Ehrengast mit Blutspur
Cartoon: Rainer Hachfeld


Fürth liegt seinem berühmtesten Sohn zu Füßen: In New York und London hatte Henry Kissinger bereits Tage zuvor den hundertsten Geburtstag gefeiert, eine dritte Party gönnte sich der Jubilar nun in seiner mittelfränkischen Heimatstadt. Alle prominenten Redner waren des Lobes voll, an die Leichen im Keller des ehemaligen US-Außenministers mochten sie dabei natürlich nicht erinnern.


Gilt das Völkerrecht für alle?


Etwa zur gleichen Zeit versuchte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brasilien, den dortigen Präsidenten Lula zu Sanktionen gegen Russland zu bewegen. Der aber blieb neutral, obwohl sein Land Putins Angriff auf die Ukraine missbillige. Er wandte sich generell gegen bewaffnete Interventionen, allerdings nicht nur in der Ukraine, sondern auch „in Palästina und im Jemen“. Man könne „die Schrecken und das Leid des Krieges nicht selektiv behandeln“, führte er aus und übte indirekt Kritik an der Doppelzüngigkeit des Westens: „Die Grundprinzipien des Völkerrechts gelten für alle.“


Lula weiß, wovon er spricht. In Lateinamerika erinnert man sich noch recht genau an die bleiernen Jahrzehnte der Militärregimes, die den USA und ihren NATO-Verbündeten als Bollwerke gegen den Kommunismus galten. Als in den 1970er Jahren der chilenische General Pinochet den wiedergewählten Präsidenten Allende beseitigte und eine blutige Diktatur installierte, als im Rahmen der Geheimdienstoperation Condor in Argentinien und Uruguay Militärputschisten die Macht ergriffen und Zehntausende von Gewerkschaftern, Studenten oder kritischen Journalisten massakrieren und „verschwinden“ ließen, hielt Washington die Fäden in der Hand, und als Architekt dieser brachialen neuen Ordnung fungierte Henry Kissinger, Sicherheitsberater und Außenminister unter dem berüchtigten und später davongejagten Präsidenten Richard Nixon.


Auch in Südostasien hat der Name Kissinger noch heute einen furchterregenden Klang. Er wird mit der US-Militärdoktrin, nach der Vietnam und Kambodscha „in die Steinzeit zurückgebombt“ werden sollten, in Verbindung gebracht, aber auch mit der Ausweitung des Krieges und der flächendeckenden Verminung von Laos aus der Luft, einem Land, dem die USA nie den Krieg erklärt hatten. Auf dem indochinesischen Subkontinent ging die Zahl der Opfer in die Millionen.


Den agilen Greis störten die Todsünden der Vergangenheit kein bisschen bei der fröhlichen Feier des runden Geburtstags.


Kein Wunder, dass Henry Kissinger einige Länder der Erde nicht mehr besucht, weil er noch auf dem Rollfeld des Flughafens verhaftet würde, und dass selbst der spanische Staatsanwalt Garzón, der einst auch Pinochet in London festsetzen ließ, ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zerren wollte! Doch die USA halten diese höchste Jury ohnehin für nicht zuständig, wenn es um eigene Bürger geht…


Schelm und Fan des Zweitliga-Fußballs


In Fürth feierte man einen ganz anderen Henry Kissinger, einen hochintelligenten, humorvollen Mann, der den Einheimischen schon durch sein lustiges Englisch mit fränkischem Zungenschlag sympathisch ist. Man freut sich, dass der weltberühmte ehemalige Polit-Star erklärter Fan der Spielvereinigung Greuther Fürth, eines zumeist in der Zweiten Bundesliga kickenden Profi-Teams, ist und man goutiert seine von keinerlei Selbstzweifeln angekränkelte Schlagfertigkeit.


