Die NGO des Kobolds
Cartoon: Rainer Hachfeld


Die Fluggesellschaft Ryanair war bislang nicht für den pfleglichen Umgang mit ihren Passagieren bekannt, zu forsch bat sie diese für kleine Leistungen zur Kasse und zu unverblümt spielt Chef Michael O‘Leary mit abwegigen Gedanken, Kunden noch ein wenig exzessiver zu melken. Umso mehr erstaunt jetzt, dass die irische Billigflieger-Company sich Sorgen um das Wohlergehen der Fluggäste macht und diese im Stil einer Nichtregierungsorganisation vor den Unbilden europäischer Arbeitskämpfe schützen möchte. Auf ihre Initiative hin soll die EU-Kommission den Mitgliedsländern ermöglichen, das Streikrecht ein wenig auszuhebeln.


Anspruch auf zügige Invasion


Was Millionen von Flüchtlingen in aller Welt verweigert wird, hat nach Ansicht von Ryanair für Bürger aus der Europäischen Union recht und billig zu werden: In der Vorgehensweise ähnlich den NGOs, die per Unterschriftenaktionen öffentlichen Druck auf Regierungen und Unternehmen aufbauen, um die Umwelt zu schützen, hat nun Europas zweitgrößte Fluggesellschaft, die eher mit Luftverschmutzung in Verbindung gebracht wird, eine Petition gestartet, die sich an die höchstmögliche Stelle richtet. Unter dem Motto „Protect Passengers: Keep EU Skies Open“ fordert Ryanair von der Brüsseler Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, sie möge künftig die „Bewegungsfreiheit der EU-Bürger“ schützen, indem sie Überflüge von Ländern, in denen die Flugsicherheit gerade streikt, garantiert.





















Streiks zu brechen, würde den Himmel für Ballermänner, Sightseeing-Quickies und die Emissions-Cracks von Ryanair offen halten: Kümmerer O'Leary umgarnt Uschi, die in der Vorsilbe Öko stets die Ouvertüre zu nomie sieht. 


Die sonnenhungrigen Massen, die via Luftfahrt die Strände des Mittelmeers und Metropolen des Kontinents heimsuchen, sollen dies ohne Verzögerung tun können – egal, ob es nun den Einheimischen passt oder den Klimawandel noch schneller anheizt. Nun könnte man es als Zeichen demokratischen Fortschritts werten, dass nicht nur Betuchte und Mittelständler in der Lage sind, sich den Flug in den Süden zu leisten, wie das einst der Fall war, sondern auch die Friseurin aus dem Ruhrgebiet oder der Industriearbeiter aus Yorkshire. Man könnte es aber auch als flächendeckendes Versagen innerhalb der EU ansehen, weil andere, wesentlich umweltfreundlichere öffentliche Verkehrsmittel, etwa die Bahnen, von den Regierungen sträflich vernachlässigt werden. Zwar gingen solche Personentransporte langsamer vor sich, aber es würde sich um tatsächliche Reisen handeln, nicht um zweistündige Hüpfer von Punkt zu Punkt, ohne Umweg über fremde Kultur und Landschaft.


Das Dilemma unserer bürgerlichen Demokratie ist, dass sie mit dem Kapital verflochten sind  – und das fordert unreguliertes und bedingungsloses Wachstum. Alles muss mehr und schneller werden, ohne Rücksicht auf nicht wiedergutzumachende Zerstörungen. In diesem Sinn karrt Ryanair Millionen in ökologisch gefährdete Regionen und ruft nach dem Staat, wenn ein Hindernis auftritt. Ein Streik wiederum ist nur dann sinnvoll und erfolgversprechend, wenn er der betroffenen Firma ökonomisch wehtut und/oder für deren Kunden spürbar ist.


Die Mitarbeiter der Flugsicherung wiederum treten nicht nur wegen höherer Löhne in den Ausstand, sondern auch wegen der Arbeitsüberlastung durch den Massenandrang in der Luft, die gefährliche Konsequenzen für die Passagiere und Crews haben kann. Die Forderung von Ryanair aber impliziert, dass betroffene Staaten entweder den Arbeitskampf verbieten oder rasch angelernte Streikbrecher und möglicherweise auch Angehörige der Luftwaffe an den Kontrollmonitoren einsetzen sollen. Die EU-Kommission hat nach dieser Lesart die Aufgabe, die landesstaatlichen Behörden zu animieren, das in der Demokratie vorgesehene Instrument der Interessendurchsetzung von Beschäftigten zu unterlaufen. Mehr als 1,5 Millionen Fluggäste, von denen sicherlich auch schon einige gestreikt haben, fanden das okay und haben die Petition bislang unterschrieben.


