Solidargemeinheit

Cartoon: Rainer Hachfeld


Kein Amt in der Bundesrepublik kann auf eine derart lange Reihe merkwürdiger Inhaber zurückblicken wie das des obersten Kriegsherren bzw. der maßgeblichen Kriegsdame. Im Verteidigungsministerium gab es mal Einen, der selbst Waffen schmuggelte und bei Panzer-Deals mitverdiente, aber überall Landesverrat witterte (Franz Josef Strauß), dann wieder Einen, der unsere glorreiche Demokratie zwischen den Gipfeln des Hindukusch bedroht sah (Peter Struck). Eine vertraute die deutsche Wehrhaftigkeit privaten Unternehmensberatern an (Ursula von der Leyen), und eine Weitere nutzte den Ukraine-Kriegs vornehmlich zum Schließen interessanter Bekanntschaften (Christine Lambrecht). Jetzt aber haben wir Einen, der bereits vom ersten Tag an (zumindest rhetorisch) loslegt wie Blücher.


Der neue Meister der Attacke


Angesichts der Verfehlungen, skurrilen Verhaltensweisen und weltfremden Einschätzungen, die sich deutsche VerteidigungsministerInnen im Laufe der Jahrzehnte leisteten, drängt sich die Frage auf: Waren die von Geburt an schon so, oder hat sie erst ihr Amt so geformt? Ein Blick auf den Neuen, Boris Pistorius, der bislang eine eher unauffällige, lediglich ab und zu von Ehrgeizausbrüchen begleitete Polit-Karriere durchlief, lässt die Vermutung zu, dass der Posten als Truppendirigent Kräfte in einem Menschen freisetzen kann, die man am liebsten wieder eingefangen sehen würde.


Bei dem einem klassisch-sozialdemokratischen Elternhaus entsprungenen Osnabrücker, dessen Äußeres frappierend an den uns sympathischsten (da erfolglosesten) Christdemokraten Armin Laschet erinnert, wies kaum etwas darauf hin, dass er dereinst den wilden Kerl in der NATO geben würde. Zwar hatte Pistorius brav seinen Grundwehrdienst absolviert, doch widmete er sich danach höchst zivil der Juristenlaufbahn, eher ihn 2013 sein Parteifreund, der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil, als Innenminister in seine Regierung holte. Das blieb Pistorius auch nach den nächsten zwei Landtagswahlen, und man durfte davon ausgehen, dass er dieses Ressort nur mit den Stiefeln voran verlassen würde.


Doch plötzlich blitzten 2019 die Ambitionen des ewigen Innenministers auf und trieben ihn dazu, im Duo mit der Kollegin Petra Köpping für den vakanten SPD-Vorsitz zu kandidieren, womit beide aber krachend scheiterten. Ein anderer rechtsgewirkter Genosse fiel ebenfalls durch – allerdings erst in der Stichwahl: Olaf Scholz. Als sich unlängst seine Verteidigungsministerin Lambrecht lächerlich machte, fiel dem mittlerweile zum Bundeskanzler gereiften Hanseaten ein alter, wenn auch leicht abgewandelter Sinnspruch ein: „Verlierer aller Parteien - vereinigt euch!“ und so berief Scholz den glücklosen Niedersachsen zum Verteidigungsminister.


Bis dato war Boris Pistorius (wenn überhaupt) nur dadurch aufgefallen, dass er sich beim von ihm favorisierten, aber vom Bundesverfassungsgericht abgelehnten NPD-Verbot verkalkuliert hatte, was ihn nicht davon abhielt, danach das Gleiche für Antifa-Gruppierungen zu fordern. Auch plädierte er für einen „freundschaftlich-kritischen“ Umgang mit Russland und riet von Wirtschaftssanktionen ab. Dann aber überfiel Putin die Ukraine, und Pistorius wandelte sich vom entspannten Saulus zum wütenden Paulus. Die Russen sollten ihn kennenlernen, schwor er sich und stieg, kaum im neuen Amt, in den derzeitig grassierenden Überbietungswettbewerb der Aufrüstung ohne Ziel und Ende ein.


Sparen durch Umerziehung?


