Ein stiller Genießer
Cartoon: Rainer Hachfeld


Man kann der gegenwärtigen Bundesregierung nicht unbedingt Tatkraft und Durchsetzungswillen attestieren, aber einen hohen Unterhaltungswert darf man ihr schon zubilligen. Da bleiben die großen Reformvorhaben in Sachen Verkehrswende, Klimapolitik, Steuergerechtigkeit etc. reihenweise auf der Strecke, doch zuvor wird lautstark und in Slapstick-Manier über den rechten Weg gestritten, als wollten die Koalitionäre Shakespeares Intrigantenkomödie „Viel Lärm um nichts“ in neuer Besetzung aufführen. Im Zuschauerraum jedoch lehnt sich ein Herr, der früher als aufdringlicher Prahlhans galt, still vor sich hin lächelnd zurück: Oppositionsführer Friedrich Merz.


Hauptsache darüber geredet


In der Ampelregierung geht das so: Grüne und SPD wollen die Raserei auf Autobahnen einhegen, die FDP ist dagegen; steht so nicht im Koalitionsvertrag, gibt sie zu bedenken. Die Grünen wollen mehr Geld für die Schiene, die FDP will mehr Kohle für noch mehr Autobahnkilometer – das rechtsgerichtete SPD-Zünglein von Olaf Scholz neigt sich den Liberalen zu. Alle Ministerien sollen auf ihrem Sektor Klimaziele einhalten, FDP-Verkehrsminister Volker Wissing hat das verschwitzt (obwohl es im Koalitionsvertrag steht), worauf die Sozialdemokratie geflissentlich mithilft, das Dekret zu entschärfen. Und alle drei Parteien wollen (zumindest rhetorisch) die Umwelt vor fossilen Emissionen schützen, errichten aber überdimensionale Terminals zur Einfuhr von doppelt schädlichem Fracking-Gas in sensiblen Küstenregionen. Zu allem Überdruss demonstrierte Herr Habeck gerade, dass auch er etwas von Vetternwirtschaft versteht. Dies sind nur einige Eisbergspitzen im trüben Gewässer der Ampel-Agenda.


Auf die Berliner Koalition lässt sich ein uralter Sozialpädagogen-Witz, leicht verändert, anwenden: „Wir haben zwar nichts geschafft. Aber gut, dass wir darüber geredet haben.“ Der ganze aufgeregte Aktionismus hat bisher meistenteils zu einem „Weiter so!“, in einigen Fällen sogar zu einem „Schlimmer noch!“ geführt. Bremst die FDP nicht, blockiert die SPD oder verrennen sich die Grünen in wenig praktikable und sozial unausgewogene Scheinlösungen.


Was soll da eine Opposition groß attackieren? Die Regierung besorgt ihre Bloßstellung höchstselbst, die Union begnügt sich mit der Rolle des amüsierten Publikums. Damit der deutsche Wähler nicht glaubt, die Schwarzen seien eingenickt, gibt der von chronischer Logorrhoe geplagte Rechtspopulist Markus Söder von der bayerischen Sektion beinahe täglich eine scharfe Koalitionsschelte von sich, anlässlich der er seine eigenen früheren Positionen (etwa den Umweltschutz oder den Atomausstieg betreffend) höchst flexibel durch ihre exakten Gegenpole ersetzt. Wenig indes hört man vom CDU-Vorsitzenden, der doch Kanzler werden möchte…


Er sät nicht, erntet aber womöglich


Offenbar hat Friedrich Merz gemerkt, dass er sich als vorlauter Großkotz, der die Steuererklärung dem Bierfilz anzupassen versprach und sich als Multimillionär in falscher Bescheidenheit dem Mittelstand zurechnete, im Volk nicht sonderlich viele Freunde gefunden hat. Also demonstriert er jetzt vornehme Zurückhaltung und lässt die Regierung sein Geschäft besorgen.


Merz versucht derweil, seinem Image mitmenschliche Züge zu verpassen. Während der Osterfeiertage leistete er eine Frühschicht auf der Intensivstation eines Krankenhauses im heimatlichen Hochsauerland ab. Ob manche Patienten bei seinem Auftritt gedacht haben, er prüfe im Auftrag seines früheren Arbeitgebers, des Finanzgiganten Blackrock, die Option, die Klinik samt Inhalt zu verhökern, oder ältere Bettlägerige gar fürchteten, zum sozialverträglichen Ableben delegiert zu werden, ist nicht bekannt. Wir aber vermuten wohlwollend, dass der Samaritereinsatz des Oppositionsführers aus rein humanitären Gründen erfolgte.


Nur manchmal noch poltert er wie früher, etwa wenn er auf Veranstaltungen im Osten der Republik Knaben mit Migrationshintergrund als „kleine Paschas“ diffamiert, meist aber sondert er Kreide ab, erklärt den „Klimaschutz zur zentralen Aufgabe der CDU“ und grenzt sich ein wenig von der AfD ab. Natürlich schimpft er auch manchmal über die Ampelkoalition. Wenn er sich um den kleinen Mann sorgt, der bei Habecks tatsächlich erratischen Heizungsplänen finanziell zu stark belastet würde, könnte man fast vergessen, dass er als deutscher Statthalter des weltgrößten Vermögensverwalters und Investors einst mit dafür verantwortlich war, dass Firmen wegen der Rendite der Blackrock-Anleger Arbeiter entlassen mussten.


Ansonsten hält sich Merz an die Vogelkunde von Matthäus im Neuen Testament. Er sät nicht, weder Ideen noch Lösungsvorschläge, er erntet nicht, zumindest keine harsche Kritik, und er wird doch ernährt, zwar nicht von Gott wie das biblische Federvieh, dafür aber von der Ampel, die ihm täglich neues Futter liefert. Aber reicht das, um Kanzler zu werden?


Auch der Voyeur lebt gefährlich


Friedrich Merz lehnt sich also bequem im Sessel zurück und beobachtet vergnügt die Versuche der rot-grün-gelben Mitbewerber, irgendetwas mal richtig hinzukriegen, deren Scheitern ihm Auftrieb in der Wählergunst verschafft. Beliebt ist er aber immer noch nicht, wie jüngste Meinungsumfragen belegen.


Er sollte sich vorsehen, denn Konkurrenz droht aus dem eigenen Lager. Markus Söder hat, von der Presse befragt, einen weiteren Anlauf als Kanzlerkandidat der Union kategorisch ausgeschlossen, sein Platz sei in Bayern. Die frohe Botschaft  hört man wohl, allein es fehlt der Glaube. Wenn man bedenkt, dass der Bayer bei fast allen wichtigen Themen nach ein bis drei Jahren eine 180-Grad-Wendung vollzog, kann man seine Antwort auch als Kandidatenbewerbung verstehen.



















Noch genießt Merz die Ampel-Komödie unbeschwert. Aber in zwei Jahren ist Söders Kinn wieder unten, und dann überlegt sich der Bayer, ob er nicht doch Kanzler werden will...


Der CDU-Vorsitzende würde die Herausforderung gelassen hinnehmen, auch wenn fraglich ist, ob staatsmännische Coolness gegen die Machinationen des raffinierten Söder ausreicht. Aber wenigstens weiß Friedrich Merz ja, wie Verlieren geht.


05/2023


Dazu auch:


Merz zeigt es Trump (2021) und Bote aus dem Jenseits (2018) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit