| Eine neue Macht Cartoon: Rainer Hachfeld Wie fühlen sich die Staats- und Handelslenker des globalen Westens, wenn sie registrieren müssen, dass sie nicht mehr allein am Steuer sitzen, dass eine neue Crew mit erheblichem Wirtschaftspotential, immensen Ressourcen und anderem geopolitischen Anspruch die Bühne betreten hat? Es sind die sog. BRICS-Staaten, die sich anschicken, die Ökonomie der Zukunft mitzugestalten, womöglich im Widerspruch zu den reichen G7-Ländern. Sie haben als Quintett begonnen, werden aber bereits im Januar 2024 sechs neue Mitglieder aufnehmen und dann fast die Hälfte der Menschheit repräsentieren. Doch die Union der elf mächtigen Schwellenländer ist sehr heterogen zusammengesetzt, politische Binnenkonflikte sind nicht ausgeschlossen. Globale Schwergewichte Dass es den fünf derzeitigen Mitgliedern nicht an Selbstbewusstsein fehlt, machte Südafrikas Präsident Ramaphosa im Vorfeld des BRICS-Gipfels deutlich. Er lud 30 interessierte Staaten, dazu UN-Vertreter und hochrangige afrikanische Politiker ein, nicht aber die G7-Protagonisten – auch nicht Emanuel Macron, der Interesse an einer Teilnahme bekundet hatte. Die Begleitmusik zu diesem Affront lieferte Russland. Man wolle dem „Diktat“ des Westens unter Führung der USA ein Ende setzen, eine Intention, mit der die Präsidenten Brasiliens, Indiens, Chinas und Südafrikas (gemeinsam mit Russland bilden die Anfangsbuchstaben ihrer Ländernamen die Abkürzung BRICS) vollauf einverstanden waren, auch wenn der eine oder andere seine Probleme mit Putins Überfall auf die Ukraine hat. In der Tat sind es Schwergewichte, die sich bislang schon zu BRICS zusammengeschlossen haben: Mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung leben in den fünf Staaten, ihr Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt 25 Prozent. Wird das Bündnis Anfang 2024 um die sechs Länder Äthiopien, Ägypten, Argentinien, Iran, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate (VAE) zu BRICS plus erweitert, steigt der globale BIP-Anteil auf 37 Prozent. Die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde, Indien und China, sind hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft mittlerweile die Nummer 3 und die Nummer 1 der Welt (wenn auch das Pro-Kopf-BIP in beiden Ländern noch weit unter dem der USA oder der EU liegt). Wenn Saudi-Arabien, der Iran und die VAE im Januar zur Organisation stoßen, erlangt diese ein Übergewicht bei den fossilen Rohstoffvorkommen, zumal auch Gründungsmitglied Russland über riesige Gas-und Erdölressourcen verfügt. Südafrika fördert Diamanten und Edelmetalle, Mangan, Nickel, Eisen und Kohle in rauen Mengen, und China ist der drittgrößte Lithium-Produzent weltweit, vor allem aber baut es fast 100 Prozent der so begehrten Seltenen Erden ab. Dazu gesellen sich die Landwirtschaftsgiganten Brasilien und demnächst Argentinien (auch wenn das Land derzeit unter der Dürre leidet). Vor allem China und Indien haben enorme Produktionskapazitäten aufgebaut und weisen beeindruckendes technologisches Know-how auf: Die Programmierer von Bangalore machten den Erfolg des Silicon Valley erst möglich, und China reicht heute mehr als doppelt so viele Patente ein wie die gesamte EU. Die VAE holen sich gerade die besten Wissenschaftler und Ingenieure, die Geld kaufen kann, ins kleine Wüstenland. Sollten sich die in wirtschaftlichen wie politischen Interessen und kulturellem Hintergrund reichlich divergierenden Mitgliedsnationen von BRICS plus zusammenraufen, könnte eine neue ökonomische Supermacht entstehen. Gegenpol zur G7-Dominanz Bei allen inhaltlichen Differenzen werden sich die aufstrebenden Schwellenländer, deren Wachstumstempo insgesamt das des Westens bei weitem übertrifft, auf einen gemeinsamen Nenner einigen: Sie wollen sich gemeinsam gegen die Diktate der Ersten Welt wehren, die den „Freihandel“ stets im Sinn der reichen Staaten regeln, durch die Zölle nach Gusto eingeführt oder abgeschafft, minderwertiges Fleisch sowie Industrieschrott mit Gewinn in die Dritte Welt exportiert und wertvolle Rohstoffe dort in Fremdregie ausgebeutet oder billig erworben werden. Die BRICS-Staaten stimmen darin überein, ihre Betriebe und Volkswirtschaften effektiver gegen feindliche Übernahmen und Zerstörung zu schützen, den Status des Dollar als Weltwährung nicht länger zu akzeptieren und sich politisch gängeln zu lassen von Regierungen, deren Moral ihnen zumindest fragwürdig erscheint. Künftig sollen Zahlungsverkehr und Kreditaufnahmen in den jeweiligen Landeswährungen abgewickelt werden, um Verluste durch oft willkürlich festgesetzte Wechselkurse zu vermeiden. Selbst eine eigene BRICS-Währung (ähnlich dem Euro) ist angedacht, die auf Gold-Standard festgeschrieben sein soll. Auch ist die Gründung einer Entwicklungsbank als Gegengewicht zum Internationalen Währungsfond, die beide von den G7-Staaten und zur Weltbank gegründet werden, beschlossene Sache. In jedem Fall könnte das Bündnis dominiert werden, wenn es denn funktioniert, als potenter Verhandlungspartner gegenüber den europäischen und nordamerikanischen Wirtschaftsassoziationen EU und NAFTA auftreten. Natürlich haben Russland und der Iran auch das partikuläre Interesse, durch die neue Partnerschaft den Wirtschaftssanktionen durch den Westen begegnen zu können. Eine gewisse Effizienz zeichnet sich hier bereits ab: Die Volkswirtschaften beider Länder wachsen inzwischen wieder – trotz der vermeintlich gravierenden Bestrafung. Feindliche Brüder Eins muss man BILD lassen: Das Massenmedium befleißigt sich konsequent stets der gleichen rhetorisch aggressiven Panikmache, ob es nun den Untergang des Abendlandes in einem schmählichen Betrug durch einen Sozialhilfe-Empfänger oder im Aufstieg eines potentiellen politischen Gegners verortet. „BRICS-Erweiterung: Wie gefährlich wird dieser Tyrannen-Block für uns?“ titelten die Chef-Hysteriker des deutschen Pressewesens in ihrer Online-Ausgabe. Und wie immer bei BILD findet sich ein Körnchen Wahrheit im Brei der rechten Denkungsart. Tatsächlich werden die meisten BRICS plus-Staaten keineswegs von leuchtenden Vorbildern für Demokratie und humane Gesellschaftsform regiert. Da tummeln sich mit Saudi-Arabien und dem Iran zwei höchst intolerante „Gottesstaaten“ neben Putins Russland, das einen Krieg in Europa begann, der Militärdiktatur Ägypten oder der VR China, die Minderheiten drangsaliert und die eigenen Bürger minutiös überwacht. Diese zumindest in weiten Teilen sinistre Truppe will die nicht minder finsteren Pläne der westlichen Wirtschaftsmächte durchkreuzen Bevor sich aber die europäischen Hüter internationaler Moral angewidert abwenden, sollten sie sich selbst fragen, mit welchen Bluthunden und Autokraten – von Kaiser Bokassa über das südafrikanische Apartheidregime bis hin zu den putschenden Massenmördern in Chile, Argentinien und Brasilien – sie schon gern zusammengearbeitet haben, weil es ihren nationalen (oder den ureigensten) Interessen und Profiten diente. Wichtiger scheint es aber, die Bevölkerungen dieser Länder nicht zu vergessen. Ihre (Über)Lebenssituation könnte sich spürbar verbessern, wenn es gelänge, einen fairen Handel mit korrekt bewerteten Waren zu installieren. Möglich kann so etwas nur werden, wenn nicht mehr einzelne isolierte Länder den allmächtigen Wirtschaftsorganisationen unter westlicher Aufsicht als Bittsteller gegenüberstehen, sondern im ökonomisch relevanten Verbund eigene Forderungen präsentieren und durchsetzen können. Möglicherweise könnte BRICS plus sogar eine friedenstiftende und –erhaltende Funktion zumindest innerhalb Mitgliedschaft einnehmen (was übrigens auch der positivste Grund für die Existenz der EU ist). Die feindlichen Glaubensbrüder Iran und Saudi-Arabien würden sich dann im Jemen auf einen dauerhaften Waffenstillstand einigen. Und Ägypten müsste sich mit Äthiopien verständigen, statt wegen der Aufstauung des Nils mit Krieg zu drohen. Vielleicht ließe sich dann sogar Putin – welch vage Hoffnung! – seine Großrussland-Pläne ausreden. Das Pfeifen im Wald Washington zeigte sich offiziell ziemlich unbeeindruckt vom BRICS-Gipfel. Das sei eigentlich nichts Neues, und natürlich dürfe sich jeder souveräne Staat seine Bündnispartner selbst aussuchen. Seltsam nur, dass die US-Administration im Vorfeld versucht hatte, die südafrikanische Regierung als Gastgeber unter Druck zu setzen, damit sie auf Distanz zu Moskau gehe… Johnson lässt dabei außer Acht, dass die „linken Träumer“ den Ost-West-Konflikt einfach satt haben und die ökonomische Eigenverantwortung des Südens ohne väterlichen Rat aus den USA oder Europa durchsetzen wollen. Immerhin erwähnt er zumindest die Inkonsequenz der EU- und US-Politiker: „Denn ansonsten gelten globale Regeln oft plötzlich nicht mehr, wenn westliche Länder sie brechen.“ Regelrecht Kreide gefressen scheint die oft so vorlaute doppelmoralische Instanz Annalena Baerbock zu haben: „Wir wollen gemeinsam mit den Ländern auf der Welt kooperieren, natürlich auch mit denen, die andere Ansichten haben.“ Baerbock könnte auf die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gehört haben, die vorschlug, gegenüber den BRICS-Ländern auf „eine Art Einbindungsstrategie“ zu setzen. Die SWP berät die Berliner Politiker und wird vom Bundeskanzleramt finanziert. Gegründet wurde die Stiftung übrigens vom Alt-Nazi Klaus Ritter, der auch schon als Geburtshelfer für die Organisation Gehlen und den daraus hervorgegangenen BND tätig war. Wollen wir hoffen, dass sich die BRICS-Regierungen nicht allzu sehr einbinden lassen. 09/2023. Dazu auch: Ende der Allmacht im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022) |
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