Jahrelang hatte sich die SPD geweigert, der an alle NATO-Staaten gerichteten US-Forderung, die Militärausgaben um zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, nachzukommen. Solche enormen Summen wurden anderweitig benötigt, etwa zur Rettung maroder Banken, zur Milderung der Corona-Krise, zu Hilfen für die von Energiekonzernen existenziell bedrohten Bürger oder – als vager Ausblick – für Korrekturen einer bodenlosen Sozial-, Gesundheits- und Pflegepolitik.

Jetzt aber gilt die Zurückhaltung nicht mehr, Pistorius drohte bereits damit, er werde „alle Anstrengungen unternehmen“, über das Ziel von zwei Prozent hinauszugehen. So wäre der Sozialdemokrat über Nacht zum Darling der Rüstungsindustrie und der Administration in Washington avanciert, hätten nicht die maßlosen Polen angekündigt, sie würden ihre Kriegsausgaben auf fünf Prozent steigern.


Beinahe gleichzeitig dachte der umtriebige Pistorius laut über die Einführung einer „allgemeinen Dienstpflicht“ für seine jungen Landsleute nach. Dies könnte nicht nur eine zumindest teilweise Revision der Wehrpflichtaussetzung, die sein Vorgänger Guttenberg verfügt hatte, bedeuten, sondern auch den Einsatz in allen möglichen Bereichen der Daseinsfürsorge, für die der Staat zuständig ist, aber kein Geld übrig hat, weil er ja u. a. die Rüstungsindustrie bedienen muss. Die Idee ist nicht neu, vor allem konservative Sozialdemokraten liebäugelten bereits früher mit einem allgemeinen Junioren-Arbeitseinsatz an der Heimatfront, so etwa Heinz Kühn, der bis 1978 NRW-Ministerpräsident war.


Um die junge Generation verbal nicht allzu sehr zu brüskieren, versucht sich Pistorius im Doppelzungenschlag der freundlichen Beschwichtigung und des sinnfreien Plädoyers: Er sei „zurückhaltend“, den jungen Leuten, die sowieso schon eine schwierige Zukunft vor sich hätten, „jetzt mal eben so eine allgemeine Dienstpflicht aufzubürden“. Etwas zurückhaltend im Ton, aber fest entschlossen in der Sache. Denn anschließend begründet der Minister die unsozialen Maßnahmen, die er für gut hält, mit unangenehmen Randerscheinungen, die mit der Sache eigentlich nichts zu tun haben.


„In den vergangenen Monaten ist der Eindruck entstanden, dass manche nicht die nötige Wertschätzung für Feuerwehr und Rotes Kreuz, Polizei und Bundeswehr aufbringen. Die allgemeine Dienstpflicht könnte helfen, die Menschen und die staatlichen Organisationen wieder ein Stück näher zusammenzubringen.“ Dabei denkt er sowohl an die Armee als auch an den sozialen Bereich.


Geht’s verlogener (oder verblödeter)? Wer die Bundeswehr und ihre fruchtlosen Auslandseinsätze ablehnt, darf künftig mit dem Schnellfeuergewehr im Arm seine Meinung überdenken. Wer sich bislang gegenüber den Rettungsdiensten ignorant oder respektlos verhalten hat, soll demnächst Einsätze im Sanka zwecks Lebensrettung unbekannter Unfallopfer fahren. Wer die Niederungen der Klassengesellschaft hinsichtlich Schulbildung und Lebenschancen hautnah erfahren hat, wird dazu verpflichtet, ein Jahr lang auf der Pflegestation oder im Altenheim Nächstenliebe zu praktizieren. Unser vernachlässigtes Gesundheitssystem soll finanzielle Rettung durch unvorbereitete Amateure erfahren? Misanthropen in die Kinderkrippen und Pyromanen zur Freiwilligen Feuerwehr?


