sprachrohr der unterdrückten Mehrheit, und Theo Sommer, als früherer ZEIT-Chefredakteur dem unverbindlich-liberalen Gesäusel verpflichtet, hatten ihr Geld in der Schweiz gebunkert, um Steuern zu hinterziehen.

 

Um solche Raffinesse zu kultivieren, müssten die chinesischen Schreiberlinge noch viel lernen. Und Marx wäre dafür gar nicht das geeignete Lehrmaterial...

  

02/2014  

           

 

 

Richtig wichtig?

 

Wenn ein Ex-Weltmeister der Formel-1, jenes mit immensem Aufwand an Finanzen wie Material und unter erheblicher Umweltschädigung betriebenen Rennspektakels, das viele Millionen in der Welt als Sport ansehen, schwer verunglückt, dann gebietet die Informationspflicht der Medien, darüber angemessen zu berichten. Allerdings dürften wohl einige zur gleichen Zeit auf der Erde stattfindende Ereignisse aufgrund ihrer Bedeutung für nicht unerhebliche Teile der Menschheit mehr publizistische Aufmerksamkeit verdienen. Eine Große Koalition der verantwortlichen Journalisten hierzulande war aber wohl anderer Meinung.

 

Es passierte einiges in den Tagen um den Jahreswechsel: Im Südsudan findet ein Putschversuch statt, die Zentralafrikanische Republik und der von Bush „befriedete“ Irak drohen in Blut zu versinken, US-Außenminister Kerry startet eine Nahost-Friedensinitiative, während Israel die illegalen Siedlungen im besetzten Westjordanland ausbaut, und in Bayern beginnt Populist Seehofer die Hetze gegen „Armutszuwanderer“. Für die meisten Zeitungen und Privatsender in Deutschland aber gab es nur ein Thema an prominentester Stelle: Michael Schumacher hatte einen Ski-Unfall und ringt nun mit dem Tod.

 

Nun könnten die öffentlich-rechtlichen Medien endlich einmal zeigen, wozu wir sie benötigen – dachten wir. Mit ernsthaftem, die Prioritäten nach Fakten-Gewichtung und nicht nach Regenbogen-Bedürfnissen setzendem Journalismus würden sie das Geschehen wieder vom Kopf (oder Blinddarm) auf die Füße stellen. Weit gefehlt: Auch ARD und ZDF berichteten atem- und pausenlos, dass es nach Aussage der Ärzte der Klinik in Grenoble, wo Schumacher operiert worden war, nichts Neues zu berichten gebe. Den Vogel aber schoss das Info-Radio Bayern 5, noch vorletztes Jahr mit dem Deutschen Rundfunkpreis als bestes Nachrichtenformat ausgezeichnet, ab: Drei geschlagene Tage lang war der unveränderte Gesundheitszustand des einstigen Spitzensportlers zu jeder Viertelstunde die allererste und ausführlichste Topmeldung.

 

Es ist eine schöne neue Medienwelt, in der wir leben dürfen. Das künstliche Koma eines Rennfahrers wiegt Kriege, Massenelend, Flüchtlingsdramen und politische Schurkenstücke locker auf. Was kann uns da noch groß erschüttern?

  

01/2014




2013

 

 

             

Wen der Geier lobt...

Gedanken zum Tod vom Dieter Hildebrandt

 

Dieter Hildebrandt starb mit 86 Jahren. Es würde zu tragisch und elegisch klingen, wollte man jetzt „vom Ende des politischen Kabaretts in Deutschland“ sprechen. Nein, in irgendeinem Kuhdorf, auf einer wackligen Provinzbühne, in versteckten Glossen wird der beißende Spott wider die Mächtigen schon überleben, aber das Genre hat die einzige satirische Klinge verloren, die das Establishment hierzulande jemals so tief ritzen konnte, dass es – für alle Öffentlichkeit sicht- und hörbar – gereizt reagierte. Die Pointen des Clowns (als den ein Politiker einen Kabarettisten grundsätzlich ansieht) waren früher bisweilen zu realistisch fürs öffentlich-rechtliche (parteilich-geregelte) Wohlfühl-Fernsehen.

 

Die bayerische Bekehrung

 

„Achtung und Respekt“ empfinde er vor Hildebrandt, äußerte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, und ließ damit die Frage offen, ob er seinen Hals um 180 Grad wenden könne, oder eher unter Gedächtnisverlust leide. Seine Ministerin Hadertauer hatte der Ingolstädter Saulus noch vor wenigen Jahren zurechtgestutzt, weil sie im Gottvater der CSU, Franz Josef Strauß, nicht in allem ein Vorbild sehen mochte, und jetzt...? Fällt er dem Paten in den vermoderten Rücken, indem er einen Nestbeschmutzer lobt, der laut FJS „politische Giftmischerei“ betrieben hatte?

 

Es kann sich natürlich auch um pure Heuchelei handeln, zumal sich das geradlinige Opfer diese "Hommage" nun nicht mehr verbitten, sondern sich allenfalls angewidert in der letzten Ruhestätte rumdrehen kann. Oder ist Seehofer tatsächlich entfallen, dass sich der damals völlig CSU-kompatible Bayerische Rundfunk 1986 aus der von Hildebrandt verantworteten Kabarett-Sendung „Scheibenwischer“ ausblendete, als Lisa Fitz im Sketch „Der verstrahlte Großvater“ andeutete, dass Tschernobyl auch im Freistaat liegen könne? Und war es nicht die Münchner Strauß-Regierung gewesen, die vier Jahre zuvor beim SWR gegen eine Satire über den Bau des (auch heute noch gähnend leeren) Rhein-Main-Donau-Kanals, in der Hildebrandt und Polt als Geldschein-Wedler auftraten, wegen des „bayernfeindlichen Programms“ protestiert hatte? Was ficht Horst Seehofer, den bajuwarischen Gemütsmenschen, der kritischen Intellekt für die Kinderkrankheit der Besitzlosen hält, das Geschwätz von gestern an? Er weiß immerhin: Ein toter Kabarettist ist ein guter Kabarettist.

 

Das Dilemma politischer Satire

 

Auch Dieter Hildebrandt erkannte, dass politischer Biss im zunehmend fühlloser werdenden Spektrum der Neuen Medien auf Granit treffen musste, dass die „Öffentlich-Rechtlichen“ unter dem Diktat der Regierenden immer beliebiger, belangloser und oberflächlicher agierten, dass ihnen weitgehend der Mut zur konfrontativen Kritik abhanden gekommen war. Als er sich vom „Scheibenwischer“ zurückzog, erkannten auch die wenigen verbliebenen Zuschauer bald, dass es den Nachfolgern an destruktiv-entlarvender Präzision und Analyse-Fähigkeit mangelte. Einem betulichen Schmalspur-Philosophen wie Bruno Jonas und einem Stimmen-Imitator wie Mathias Richling, der den abschüssigen Weg zur In-Comedy ebnete, fehlten mehr noch als die gedankliche Schärfe eine dezidierte Aggressivität gegen alles, was oben ist und oben bleiben will. 

 

Zwar touren immer noch geniale Widerborste wie Georg Schramm, Martin Buchholz oder der sich gerade vom Milieu-Satiriker zum bös in die Ecke treibenden Polit-Narren entwickelnde Markus Barwasser alias Pelzig durchs Land, Dieter Hildebrandt aber hatte zuletzt auf das Internet gesetzt (www.stoersender.tv), nicht weil er es liebte, sondern weil er darin die einzige Möglichkeit sah, unabhängig zu arbeiten in diesem Land der garantierten Meinungsfreiheit.

 

Die Einflusslosen

 

„Schlechte Zeiten für Spaßmacher, Spötter, Kabarettisten“, sang einst der Doyen der deutschen Liedermacher, Franz Josef Degenhardt, und folgerte daraus: „Kompromiss ist Krampf im Klassenkampf!“. Nun ja, diese späteren an Agitprop-Schnellkurse erinnernden Liedtexte brachten mit Sicherheit weniger Menschen zum Nachdenken als seine frühen leicht surrealen Balladen („Schmuddelkinder“, „Vorstadtfeierabend“), die das in reaktionärem Mief eingemummelte Deutschland mit künstlerischen Mitteln punktgenau charakterisierten. Tatsächlich leben Satire und Kabarett stets mit einem Kompromiss, existieren sie doch seit Voltaire schon in und von einem Gesellschaftssystem, dessen Medien sie nutzen, um den Bürgern und ihren Herren den Spiegel vorzuhalten. Revolutionäre auf Barrikaden waren Kabarettisten nie, sondern eben „Kleinkünstler“, deren Anliegen darin bestand, die Sinne hinsichtlich politischer Missstände und möglicher Veränderungen zu schärfen.

 

Dass ihnen der Weckruf kaum mehr gelingt, hat im wesentlichen zwei Ursachen: Zunächst wird der „neue“ Klassenkampf von oben geführt und gipfelt dementsprechend nicht in Arbeiteraufständen, sondern in der Beherrschung der modernen Medien, durch die kritische Geister und unzufriedene Massen so wirkungsvoll und nachhaltig sediert werden, dass sie nicht mehr zwischen Läppischem, Gefährlichem oder Essentiellem unterscheiden können (insofern ist Angela Merkel als Deutschlands Top-Model der Valium-Kultur zu verehren). Zum andern üben sich in vorauseilendem Gehorsam viele junge „Kabarettisten“ in sinnarmer Situationskomik, wählen Themen, die viel Klamauk und wenig Hintergründiges versprechen, machen sich leicht verständlich über dröge Karnivoren oder Pauschaltouristen lustig, klammern aber komplexe Tatbestände wie globale Rüstungsexporte oder die Legitimität militärischer Auslandseinsätze als zu kompliziert für ein unterhaltungssüchtiges Publikum aus. In diesem Kabarett der Selbst-Kastration stehen etliche Protagonisten der „Koalition der Willigen“ nah, was wiederum bedeutet, dass der Begriff „Politisches Bewusstsein“ für sie zum Schimpfwort verkommen ist.

 

Armer Dieter Hildebrandt, der sich gegen das posthume Lob aus falschem Mund nicht mehr zur Wehr setzen kann. Die Geier, die er früher bloßstellte, rächen sich nun, indem sie sich die Deutungshoheit über die Person anmaßen und sein inhaltliches Vermächtnis fleddern. Schon zu Lebzeiten aber war ihm nicht erspart geblieben, die mediale Abschiebung satirischer Kritik in die Bedeutungslosigkeit mitzuerleben. Schaltete früher das ZDF noch seine „Notizen aus der Provinz“ vor den Bundestagswahlen ab,weil es diese Kabarett-Texte zu diesem Zeitpunkt für zu brisant hielt (ein Kompliment!), so wird heute alles viel eleganter und subtiler per Sendeplatz und Quotenvorgabe gelöst. Dieter Hildebrandt flüchtete am Ende wie viele andere (darunter auch der Schreiber dieser Zeilen) ins Internet, das immense Gefahren birgt, aber auch der freien Meinungsäußerung einige Chancen bietet.

 

11/2013                  

 

 

 

Endlich Mord in Franken!

 

Franken ist u. a. bekannt für seine edlen Weine, naturbelassenen Biere, deftigen Speisen und idyllischen Landschaften. Doch seitdem Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Region an den Kurfürsten in München verschacherte, fühlt sich der Volksstamm zwischen Rhön und Altmühl gegenüber den Urbayern zurückgesetzt und bundesweit in allen wirklich wichtigen Bereichen des kulturellen Lebens unterrepräsentiert.

 

So war Franken auf der kriminalistischen Landkarte, die durch die Hochkultur-Sendung „Tatort“ sonntags filmtechnisch aufbereitet wird, bislang ein weißer Fleck, ganz so, als gäbe es in Nürnberg, Würzburg oder Bamberg nicht genügend ausgedehnte Puffviertel, unheimliche Burgruinen, schamlose Kinderschänder (und Klöster), fiese Rocker und gewaltbereite Neonazis, halt die passende Umgebung und das adäquate Personal für telegene Morde. Die Sonntags-Krimis zeigten fluchende Polizisten in Duisburg, singende Kommissare in Hamburg und ein melodramatisches Duo in München – nur in Franken durfte weder gesetzeswidrig noch unter Verbalinjurien in Fäkalsprache oder gar mit schleimigem Charme ermittelt werden. Damit ist es jetzt vorbei! Ab 2014 huldigt die ARD auch dem fränkischen Verbrechen.

 

Die TV-Ermittlungen sollen von Nürnberg aus geführt werden, da hier auch im richtigen Leben eine Mordkommission beheimatet ist. Fürth hat da schlechte Karten, prahlte es doch stets vorlaut damit, aufgrund der niedrigsten Kriminalitätsquote Deutschlands sicherste Großstadt zu sein. Wegen der innigen Beziehung der Zwillingsstädte zueinander würden die Nürnberger gern ausschließlich Fürther als Mordopfer sehen (und umgekehrt), doch stehen auch andere fränkische Orte Schlange, um ihren Anteil an den Fernsehmorden einzufordern. Einige sollen sogar ihre Verbrechensstatistiken nach oben manipuliert haben, um bessere Chancen zu haben.

 

Zu verdanken haben die Franken ihre Partizipation an Mord und Totschlag wohl vor allem dem umtriebigen Markus Söder. Nach einem München-Tatort, in dem ein vertrottelter Nürnberger Kommissar vorgezeigt wurde, forderte er „Wiedergutmachung“. Jetzt hat er endlich voll und ganz Satisfaktion erhalten, und vielleicht bietet man ihm sogar eine mimisch anspruchsvolle Nebenrolle als schmieriger Klein-Gangster an.

 

Vor Jahren war die mittelfränkische SPD, gleichfalls um die Präsenz der Metropolregion bei den richtig wichtigen Nachrichtensendungen besorgt, mit dem Slogan „Nürnberg muss auf die Wetterkarte!“ in den Wahlkampf gezogen. Jetzt könnte Söder kontern und seine Landsleute folgendermaßen umgarnen: „Das Verbrechen muss nach Franken!“

 

09/2013  

 

 

             

Verlorener Krieg

Wie Deutschland und seine Verbündeten eine Niederlage erleiden – und niemand darüber spricht

 

In den Sternstunden der öffentlich-rechtlichen Sender werden staatliches Versagen und dessen Auswirkungen auf die Zukunft abhängiger und hilfsbedürftiger Menschen thematisiert. So geschehen kürzlich im Info-Funk „Bayern 5“ und im Politik-Magazin „Monitor“ der ARD: Es ging um die einheimischen Hilfskräfte der im Norden Afghanistans stationierten deutschen Truppen.

 

Schäbiges Verhalten

 

Die rund 1700 Fahrer, Wachleute oder Dolmetscher, die für die Sicherheit, Versorgung und Bequemlichkeit der Soldaten sorgten, fürchten um ihr Leben, wenn ihre Auftraggeber wie vorgesehen 2014 das Land verlassen. Die US-Streitkräfte, die wohl aus dem Image-Verlust am Ende des Vietnam-Krieges, als sie die einheimischen Verbündeten bedenkenlos zurückließen, gelernt haben, flogen bereits über 2000 afghanische Mitarbeiter in die Staaten aus. Die deutsche Botschaft, so erfuhr man in „Monitor“, verweist indes auf die Zuständigkeit der Bundeswehr. Dort hieß es lapidar, die „Gefährdungssituation“ werde „als nicht so gravierend“ angesehen. Zudem würden die Helfer „über 2014 hinaus für den weiteren zivilen Aufbau“ gebraucht.

 

Während sich also die deutschen Militärs ins sichere Heimatland flüchten, werden ihre Angestellten der Rache der Taliban oder der Mudschahidin überlassen, die in ihnen Kollaborateure der „ungläubigen“ Invasoren sehen. Die Rundfunkberichte prangern dieses inhumane Verhalten zurecht an (zumal es den Betroffenen nicht möglich ist, auf afghanischem Boden Asyl in Deutschland zu beantragen), doch wird das entscheidende Faktum nur indirekt thematisiert: Deutschland ist gerade dabei, im Bündnis mit anderen Staaten einen Krieg zu verlieren. Und deshalb klingt die Argumentation, die afghanischen Hilfskräfte seien für den Aufbau nach der Alliierten-Flucht nötig, so zynisch. Das Szenario, das man sich für die nächsten Jahre vorstellen muss, entspricht in keinster Weise den hehren Worthülsen der Nato-Politiker. Egal, welche Gruppierung sich wie schnell in dem Land am Hindukusch durchsetzen wird – es ist mit Bürgerkrieg, inhumaner Herrschaft und blutiger Vergeltung zu rechnen. Und viele einheimische Bundeswehr-Helfer werden ihrem Land allenfalls als die Felder düngende Folterleichen nützlich sein können.

 

Krieg? welcher Krieg?

  

Es ist immer das Zeichen für eine Niederlage, wenn man Verbündete im Stich lässt. Da man aber in der deutschen Politik gehofft hatte, man könne keinen Krieg verlieren, wenn man das Geschehen anders nenne, wurde lange Zeit von „Einsätzen“, „Friedenssicherung“ oder vom „Bündnisfall“ deliriert. Doch wenn ein Land hochgerüstete Truppen entsendet, die schießen, auf die geschossen wird, die auch mal Dörfler, die sich mit Treibstoff eindecken wollen, aus der Luft abschlachten lassen, dann befindet es sich im Krieg.

 

Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) gehen von 100.000 Toten bis Ende 2011, also zehn Jahre nach dem Einmarsch der Alliierten, aus. Allein diese Zahl legt nahe, dass sich die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF), zu der auch die deutschen Soldaten zählen, im Krieg befindet und nicht der Polizei beim Objektschutz hilft, wie die euphemistische Benennung suggeriert.

 

Des Teufels General und andere Freunde  

 

Zur Kriegslogik gehört auch, dass man sich mit dem Beelzebub verbündet, um den Teufel auszutreiben. Im afghanischen Norden, wo die Bundeswehr ihre Stützpunkte unterhält, ist ein solcher Partner der Usbeken-General Raschid Dostum, dessen Laufbahn von Verrat und Massakern gesäumt ist und der sich seinen Beinamen „Blutsäufer“ redlich verdient hat. Dostum unterstützte erst den Präsidenten Mohammed Nadschibullah, der nach dem Abzug der Sowjet-Armee drei Jahre lang so etwas wie eine vage Hoffnung auf ein laizistisches Afghanistan verkörperte (aber für die USA zu „links“ war), fiel ihm dann in den Rücken und griff 1992 die Hauptstadt zusammen mit den Milizen des Erzfanatikers Gulbuddin Hekmatyar an. Bei den Bombardements sollen 25.000 Einwohner ums Leben gekommen sein. Später verbündete sich Dostum mit den Mudschahidin von Massoud und Rabbani, überwarf sich mit ihnen, wurde von den Taliban vertrieben und fand sich schließlich als einer der Befehlshaber der Nordallianz als Darling des Westens wieder.    

 

Auch bei anderen Allianzen ähnelten die Militärexperten der Nato jenem Zauberlehrling, der die Kräfte, die er rief, nicht mehr loswird. Für den Kampf gegen die sowjetischen Invasionstruppen wurden Kräfte mobilisiert und ausgerüstet, die auf ihrem Marsch zurück ins Mittelalter auch vor ihren „Demokratie-Lehrern“ nicht Halt machen sollten. Nebenher destabilisierte man noch die Atommacht Pakistan und musste es hinnehmen, dass deren Geheimdienst mit den Taliban eine besonders schlagkräftige Zeloten-Truppe über die Grenze schickte.

 

Kriegsziele glatt verfehlt  

 

Man muss nicht unbedingt in martialischen Kategorien denken, es genügen logische Überlegungen, um zu dem Schluss zu kommen, dass ein Krieg dann verloren ist, wenn keines der Kriegsziele erreicht wurde. Was aber waren (zumindest offiziell) die Kriegsziele der Alliierten in Afghanistan:

-  Das Land sollte vom (internationalen) Terrorismus „gesäubert“   

   werden.

-  Die Bevölkerung dort sollte in Sicherheit leben können.

Eine demokratische Entwicklung sollte eingeleitet werden.

Frauen sollten Zugang zu Bildung und Beruf erhalten.

Last but not least: Der „freie“ Handel und seine regionalen Wege

   sollten geschützt werden (hier hatte sich Ex-Bundespräsident Horst

   Köhler verplappert).

Nach elf Jahren fällt die Bilanz düster aus, und das hat leider nicht nur für die Chefideologen der Nato, sondern auch für das afghanische Volk, für die politische Konstellation in Mittelasien und  die weltweite Sicherheitslage verheerende Folgen:

  

- Nach dem Abzug der alliierten Truppen wird wohl der Bürgerkrieg eskalieren. Ob die Truppen des Super-Paten Hamid Karsai, feudale Warlords, die Steinzeit-Islamisten Hekmatyars oder die Taliban am Ende die Oberhand behalten, dürfte für den Body Count letztendlich unerheblich sein, es werden Ströme von Blut fließen. Für eine flexible terroristische Organisation wie Al-Quaida wird Afghanistan wieder zur idealen Operationsbasis.  

- Was die verbale Verpflichtung zur Demokratie betrifft, hat sich Karsai immerhin als lernfähig erwiesen: Er weiß jetzt, wie man  Präsidentenwahlen fälscht, wenn man sie schon abhalten muss. Andere Verbündete des Westens wie Dostum können das Wort „Demokratie“ nur mit Blut buchstabieren.  

- Zwar gibt es in Afghanistan einige Gegenden, in denen sich Frauen ohne Burka auf die Straße wegen können. Was aber ihre Teilhabe an schulischer Bildung und am gesellschaftlichen Leben angeht, ist ihre Situation derzeit weitaus schlechter als in den Zeiten der sowjetischen Besatzung.

- Köhlers Wunsch ging ins Leere: Die Wege des internationalen Wirtschaftsverkehrs und des Rohstoffflusses per Pipeline werden weitgehend versperrt bleiben. Immerhin florieren der Schlafmohn-Anbau und der Opiumhandel auf hohem Niveau.

 

Als 1989 die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan abzog, ohne die Ziele des Einmarschs erreicht zu haben, sprachen und schrieben die Kommentatoren in den westlichen Medien mit Recht von einer Niederlage. Als was werden sie wohl den Abzug der ISAF-Truppen im nächsten Jahr bezeichnen?

 

04/2013     

 

 

  

Gold für NOlympia

 

Manchmal (wenn auch nicht allzu oft) freut man sich, dass in Bayern die Uhren anders gehen. Zwar gibt das Freistaatsvolk zwischen Main und Inn regelmäßig Polit-Figuren wie Strauß, Streibl, Stoiber oder Seehofer seine Stimme (vielleicht weil die mafiöse Bauerschläue der einen, die grenzdebile Tollpatschigkeit der anderen und die clowneskem Gesinnungswechsel des Letzten gar zu sehr an den geliebten Komödienstadel erinnern), doch lässt es sich von diesen nicht immer vorschreiben,wofür es inhaltlich zu sein hat. Auch Christian Ude, der SPD-Volkstribun von der traurigen Gestalt, der ausgerechnet bei Volksentscheiden krachend scheitert (s. Münchner Flughafen), konnte weder der eigenen Stadt noch drei oberbayerischen Gemeinden die Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2022 schmackhaft machen. Und das, obwohl eine enorme Medienkampagne, bei der sich sogar die Bundesbahn nach Kräften blamieren durfte, in Gang gesetzt wurde!

 

Die Bürger in München, Garmisch-Partenkirchen, Berchtesgaden und Traunstein stimmten mehrheitlich mit Nein – und sie hatten gute Gründe dafür:

 

-      Die Alpen sind das ökologisch wohl am stärksten gefährdete Hochgebirge Europas. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte wurden bereits zu viele Almweiden in Ski-Hänge und Dorfanger in Parkplätze umgewidmet. Schneekanonen, Schlepplifte und Pistenführung durch Bergwälder tun ein Übriges, um die Erosion zu beschleunigen. Das Etikett „NaturnaheSpiele“ war von vornherein als Drohung für die Landschaft zu verstehen.

 

-      Überlaufene Dörfer und ungehemmter Individualverkehr machen für viele Bürger die eigene Heimat zu teuer, zu laut und bald unbewohnbar. Die Olympischen Spiele hätten diese Trends verstärkt und Milliarden an Steuergeldern verschlungen.

 

-      Das durch und durch korrupte Internationale Olympische Komitee stellt die Ausrichtungsorte quasi unter Kuratel, bestimmt via Knebelvertrag, welche Firmen die Landschaftsidylle mit Werbetafeln zukleistern und ihre Produkte verschachern dürfen, was während der Spiele gegessen, getrunken und gekauft werden kann. Den Gemeinden obliegt es, mit ungeheurem Finanzaufwand die Kommerz-kompatiblen Voraussetzungen für die eigene Entmündigungzu schaffen.

 

-      Wie im gesamten Hochleistungssport zu beobachten, schlagen auch die Winter-Disziplinen gefährliche Wege ein: Biathlon und Ski-Langlauf werden vermutlich bis zum Ende unserer Tage unter Doping-Verdacht stehen. Der eigentliche Nervenkitzel beim Trick-Ski oder Snow-Boarding liegt für viele Voyeure in der veritablen Aussicht, dass einer der Sportler sich das Genick bricht. Abfahrtslauf und Super-G sind für Querschnittslähmung, Schädelfraktur und Früh-Invalidität prädestiniert.

 

Weil die renitenten Oberbayern nicht so abgestimmt haben, wie sie sollten, droht der bayerische Innenminister Joachim Herrmann als beleidigtes Rumpelstilzchen damit, ihnen infrastrukturelle Projekte wie den dringend anstehenden S-Bahn-Ausbau zu entziehen. Das bringt die Münchner und Partenkirchner zwar kurzzeitig auf die Palme, aber wählen werden sie die CSU in vier Jahren doch wieder... 

 

11/2013              

 

 

 Armutsfalle Sport


Dass große Fußball-Clubs ihren Stars Gagen in astronomischer Höhe zahlen, mal hundert Millionen Euro für einen walisischen Offensiv-Akteur ausgeben (Real Madrid), mal die nationale Konkurrenz durch Ausspannen der besten Kräfte bis zur Bedeutungslosigkeit schwächen (Bayern München), gehört zum scheinbar akzeptierten Wirtschaftsmodell der Profi-Ligen, das den Markt-Kapitalismus wohl längst zugunsten einer Finanz-Hasardspiels mit Monopol-Intention hinter sich gelassen hat. Dass aber die Super-Vereine (auch in anderen Sportarten) ein Gutteil ihrer überdimensionierten Investitionen auf die Fans abwälzen und ihnen die Medien dabei helfen, wird kaum thematisiert.

