| Kollege wählt rechts
Sich nochmals mit den rückwärts weisenden Ergebnissen der Landtagswahlen in Hessen und Bayern zu befassen, entspringt nicht meiner masochistischen Ader, sondern der Einsicht, dass bestimmte gesellschaftspolitische Gewissheiten nicht mehr existieren. Zwar bröckelte der Schutzschild gegen ein erzreaktionäres Rollback, den der DGB hochzuhalten schien, in den letzten Jahren bereits wahrnehmbar, doch der sich abzeichnende Zerfall muss ein langjähriges Gewerkschaftsmitglied wie mich zutiefst beunruhigen. Erschütternde Ergebnisse
In Hessen stimmten 22 Prozent der Gewerkschafter für die SPD, was immerhin noch 7 Prozent über dem Ergebnis der Gesamtwählerschaft liegt, doch votierten 26 Prozent der organisierten Arbeitnehmer, die zur Urne gingen, für die CDU, die früher als natürliche Gegnerin jeglicher demokratischen Ökonomie-Umgestaltung angesehen wurde. Katastrophal nimmt sich dagegen das Ergebnis in Bayern aus: Hier kommen die Sozialdemokraten nur noch auf 11 Prozent, während die CSU mit 34 Prozent der DGB-Stimmen beinahe den Landesdurchschnitt aller Wähler erreicht. Für die SPD, die sich früher als politischer Überbau der Gewerkschaftsbewegung (Spötter sprachen wegen der allzu engen Verflechtungen auch von „siamesischen Zwillingen“) verstand, ist das ein existenzbedrohendes Debakel. Wohin aber gingen die übrigen DGB-Stimmen? Zu den Grünen eher nicht – sie verloren ebenfalls im Vergleich zur letzten Wahl, wenn auch nicht in dem Maße wie die SPD. Auch die Linke kann sich die 5-Prozent-Marke nur noch von unten ansehen. Nein, 21 Prozent der Kollegen in Hessen entschieden sich für die AfD (Gesamtwählerschaft: 18,4 Prozent), und auch in Bayern belegten die Rechtsextremen mit 18 Prozent (Freistaat insgesamt: 14,6 Prozent) den zweiten Platz in der Gunst der DGB-Mitglieder, gefolgt von den Freien Wählern, die Volkstribun Aiwanger in einen stramm chauvinistischen Haufen verwandelt hat, mit 16 Prozent (auch hier leicht über dem Landesdurchschnitt). Es lässt sich also festhalten, dass die Arbeitnehmerorganisation in Relation über mehr reaktionäres Potenzial in seinen Reihen verfügt als der Bevölkerungsrest. Gegen das Solidarprinzip
Dieses Phänomen lässt einen weitgehend ratlos zurück. Waren alle Bildungsprogramme, alle Seminare, in denen Wissenschaftler und Aktivisten klar machten, dass ein auf rigorosen Konkurrenzkampf basierendes Gesellschaftsmodell auf die Dauer das Weltgefüge zum Einsturz bringen muss, vergeblich? Der Trend geht in die andere Richtung: Nationaler Egoismus statt internationaler Kooperation von Arbeitnehmern, Sicherung gutbezahlter Arbeitsplätze in der Rüstungs- oder Automobilindustrie statt ökologisch nachhaltiger Fertigung und der einst propagierten Konversion von tödlicher zu friedlicher Produktion. Ein wenig arg spät hat die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi reagiert und die AFD zum Feind erklärt. Ein Fünftel der Gewerkschaftsmtglieder sieht das offenbar ganz anders. Welcher IG-Metall-Funktionär würde heute den bei BMW oder Audi an SUVs werkelnden Kollegen den Umstieg auf umweltfreundliche Modelle empfehlen? Welcher Arbeiterführer von der IGBCE legt sich noch mit großen Energie-, Chemie- oder Pharmakonzernen an, um eine die Natur und die Artenvielfalt erhaltende Geschäftspolitik einzufordern? Im Grunde haben der DGB als Dachverband und die meisten seiner Einzelgewerkschaften auf ihr gesellschaftliches Mandat verzichtet und werden öffentlich auch nur noch wahrgenommen, wenn es um Lohnsteigerungen und Tariflaufzeiten geht. Strategien erwünscht
Der DGB hat dankenswerterweise die alarmierenden Resultate der Wahlen in Bayern und Hessen selbst veröffentlicht. Bleibt nur die Frage, welche Konsequenzen er aus dem Abdriften seiner Mitglieder ins braune Milieu zieht, wie er gegensteuern will. Es hätte eigentlich eine laute Diskussion beginnen müssen, man hört aber fast nichts. Von den Vorsitzenden des DGB und der Einzelgewerkschaften war bis vor Kurzem keine Mahnung an die Rechtsabweichler aus den eigenen Reihen zu vernehmen, dass zum Selbstverständnis der Organisation (und damit ihrer Mitglieder) der unbedingte Einsatz für nachhaltige Produktion, für die Ächtung von Kriegen aller Art und für eine multikulturelle Gesellschaft (gilt auch für Flüchtlinge und Queere) gehört. Das wären Ausschlusskriterien für AfD-Sympathisanten. Woher sollen aber Impulse kommen, mit deren Hilfe längerfristige Strategien erarbeitet werden können? Kann denn ein Spitzenpersonal, das sich ausschließlich mit der Tagespolitik und der nächsten Tarifverhandlung beschäftigt, überhaupt Pläne für den Verzicht auf klimaunverträgliches Wachstum und eine perspektivische Umgestaltung der Gesellschaft entwickeln? Und wenn schon die Führung nicht, wer dann in der Gewerkschaft? So viele Fragen und kaum Antworten, während die nationalistische Flut steigt und die Dämme von den bürgerlichen Parteien an der Regierung und in der Opposition Schritt für Schritt aufgegeben werden. 10/2023 Dazu auch: DGB am Scheideweg im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2018) |
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