Kissinger wurde 1923 als Heinz Alfred K. in Fürth geboren. Seine Kindheit verlief harmonisch – bis zur Machtübernahme durch die Nazis, die dem jüdischen Vater die Ausübung seines Berufs als Gymnasiallehrer verboten. Die Mutter Paula erahnte die tödliche Gefahr, in der die Familie schwebte und organisierte 1938 gerade noch rechtzeitig die Ausreise. Trotz dieser traumatischen Erfahrung blieb der spätere Henry K. seiner Heimatstadt gewogen und nahm die Ernennung zum Ehrenbürger an. Leider machte ihn das Wissen um die Brutalität einer antisemitischen und auch sonst inhumanen Diktatur nicht zu einem Anwalt für Menschenrechte.


Dieser Gedanke ist in der eilig zusammengestellten Ausstellung „Die Kissingers – eine Familiengeschichte aus Fürth“ kein Thema. Die Schau wurde von Evi Kurz zusammengestellt, die als Leiterin des Ludwig-Erhard-Zentrums prädestiniert für die Idolisierung großer Fürther Politiker zu sein scheint. Das ging selbst dem zögerlichen Chefreporter der Nürnberger Nachrichten (NN), Alexander Jungkunz, ein wenig gegen den Strich: „Von den Zigtausenden Toten, die US-Präsident Richard Nixon und auch Kissinger etwa in Vietnam, Kambodscha und Chile zu verantworten hatten, ist nicht die Rede.“ Dafür wurde dem Hundertjährigen während des Festakts nach Leibeskräften geschmeichelt.


Eine Lehrstunde in Euphemismus


Bundespräsident Steinmeier gratulierte per Video-Schalte und flötete, er habe – wie viele andere – oft Kissingers Rat gesucht. So erklärt sich wohl auch die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens durch die Bundeswehr. Da ließen sich auch die physisch Anwesenden nicht lumpen: Fürths OB Jung schwärmte vom Besuch in Kissingers New Yorker Büro, der bayerische Ministerpräsident Söder zeigte sich „total stolz“, dass das berühmte Geburtstagskind ein Franke sei, und Springer-Vorstandschef Döpfner, der nicht gerade als Hüter der Pressefreiheit und Vorzeigedemokrat bekannt ist, würdigte „ein Leben, das herkömmliche Dimensionen sprengt“.


Lediglich der Unionsnestor Wolfgang Schäuble wagte einen Blick auf Kissingers fatale Außenpolitik – oder wie der Schwabe dies formulierte – auf das, „was Sie als Realpolitiker im amerikanischen Interesse entschieden“. Sogleich sprach Schäuble aber den greisen Fürther von jeglicher Verantwortung frei: „Den Vorwurf mangelnder Moral halte ich für unbegründet. Wer als Politiker handelt, wird schuldig, sagte Helmut Schmidt…“ Gemäß dieser Logik braucht sich also auch Wladimir Putin keine Sorgen zu machen, dereinst wegen eines Angriffskriegs oder der systematischen Zerstörung ziviler Infrastruktur vor Gericht zitiert zu werden.


NN-Kommentator Jungkunz trieb offenbar angesichts der unisono vorgenommenen Heiligsprechung des uralten Charmeurs das schlechte Gewissen um. Und so versuchte er sich in euphemistischer Schmalspur-Dialektik: „Man muss unbedingt beide, alle Seiten Kissingers in den Blick nehmen, um ihm gerecht zu werden. Bloße Verdammung nutzt ebenso wenig wie einseitige bis huldvolle Verehrung…“


Wäre der Brasilianer Lula ähnlich vage geblieben wie der Nürnberger Redakteur, hätte er Frau von der Leyen vielleicht in übervorsichtiger  Abwägung gesagt: „Die Grundprinzipien des Völkerrechts gelten für alle. Oder auch nicht.“


07/2023


Dazu auch:


Dossier Tatort Indochina (Vietnam I und II) in der Rubrik Politik und Abgrund


Kissinger goes to Fuerth im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2012)