Vom Umgang mit Müll

Cartoon: Rainer Hachfeld


In der für ihn typischen Flexibilität hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder seinem Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger trotz des braunen Mülls, den dieser vor Jahrzehnten möglicherweise verursacht, wahrscheinlich verbreitet, ganz sicher aber besessen hat, stirnrunzelnd die Absolution erteilt und ihn im Amt belassen. Die Medien machten so viel Aufhebens um Hubsi, dass diesem zeitweilig blümerant zumute wurde, obgleich seine PR-Geilheit doch allbekannt ist. Bei dem ganzen vom Wahlkampf angeheizten Getöse wurde jedoch  weitgehend vernachlässigt, dass die Affäre beunruhigende Rückschlüsse auf den Zustand des kollektiven Gedächtnisses und der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland insgesamt sowie auf die heimelige Ignoranz im Freistaat zulässt.


Gegenattacke aus der Kloake


Es ist nicht nötig, an dieser Stelle nochmals einen Flugblatt-Text zu zitieren, der sich nahtlos in Julius Streichers Nazi-Hetzblatt Der Stürmer eingefügt hätte. Ob nun Hubert Aiwanger ihn verfasst hat oder sein Bruder, ist belanglos angesichts der damals offenkundigen Kumpanei und der ansonsten offenbarten NS-Sympathien durch den heutigen Chef der Freien Wähler (FW). Zu viele Menschen, ehemalige MitschülerInnen, Dorfnachbarn und Lehrkräfte entsinnen sich noch ähnlicher Bekundungen des Niederbayern, etwa des mehrmaligen Zeigens des Hitlergrußes oder seines Hangs zu Judenwitzen. Sprachwissenschaftler glauben, in dem antisemitischen Duktus des Pamphlets elaborierte Nazi-Propaganda zu erkennen und nicht den verrohten „Humor“ von zwei durchgedrehten 17- bzw. 18-jährigen Halbstarken.


Das Ganze ist widerlich und menschenverachtend, aber es sind seither mehr als dreieinhalb Dekaden vergangen. Und so fragen die üblichen Abwiegler der rechten Mitte wieder, ob man einem etablierten Politiker in mittleren Jahren solche „Jugendsünden“ überhaupt noch vorwerfen dürfe. Allerdings! Hätte Aiwanger irgendwann seine frühen Verfehlungen selber thematisiert, erklärt, er sei ein anderer Mensch geworden, und dies durch sein späteres Auftreten auch bewiesen, wäre eine Rehabilitierung möglich gewesen. Aber der FW-Chef versuchte nach Kräften, zu vertuschen und die Aufarbeitung seiner ganz persönlichen „Hitlerjugend“ zu vermeiden. Stattdessen hatte er schon 2008 bei seinen einstigen Lehrkräften nachfragen lassen, ob ihm irgendwelche Konsequenzen oder Veröffentlichungen drohten. Nachdem dies von einem Pädagogen verneint worden war, beließ er die Sache unter dem Teppich.


Als dann die Süddeutsche Zeitung den Fall publik machte, schwieg Aiwanger zunächst, schob seinem Bruder die Verantwortung zu, verwies dann auf die für Politiker typischen Gedächtnislücken, entschuldigte sich mit einem lapidaren Halbsatz, um dann aus der braunen Kloake seiner Vergangenheit, die ihn plötzlich wieder umschwappte, heraus die Gegenattacke zu starten. Er warf Journalisten und politischen Gegnern eine „Schmutzkampagne“ vor, die „bis zu seiner beruflichen Existenzvernichtung“ geführt werde. Das ging selbst dem CSU-Mann Ludwig Spaenle, Bayerns Antisemitismusbeauftragtem, zu weit: „Eigenartig ist die von Herrn Aiwanger wiederholt vorgetragene Umkehrung von Ursache und Wirkung. Ursache und Anlass für die gesamte Debatte sind das unerträgliche Flugblatt und weitere Vorhalte, nicht die Fragen nach deren Aufklärung“.


Opferkult der Freien Wähler


Hubert Aiwanger gilt als gewiefter Taktiker, der seinen urigen Dialekt vor allem zur Gaudi seiner ländlichen Anhänger pflegt, abseits der breiten Öffentlichkeit jedoch frei, pointiert und durchaus verständlich redet. Dass er sich eilends zum Opfer von Grünen und Schmierfinken stilisierte, war ein geschickter Schachzug. Binnen weniger Tage brachte er seine Partei geschlossen hinter sich, und angesichts des stramm rechten Potentials in Bayern könnte es ihm bei den anstehenden Wahlen weitere Wählerstimmen bringen, schließlich gerieren sich die FW mehr und mehr als volkstümelnde Populisten-Alternative zur AfD.




















Kreuzigung mal anders: Diesmal wäscht das arme Opfer sene Hände in Unschuld und vergibt sich selbst. Denn es weiß nicht mehr, was es tat.


Triumphierend verkündeten seine Anhänger, derzeit gingen der Parteizentrale pro Tag Aufnahmeanträge in zweistelliger Höhe zu. Angesichts der Tatsache, dass die bayerische Gründung inzwischen Ableger in den anderen Bundesländern hat, dass sie im Landtag von Rheinland-Pfalz sitzt und den Einzug ins hessische Parlament recht aussichtsreich anstrebt, ist die Frage angebracht, wofür die FW inhaltlich überhaupt stehen.