  

Choreographie des Irrsinns

  

Wenn in Bundesliga-Stadien, deren Namen längst nicht mehr dem Volksmund oder der sportlichen Vergangenheit entstammen, sondern die Sponsoren-Spekulanten feiern („Allianz-Arena“, „Easy-Credit-Stadion“), jedes Wochenende Hunderttausende von Fans, supporters, hooligans, Ultras ein Spektakel veranstalten, das Leni Riefenstahl gefallen hätte, gerät auch das spannendste Ballgeschiebe auf dem grünen Rasen in den Hintergrund. Da werden mittels Einheitsklamotten und Flaggen Farbteppiche gewoben, da verliert der einzelne Anhänger schon mal einen eleganten Angriff aus dem Auge, weil er sich auf den Einpeitscher seines Blocks konzentrieren muss, und da werden Gesänge mit wenig Melodie und hohem Aggressionspotential intoniert (während einst schlichter Beifall, wütende, aber immerhin artikulierte Kritik am Schiedsrichter oder bissige, bisweilen witzige Kommentare vorherrschten).

  

Das eigentliche Geschehen bilden nicht mehr die Spiele, sondern die synchronisierten Darbietungen auf den Rängen, optische und akustische Inszenierungen, deren Fahnengeflatter einen an gutem Fußball interessierten Zuschauer bisweilen in den Wahnsinn treiben können. Gehorsam melden dann die Sportreporter über Funk eine „tolle Atmosphäre“ und heizen so einen Trend zum uniformierten Gruppenzwang an, der ganze Familien in finanzielle Schieflagen bringen kann.

  

Vom Sportverein zum Handelskonzern

  

Um teure Spieler-Einkäufe und Millionen-Gehälter finanzieren zu können, haben sich die populärsten Profi-Clubs zu Handelsunternehmen entwickelt, die durch geschicktes Marketing in ihren Vereinsmitgliedern Fans das (unechte) Bedürfnis wecken, immer das passende Dress oder die angesagte Devotionalie in den richtigen Farben zu erwerben, da sie ansonsten Gefahr laufen, nicht mehr dazuzugehören. Als Real Madrid den Portugiesen Ronaldo für mehr als 90 Millionen Euro von Manchester United kaufte, spielte man den Transfer mit dem Hinweis herunter, die Summe sei durch den Verkauf von Trikots mit der Rückennummer und dem Namenszug des Stürmerstars an Anhänger in aller Welt weitgehend gedeckt.

  

Für Vereine, die sich zu Merchandising-Zentren mit Fußball im Beiprogramm zu entwickeln scheinen, mag die Rechnung manchmal aufgehen; für ihre aficionados aus prekären oder bescheidenen Verhältnissen kann eine solch rigide Vermarktung bedrohliche finanzielle Belastungen bedeuten. Denn ausscheren aus der gleich gewandeten Gruppe, die oft mehr Heimat als die Familie verspricht, möchten diese sozial Abhängigen auf keinen Fall.

  

Statussymbol der Statisten

  

Gerade für Jugendliche aus der Unterschicht oder dem gefährdeten Mittelstand ist die Zugehörigkeit zu den Fußball-Ultras ein Statusmerkmall, das in der Uniform ihres Vereins den optischen Ausdruck findet. Zur Identifikation taugen für Heranwachsende schon längst keine Altruisten, Abenteurer oder gar Politiker mehr – bleiben also nur noch Pop- und Filmstars sowie berühmte Fußballspieler. Äußerte sich die sehnsüchtige Annäherung an den verehrten Sportler früher dadurch, dass der junge Fan auf dem Platz so zu spielen versuchte wie sein Idol, so streift er sich jetzt einfach die Imitate der Vorbild-Klamotten über.

  

Das Recht auf Unterhaltung sei niemandem abgesprochen. Und eine der üblichen TV-Vorabendserien läuft sicherlich sinnfreier und langweiliger ab als ein interessantes Fußballspiel, bei dem taktisches Geschick, versierter Technik oder akrobatische Körperbeherrschung zu beobachten sind. Aber viele Zuschauer im Stadion bekommen von letzterem wenig mit, weil sie in eine aberwitzige Choreographie, eine Art Massenballett der sportlichen Statisten eingebunden sind. Und um daran teilnehmen zu können, haben sie sich zu kostümieren. Gruppenzugehörigkeit muss man sich in unserer Warenwelt eben erkaufen.  

  

Wie man sich arm jubelt

  

Nehmen wir eine vierköpfige Familie mit durchschnittlichem Einkommen und zwei Söhnen im fan-fähigen Alter: Für 17 Bundesliga-Spiele jährlich müssen die Eintrittskarten (niedrigster Einzelpreis um die 15 €) gekauft werden – vorausgesetzt, die Knaben gehören nicht unglücklicherweise zu den Auswärts-Hooligans – dann verdoppelt sich alles (plus Reisekosten). Kostspieliger wird es natürlich, wenn der geliebte Verein im Pokal weit kommt oder sogar einen der internationalen Wettbewerbe erreicht. Für die Kostümierung sind beim Fanartikel-Shop des Clubs Hemden, Mützen, Schals und Fahnen (Preise jeweils zwischen 25 und 150 €) in ordentlicher Qualität für gutes Geld zu erwerben. Aus Trikots (ab 35 €) wächst ein Junge heraus, der Star, dessen Namen und Nummer man auf dem Rücken trägt, wird verkauft oder endet frühzeitig als Sportinvalide, die Flagge wird von feindlichen Ultras erbeutet – schon steht umfassender Ersatz an.

  

Schwer zu sagen, wie viele tausend Euros die erwähnte Familie im vielleicht zehnjährigen Verlauf der Fan-Manie aufbringen muss und ob sie vielleicht sogar gezwungen ist, den einen oder anderen Urlaub für das „Hobby“ zu opfern. Dabei kann sie noch froh sein, dass ihre Sprösslinge sich nicht für Eishockey interessieren. Denn dort kosten die Klamotten noch mehr, und die 14 Vereine der DEL spielen in der Hauptrunde viermal gegeneinander – macht 52 Spiele pro Saison. Und dann geht es erst (natürlich mit Topmatch-Zuschlag) in die Play-Offs...

  

Ein Hauch von Sport

  

Manche Eltern glauben, diesen von den finanzhungrigen Vereinen entfachten Hype mitmachen zu müssen, um ihren Kindern die Gruppen-Ausgrenzung und das „Bettler-Image“ zu ersparen. Die Folgen für einen eher bescheidenen Haushalt sind verheerend, werden aber von den Clubs, ihren Fan-Beauftragten und den Medien, die den Trend weiter schüren, um selbst an Werbeeinnahmen zu gelangen, so gut wie nie thematisiert.

  

Ich muss bekennen, dass auch ich in Kindheit und früher Jugend ein Fan war. Ich bejubelte 1968 den letzten Meistertitel des 1. FC Nürnberg und litt mit, als der Club gleich in der nächsten Saison abstieg (ein bis heute in der Bundesliga unerreichtes Kunststück). Wir schrien unser Team nach vorne, verspotteten den Gegner und pfiffen bei jeder der himmelschreienden Ungerechtigkeiten, die Schiedsrichter ausschließlich gegen unsere Mannschaft begehen. Aber wir zahlten nur um eine Mark Eintritt am Kassenhäuschen und überließen die Uniformierung sowie die verbalen Brutalo-Attacken den wenigen Ultras (damals noch als Rowdys bezeichnet), die sich auf einem (!) der 18 Stehplatz-Blöcke im Stadion zusammendrängten. Auch wenn der innere Weichzeichner die Vergangenheit zu verklären pflegt: Das Match stand damals im Mittelpunkt, von Sportartikel-Firmen und (öffentlich-rechtlichen) Medien propagierter Waren-Fetischismus und eine von Diffamierung anderer und martialischem Habitus geprägte „Fan-Kultur“ spielten bei den meisten Anhängern keine Rolle.

  

Borussia Mönchengladbach, damals so etwas wie das Dream-Team anspruchsvoller Fußball-Genießer, musste wegen einer Stadionsperre im UEFA-Cup 1972 nach Nürnberg ausweichen. In einem packenden Spiel zweier offensiver Mannschaften mit rasanten Angriffen und unzähligen Torszenen besiegte Gladbach den FC Aberdeen mit 6:3, nachdem es zehn Minuten vor Schluss noch 2:3 gestanden hatte. Tausende begeisterter Zuschauer standen Spalier, als beide Teams das Feld verließen, und beklatschten auch die lange Zeit grandiose Leistung der schottischen Verlierer vehement.

  

So ginge es auch...

 
10/2013             

 

 

Schweden-Flop

 

Es ist so eine Sache mit Literatur-Verfilmungen: Während das Buch die Konzentration des Lesers einfordert, seine geistige Mitarbeit und genügend Phantasie, um aus schwarz auf weiß gedruckten Sätzen eine Umgebung und Atmosphäre entstehen zu lassen, drischt der Kino- oder TV-Streifen mit knalligen Bildern, dröhnenden Geräuschen, anschwellender Musik und von ehrgeizigen Schauspielern bereits vor-interpretierten Dialogen auf das Hirn des Konsumenten ein. Manchmal gelingt es einem Regisseur, sich der Vorlage behutsam zu nähern und ihr sogar neue, sinnvolle Aspekte abzugewinnen (etwa Carol Reed mit „Der Dritte Mann“), meist aber  wird das literarische Original plakativ plattgewalzt.

 

Ein besonders abschreckendes Beispiel für die Instrumentalisierung einer von Schriftstellern mit Phantasie, erzählerischer Sorgfalt und politischer Intention erschaffenen Handlungsebene für plumpe Action und küchen-psychologische Dramatik ist die sporadisch vom ZDF ausgestrahlte Thriller-Serie „Kommissar Beck“. Hauptpersonen und Umgebung sind der zehnbändigen Romanreihe des schwedischen Autorenpaares Maj Sjöwall und Per Wahlöö, die einst von Kritikern sogar mit Balzacs großangelegtem Versuch, den Geist (und Ungeist) seiner Epoche mit den Mitteln der Fiction als comédie humaine abzubilden, verglichen wurde. In der Tat zeichneten Sjöwall/Wahlöö in ihren Büchern das düstere Panorama eines verfallenden Wohlfahrtsstaates, ein szenisches Zeitgemälde, in dessen Vordergrund die Beamten der Stockholmer Reichsmordkommission mit zunehmender Resignation Verbrechen aufklären, während in der Tiefe der Bühne ausweglose gesellschaftliche Ungerechtigkeit lauert: damals eine neue Dimension des Krimi-Genres.

 

In den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erreichten die Romane des Duos auch in Deutschland eine enorme Popularität und begründeten den – mittlerweile leicht ramponierten – Ruf schwedischer Kriminalliteratur, weil sie verdeutlichten, dass sich die Beschäftigung von Autoren mit dem Verbrechen als sozialem Phänomen nicht auf „Whodunnit?“-Fragestellungen oder besonders blutige Gewaltdarstellungen beschränken muss. In lakonischem Stil werden die charakterlichen und geistigen Eigenschaften der Ermittler differenziert gezeichnet: Da ist Martin Beck, ein langsam und gründlich denkender Chef, der an sich selbst zweifelt und einer unglücklichen Familiensituation zu entkommen sucht. Der intellektuelle Skeptiker Lennart Kollberg, der irgendwann den Dienst quittieren wird, ist herzlich verfeindet mit dem arroganten, aber scharfsinnigen Gunvald Larsson, der seltsamerweise wiederum den betulichen Samen Einar Rönn als einzigen Freund im Kollegenkreis hat. Die Mordkommission löst ihre Fälle mit fachlicher Umsicht und in einer – allerdings bisweilen labilen – professionellen Ruhe. Zu den Kennzeichen des Zyklus gehört, dass Action oft als Slapstick daherkommt, staatliche Gewalt meist ironisch gespiegelt wird und die Opfer mitunter schuldiger erscheinen als die Täter („Und die Großen lässt man laufen“).

 

Was ist von diesem gesellschaftkritischen Ansatz, der einst die weltweite Kriminalliteratur revolutionierte, in der TV-Serie geblieben? Nicht das Geringste: Der unter der eitlen Oberfläche sensible Larsson, der es trotz martialischen Auftretens bei Sjöwall/Wahlöö nicht über sich bringt, auf einen Mörder, der sein Leben bedroht, zu schießen („Das Ekel aus Säffle“), verkommt im Film zum folterbereiten Haudrauf; der nachdenkliche und oft zögerliche Martin Beck wird zum Super-Detektiv, und beide demonstrieren im Privatleben eine Larmoyanz, wie sie in den Romanen nicht vorkommt. Zwar werden diese beiden Hauptpersonen (die als einzige aus dem Zyklus übernommen wurden) von Schauspielern verkörpert, deren Äußeres mit den Beschreibungen des Autorengespanns übereinstimmen, doch fehlt die permanente Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt, die in der literarischen Vorlage die Charakterzüge der unangepassten Polizisten prägt. Dass „neue Fälle“, die in den zehn Bänden nicht vorkommen, im Fernsehen aufgerollt werden, ist nach den Maximen der künstlerischen Freiheit und den Erfordernissen einer Serie legitim, dass aber alle möglichen Klischee-Verbrechen so einfallslos aneinandergereiht werden, dass die in den Romanen behutsam aufgebaute Atmosphäre zu grauer Pampe gerinnt, ist unverzeihlich. Die latente Systemkritik des Zehner-Zyklus wird zugunsten vordergründiger Plots vollständig ausgeblendet.

 

Es scheint, als wolle sich das (häufig) seichte Medium der bewegten Bilder für die Hintergründigkeit der literarischen Originale rächen. Per Wahlöö, der einst als Journalist aus Franco-Spanien ausgewiesen worden war, muss das alles nicht mehr mit ansehen, er starb – viel zu früh – bereits 1975 in seiner schwedischen Heimatstadt Lund. 

