Prinzipien abgetaucht
Cartoon: Rainer Hachfeld
Sind wir nicht die allgegenwärtigen Tugendhüter dieser Erde? Haben wir uns nicht vorbildlich geläutert und unsere Holocaust-Schuld ohne besonders viel Reflexion zu Lehrmaterial für andere Nationen recycelt? In der Tat, zumindest verbal machen wir die Welt besser – und bessern ganz nebenher unser Einkommen damit auf. Die Berliner Regierung hat es verstanden, Moralpredigten auf Auslandsreisen zu Begleitprogrammen für Verkaufs- und Kaffeefahrten umzuwandeln. Nach dem Motto: Wir verscherbeln euch unsere Einsichten und legen noch Rüstungsgüter made in Germany obendrauf. Wie das geht, hat unlängst erst der Top-Vertreter der Republik, Bundeskanzler Olaf Scholz, auf seiner Animationstour durch Indien gezeigt. Die Medien begleiten alles, wundern sich vielleicht, fragen aber nicht weiter nach.
Waffen gehen gar nicht, außer…
Frieden und Nichteinmischung gelten der Bundesregierung als höchste Güter – zumindest, wenn Störungen und Interventionen auftreten, die in der westlichen Werteordnung nicht vorgesehen sind. Deswegen hat Kanzler Scholz im ZDF-Talk „Maybrit Illner“ China davor gewarnt, Russland mit Waffen zu unterstützen. Den Machthabern in Peking habe er klar gesagt, „dass das nicht akzeptiert werden kann“.
Davon abgesehen, dass ein Rüstungsexport per se die Wahrscheinlichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung bzw. deren Eskalation erhöht, lässt sich aus den mahnenden Worten des Staatsmannes der ethische Anspruch, zwischen guten und bösen Waffenlieferungen entscheiden zu können, heraushören, der durch das leuchtende Vorbild des eigenen Landes begründet zu sein scheint. Zu weit sollte man sich aber nicht in der Welt umschauen, auch sei nicht geraten, die Aktivitäten des Bundeskanzlers und seiner Regierung zu genau unter die Lupe nehmen, um nicht in schwere Zweifel bezüglich Scholz‘scher Prinzipientreue zu verfallen.
Wo immer auf der Erde derzeit gebombt und geschossen wird, ist deutsche Wertarbeit nicht weit. Raketen, Geschütze, Drohnen und Munition, die Jemeniten töteten oder verstümmelten, wurden zuvor aus der Bundesrepublik an die arabische Invasionsallianz geliefert. Im libyschen Machtkampf spielt Kriegsmaterial, das in den Waffenschmieden an Rhein und Neckar gefertigt wurde, eine ebenso große Rolle wie zuvor auch schon im Irak, und in Mexiko setzen die Drogenkartelle bevorzugt auf Schnellfeuergewehre aus Alemania, wobei die Polizeikräfte mit gleicher Münze (bzw. Patrone) heimzahlen. Und wenn dem ägyptischen Militärdiktator as-Sisi der Sinn nach U-Booten oder Panzern steht, knüpft die Berliner Politik gern die zarten Bande zur heimischen Todesindustrie.
So ist es nicht verwunderlich, dass der Wirtschaftsdelegation, die Olaf Scholz kürzlich nach Indien begleitete, auch ein Vertreter von ThyssenKrupp Marine Systems angehörte. Dort äußerte Premier Narendra Modi einen bescheidenen Wunsch und stieß sofort auf offene Ohren. Er würde nämlich gern sechs moderne U-Boote, wie sie Thyssen baut, erwerben, voraussichtlich zum Stückpreis von einer Milliarde Euro.
Eigentlich geht das nicht, denn seit 1961 leistet sich die Bundesrepublik eine Ergänzung zum Grundgesetzartikel 26, das sogenannte Kriegswaffenkontrollgesetz, das kategorisch Exporte an Empfänger untersagt, die Kriegswaffen bei „einer friedensstörenden Handlung“ insbesondere bei einem Angriffskrieg verwenden“. Außerdem darf eine solche Lieferung die völkerrechtlichen Verpflichtungen der BRD nicht verletzen. Allerdings hat bislang noch jede Regierung dieses Gesetz nach Herzenslust gebrochen.
Frieden? Bündnis? U-Boot-Deal!
Indien hat drei große Kriege gegen Pakistan geführt, mehrere blutige Grenzkonflikte mit China ausgetragen, und es unterdrückt in Kaschmir die dortige Bevölkerungsmehrheit blutig. Aber, so sagen die deutschen Politiker weise (aber vielleicht auch nur raffiniert), Indien sei eine Demokratie. Die sonst von bürgerlichen Gesellschaften bemühten Maßstäbe für ein vom Volkswillen gesteuertes, durch Gewaltenteilung gekennzeichnetes Staatswesen werden bei dieser Einschätzung großzügig außer Acht gelassen. Zwar finden Wahlen statt, doch längst nicht alle stimmen ab – weil sie daran gehindert werden, weil sie als Analphabeten (im kulturtechnischen, nicht digitalen Sinn) nicht von der Möglichkeit dazu erfahren haben, weil sie weggesperrt sind oder angesichts der Alternativen verzweifelt sind.
Die beinahe 200 Millionen Muslime werden von den Hindu-Nationalisten der regierenden Bharatiya Janata Party zu Menschen zweiter Klasse degradiert und indigene Völker aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben, wann immer eine korrupte Obrigkeit die mächtigen Kapitalinteressen bedienen möchte. Etliche Millionen Inder leben in Leibeigenschaft oder sogar Sklaverei, wie man u. a. Aravind Adigas mit dem Booker-Preis ausgezeichnetem Roman „The White Tiger“ entnehmen kann.
Seit Modis Regierung den eigentlich von der Verfassung garantierten Teilautonomie-Status für den indischen Teil Kaschmirs, ein umstrittenes Gebiet an den Grenzen zu Pakistan und China, gestrichen hat, herrschen dort Behördenwillkür und Repression gegen die moslemische Bevölkerungsmehrheit. Der Evangelische Pressedienst (epd) berichtet von Tausenden Aktivisten, Politikern und Geschäftsleuten, die verhaftet worden seien. Indiens bedeutendste Autorin Arundhati Roy klagt in ihrem Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“ die Regierung in Delhi brutaler Methoden in Kaschmir an, die von Verschleppung und Folter bis zur systematischen Liquidierung Oppositioneller reichen.
Selbst dem passionierten Ignoranten Olaf Scholz (siehe Cum-Ex) dürfte kaum entgangen sein, dass sich in Kaschmir ein latenter Aufstand gegen die „Hinduisierung“ abspielt, der angesichts der sich in den Bergen gegenüberstehenden Truppen Pakistans und Indiens jederzeit zu einem Krieg zweier Atommächte eskalieren könnte. Auch müsste ihm bewusst sein, dass Modi keineswegs einer klassischen Demokratie vorsteht und dass sein Nationalismus rassistische Züge aufweist, dass die demnächst bevölkerungsreichste Nation der Erde mitnichten ein sicherer Aufbewahrungsort für moderne Waffensysteme ist.
Aber die treue hanseatische Krämerseele ist bei ihrem Delhi-Trip damit gescheitert, den skrupellosen Hindu-Premier zum Alliierten im Ukraine-Konflikt zu machen und ihn aus der Wirtschaftsunion mit Russland und China in eines der im globalen Süden so gefürchteten Freihandelsabkommen mit der EU zu locken, also sollte doch wenigstens ein U-Boot-Deal bei der Visite herausspringen.
Scheinheiligkeit, bei der alle mitmachen
Aber eigentlich kann Scholz ganz froh sein, dass Delhi weiterhin gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau unterhält, denn so gelangt Deutschland weiterhin an russisches Erdöl, wenn auch auf dem indischen Umweg. Es ist eine Situation, in der Zwei mit Einbußen, aber relativ glimpflich davonkommen und Einer prächtig profitiert: Der clevere Modi nimmt Putin den Stoff unter Marktwert ab und verkauft ihn mit saftigem Aufschlag an Scholz.
"Darf ich Ihnen ein erlesenes Tröpfchen aus Putins Rosneft-Kellerei kredenzen, Sahib Scholz? Vielleicht könnten Sie im Gegenzug unsere Kriegsmarine beim Tauchsport unterstützen."
Weil die durstige deutsche Industrie damit einigermaßen besänftigt werden kann, kommt die Berliner Regierung mit einem blauen Auge davon und zeigt sich dem Profiteur zur Freude der hiesigen Rüstungsbranche mit einer Kriegsschiff-Zugabe erkenntlich. Zwar befürchtet die Münchner Abendzeitung (AZ) noch Komplikationen bei der Abwicklung des Geschäfts, weil die Inder die Boote in ihrem Land bauen lassen wollen, doch da wird sich eine Lösung finden. Ein zweites Problemchen, das im Bericht angeführt wird, dürfte sich blitzschnell in Luft auflösen: „…und dann ist da auch noch die Koalition in Berlin. Die Grünen stehen Rüstungsexporten an Drittstaaten mindestens skeptisch gegenüber.“
Liebe AZ! Für eine Handvoll schmutziger Energie würde Robert Habeck noch ganz andere Kröten schlucken. Viel interessanter wäre es für die Medien hierzulande, die an allen Ecken und Enden eiernde Quadratur des Ampelkoalitionskreises zu untersuchen: Die deutsche Regierung belohnt einen Hindu-Chauvinisten mit kriegerischer Attitüde durch Aufrüstung dafür, dass er ihr fossile Brennstoffe aus den Beständen eines Neo-Imperialisten, die sie eigentlich zum Schutz des Weltklimas ächten möchte, liefert – und sie dadurch den von ihr selbst implementierten Boykott Russlands umgehen kann. Eine Gemengelage wie in einem Münster-Tatort der ARD, aber weniger lustig…
03/2023
Dazu auch:
Modi räumt auf im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2020)