Eigentlich begannen sie als Sammelbecken für unzufriedene CSU-Anhänger, denen die schwarzen Granden in München zu abgehoben schienen oder deren Aufstiegswünsche nicht berücksichtigt worden waren. Vor allem in bäuerlicher und kleinstädtischer Umgebung punktete die Partei, stellte bald Land- sowie Bezirksräte und zog ins Maximilianeum ein. Karrieristen aus Verwaltungen, Selbständige und Agronomen ließen sich gern als Kandidaten aufstellen, was angesichts der Betonhierarchie bei den Christsozialen eher schwierig gewesen wäre. Für diese konservativ-bürgerliche Zeit stehen heute noch die beiden blassen FW-Landesminister Glauber (Umwelt) und Piazolo (Kultus).


Inzwischen aber hat Volkstribun Aiwanger seine Partei weit nach rechts getrieben. Er polemisiert gegen Klima- und Umweltschützer, unterstellt Veganern und Grünen eine generelle „Verbotspolitik“, übernimmt in Migrationsfragen oft die Positionen der AfD, auf deren Terrain der passionierte Jäger besonders gern wildert, und wirbt um die dumpfen Rechtsaußen-Ränder der CSU, bei denen das Windfähnchen Markus nicht immer gut ankommt.


Mit seiner Wutrede in Erding, wo er die Demokratie „zurückholen“ wollte, die Ampel beschimpfte und den Regierenden in Berlin einen „offenen Arsch“ attestierte, verfiel Aiwanger wieder in den Stil seiner Jugend, wenngleich das Vokabular leicht abgeschwächt war. Der Populist hat das breite nationalkonservative bis rechtsextreme Spektrum Bayerns im Auge, und die FW, auch die Gemäßigten unter ihnen, folgen ihm blindlings. Einen vollständigen Läuterungsprozess hat Aiwanger in den letzten 35 Jahren scheinbar nicht durchlaufen, auch wenn Markus Söder einen solchen erkennen will. Aber der ist ohnehin voreingenommen, hat er doch in Erding ebenfalls gegen Berlin gehetzt. Zudem braucht er auch nach der Landtagswahl die FW als Partner, weil er voreilig alle anderen Koalitionen ausgeschlossen hat.


Bajuwarische Kontinuität


Zwar hat Söder mit dem Gedanken gespielt, mit der Rechtspartei unter neuer Führung weiterzuregieren, doch da machte ihm die Nibelungentreue der Aiwanger-Gefolgsleute einen Strich durch die Rechnung. Ohne ihren Hubsi wollen sie nicht, zumal sie sich mit ihm derzeit im Aufwind sehen. Also entschloss sich der überzeugte Opportunist Söder dazu, seinen Vize nach der Beantwortung von 25 läppischen Fragen zu begnadigen. Das wiederum lässt vermuten, dass sich das politische Klima überall in der Republik radikal gewandelt hat und noch eine nationalistische Kraft in weitere Landtage einziehen könnte. Die Rhetorik der AfD-Spitzen hat Aiwanger jedenfalls weitgehend verinnerlich – und ist damit in etwa wieder im geistigen Milieu seiner Jugend angekommen.


Übrigens wurde der erwischte Hubsi 1988 vom Direktorat seiner Schule mit einer erstaunlichen Strafe belegt: Er musste ein Referat über das Dritte Reich halten – wenigstens ein Thema, das Aiwanger nicht ganz fremd war. Aber Bayerns Gymnasien können auch anders. Neun Jahre zuvor war die 17jährige Christine Schanderl in Regensburg mit einer Plakette, auf der „Stoppt Strauß!“ stand, im Unterricht erschienen. Diese im damaligen Bayern als ungeheuerlich empfundene Entgleisung wurde mit der sofortigen Relegation von der Schule geahndet. Dass ihr zwei Jahre später der Verfassungsgerichtshof bescheinigte, sie habe nur ihr Recht auf Meinungsfreiheit, das auch in den Schulen des Freistaates gelte, wahrgenommen, war ein schwacher Trost. Schanderls Beispiel macht aber im Vergleich zum Fall Aiwanger deutlich, wie differenziert im Land der CSU linke und rechtsextreme Abweichungen vom Mainstream bewertet und geahndet wurden (und werden).


Um die Behauptung zu entkräften, es werde auf diesen Seiten zu viel Bavaria-Bashing betrieben, soll noch über einen Vorfall im hohen Norden berichtet werden, der belegt, wie weit die bräunliche Restauration bereits in den Alltag vorgedrungen ist: Die Hamburger Polizei nahm drei Rostocker Fußballfans fest, die das Gastspiel ihrer Hansa beim HSV besuchen wollten. Sie hatten ein Lied gesungen, das auch von Dortmunder Hooligans angestimmt worden war und dessen ekelhafter Refrain hier aus Dokumentationspflicht zitiert werden soll: "Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir, von Jerusalem bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir!" Niederbayern ist mittlerweile überall.


09/2023


Dazu auch:


Depp oder Brandstifter in der Rubrik Helden unserer Zeit