 

09/2013                   

 

 

Der Kritiker-Mime

 

Als im Herbst 2008 der Franzose J.M.G. Le Clézio den Literatur-Nobelpreis erhielt, teilte Marcel Reich-Ranicki lakonisch mit, den Schriftsteller kenne er nicht. Was man, eingedenk des Absolutheitsanspruchs und der angemaßten Deutungshoheit des „Kritikerpapstes“ so interpretieren konnte: Den Mann muss man nicht kennen! Oder sollte die Tatsache, dass Le Clézio – ganz gleich, ob man ihn wegen einiger interessanter Romane („Der Goldsucher“, „Ein Ort weitab der Welt“) mag oder wegen seiner fatalistischen Grundhaltung eher ablehnt – zu den produktivsten europäischen Autoren zählt, Reich-Ranickis Aufmerksamkeit entgangen sein? Es spricht viel für letzteres, verschlief der FAZ-Feuilletonist doch ziemlich viele literarische Momente von einiger Relevanz.

 

Marcel Reich-Ranicki ist im Alter von 93 Jahren gestorben, und nun prasseln die postumen Elogen und hymnischen Würdigungen auf das halbgebildete Fußvolk hernieder, und jeder, wirklich jeder, der glaubt, in der Kultur oder in den Medien zu den Stars oder Starlets zu gehören, gibt seine intimen Erinnerungen an den „Weltbürger“ und „Großkritiker“ hemmungslos preis. Dabei blieb Reich-Ranicki relativ wirkungslos; er entdeckte keine großen Talente (wenn man Ulla Hahn nicht zur „Weltpoetin“ hochstilisieren will), verschätzte sich bei bedeutenden Werken (etwa als der später penetrante Grass mit der „Blechtrommel“ einen der wichtigsten deutschen Nachkriegsromane ablieferte) und verschlief die bedeutendsten Entwicklungen auf anderen Kontinenten, weil sie nicht in sein Prosa-Spektrum aus deutscher Klassik und US-Mainstream passten).

 

So feierte er die Amerikaner Updike und Roth, obwohl deren flott erzählte Mittelstands-Epen sich vornehmlich auf die sexuellen Verwirrungen gut situierter Vorstadtbürger konzentrierten und gesamtgesellschaftliche Realitäten weitgehend ignorierten, während deren Landsleute Gaddis oder Pynchon, stilistische Neuerer, bei ihm nicht vorkamen. Den literarischen Aufbruch in Ländern, die nicht der Ersten Welt zugerechnet werden (etwa in Lateinamerika), nahm Reich-Ranicki zunächst überhaupt nicht wahr. Kein Wort über Fuentes, Ásturias oder auch den Ägypter Nagib Machfus. Immerhin feierte er „Hundert Jahre Einsamkeit“ von García Márquez ein Vierteljahrhundert (!) nach seinem Erscheinen als großen Roman. Auch blieb er erstaunlicherweise ein Leben lang Brecht-Fan – vermutlich der exquisiten Form wegen, denn die politischen Inhalte des Dichters können ihm nicht gefallen haben.

 

In Erinnerung aber wird Marcel Reich-Ranicki den Deutschen vor allem als Zuchtmeister der TV-Reihe „Literarisches Quartett“ bleiben. In dieser wortreichen (nicht unbedingt wortgewaltigen) Runde maßregelte er drei Masochisten, darunter seinen Lieblings-Prügelknaben Hellmuth Karasek, nach Strich und Fragen. Wenn der große alte Mann des Kunst-Palavers ein Buch lobte oder verriss, argumentierte er nicht, er stellte vielmehr Behauptungen auf, denen die anderen tunlichst nicht oder ganz sachte widersprachen. Dabei dröhnte und schwadronierte er derart exaltiert, dass sich einem der Eindruck aufdrängen konnte, Reich-Ranicki sei gar kein Kritiker, sondern ein Schauspieler, der in einem Schwank einen Kritiker spielt, und zwar mit ähnlicher Originalität wie es Loriot in seinen Sketchen vormachte. 

 

09/2013   

 

   

 

Hehre Heuchler

 

 „Das einzige faire Weltsportereignis ist die Tour de France. Da weiß man wenigstens, dass  jeder Teilnehmer gedopt ist.“ Diese spöttische Einschätzung kursiert seit einiger Zeit unter kritischen Beobachtern internationaler Wettkämpfe. Die Enthüllungen der letzten Tage und Wochen über systematisches Doping im bundesdeutschen Sport initiieren dennoch einige interessante Fragen und deprimierende Schlussfolgerungen.

 

Doping made in Germany

 

Jetzt ist es sozusagen amtlich, wofür es immer schon genügend Indizien, die niemand wahrhaben wollte, gab: In der Bundesrepublik wurde systematisch gedopt, und zwar seit 1949 und – zumindest ab 1970 – aufgrund wissenschaftlicher Forschung, die vom Innenministerium finanziert wurde. Weil sich aber wohl zu viele noch aktive Funktionäre, Trainer und Sportler die Hände schmutzig gemacht haben, werden die Namen offenbar aus hygienischen Gründen nicht veröffentlicht (im Gegensatz zur Aufarbeitung der DDR-Praktiken, bei der alle Beteiligten bloßgestellt wurden, die man nicht für das gesamtdeutsche Team ab Ende 1990 brauchen konnte).

 

In den vergangenen sechs Jahrzehnten wurden also im Westen der Republik je nach Forschungsstand und Zielvorgabe anabole Steroide, Östrogen, angereichertes Eigenblut, EPO oder Insulin verabreicht, um zu Siegen und Medaillen zu gelangen. Die Ergebnisse der unlängst zu Ende gegangenen Schwimm-Weltmeisterschaften lassen sogar befürchten, dass deutsche Aktive mit Valium gedopt waren. Wenigstens ist keiner ertrunken.

 

Zyniker fordern die Freigabe von „leistungssteigernden“ Mitteln, da eine wirksame Kontrolle kaum mehr möglich sei und durch Zulassung die Chancengleichheit gewährleistet werde. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass so bereits Minderjährige in einen Drogen-Missbrauch mit garantierten psychischen und physischen Spätfolgen gepresst werden könnten. Zudem verhindert der ökonomische und politische Druck häufig die freie Entscheidung eines Sportlers – davon abgesehen, dass nicht alle Aktiven Intelligenzbestien sind, die jede langfristige Konsequenz ihres Handelns abschätzen können.

 

Die Pharisäer

 

Die Studie der Berliner Humboldt-Universität „Doping in Deutschland von 1950 bis heute“ steht inzwischen (mit Auslassungen und geschwärzten Namen von Verantwortlichen) im Internet, was nicht auf den Auftraggeber, sondern auf den Druck der Medien zurückzuführen ist. Initiiert wurde die Arbeit nämlich vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp), das wiederum seit 1970 dem Bundesinnenministerium untersteht. Dieses BISp verteilte freigiebig Gelder an die sportmedizinischen Standorte Saarbrücken, Köln und Freiburg, von denen vor allem die beiden letzten über Doping in allen Formen forschten, vorgeblich, um seine Nutzlosigkeit zu beweisen, tatsächlich, um es systematisch einzusetzen.

 

Nun mag man einwenden, Doping gebe es überall. Schon richtig, aber nirgendwo wurde das Credo der Pharisäer „Lieber Gott, wie danke ich dir, dass ich nicht bin wie jene!“ so inbrünstig psalmodiert wie in der alten Bundesrepublik. „Jene“, das waren die DDR, ihre Funktionäre und Sportler, die „skrupellos“ mit verbotenen Mitteln zu Medaillen und besserem Image gelangen wollten. Nur wurde im Westen ebenso gedopt, allerdings mit kleinen Unterschieden. Ein ehemaliger Gewichtheber, inzwischen Invalide, der beide Systeme kennengelernt hatte, erläuterte im Info-Radio Bayern 5 die Nuancen: In der DDR sei man beim Dopen medizinisch betreut worden, in der BRD sei die Einnahme verbotener Substanzen ebenfalls an der Tagesordnung gewesen, man habe sich aber selbst um alles kümmern müssen. „Planwirtschaftliches“ systematisches Doping unter ärztlicher Kontrolle auf der einen Seite also, flächendeckendes Aufputschen nach anarchisch-kapitalistischen Marktgesetzen auf der anderen...

 

Nach der Wiedervereinigung konnten die Verantwortlichen beider Lager endlich ihre Erkenntnisse zwecks Optimierung in einen Topf werfen.

 

Die Ahnungslosen

 

Dass die Auftraggeber der Berliner Studie nichts mehr von ihr wissen wollten, ist verständlich – hatten die Verfasser doch offensichtlich zu gründlich recherchiert. Bleibt die Frage nach der politischen Verantwortung. Dem jetzigen CSU-Innenminister Friedrich nimmt man inzwischen ab, dass er von nichts eine Ahnung hat (auch wenn es verwundert, dass die Schwärzung von Namen mit Datenschutzbedenken begründet wird, die man im NSA-Skandal eher weniger hegte). Doch unter seinen Vorgängern waren andere Kaliber, der CDU-Vordenker Schäuble etwa oder der SPD-Überwachungsfetischist Schily. Und mit Michael Vesper stellen die Grünen seit 2006 den Generalsekretär des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Auch von ihm war in Sachen systematisches Doping wenig zu hören.

 

Wie die Politik, so weitgehend die Medien: In Funk und Fernsehen wurden die Olympia-Siege der Schwimmerinnen von drüben („breites Kreuz und tiefe Stimme“) mit Häme (und Neid) kommentiert, während unsere „sauberen“ Triumphe himmelhoch bejubelt wurden. Dabei hätte man es früh schon besser wissen können.

  

Was hatten 1954 die leeren Spritzen in der Mannschaftskabine der frischgebackenen Fußballweltmeister nach dem Finale gegen Ungarn im Berner Wankdorf-Stadion zu suchen? Gehörte es nicht fast schon zum Allgemeinwissen, dass der Ruder-Star Michael Kolbe seine Spurtkraft nicht nur eifrigen Leibesübungen zu verdanken hatte? Wurden nicht schon Mitte der 80er Jahre im „Spiegel“ Vorwürfe erhoben, in Köln und vor allem Freiburg werde an effektiveren Doping-Methoden gearbeitet?

  

Viele frühe Informationen über illegale Praktiken gehen auf die Recherchen des Zell- und Molekularbiologen Werner Franke zurück, eines Doping-Bekämpfers, der nicht auf einem Auge blind war.

 

Wissenschaftler für und wider Doping

 

Franke half mit, das Doping-System der DDR relativ lückenlos aufzudecken, aber er legte später auch die medizinisch-geschäftlichen Kontakte des Radsport-Stars Jan Ullrich zum spanischen Blutanreicherungs-Guru Fuentes offen. Bereits 1977 hatte Franke dem bundesdeutschen Internisten und Sportmediziner Joseph Keul vorgeworfen, die Folgen des Anabolika-Missbrauchs zu verharmlosen. Als 1991 endlich die Ablösung Keuls als Olympia-Arzt gefordert wurde, stellte sich der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, Willi Daume, quer.

 

Wie Keul arbeitete auch Armin Klümper in Freiburg, wie der illustre Kollege fungierte auch er als Olympia-Arzt. Der Radiologe, der 1989 wegen Rezeptbetrugs verurteilt worden war und einen dubiosen Medikamenten-Mix, „Klümper-Cocktail“ genannt, kreiert hatte, war in mehrere Doping-Fälle verwickelt. Dass er nie tief stürzte, hatte er seinen guten Verbindungen zur Politik zu verdanken. Gefördert wurde er u. a. vom damaligen baden-württembergischen Minister für Kultus und Sport, Gerhard Mayer-Vorfelder. Der wiederum wäre fast ein eigenes Kapitel wert: Der CDU-Rechtsaußen, später VfB- und DFB-Chef, ließ nicht nur die vor allem im Ausland höchst beliebte erste Strophe der deutschen Nationalhymne wieder in den Schulen singen, er philosophierte auch über die genetische Andersartigkeit afrikanischer oder südamerikanischer Fußballer und sorgte sich um die ethnische Reinheit der deutschen Auswahl.

 

Was tun?

 

Selbst Werner Franke bekannte resigniert, es gebe mittlerweile so raffinierte Doping-Substanzen, dass der Nachweis des Einsatzes nur mit ungeheurem finanziellem und zeitlichem Aufwand oder überhaupt nicht möglich sei. Die Sportmedizin hat sich nicht nur in den Dienst des Diktats Höher, weiter und schneller, egal wie! gestellt, sie sichert durch ihren trug auch Preisgelder, Marktanteile, Werbeeinnahmen, persönliches Ansehen, nationalistische Hybris – und ruiniert dabei bedenkenlos die Gesundheit von Menschen.

  

Wenn es um Geld und Einfluss geht, werden die Doping-Gegner und Aufklärer im Wettlauf mit der Privatwirtschaft immer zweite Sieger bleiben. Wenn wenigstens die Staaten auf hehres Pathos, sinnentleerte Symbole, auf Flaggen oder Nationalhymnen, auf unnütze Prachtbauten und politische Einflussnahme verzichten könnten, um den Sport wieder in eine kleinere, feinere Dimension zurückzuführen – aber das wird wohl auf ewig ein frommer Wunsch bleiben...

 

08/2013    

 

 

             

Die Scheinheiligen

 

Wer sich einigermaßen intensiv mit internationaler Politik beschäftigt, weiß seit langem, dass der US-Geheimdienst NSA so ziemlich alles sammelt, auswertet und nutzt, was durch weltumspannende Telefonkabel und durch das Internet schwirrt. Überraschend an den Enthüllungen Edward Snowdens waren lediglich das Ausmaß krimineller Energie, die Unverschämtheit, mit der Politiker „befreundeter“ Staaten bis in die EU-Austragsstüberl überwacht wurden und der Eifer der britischen Handlanger.

 

„Empört“ zeigten sich europäische Politiker – als wäre es neu für sie und ihre landeseigenen Geheimdienste, dass der Große Bruder jenseits des Atlantik alle Fäden in der Hand zu halten trachtet und dass „Terrorabwehr“ längst zum das Synonym für Ausspähung von Privatpersonen und Wirtschaftsspionage geworden ist. Da signalisiert Frau Merkel in ihrer typisch verwaschenen Art „Klärungsbedarf“, und Europa-Abgeordnete drohen den USA ganz schonungslose Nachfragen an. Die Konsequenzen werden zwischen überschaubar und nicht vorhanden changieren.

 

Es ist interessanter, zu beobachten, wie die Regierungen und die Medien hierzulande es mit der Person des Ex-Agenten Snowden, dessen eigentliches Verdienst darin liegt, eine nichtsahnende Öffentlichkeit geweckt zu haben, halten. Zwar hat der Mann der Bundesrepublik – zumindest nach offiziöser Darstellung – einen Dienst erwiesen, indem er kriminelle Machenschaften gegen den Staat aufdeckte, doch erklärt die Berliner Regierung lapidar, eine Anerkennung als Asylbewerber oder ein Aufenthaltsrecht komme nicht in Frage.

 

Die CDU II (auch SPD genannt) sekundiert, Snowden entspreche nicht dem „Bild eines typischen Asylbewerbers“. Richtig, denn der wird halb ertrunken an der Küste Lampedusas angeschwemmt und kann – wenn er es bis Deutschland schafft – dort nach allen Regeln formaljuristischer Kunst nicht anerkannt werden...

  

Tatsächlich erfüllt Snowden alle Kriterien für die Gewährung politischen Asyls. Im deutschen Recht kennt man den Begriff des Gewissensnotstands, der jemanden dazu zwingt, eine Schweigepflicht zu brechen, um Schlimmeres zu verhüten. Snowden hat über ein internationales Verbrechen informiert; er kann also nicht als Krimineller angesehen werden, er wird vielmehr von seinem Heimatland aus politischen Gründen verfolgt.   

 

Immerhin fordern die Grünen, allen voran Jürgen Trittin, Asylrecht für den Whistleblower, was durchaus löblich ist. Die Frage sei aber erlaubt, ob sie dies auch getan hätten, als sie noch in der Regierung waren und ein Außenminister Joschka Fischer auf dem Schoß seiner US-Kollegin Madeleine Albright zum Welt-Diplomaten reifte.

 

Die US-Regierung bagatellisiert den globalen Lauschangriff, will aber Rache an dem „Verräter“ Snowden üben. So erpresst sie Ecuador mit der Androhung von Sanktionen, die dieses arme Land in ein wirtschaftliches Chaos stürzen würden. Die „freien“ westlichen Staaten Deutschland sowie Frankreich, Italien, Spanien und Portugal (letztere verweigerten dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales das Überflugrecht, weil der Whistleblower in seiner Maschine vermutet wurde) schlagen sich aus vorauseilendem Gehorsam auf die Seite Washingtons. Anscheinend nach dem Motto: Wer die omerta der Mafia bricht, hat in einer westlichen Demokratie nichts zu suchen.

  

Geradezu lächerlich nimmt sich die Argumentationslinie eines Großteils der deutschen Medien aus: Snowden habe an Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil er sein Hilfsersuchen an Staaten gerichtet habe, die es mit der Pressefreiheit nicht so genau nähmen (z. B. im Info-Radio Bayern 5). Davon abgesehen, dass in Ecuador und Venezuela die („gefährdete“) Pressefreiheit derzeit in einem Zeitungsmonopol reicher Freunde früherer Rechts-Diktaturen besteht, stellte sich bald heraus, dass Snowden auch die reinrassigen EU-Demokratien um Aufenthaltsgenehmigung gebeten hatte, nur wollten/konnten/durften diese nicht...

  

Ganz blauäugig gab sich der landespolitische Korrespondent der norbayerischen Regionalzeitungsl-Gruppe „Fränkischer Tag“, Thomas Lange, bei einer Hörer-Diskussion am Rundfunk-Mikrofon. Er verglich Snowden mit dem Friedensaktivisten Daniel Ellsberg, der mit der Veröffentlichung der Pentagon Papers das Ende der US-Intervention in Vietnam eingeläutet hatte (s. auch „Trauma Vietnam I“ unter „Politik und Abgrund“), und gab dem Informanten den väterlichen Rat, in die USA zurückzukehren. Die mobilisierte Öffentlichkeit dort werde ihn schon schützen, Ellsberg sei schließlich auch nicht bestraft worden. Welch ein schiefer Vergleich: Während des Vietnam-Kriegs hatte eine riesige Friedensbewegung, befeuert von einer regierungskritischen Presse, eine Änderung der US-Politik erreicht. Ausschlaggebend war wohl in erster Linie der Tod vieler amerikanischer Soldaten. Am jetzigen Fall zeigt die US-Öffentlichkeit keinerlei Interesse. Zwar kursieren in den Vereinigten Staaten jede Menge Verschwörungstheorien, die eine Bespitzelung, Manipulation und Entmündigung der Bevölkerung durch die eigene Regierung zum Inhalt haben, doch nimmt es der Administration in Washington kaum jemand übel, wenn sie zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Machtinteressen gegen den Rest der Welt alle erdenklichen Mittel einsetzt.   

  

Snowden müsste sich – im Gegensatz zu seinem Kollegen Manning, der via Militärprozess wohl für den Rest seines Lebens beiseite geschafft wird – vor einem Zivilgericht verantworten. Er könnte Glück haben und mit einer milden Strafe davonkommen, doch kann er angesichts des Rachebedürfnisses seiner Regierung nicht unbedingt mit einem fairen Prozess rechnen. Ich weiß nicht, ob der Journalist Lange Katholik ist, vermute es aber angesichts seiner Bereitschaft, anderen fahrlässig das potentielle Märtyrertum zu empfehlen.

  

Da ist die Empfehlung des einstigen Whistleblowers William Binney, der als früherer technischer Leiter die NSA kennt wie wenige andere, schon ernster zu nehmen. Auch Binney rät im „Spiegel“ Snowden, sich in den USA zu stellen. Denn das Geburtsland der modernen Demokratie verfügt noch über ganz andere Mittel: „Er (Snowden) wird auf der ganzen Welt gesucht, muss ständig fürchten, entführt, gefoltert oder ermordet zu werden.“

 

 

07/2013

 

 

 

 

 

Armer Mann Mollath

 

Die „Nürnberger Nachrichten“ sind eine der größten deutschen Regionalzeitungen – und eine der lethargischsten. Dem trägt Gerichtsreporterin Ulrike Löw Rechnung, indem sie den Verlautbarungen der Justiz im Mollath-Skandal meist geschmeidig folgt und alle Fragen als beantwortet ausgibt. Doch ein anderer Berichterstatter, Michael Kasperowitsch, recherchiert, fragt nach, liefert knappe, aber frappierende Resultate ab, die ebenfalls in den „NN“ veröffentlicht werden. Zwar spekuliert man auf der Internet-Plattform „NürnbergWiki“, dem investigativen Journalisten sei ein Maulkorb verpasst worden, da er sich mit Kommentaren zurückhält, doch trägt gerade diese Sachlichkeit dazu bei, den Fall Mollath via Faktenlage in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit erfassen zu können.

 

Die Details einer Justiz-Katastrophe, in deren Verlauf ein Mensch zwangspsychiatrisiert und seinen offenbar fundierten Schwarzgeld-Vorwürfen nicht nachgegangen wurde, die Richter, Staatsanwälte und möglicherweise eine Staatsministerin befeuert oder zumindest bagatellisiert haben, sind mittlerweile bundesweit bekannt. Was an dieser Stelle interessiert, ist die Frage, wie die schon häufig in die Kritik geratene bayerische Judikative (s. „System Bayern“ unter Politik und Abgrund) ihre vorschnellen, irrigen oder fahrlässigen Entscheidungen erklärt und aufarbeitet. Laut dem „NN“-Artikel vom 18.05.2013 äußerten sich zuständige Nürnberger Juristen vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags in derart entlarvendem Tenor, dass man als Grundhaltung eigentlich nur noch Zynismus oder Ignoranz oder beides zugleich vermuten kann.

 

Die Justiz ist empört titelten die „NN“ auf der ersten Seite; doch richtete sich der Zorn nicht gegen schwarze Schafe in den eigenen Reihen, vielmehr ärgerte sich die staatliche Rechtszunft über Vorwürfe, ihr Vorgehen im Fall Mollath betreffend. Laut Kasperowitschs Artikel weiter hinten im Regionalteil äußerte sich endlich der damalige Vorsitzende Richter der Strafkammer am Landgericht Nürnberg-Fürth, Otto Brixner, vor dem Ausschuss. Der heute 69-jährige Pensionär stellte erst einmal klar, wer das wahre Opfer im Mollath-Fall sei, nämlich er selbst. TV-Teams lauerten ihm wie „Wegelagerer“ auf, und er werde per Post und fernmündlich auf die übelste Weise beschimpft. Dabei sei doch „die Aufregung völliger Unsinn“. Ein Mann verschwindet in der Psychiatrie, einer weitgehend zutreffenden Anzeige wegen eines Finanzverbrechens wird nicht nachgegangen, doch sollte man bei solchen Vorgänge gemäß Ex-Richter Brixner cool bleiben...

 

Es habe sich um ein „Alltags-Verfahren“ gehandelt. Brixner vor dem Landtagsausschuss: „Solche Dinge liefen bei uns hundertfach auf. Gustl Mollath wurde behandelt wie alle anderen.“ Genau das hatten wir in unseren schlimmsten Träumen befürchtet, dass es sich beim Fall Mollath nur um die Spitze eines Eisbergs denkwürdiger Justiz-Gepflogenheiten gehandelt hat, dass möglicherweise das Verbringen von Menschen in geschlossene Einrichtungen und die Unterlassung von Strafverfolgung im Gerichtssprengel Nürnberg-Fürth auch in anderen Zusammenhängen untersucht werden müssen.

 

Nach einem Anruf von Brixner hatten Mitarbeiter der Nürnberger Steuerbehörden die Bezeichnungen „Querulant“ und „Spinner“ für Gustl Mollath notiert, bevor sie – wegen dieser Einschätzung – den Fall zu den Akten legten. Im Landtagsausschuss bestritt der damalige Gerichtsvorsitzende den Wortgebrauch. Er könne nichts dafür, „wenn Finanzbeamte ihre Einschätzung des Telefonats so wiedergeben“. Alle Räder der Steuerfahndung stehen still, wenn ein richterliches Schimpfwort dies will.

 

So ganz sicher scheint sich Brixner in der Rolle der verfolgten Unschuld aber nicht gewesen zu sein. Jedenfalls schob er „sehr private Gründe“ nach, die dazu geführt haben könnten, „dass ich den Fall nicht ganz so bearbeitet habe, wie man das von mir erwarten kann“. Wegen der schweren Erkrankung seiner Frau habe er nur zwei, drei Stunden schlafen können, so sei es bei dem Urteil 2006 vermutlich zu „handwerklichen Fehlern“ gekommen. Der ehemalige Richter bedient sich eines extrem euphemistischen Terminus. Wenn ein Handwerker patzt, etwa ein Tischler die Leiste zu kurz absägt, werden die Zufriedenheit des Kunden und ggf. der Arbeitslohn geschmälert. Die Unzulänglichkeiten eines Richters können hingegen Lebenswege zu Höllenfahrten machen. Nehmen wir an, Brixner hat damals tatsächlich unter Schlafmangel und psychischer (!) Belastung gelitten – wäre es dann nicht die seine Pflicht und die seiner Behörde gewesen, den Richterstuhl für einen unbelasteten Juristen freizumachen, bevor Fehler, die ein Menschenleben ruinieren und den Staat Geld kosten, begangen werden können?

 

Doch Brixners Auslassungen mögen sich außerhalb Nürnbergs einzigartig anhören, tatsächlich aber steht der Richter nicht allein. Staatsanwältin Verena Fili, die vor zehn Jahren Mollaths Anzeige versanden ließ, Oberstaatsanwalt Neusinger und Amtsrichter Eberl verwahrten sich laut „NN“ vor dem Landtagsausschuss gegen alle Vorwürfe zum Verfahren wider den unbequemen Angeklagten. Bei Nachfragen der Abgeordneten offenbarte sich die eine oder andere „Erinnerungslücke“: Traurige Justiz – armer Mann Mollath!

 

 

05/2013               

 

 

 

 

 

 

Ois Rosenheim!

 

Weit im Süden der Republik liegt die beschauliche und mit rund 60.000 Bürgern gerade noch überschaubare Stadt Rosenheim nahe der Grenze zu Österreich. Beschaulich? Weit gefehlt. Was in den letzten drei Jahren an brutalen Szenen von dort gemeldet wurde, erinnert eher an die Bronx als an das friedliche Voralpenland. Und erstaunlicherweise sind stets Polizisten in aktiver Rolle zu registrieren:

 

- Mal wird die Familie eines Ex-Polizisten (!) im eigenen Haus von Beamten

  verprügelt.

- Dann bekommt ein rumänischer Dieb auf dem Revier Schläge auf den

  Kopf.