Selbst wenn man des Ministers unsinnige Begründung außer Acht lässt, bleibt der Verdacht, dass die Solidargemeinschaft beschworen wird, um nötige Ausgaben zu vermeiden, tatsächlich aber eine die junge Generation treffende Solidargemeinheit ausgeheckt wird. In allen relevanten gesellschaftlichen Versorgungsbereichen, von der Kinderkrippe bis zum Pflegeheim sind die Mittel knapp, vor allem wenn es um die Ausbildung, den Personalschlüssel oder eine gerechte Vergütung der Beschäftigten geht. Das Steueraufkommen, ohnehin ungerecht ermittelt, fließt ab in überdimensionierte Projekte wie den Bau neuer Autobahnen, Subventionen für Agrarindustrielle oder die Aufrüstung einer überforderten Bundeswehr. In der Konsequenz sollen nun die jungen Menschen, deren Lebensperspektiven sich gerade recht düster ausnehmen, die durch Hybris, Dummheit oder Raffgier der „Verantwortlichen“ entstandenen Lücken im sozialen Gefüge ausfüllen und eine Zeitlang für lau arbeiten.


Lobbyisten bald überflüssig?


Da würden Menschen per Gesetz zur Dienstleistung verpflichtet, denen eigentlich der Staat als Schuldner verpflichtet wäre, weil er ihnen eine auskömmliche Zukunft und eine vernünftige Familienplanung verbaut hat. Wer heute das Hotel Mama anführt, weil junge Leute bis weit in ihre zwanziger Jahre noch bei den Eltern wohnen, sollte lieber fragen, wer es so weit hat kommen lassen, dass in etlichen Städten die Mieten für Normalverdienende (egal, ob Singles oder Paare) am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn nicht mehr erschwinglich sind, ganz zu schweigen vom Traum früherer Jahre, dem Erwerb von Wohneigentum. Und dann soll der Wettlauf gegen eine sich am Horizont abzeichnende Altersarmut noch durch ein soziales Jahr oder einige Monate fruchtlosen Hantierens an der Waffe unterbrochen werden?


Zudem darf man davon ausgehen, dass den Sprösslingen aus privilegierten Familien – wie schon in vergangenen Wehrpflichtzeiten -  genügend Optionen offenstehen, dem Dienst am Vaterland zu entgehen. Wer es sich leisten könnte, dem Vaterland auf die eine oder andere Weise für wenig Lohn zu dienen, mag meistens nicht, während der sich in schwieriger Finanzsituation befindliche Berufsanfänger eigentlich keine Zeit auf dem Weg zu einer auskömmlichen Position verlieren sollte. Gerade das Greenhorn aber würde der Staat aus dem Arbeitsmarkt wegverpflichten.


Boris Pistorius präsentiert sich in seinen ersten Tagen im Kriegsministerium als Mann des Systems von rechtem Schrot(t) und Korn. Weil ihm das „Sondervermögen“ von hundert Milliarden für seine Armee zu knapp bemessen erscheint, möchte er seinen Etat nochmals um zehn Milliarden pro Jahr aufstocken lassen. Nur hat er Schwierigkeiten, das Geld überhaupt loszuwerden. Es gibt derzeit gar nicht so viele Patronen, Granaten, funktionstüchtige Panzer und Geschütze, wie er kaufen und auf das Schlachtfeld schicken möchte.


Also ist unser ranghöchster Militarist selbst initiativ geworden – und hat damit unabsichtlich die Axt an eine Säule unseres Systems gelegt. Für uns galt es als normales Procedere, dass Lobbyisten der Rüstungsindustrie im Verteidigungsministerium antichambrierten und Minister dazu überredeten, doch bitte so viel Kriegsgerät wie möglich zu exorbitanten Preisen zu kaufen, damit es den Vorständen und Managern der Vernichtungsfabrikation so gut, wie es sie nötig dünkt, ginge.


Eine feurige Romanze: Der Verteidigungsminister (rechts) ein Herz und eine Seele mit dem Rheinmetall-Chef (auf unserem Bild weniger rechts)


Pistorius aber machte die eifrigen Klinkenputzer überflüssig. Er klopfte höchstpersönlich an die Pforte des Rüstungsgiganten Rheinmetall in Unterlüß und bat erfolgreich den Vorstandsvorsitzenden Armin Papperger, die Produktion weiter anzukurbeln, auf dass Deutschlands Militär die todbringenden Friedensgrüße und den Anteilseignern der Waffenschmiede die Extra-Profite nie ausgehen mögen. Die Wirtschaft fühlt sich hauchzart umschmeichelt, aber was wird aus den arbeitslosen Lobbyisten?


02/2023


Dazu auch:


Mutter der Beratung im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2019)
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