Der irische Kobold


Möglicherweise wird der Vorstoß folgenlos bleiben, weil sich selbst die wirtschaftsaffine Kommissionspräsidentin schwertun könnte, eine solche Rechtsbeugung anzuordnen, aber er offenbart wieder einmal die neoliberale Chuzpe, die auch einem Christian Lindner oder Volker Wissing zu eigen ist. Und es hält Ryanair in den Schlagzeilen.


In der irischen Märchen- und Sagenwelt treibt der Leprechaun, ein kleiner grüner Kobold, sein Unwesen und spielt den Menschen allerlei Streiche. Manche Konkurrenten vergleichen Michael O’Leary, der seit 1993 Vorsitzender von Ryanair ist, mit dem mythischen Gnom. Wie ein Irrwisch fegt der Mann aus dem Kaff Mullingar durch die Medien, inszeniert provokative Werbekampagnen, schockiert die eigenen Kunden mit absurden Erwägungen und gibt gern den Staatsverächter. Doch der hyperaktive O’Leary, ein hundertfünzigprozentiger Marktfetischist verschweigt dabei so einiges: Die einst marode Regionalfluggesellschaft Ryanair konnte anfangs nur durch Intervention der Regierung in Dublin gerettet werden. Und auch jetzt ruft sie wieder nach dem Beistand staatlicher Stellen gegen Arbeitskämpfe.


Mit radikalen Maßnahmen gelang es dem cleveren CEO, das kränkelnde Unternehmen zum größten Billig-Carrier in Europa zu machen. Flug- und Bodenpersonal wurden finanziell äußerst knapp gehalten und mussten sich jeden zusätzlichen Cent mühsam erstreiken. Zwar sind die Tickets billig, doch die Passagiere haben mit allen möglichen Zusatzgebühren zu rechnen, etwa für Gepäckstücke, mehr Beinfreiheit oder Beratung. Wer die Buchung nicht übers Internet vornehmen möchte, sondern einen Ansprechpartner bevorzugt, zahlt dafür 50 Euro. Schlappe 55 Euro werden fällig, wenn der Check-In am Flughafen erfolgt und nicht vorab online. Wer den Boarding Pass nicht ausdrucken kann oder es vergessen hat, berappt weitere 25 Euro. Kulanz sieht anders aus.


In regelmäßigen Abständen gelangt Michael O’Leary mit bizarren Gedankenspielen auf die internationalen Titelseiten. Mal sinniert er darüber nach, mehr Geld von übergewichtigen Fluggästen zu kassieren. Dann wieder möchte er sich die Toilettenbenutzung bezahlen lassen oder äußert die Schnapsidee, dass Passagiere auf kurzen Flügen auch stehen könnten. Das ist der Mann, der sich jetzt so rührend um seine Kunden kümmert und sie vor bösen Streikenden schützen will. Aufmerksamkeit ist ihm in der Boulevardpresse und den sozialen Medien jedenfalls stets gewiss.


Freier Flug für freie Bürger!


Es ist sicherlich kein unverzeihlich schweres Umweltvergehen, eine Reise mit einem Billigflieger von Ryanair anzutreten – zumindest nicht verglichen mit dem gigantischen ökologischen Fußabdruck, den die wohlhabendsten fünf Prozent der Bevölkerung oder die deutsche Automobilindustrie hinterlassen. Aber man sollte sich doch überlegen, ob es zwei oder drei Touren im Jahr oder Kurzflüge zu Städtebesichtigungen sein müssen. Man hört im Hintergrund schon wieder Lindner und Konsorten, die ohne den satten Sound ihres Porsche-Cabrios keinen Lebenssinn mehr entdecken können, von „Verbotskultur“ faseln.


Die technologischen Revolutionen eröffnen vielen Menschen ungeahnte Möglichkeiten. Nutzen diese alles zur Verfügung Stehende, um ihren Luxusbedarf zu befriedigen oder eine ominöse Selbstverwirklichung anzugehen, ohne potenzielle Folgen für die Gesellschaft, die Umwelt oder das Klima zu berücksichtigen, ist das Ausdruck einer radikal-defätistischen Spielart von Freiheit, nämlich der Freiheit von jeglicher Verantwortung.


Ryanair hat im Vor-Corona-Jahr 2019 mehr als 150 Millionen Passagiere befördert und dürfte diese Zahlen auch heuer wieder erreichen. Für den bislang unfallfreien Transport war nicht nur die Low-Budget-Linie zuständig, Verantwortung hierfür trugen auch die Lotsen und andere Mitarbeiter der Flugsicherung, denen Michael O’Leary am liebsten das Streikrecht absprechen würde.


10/2023