|
„Glücklich ist, wer vergisst!“ Diese Hymne operettenseliger Realitätsferne würden von Gedächtnisverlust Betroffene wohl nur selten anstimmen wollen. Sie leiden eher unter den Folgen chronischer Vergesslichkeit, deren Ursachen häufig in Demenz, Parkinson, Tumoren oder Alkoholismus im Spätstadium zu suchen sind. Einige professionelle Akteure in öffentlich exponierter Stellung gehen allerdings recht gelassen damit um, keinen blassen Schimmer mehr zu haben. Dass ihnen wesentliche Erinnerungen abgehen, ist vermutlich auf ein bisher von der Medizin sträflich vernachlässigtes Syndrom zurückzuführen: Politik. Wie du mir, so ich dir Im August vorigen Jahres durchsuchten FBI-Beamte Donald Trumps Anwesen Mar-o-Lago in Florida und beschlagnahmten 325 Dokumente, darunter 60 Akten, die als „streng geheim“ klassifiziert wurden. Der Ex-Präsident hatte offenbar gleich zwei Vorschriften vergessen: Einerseits müssen offiziöse Aufzeichnungen im Büro verbleiben, darf sich der Herr im Oval Office also keine Arbeit nach Hause mitnehmen; zum andern hat er am Ende seiner Amtszeit alle relevanten Schriftstücke dem US-Nationalarchiv auszuhändigen. Warum der bekannt lesefaule Trump jede Menge Schreibkram in seiner Villa hortete, bleibt einstweilen im Dunkeln. Sein Nachfolger Joseph Biden spottete jedenfalls schon mal ausgelassen, der Republikaner sei ein „komplett Verantwortungsloser“. Nur drei Monate später gefror dem aktuellen Präsidenten allerdings das süffisante Grinsen auf den greisen Zügen. Am 2. November 2022 entdecken Joe Bidens Rechtsanwälte streng vertrauliche Dokumente aus seiner Zeit als Vizepräsident unter Obama und zuvor als Senator in einem Schließfach des von ihm kuratierten Penn-Biden-Center in Washington. Vermutlich, weil die Midterm-Wahlen für den Kongress unmittelbar bevorstehen, erblickt diese Nachricht erst am 9. Januar dieses Jahres das Licht der Öffentlichkeit. Einen Tag später zeigt sich der Präsident „überrascht“ über den Fund. Doch dies sollte nicht der letzte Beweis für seine offenkundige Vergesslichkeit bleiben: Weitere zwei Tage später tauchen vertrauliche Unterlagen in Bidens Residenz in Wilmington, Delaware, auf – zum Teil in die Garage verräumt. Als schließlich das FBI am 21. Januar das Anwesen durchsucht, konfiszieren die Agenten noch einmal sechs geheime Dokumente. All diese Akten enthielten diskrete Infos u. a. zum Iran, zu Großbritannien und der Ukraine, wo Bidens Sohn Hunter, ein Wirtschaftslobbyist, sinistre Geschäfte getätigt hat. „Biedermann Joseph, der unseren formidablen Heiland Donald wegen dessen archivarischen Eifers verhöhnt, ist selbst ein Brandstifter!“ Was lachten jetzt die Republikaner, vergaßen dabei aber, dass, wer mit nacktem Zeigefinger auf einen Menschen deutet, zugleich mit drei anderen Fingern auf sich selber weist. Inzwischen hat es nämlich auch Trumps Vizepräsidenten Mike Pence erwischt, der geheime Schriftstücke daheim in Indiana gehortet hatte. Man kann davon ausgehen, dass die drei ehrenwerten, aber mit kurzem Gedächtnis geschlagenen Herren Trump, Biden und Pence für die nächsten Präsidentschaftswahlen kandidieren werden – wenn sie den Anmeldetermin nicht vergessen. Wer regiert, vergisst völlig ungeniert Deutschland, du hast es besser, möchte man wohlig seufzen, aber dann würde sich der Rest der Welt vor Häme kringeln. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“, hatte einst Konrad Adenauer, erster Kanzler der Bundesrepublik, erklärt. Wenn man in jüngster Vergangenheit etwas Falsches, Unbedachtes, Gefährliches oder gar eine Lüge von sich gegeben hat, sollte einen das (be)kümmern, sogar stören und genieren, falls man Wert auf persönliche Integrität legt. Die Politik aber scheint zu bewirken, dass die Protagonisten einfach verdrängen und vergessen oder zumindest einiges vergessen machen wollen. Der neunte Bundeskanzler Olaf Scholz wiederum ist höchst versiert in der Kunst, Unappetitliches in der Versenkung verschwinden zu lassen. Assistiert wird er bei diesem Zaubertrick von seinem Gedächtnis, dem partout nicht präsent ist, was sein Besitzer als Hamburger Bürgermeister wohl beim Fünf-Uhr-Tee mit dubiosen Bankiers zum Thema „Steuerrückzahlung“ besprochen hat. Schon vorher war dem früheren Bundesfinanzminister glatt entfallen, dass er eigentlich für das Stopfen illegaler Schlupflöcher und die Mehrung des Volksvermögens zuständig war, stattdessen sah er mit typisch hanseatischer Zurückhaltung Cum-Ex-Geschäften zu, die den Staat Milliarden kosteten. Regieren scheint den mnemonischen Fähigkeiten besonders zuzusetzen, wie das Beispiel der Grünen belegt: Da verkehren sich biblische Strenge gegen die Rüstungsindustrie, ein kategorisches Nein zu Braunkohle-Abbau und Nuklearenergie oder das beinahe fanatische Bekenntnis zu „werteorientierter Außenpolitik“ jeweils ins pure Gegenteil. Weil sie, erst mal in Amt und Würden, ihre Anfänge kollektiv vergessen haben… Wohnungen? Ja, wo sind sie denn? Auch dem Vollmundigsten unter Deutschlands Spitzenpolitikern, Markus Söder, scheinen schlichte Fakten, ja sogar eigene feierliche Versprechungen des Öfteren geistig abhanden zu kommen. Als bayerischer Finanzminister hatte er 2013 – angeblich auf Druck der EU (was nicht stimmte) - 33.000 Sozialwohnungen, die sich im Besitz der staatlichen Gesellschaft GBW befanden, an den Augsburger Immobilienkonzern Patrizia verkauft. Als bayerischer Ministerpräsident stellte Söder wenig später fest, dass bezahlbarer Wohnraum fehle, gründete 2018 die staatliche Wohnbaugesellschaft „Bayernheim“ und gab als Devise aus: „Bauen, bauen, bauen!“ Bis 2025 wollte der CSU-Chef, Regierungsdompteur und Ankündigungsweltmeister in Personalunion 10.000 neue Wohnungen errichten lassen. Das ist zwar nicht einmal ein Drittel der von ihm verscherbelten Behausungen, aber wir wollen nicht kleinlich sein – der gute Wille zählt. Allerdings macht uns das Zwischenergebnis des Sieben-Jahre-Planes stutzig: Fünfmal zwölf Monate sind seit dessen Anlaufen ins Land gegangen, und im Bayerheim-Bestand befinden sich 234 neu erstellte Wohneinheiten. Selbst wenn man 522 weitere, an denen noch gewerkelt wird, hinzurechnet, kommt man nur auf eine Planerfüllung von gut 7,5 Prozent. Markus ist ein fleißiger Bub und derartig fix in der Ankündigung von Luftschlössern, dass die Maurer gar nicht nachkommen. Die Wähler werden ihm sein unermüdliches Eigenlob danken. Bedeutet dies nun, dass in den noch verbleibenden zwei Jahren über 9000 erschwingliche Wohnungen hingeklotzt werden? Eher nicht. Man darf vermuten, dass Markus Söder sein Versprechen, das er 2018 so publikumswirksam hinausposaunt hatte und der rhetorische Ausreißer, mit dem er 2019 das Thema Wohnen zur „zentralen sozialen Frage“ erklärte, längst nicht mehr erinnerlich sind, haben beide Luftnummern doch schon seit geraumer Zeit ihre tagespolitische Schuldigkeit getan. Natürlich könnte sich das bodenlose Versagen heuer rächen, nämlich bei den bayerischen Landtagswahlen im Herbst. Aber als begnadeter Populist weiß Söder genau, dass nicht nur das Gedächtnis der Herrschenden, sondern auch das des Volkes lückenhaft bis leergefegt zu sein pflegt. Denn genau das ist ja das Glück der Scholzens, Trumps und Bidens, dass die Wähler ähnlich vergesslich sind wie sie. Insofern hat die Operette, in diesem Fall „Die Fledermaus“, doch recht mit ihren seichten Binsenweisheiten. 02/2023 Dazu auch: Berliner Panoptikum im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022) |
| |||