- Der Rosenheimer Inspektionschef vermöbelt auf der Wache einen

  Teenager dermaßen, dass er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wird.

- Degradiert, aber kein bisschen weise, zieht derselbe Mann unlängst

  einen frevelnden Biker brutal vom Rad.

 

Zur gleichen Zeit sendet das Bayerische Fernsehen die Vorabendserie „Die Rosenheim Cops“. Obwohl ich mir TV-Krimis meist erspare, sah ich mir aus investigativen Gründen eine Folge an; mich trieben nämlich zwei Fragen um: Wurden Drehbuchautor und Regisseur von den Rosenheimer Vorfällen zu einem reißerischen Plot und einem abgelegenen Tatgebiet animiert? Warum sonst sollte man einen potentiellen Quotenbringer an einem Ort spielen lassen, an dem sich Fuchs und Hase müde gute Nacht sagen? Oder hatte umgekehrt die ARD-Krimistaffel eine verrohende Wirkung auf die Polizisten (so wie bekanntlich Splatter-Filme arglose Jugendliche vom Vorteil blutiger Kettensägen-Massaker an der näheren Verwandtschaft überzeugen)?

 

Nach quälend faden, nur durch grelle Werbespots belebten 45 Minuten kann ich beides ausschließen. Ein Ehepaar soll einen Erpresser erschlagen haben. Nachdem beide Gatten die Schuld auf sich genommen haben, um das jeweilige Ehegespons zu schützen (welch ungewohnt innerfamiliäre Liebe!), findet man dann endlich einen richtig Fiesen als Täter. In einfühlsamen Verhören wird viel geweint, und bisweilen sind auch die Rosenheim Cops den Tränen nahe. Wer sich das ansieht, ist danach vielleicht gewillt, den Flachbildschirm in einem jähen Anfall von Melancholie aus dem Fenster zu werfen, aber niemals zu einer Gewaltorgie gegenüber Mitmenschen bereit. Es liegt also keinerlei Affinität zu den realen Rosenheimer Prügelszenen vor. Allenfalls könnte man den Beamten vorwerfen, sich die völkerverbindende Serie zu wenig angeschaut zu haben.

 

Bleibt nur eine Deutungsmöglichkeit: Die Grünen Jungs aus der oberbayerischen Provinz haben allein aus dem trendigen Titel Rosenheim Cops eine neue Identität, je nach Alter und Sozialisation zwischen „Miami Vice“, „Dirty Harry“ und „Terminator“  angesiedelt, abgeleitet und daraus ihr Faible für Brutalo-Action gezogen.

 

Vor Jahrzehnten sendete der Bayerische Rundfunk eine Vorabendserie, die ungleich pfiffiger war als das Rosenheim-Pendant: „Die Münchner Geschichten“. Darin versicherte die Hauptfigur Tscharlie bei dubiosen Vorgängen stets „Ois Chicago“ (Passt alles!). In memoriam mafiae könnten die ehrgeizigen Polizisten von der Südgrenze bald dafür sorgen, dass bei jedem handfesten Übergriff der Exekutive auf einen wehrlosen Bürger weltweit die Einschätzung „Alles Rosenheim!“ getroffen wird.      

 

 

04/2013

 

 

 

 

 

Die Dschungeldoktors

 

Empörung brandet auf in den Hochburgen der gediegenen TV-Rezension: Ich bin ein Star..., unter dem Kürzel Das Dschungelcamp längst kulturelles Allgemeingut, wurde in der Sparte Unterhaltung für den Grimme-Preis 2013 nominiert. Anwürfe, das Medien-Institut und seine Jury hätten sich auf unterstes Niveau begeben, wurden in einer Erklärung gekontert, man trage nur dem Wertewandel Rechnung, wie er vor allem von den Privatsendern vorangetrieben werde.

  

Man lernt nie aus: Nicht der Geschmack von Machern und Publikum ist mieser geworden, sondern die Werte schauen ein bisschen anders aus; und ein Wert an sich kann ja nicht schlecht sein. In der Tat lässt sich dem Vorstoß in neue Dimensionen der Regression auch Positives abgewinnen. Hatte man über Peinliches und Ekliges früher den verschämten Mantel des Schweigens gedeckt, so wird das einst Verborgene fröhlich vor laufender Kamera zelebriert: etwa, wenn Stefan Raab einen flauen Gag so lange wiederholt, bis auch der dümmste Zuschauer ihn kapiert hat, wenn im Urwald Stars, von denen man bis dato noch nichts gehört hatte, Dinge verspreisen, die man als Kleinkind auch gerne ungestraft in den Mund genommen hätte oder wenn sich bei Big Brother Kommunarden die schmutzige Wäsche um die Ohren hauen wie weiland würdige Matronen in Hempels Treppenhaus.

  

Psychiater müssten eigentlich diese Entwicklung zu Selbstentblößung, Körperöffnungen und Öffentlichkeit begrüßen, könnten doch selbst die Saufbrüder am verklemmtesten Stammtisch künftig ihre unterschiedlichen Neurosen herzhaft diskutieren. Und so mancher Mann bräuchte seinen Ödipus-Komplex nicht klandestin durchs Leben bis ins Grab schleppen, weil er seine Mutti jetzt vor allen Leuten liebhaben darf.

 

Für die Protagonisten des gehobenen Anspruchs könnten jene griffigen Unterhaltungsshows ja intellektuell modifiziert werden. Ich denke da zum Beispiel an einen Wohncontainer zwischen Urwaldriesen, in den Theodor zu Guttenberg (Können Sie sich an den noch erinnern?), Annette Schavan (eher der mütterliche Typ) und Silvana Koch-Mehrin (wegen der optischen Aufhellung) sechs Wochen lang ohne Bücher und Referenten gesperrt werden, um ihre Doktorarbeit nachzuholen. Einen Hauch Komödienstadel würde da noch der Miesbacher Chef des Landkreistags, Jakob Kreidl, beisteuern, der scheinbar auch beim Titelerwerb in fremden Revieren gewildert hat. Als Moderatorengespann könnte ich mir den greisen Ex-Kanzler Helmut Kohl und den prä-senilen Finanz-Rambo Markus Söder vorstellen, deren Doktorarbeiten dem Vernehmen nach so miserabel gewesen sein müssen, dass ihnen ein wenig Abschreiben nicht geschadet hätte. Als Arbeitstitel für die quotenträchtige Sau pardon:Schau schlage ich „Die Dschungeldoktors“ vor.

 

04/2013 

 

      

 

  

 

Habemus Franz

 

Dass die Medien das vatikanische Konklave zu einem trendigeren Event puschten als den letzten European Song Contest, ist verständlich, es war ja auch spannender (und vermutlich können die Kardinäle auch besser singen), dass aber der Wahl des Señor Bergoglio zum Papst eine wahre Sintflut von Fotos, Doku-Filmen, Berichten, Kommentaren, Mutmaßungen und vor allem Banalitäten, die das Leben schrieb, folgte, die dem hilflosen Publikum bis zum Halse stieg, ist doch zu viel des guten Hirten.

 

Sicherlich konnte man bisweilen dem ganzen Ballyhoo auch wertvolle Erkenntnisse für die eigene Person abgewinnen. So erfuhr man, dass der neue Heilige Vater ein so „unkonventioneller Mann“ sei, dass er sogar die U-Bahn benutze. Das mache ich auch und darf mich fürderhin als Nonkonformist geadelt fühlen.

 

Dann aber ging`s ins Detail: Der Papst besucht „privat“ eine Messe, er „nimmt ein Bad in der Menge“, spricht gar mit Schulkindern (unkonventionell!), besucht seinen Vorgänger, den drögen Beni, besucht ihn doch nicht, wird ihn später besuchen, steckt sich den Ring des Fischers an die Pfote... Ein Wunder (sic!), dass ihn die TV-Kamera nicht auch noch zum Heiligen Stuhlgang begleitet.

 

Ob der fromme Argentinier nun mit der Militär-Junta gekungelt hat, einst Kollegen ans Messer lieferte hat oder doch eher vor Verfolgung schützte, ist noch nicht zweifelsfrei geklärt. Verständlich ist, dass die Medien vorwiegend die Verteidiger Bergoglios zitieren, wollen sie sich doch ihr neues Super-Model nicht vorzeitig verschleißen lassen.

 

In Lateinamerika hat das Wort papa übrigens zwei Bedeutungen, eben Papst und: Kartoffel. Böte es sich da nicht an, eine neue Erdäpfel-Sorte Franciscus zu nennen? Vielleicht könnte man aus dem Gleichklang auch einen liebevollen Beinamen für den Heiligen Vater ableiten: Franz die Kartoffel.

 

 

 

 

 

Krokodilstränen

 

Hugo Chávez ist tot. Einige deutsche Journalisten können ihre Genugtuung kaum verbergen, während Politiker sich „betroffen“ zeigen, zugleich aber die Hoffnung äußern, dass es jetzt in Venezuela wieder „in die richtige Richtung“ geht.

 

Chávez mochte mit seinem emphatischen Temperament, seinen ellenlangen Reden und Rundfunkansprachen auf emotional (und empathisch?) gefrostete Mitteleuropäer bisweilen einen skurrilen Eindruck gemacht haben, was er aber in den 14 Jahren seiner Regierungszeit bewirkte, ist bei allen Rückschlägen und gelegentlichen Irrwegen bemerkenswert: Nach Jahrzehnten sozial- und christdemokratischer Kleptokratie kamen erstmals in der Geschichte Venezuelas die Erlöse aus der Erdölförderung, die Chávez durch die Nationalisierung der Schlüsselindustrie erst nutzbar gemacht hatte, ganz unten in der Gesellschaft an. Es wurde eine medizinische Infrastruktur, die nicht vor den Toren der Slums oder den abgelegenen Dörfern der Llanos Halt machte, geschaffen. Ein gigantisches Alphabetisierungsprogramm eröffnete den Armen neue Chancen, und die politische Willensbildung wurde aus den Villen in die Basisgruppen der barrios verlegt, was sich im deutschen Rundfunk so anhört: „Chávez betrieb geschickte Klientel-Politik“. Ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die äußerst bescheiden nur ihre engsten Familienangehörigen und Freunde alimentierten, ging er also der Mehrheit seines Volkes um den Bart (daher auch das Etikett „Linkspopulist“, das aus solch neoliberalen Federn und Mündern wie ein Lob klingt).

 

Hugo Chávez war sicherlich auch in Venezuela nicht unumstritten. Aber mit einer Ausnahme (2007 erklärte sich eine knappe Mehrheit gegen die Ausweitung der Präsidentenmacht) gewann er alle Wahlen und Referenden, und nicht einmal seine schlimmsten Feinde unterstellten ihm Wahlfälschung. Als 2002 die alten Kaziken, munitioniert durch gezielte Falschmeldungen aller Rundfunk- und Fernsehstationen t, mit Unterstützung rechter Militärs und Polizeikräfte putschten, wurde deutlich, auf welcher Seite die Mehrheit der Bevölkerung und sogar der Armee stand: Binnen weniger Tage war der von der Bush-Administration mit initiierte Spuk verflogen (Zeuge für diese Verwicklung der USA ist übrigens der Ex-Präsident Jimmy Carter, der später als Vermittler fungierte.). Die Wirtschaftsbosse und früheren Machthaber aber gaben nicht auf und ließen zwei Generalstreiks organisieren, die allerdings kläglich scheiterten. Chávez habe das Land gespalten, kommentierte der Nachrichtensender Bayern 5 und ließ im Tenor die Sehnsucht nach jenem Venezuela mitschwingen, in dem sich Die da unten ohne Hoffnung und Aufbegehren von den Wenigen da oben beherrschen und ausbeuten ließen: harmonische Agonie statt Spaltung... Die fleischgewordene Belanglosigkeit unter den deutschen Politikern, Guido Westerwelle, wünschte gar, das Land werde durch „freie, faire Wahlen“ (als hätte es die nicht gegeben) den „Aufbruch in eine neue Zeit“ schaffen. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Interessen, die Westerwelles Lobby-Partei vertritt, ist zu befürchten, dass damit die Rückkehr in alte Zeiten gemeint ist. 

 

Die Pressefreiheit in Venezuela sei Gefahr, barmen jene, die unsere Pressefreiheit entweder nicht inhaltlich gestalten oder häufig zur Fehlinformation nutzen. Tatsache ist, dass beinahe 100 Prozent der privaten Medien des Landes, seien es Zeitungen, Rundfunksender oder TV-in Händen der alten Herren, der Chávez-Gegner also, sind. Stationen Nur mittels einer Gesetzesänderung gelang es durchzusetzen, dass jedes Programm der Regierung wöchentlich 70 Minuten „öffentlich-rechtliche“ Stellungnahme einräumen muss. Zudem entstanden überall im Land kleine lokale Stationen, die aus der Sicht der Menschen in den barrios, überwiegend Chávez-Anhänger, berichten. Die eigentliche Medienmacht aber liegt weiterhin in den Händen der Rechten und wird von ihnen derart missbraucht, dass dies selbst bürgerliche europäische Medien monierten; etwa, als 2002 ein Putsch mit der Begründung herbeigeschrieben wurde, Chávez-Anhänger hätten das Feuer auf Demonstranten der Opposition eröffnet, während in der Realität die reaktionäre Stadtpolizei von Caracas in die Menge geschossen hatte; oder als getürkte Fotos und TV-Aufnahmen den Erfolg eines Generalstreiks belegen sollten, der in Wirklichkeit landesweit kaum stattfand.

 

Das vielleicht wichtigste Verdienst des Hugo Chávez aber können unsere Medien gar nicht adäquat würdigen, denn es widerspricht ihrer angelsächsisch-, eurozentrierten Sicht auf die Welt: In den 14 Jahren seiner Regierungszeit  hat Chávez Argentinien mit günstigen Krediten aus den Krallen des Internationalen Währungsfonds befreit, hat den Weg für Evo Morales, der in Bolivien zum ersten indigenen Präsidenten Südamerikas gewählt wurde bereitet (womit u. a. verhindert wurde, dass die Wasserrechte privatisiert wurden) und einem der intelligentesten Staatsmänner der Region, Rafael Correa, der soeben mit überwältigender Mehrheit in Ecuador wiedergewählt wurde, bei seinen bahnbrechenden sozialen und ökologischen Initiativen den Rücken gestärkt etc. etc. Kurz: Es ist nicht zuletzt Hugo Chávez zu verdanken, dass heute niemand mehr von Lateinamerika als dem „Hinterhof der USA“ spricht, dass diese Weltregion selbstbewusster denn je in eine unabhängige Zukunft blickt (falls nicht das Rad, wie seinerzeit in Chile, noch einmal zurückgedreht wird).

 

Es klingt wie ein Salonscherz, ist aber die Wahrheit: Die einzigen Stimmen von Belang in der westlichen Öffentlichkeit, die ehrliche Trauer bekundeten, kamen aus Hollywood: Regisseur Michael Moore („Bowling for Columbine“) sagte, angesichts dessen, was in den US-Medien nun an Unsinn über den Toten veröffentlicht werde, wolle er für Ausgewogenheit sorgen und Chávez als Kämpfer gegen die Armut würdigen. Sein Kollege  Oliver Stone („Platoon“) nannte den Verstorbenen etwas pathetisch einen Helden. Der Schauspieler und Oscar-Preisträger Sean Penn fand schlichte und ehrliche Worte: „Ich habe einen Freund verloren, und die Armen in der ganzen Welt haben einen Verfechter ihrer Rechte verloren.“




2012              

  

 

 

Börsenlyrik

 

Wahre Poesie findet in der deutschen Sprache nicht mehr auf Dichterfesten oder bei Matinee-Lesungen ihren edelsten Ausdruck, sondern in Funk und Fernsehen, wo die letzten Romantiker des gehobenen Ausdrucks in den Börsennachrichten vor sich hin delirieren und ein williges Publikum an Märkte, Kalkül und Berechenbarkeit glauben lassen.

 

 „Die neuesten Unternehmenszahlen beflügeln die Phantasien der Anleger“, heißt es da, während in anderen Fällen „Gewinnmitnahmen auf die Kurse drücken“. Sport, rätselhafte Metaphorik, Elegie, kryptische Andeutungen und Seelenklempnerei verschmelzen idyllisch ineinander, etwa, wenn der DAX „die psychologisch wichtige Marke von 7500 Punkten nimmt“ oder die „Anleger durch die Vorgaben aus Fernost zutiefst verunsichert werden“. Eine „Gewinnwarnung“ (bedeutet nicht „Warnung vor zu viel Gewinn“, sondern „weniger oder nichts gescheffelt“) beispielsweise schreckt (huch!) die Käufer ab, auch wenn der Terminus per se irreführend ist. So drohen im Gegensatz zum  Finanzmarkt-Pidgin bei einer meteorologischen „Gewitterwarnung“ Blitz und Donner tatsächlich mit einiger Zuverlässigkeit.

 

Das üble Geschäft Klartext: Firma X hat soeben 1000 Beschäftigte entlassen, was die Kosten senkt (und den Druck auf die Verbliebenen erhöht). Das gefällt den Raffgierigen, die im Spielkasino Börse gerade Kohle per Spekulation oder Dividende machen wollen, zu verantwortlichem Denken reicht ihre krude Vorstellungskraft ohnehin nicht. Verkaufen sollte man Aktien immer dann, wenn man Kleingeld braucht oder ahnt, dass ein künstlich hochgepuschter Konzern gerade in die Binsen geht. Ganz toll ist es, wenn die dreißig wichtigsten deutschen Werte irgendeine Barriere überspringen, obwohl die Finanzwirtschaft bereits alle ihr anvertrauten Summen verzockt hat; wenn die Produktion und mit ihr die die Produzierenden darben und die Politik die Zigarrenstummel wegfegt, wenn also einem Börsenboom keine realen Werte mehr gegenüberstehen. Das ist wirklich phantastisch!

 

In Schweden hat man vor Jahren einen Schimpansen, der sich irgendwelche Bananen, die Aktien symbolisieren sollten, nach dem Zufallsprinzip griff, gegen fünf Ökonomen antreten lassen und festgestellt, dass der Affe wesentlich erfolgreicher an der Börse spekulierte als die Wirtschaftsw(a)eisen. Folgerichtig sollte man die o. a. Nachrichten bei den Privatsendern irgendwo zwischen „Die Glücksspirale“ und „Bauer sucht Frau“ vermuten. Aber nein, auch die Öffentlich-Rechtlichen wollen uns mit garantiert sinnfreier Lyrik versorgen und arglose Glücksucher zum Roulette verführen.

 

Ganz früher wurden in der ARD vor den sonntäglichen Nachrichten noch die Ergebnisse von Galopp- und Trabrennen samt Wettquoten verlesen. Unter den Folgen dieser „Informationen“ hatten lediglich Wettsüchtige und – mittelbar – gedopte  Rösser zu leiden. Die fahrlässige Propagierung und Interpretation von Aktienkursen hingegen kann eine Menge Arbeitsplätze kosten und erhebt ein menschenverachtendes Gewinnstreben zur Maxime einer mittels Shareholding-Kauderwelsch manipulierten Gesellschaft: Schöne neue Marktwelt.        

 

 

 

 

      

Gewogen und zu schwer befunden

 

Nein, man muss Julian Assange nicht unbedingt mögen. Zu überheblich und egozentrisch wirkt der australische WikiLeaks-Initiator; zudem ist er längst nicht so hübsch wie die Musikerinnen von Pussy Riot. Doch wie diese hat er sich den Zorn einer imperialen Staatsmacht zugezogen und wird von ihr verfolgt, nur dass die westlichen Medien in seinem – politisch weitaus gewichtigeren – Fall weniger in poetischen Freiheitshymnen delirieren als in dem der russischen Punks.

 

Die Sachverhalte kurz und überspitzt: 

WikiLeaks hat Informationen aus der Armee und aus Behörden der USA an die Öffentlichkeit gebracht und damit den Beweis für die brutale Kriegsführung im Irak und in Afghanistan sowie für die verächtliche Haltung europäischen Verbündeten gegenüber geliefert. Die Enthüllungsplattform ist erstaunlich verantwortlich mit dem Material umgegangen und hat es vorab Zeitungen und Magazinen von Weltgeltung, darunter „Der Spiegel“, zur Beurteilung und zum teilweisen Abdruck zur Verfügung gestellt. Einige namhafte Publizisten fordern den Friedensnobelpreis für WikiLeaks, einige US-Politiker die Ermordung des „Verräters“ Assange, dessen Verdienst darin besteht, unsere bösen Ahnungen durch Fakten bestätigt zu haben.

 

Da traf es sich gut, dass ihn in Schweden eine Dame der Vergewaltigung beschuldigte und dass sich gleich danach eine zweite Dame der Anzeige anschloss. Assange als mutmaßlicher Sexualverbrecher – welche Möglichkeit für die USA die Auslieferung für ein ganz anderes „Verbrechen“ , das in den meisten westeuropäischen Ländern als solches gar nicht eingestuft würde, zu verlangen. Dann verloren die Anschuldigungen langsam an Schärfe. Von freiwilligem Geschlechtsverkehr war nun die Rede, den Assange allerdings gegen den Willen der Partnerinnen ohne Kondom vollzogen hätte. Die Zeuginnen verstrickten sich anscheinend derart in Widersprüche, dass die Stockholmer Staatsanwaltschaft nicht einmal Anklage erhob, andererseits aber die Auslieferung des mittlerweile nach England geflohenen Aktivisten zwecks „Vernehmung“ beantragte. Eine Garantie, dass er nicht an die USA ausgeliefert würde, wollten die Schweden ihm nur für den Fall geben, dass ihm dort die Todesstrafe drohe. Dies verneinte Washington frohgemut; schließlich reicht es, Assange bis zu seinem Tod ein einem abgelegenen Gefängnis verfaulen zu lassen. Als die englische Justiz einknickte, beantragte Assange in der Botschaft Ecuadors politisches Asyl. Zum Glück regiert in Quito Präsident Rafael Correa, einer  der lateinamerikanischen Hoffnungsträger. Der knickte nicht ein und gewährte Assange Asyl. Die Medien berichteten zurückhaltend, stellten dem WikiLeaks-Frontmann ein schlechtes Führungszeugnis aus und schimpften zum Teil auch Ecuador aus.

 

Drei Mitglieder der feministischen Punk-Band Pussy Riot werden festgenommen und vor Gericht gestellt, nachdem sie in einer russisch-orthodoxen Kirche vor laufender Video-Kamera ein Gebet gegen den Wahl-Autokraten Putin rezitiert haben. Für dieses inhaltlich eher dünne Happening lässt der erzürnte russische Präsident zwei von ihnen zu zwei Jahren Straflager verurteilen. Eine Schweinerei, die westlichen Medien sind zu Recht empört.

 

Doch warum der Unterschied zwischen dem emotionalen Overhype bei Pussy Riot und der unterkühlten, distanzierten Berichterstattung über Julian Assange? Sollte man Letzterem nachweisen können, dass er tatsächlich im Schlafzimmer grob fahrlässig gehandelt hat, so hat er angemessene Bestrafung verdient. Dafür, nicht für angeblichen Hochverrat. Man kann es ihm nicht verübeln, dass er das Risiko nicht eingehen will, lebendig begraben zu werden. Immerhin erklärte unlängst ein ehemaliger britischer Botschafter, man habe auch schon früher unliebsame Personen durch fingierte sexuelle Anklagen aus dem Weg geschafft. Man denke auch an Strauss-Kahn, dessen Gockel-Attitüde von kriminellen Kräften zu seiner Ausschaltung genutzt wurde.

 

Haben Pussy Riot vielleicht nur deshalb mehr und dickere Schlagzeilen bekommen, weil die Musikerinnen fotogener als Assange sind und ihre Aktionen sich einfach „hipper“ ausnehmen als die globale Wühlarbeit zum Abbau von Informationsdefiziten durch WikiLeaks? Oder macht sich das alte böse Russland als Feind der Gerechtigkeit einfach besser als der gute Freund Amerika und unsere EU-Partner Schweden und Großbritannien?

 

Vielleicht hätte Wladimir Putin nach westlichem Vorbild die lupenrein demokratische Methode wählen und eine Anklage wegen Ladendiebstahls oder Ikonenraubes gegen die oppositionellen Musikerinnen konstruieren lassen sollen, um eine bessere Presse zu bekommen.  

  

 

 

 

 

 

Kahlschlag

 

Es gibt Print- und Funkmedien, mit deren politischer Ausrichtung oder Schwerpunktsetzung man nicht unbedingt einverstanden sein muss, die aber durch Hintergrundberichterstattung oder Aufspüren brisanter Themen unverzichtbar für das Verständnis komplexer nationaler und internationaler Vorgänge geworden sind. Die „Süddeutsche Zeitung“ gehört dazu (solange der neue Eigentümer sie noch lässt), die „Neue Züricher Zeitung“ aufgrund ihres weltweiten Korrespondentennetzes oder die „New York Times“. Drei solcher Institutionen werden jetzt fast zeitgleich attackiert oder sind bereits am Verschwinden.

 

Die „Frankfurter Rundschau“ galt Jahrzehnte lang als Spezialblatt für soziale Themen und erarbeitete sich mit ihren für die Tagespresse ungewöhnlich langen „Dossiers“ den Ruf eines seriösen Organs für Dokumentation und Investigation. Als der Kölner Kahlschlag-Sanierer Neven-Dumont (s. Nürnberger „AZ“) übernahm, war es erst einmal um das Format (nicht weiter schlimm), dann die Nachhaltigkeit der Recherche und schließlich um die journalistische Unabhängigkeit (redaktionelle Teilzusammenlegung mit Dumonts „Berliner Zeitung“) geschehen. Jetzt wurde der Insolvenzantrag gestellt.

 

Durch eine offenbar schlampige Recherche und die kriminelle Vergangenheit eines ehemaligen Mitarbeiters geriet nun die BBC, größter öffentlich-rechtlicher Sender der Welt, in konservatives Kreuzfeuer. Der eigentliche Fehler der Londoner Rundfunkanstalt, die mit innovativen Dokumentationsformen, Wissenschaftsjournalismus und Berichten aus allen Ecken der Erde Standards gesetzt hat, lag in ihrer kritischen Haltung den Regierungen, also auch der von den Tories dominierten, gegenüber. Die Konservativen haben mit Murdocks Revolverblättern längst eigene Presseorgane gefunden und könnten mit der auf einige wenige, wenn auch schwere Fehler abzielenden Kampagne gegen die BBC eine mediale „Berlusconisierung“ Großbritanniens einleiten.

 

Und auch „El Pais“, Spaniens größte Tageszeitung und für viele an internationaler Literatur oder den Ländern der Dritten Welt interessierte Leser das wichtigste Blatt in Europa, steht auf der Kippe. Für „El Pais“ schreiben (oder muss man bald sagen: schrieben) Nobelpreisträger, namhafte Philosophen oder weltberühmte Schriftsteller. In den letzten Jahren konnte die der PSOE nahestehende (aber nicht ergebene) Zeitung gegen den Trend ihre Auflage sogar steigern, doch ihrem Eigentümer, dem Medienkonzern Prisa machte sie zu wenig Gewinn. So sollen nun 150 Mitarbeiter, zumeist renommierte altgediente Redakteure, entlassen werden. Da zeitgleich auch die Chefredaktion Beiträge freier Mitarbeiter frisiert haben soll, protestierten mehr als 20 der prominentesten Kolumnisten, darunter Nobelpreisträger Vargas Llosa und Erfolgsautor Javier Marías, in einem offenen Brief gegen Zensur. Es ist durchaus möglich, dass es „El Pais“, zumindest in der jetzigen Form, bald nicht mehr geben wird.

 

Drei Beispiele für eine regressive Entwicklung im Medienspektrum: Die Radau- und Anzeigenblätter überleben, die Qualität geht ein. Angesichts der Tatsache, dass wir zwar im Internet Myriaden punktueller Informationen finden, dass uns aber Verknüpfung und Hintergrund, etwa durch ernsthafte journalistische Gewichtung, fehlen, drängt sich der fatale Eindruck auf, dass wir durch diesen Trend zwangsläufig dümmer werden.

 

 
  

 

 

 

Nur 25 Prozent?

 

Verkehrte Welt: Da veröffentlicht die Friedrich-Ebert-Stiftung die Ergebnisse einer Untersuchung, der zufolge neun Prozent der deutschen Bevölkerung ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ haben und 25 Prozent ausländerfeindlich eingestellt sind. Die Medien, darunter auch die Scharfmacher der Springer-Presse, zeigen sich tief betroffen. Und ich? Ich freue mich über diese Zahlen. Sind es doch nur so wenige?

 

Wenn man das Potpourri chauvinistischer Äußerungen an Arbeitsplätzen und Stammtischen, in Bierzelten, auf Kundgebungen und in Zeitungen über sich ergehen lässt, so könnte man vermuten, dass zumindest die informelle deutsche Öffentlichkeit in erheblichem Maße von rechtsradikalem Gedankengut infiziert ist. Anscheinend liegt aber die Messlatte für die Zubilligung nationalistischer bis faschistoider Gesinnung hierzulande erstaunlich hoch. „Fremdenfeindlich“ kann nämlich auch jemand sein, der noch nie einem Dunkelhäutigen in die Gosche gehauen hat, und ein rechtsextremer Bürger muss nicht unbedingt jedes Jahr Hitlers Geburtstag feiern.  

 

Im Kanon des gesunden Volksempfindens taucht ständig die Behauptung auf, die Ausländer nähmen uns die Arbeitsplätze weg. Dies gestaltet sich allerdings schwierig, da nach anderer Lesart die Ausländer zu faul zum Arbeiten sind. Dass die Polen uns die Autos klauen, ist eher eine Rand-Sottise angesichts der Bedrohung durch eine Invasion von Asylanten, die alle nur auf unsere Kosten im schönen Deutschland leben wollen, allen voran die Roma, derentwegen neue Grenzzäune mit viel Stacheldraht gezogen werden sollten. Politisch Verfolgte? Hat es ja nicht mal im Dritten Reich gegeben. Jedenfalls nicht lange. Und dann die Griechen, dieses faule und korrupte Volk lebt von unseren Steuergeldern, wie jedenfalls das Zentralorgan der Völkerverständigung mit den vier Buchstaben suggeriert. Die fleißigen Schweizer hingegen leben von unversteuerten Profiten deutscher Griechenland-Wettkönige.

 

Und wer zufällig in irgendeinem Bräustüberl die liebgewonnene Legende von der jüdischen Weltverschwörung aufgetischt bekommt, muss möglicherweise kotzen, obwohl er die Politik des Staates Israel kritisiert und Günther Grass trotz eines dämlichen Gedichts nicht für einen Antisemiten hält.

 

Und jetzt also die Entwarnung: Es sind trotz Sarrazin und „Bild“ nur 25 Prozent. Die aber sind ganz schön laut, zumindest hört man von den 75 Prozent deutscher Integrationsexperten wenig bis gar nichts.    
 

  

 

 

 

"Abendzeitung" verblichen

   

Als am Samstag, 29 09., die Nürnberger „Abendzeitung“ nach 93 Jahren die letzte Ausgabe an die Kioske brachte und den Betrieb einstellte, erregte das nicht viel Aufsehen – es gab nur noch wenige Leser, die das Fehlen ihrer Hauspostille bemerken konnten. Dabei ist der Fall „AZ“ oder „8 Uhr-Blatt“ (so der Traditionsname) ein interessantes Lehrstück über das Scheitern honoriger Intentionen und das Versagen von Verlegern.

  

Die Frühgeschichte des „8Uhr-Blattes“, verbunden mit der Pressebeteiligung der Katholischen Kirche am Sebaldus Verlag, der für den Klerus bis vor nicht allzu langer Zeit auch Geld mit Softporno-Heftchen verdiente, und dem Druckereibesitzer Wilmy, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt; zum Modellprojekt für die gesamte Bundesrepublik wurde das Blatt erst, als es der Verleger Werner Friedmann 1964 mit seiner Münchner „Abendzeitung“ zusammenlegte und quasi eine bayerische Springer-Alternative schuf, ein linksliberales (was immer man darunter verstehen mag) Boulevard-Blatt, eine Anti-Bildzeitung. Und das geraume Zeit mit etlichem Erfolg. Die Stamm-„AZ“ in München und die Nordbayern-Ausgabe in Nürnberg waren näher an den Problemen der Menschen in Bayern, hatten mehr Kontakte und schrieben besser als die auf Krawall und Pidgin-Deutsch programmierten „Bild“-Redakteure. Und sie leisteten sich – im Gegensatz zum Springereintopf – ansprechende, aber nicht abgehobene Kulturteile.

 

Im September 1970 begann ich ein Volontariat in der Nürnberger „AZ“. Es war mein erster Arbeitsplatz und nicht unbedingt ein Traumjob. In dieser Zeit und auch während späterer Jahre als freier Mitarbeiter wurde mir klar, dass einige Redakteure die „Connections“ zur Provinz-Elite über die inhaltliche Qualität stellten, dass immer häufiger Gefälligkeits-journalismus vor Information und Recherche rangierte, dass, vor allem in Nürnberg, Hände einander wuschen. Ich möchte aber betonen, dass dies nicht für alle Redaktionsmitglieder galt. Zur Verschlechterung der Qualität und zur kontinuierlichen Absenkung der Auflage trug auch die Praxis bei, in München gescheiterte „AZ“-Redakteure als Statthalter und Redaktionsleiter nach Nürnberg zu verbannen.

 

Werner Friedmann starb, seine Familienangehörigen als Erben hatten keinen Plan, ebenso wenig der mittlerweile als Abwicklungsdirektorium  berüchtigte Kölner Verleger-Clan Neven-Dumont (sein jüngstes Opfer „AZ“ beteiligte. Die Redaktion wurde drastisch verkleinert, gute Leute gingen, der Verlag der „Süddeutschen Zeitung“ mischte mit, ehe er selbst von den Besitzerfamilien verkauft wurde; kurz: die Strukturen waren konfus, Ideen fehlten, und von „linksliberal“ war längst nicht mehr die Rede.

 

Plötzlich schien die Rettung zu nahen: Gunther Oschmann, Verleger von Telefonbüchern und Werbezeitschriften, Anteilseigner von Funk- und TV-Sendern, etwa des unterirdischen „Franken Fernsehens“, übernahm die Nürnberger Ausgabe. Er dünnte den redaktionellen Inhalt weiter aus, holte Layouter statt Journalisten und stellte den Kulturteil, dank Dieter Stoll letztes Qualitätsmerkmal der „AZ“, gänzlich ein. Folge: Die Schlagzeilen wurden fetter, die Bilder größer und die Texte noch knapper als bei „Bild“. Aber die Leser, die dadurch angesprochen werden sollten, hatten ein sensibles Gespür für echten Schund: Wenn schon fies, dann das Original und nicht die Kopie. Und so fiel die Auflage der „AZ“ auf zuletzt 13.800 verkaufte Exemplare in Nordbayern, während sich die nun separate Münchner Ausgabe mit über 100.000 täglich gut am Markt hält. In Südbayern wird eben noch  einigermaßen gediegen journalistisch gearbeitet. Oschmann hingegen musste wohl einsehen, dass die Herstellung von Gelben Seiten oder die Präsentation von Supermarkt-Angeboten wenig mit der Gestaltung einer ernstzunehmenden Tageszeitung zu tun hat, auch wenn er vielleicht traurig ist, dass er

seinen Freund M. Söder in künftigen politischen Auseinandersetzungen nun in geringerem Maße publizistisch flankieren kann.

 

Das durch wenig verantwortungsvolle Verlagspolitik redlich verdiente Desaster (unter dem allerdings wie immer zuvörderst die Beschäftigten zu leiden haben) hinterlässt  ein ambivalentes Gefühl: Soll man froh sein, dass für ein solches Blättchen keine Bäume mehr gefällt werden müssen, oder soll man um die verpasste Chance trauern, auf dem Boulevard-Sektor eine Zeitung mit sozialem Profil zu platzieren?

 

 

  

 

 

 

  

Kultur(hohl)spiegel

 

Spieglein, Spieglein an der Wand,

Wer ist der Blödste im ganzen Land?

Blöd bin ich sehr wohl, doch der „Focus“

Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen

Ist noch hundertmal blöder als ich! 

 

Das mag schon sein. Aber nicht mehr lange, denn du holst mächtig auf, lieber „Spiegel“. Du, der du seit langem schmissige Formulierung mit Information, rabulistische Tatsachenverdrehung mit Dialektik und die Aufmüpfigkeit der Arrivierten mit Systemkritik verwechselst, hast nämlich ein Balg gezeugt (oder empfangen), das leider dumm ist und wohl auch bleiben wird (Inzuchtgründe?): den regelmäßig kostenlos und auch völlig umsonst mitgelieferten „Kulturspiegel“.

 

 Man könnte vermuten, dass der im „Nachrichtenmagazin“ pausenlos präsente Allzweckschreiber Matthias Mattusek, der – mittlerweile zum Erzkatholiken mutiert – die Welt von der Kunst über die Politik bis zum Religionsstreit süffig, aber weitgehend gedankenfrei interpretiert, eine Menge Nachwuchs in dieselbe gesetzt hat (man sollte einem Menschen schließlich nicht jede Potenz absprechen). Diese Bengel dürfen sich nun offenbar in der schicken Beilage mit dem irreführenden Titel austoben. Gut, Kultur kann alles oder nichts sein, unser Blättchen tendiert indes deutlich zum Nichts.

 

Ein kurzer Streifzug durch eine einzige Ausgabe:

Da ist Tobias Becker, bekennender Fan brutaler Computerspiele, unter die Kinokritiker gefallen und verteidigt nun die blutrünstige Filmserie „Resident Evil“ (sexy Model zermantscht reihenweise böse Zombies) mit Argumenten, die sich nicht widerlegen lassen, weil dazu ja ein Fünkchen Vernunft in ihnen stecken müsste: „Ich finde, allein die Szene, in der Alice mit dem Motorrad durchein Kathedralenfenster rast und im Flug einem Zombie mit dem Hinterrad den Kopf abfährt,hat mehr Witz und Phantasie als die Hälfte der diesjährigen Oscar-Nominierten.“ Immerhin:Die andere Hälfte in Hollywood scheint über ähnlich subtilen Esprit wie die großartigen Kunstmetzger von "Resident Evil" zu verfügen . Unser Spätpubertierender hat anscheinend auch eklatante Schwierigkeiten, Fiktion und Realität auseinanderzuhalten: „Oder tritt und schlägt und hackt. Sie tut, was getan werden muss, im Dienste der Menschheit. Milla Jovovich (Anm.: die Hauptdarstellerin) ist meine Heldin.“

 

Eine Marianne Wellershof versucht sich an einem der drängendsten Themen der Hochkultur, nämlich wie man damit umgeht, dass man bei einer Fete nie genau im Voraus weiß, wie viele Leute kommen. Und sie rühmt am Schluss die Zivilcourage des Gastgebers: „Dass er dennoch eine Party plant, ist in Zeiten der ´Vielleicht-Coolness` geradezu heroisch. Und Helden verdienen Respekt.“ Alles klar?

 

Der weiter oben bereits auffällig gewordene Tobias Becker erklärt Twitter in einem Artikel mit der doppeldeutigen Überschrift „Auf die Länge kommt es an“ zum „optimalen Medium für Aphorismen“, jene pointierten ironischen Vignetten, die ein Georg Christoph Lichtenberg einst in die deutsche Literatur einführte. Aber warum denn so weit ins Netz schweifen, lieber Tobias? Gab`s doch alles schon früher, und auch viel näher. Warst du denn noch nie in einer öffentlichen Toilette? Die Wände dort sind voller  liebevoll hingekritzelter Sinnsprüche von Twitter-Qualität, und diese Aphorismen werden oft sogar mit Zeichnungen und Symbolen aus der Intim- oder Fäkalsphäre illustriert. Der einzige Vorteil von Twitter ist, dass sich weibliche und männliche Konsumenten die „Aphorismen“ hier gemeinsam und ohne trennende Zwischenwände anschauen können.

 

Wenn der Inhalt dieses Heftchens tatsächlich den Stand der globalen Kultur widerspiegeln sollte (man kann ja nichts mehr ausschließen), sähe ich mich gezwungen, für eine Analphabetisierungskampagne zu plädieren. Denn dann kann uns nur noch völlige Ignoranz vor dem Verblöden retten.