| Schuld und Rache Cartoon: Rainer Hachfeld Lange Zeit habe ich gezögert, etwas zum Überfall der Hamas-Milizen auf israelisches Kernland und die sich daraus ergebenden unabsehbaren Konsequenzen zu schreiben. Zu schnell überschlagen sich die Ereignisse, zu groß schien mir die Gefahr, durch den Versuch einer differenzierten Einschätzung einen Shitstorm heraufzubeschwören, der unzulässigen Verkürzung historischer Ereignisse bezichtigt oder von der einen oder anderen Seite schlimmer Sym- bzw. Antipathien verdächtigt zu werden. Doch zu diesem menschengemachten Erdbeben, das nicht nur den Nahen Osten erschüttert, darf man nicht schweigen, will man/frau nicht den politischen Krisengewinnlern, den rechten Profiteuren und den furchtbaren Vereinfachern also, das Feld überlassen. Die schrecklichen Fakten Als die Kämpfer der Hamas in Israel eindrangen, taten sie es nicht, um bewaffneten Widerstand zu demonstrieren und die feindliche Armee zu beeindrucken, gar zu schwächen. Sie wollten größtmöglichen Schaden in der Zivilgesellschaft anrichten, der benachbarten Bevölkerung hohe Verluste an Menschenleben zufügen. Dies ist hemmungsloser Terror, der unterschiedslos Kinder wie auch alte Menschen opfert und die Überlebenden dauerhaft traumatisieren soll. Alles an diesem Vorgehen ist grausam, nichts kann zur Entschuldigung akzeptiert werden. Dass der israelische Staat die fundamentalistischen Mörder bestrafen, am liebsten vernichten würde, ist angesichts von über 1400 getöteten und mehr als 200 entführten Bürgern nachvollziehbar. Es steht allerdings zu befürchten, dass die Liquidierung der Islamisten, die sich im Gazastreifen wie der Fisch im Wasser bewegen (um einen Spruch von Mao abzuwandeln), nur gelingen kann, wenn man die zivile Infrastruktur eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde und damit die Lebensgrundlagen der dortigen Bevölkerung flächendeckend mit zerstört. Insofern sollte es nicht verwundern, dass immer mehr Staaten eine Kriegspause, einen Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen fordern. Als Hardliner erwiesen sich in den Debatten der UNO und der EU sowie in Regierungsstatements die Vertreter der Bundesrepublik, die Israel freie oder zumindest weitgehend freie Hand bei seinem Vergeltungsfeldzug lassen wollen. Im Gazastreifen drängen sich auf 360 Quadratkilometern rund zwei Millionen Menschen, denen jegliche Fluchtmöglichkeit fehlt: Die Landgrenzen werden von Israel und Ägypten, das eine Infiltration des Sinai durch Kämpfer der Hamas, die der von Kairo verbotenen Muslimbruderschaft angehört, verhindern will, hermetisch abgeriegelt, vor den Küsten patrouilliert die Marine des jüdischen Staates. De facto gleicht der Gazastreifen einem überfüllten Freiluftgefängnis, aus dem es auch bei einem Brand kein Entkommen gibt. Selbst wenn die israelische Armee die Insassen dazu auffordert, in den „sichereren“ Süden des Gebiets zu fliehen, bedeutet dies nicht, dass dieses Terrain von Kämpfen ausgespart bleibt. Und es fragt sich, wie die Massen auf noch engerem Raum überleben sollen, wenn Energie für Krankenhäuser, Wasserwerke und Bäckereien fehlt, wenn Kommunikationsmittel und Transporte ausfallen. Trotz der seit Generationen prekären Situation lag die Lebenserwartung der Gaza-Bewohner dreieinhalb Jahre über dem weltweiten Durchschnitt. Das dürfte sich nun bald ändern, ebenso wie die geringe Kindersterblichkeit (3,3 Prozent unter dem globalen Mittelwert). Die Bevölkerungszahl verdoppelt sich alle 15 bis 20 Jahre und das Durchschnittsalter liegt bei gut 17 Jahren. Man kann also annehmen, dass 2006, als die Hamas an die Macht gewählt wurde, eine deutliche Mehrheit der jetzigen Einwohner noch nicht geboren oder noch nicht wahlmündig war. Demoskopen sprechen mittlerweile von zwei Dritteln Unzufriedener, die den Islamisten Versagen in der Administration, der Sozialpolitik und der Justiz bescheinigen. Nichtsdestotrotz würden diese Menschen, die durch die Abriegelung von der Welt getrennt waren, nur die Herrschaft der Hamas, aber keine politischen Alternativen, keine sozialen Perspektiven oder Auswege aus dem Reservat kennen, das Gros der Opfer stellen. Israels Premier Benjamin Netanjahu fiel immer schon durch eigenwillige Vorstellungen von Justiz und angemessener Bestrafung auf. Und wer überlebt, wird den nächsten Generationen ohnmächtigen Hass vererben. In Israel warnen Intellektuelle, Linke, Friedensaktivisten und Kulturschaffende seit geraumer Zeit, dass die Weigerung der eigenen Regierungen, die Grundbedürfnisse und von den Vereinten Nationen garantierten Rechte der Palästinenser überhaupt wahrzunehmen, eine endlose Kette sinnloser Gewalttaten heraufbeschwört. So ist auch die Äußerung des weltweit als friedensbewegt anerkannten UN-Generalssekretärs Guterres zu verstehen, der eine Verurteilung des Hamas-Terrors mit dem Hinweis auf einen möglichen Grund ergänzte: Dieses Verbrechen habe „nicht im luftleeren Raum“ stattgefunden, sondern auch wegen der „erdrückenden Besetzung“ palästinensischer Gebiete. Dass jetzt ausgerechnet die Regierung Netanjahu den Rücktritt des Portugiesen von der UNO-Spitze fordert, hat einen seltsamen Beigeschmack: Wird das Kabinett doch im eigenen Land von Millionen der multiplen Rechtsbeugung und des Versuchs, die Justiz der Exekutive zu unterwerfen, bezichtigt. Auch ignorierte Israel zahllose Abstimmungen der Vollversammlung und Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (etwa die Resolution Nr. 2334 vor sieben Jahren) sowie Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs, denen zufolge der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten illegal sei. Für die Ampel-Parteien und die Union hierzulande scheint indes die bloße Frage nach einer Ursache (nicht nach einer Entschuldigung) des hemmungslosen Hamas-Terrors schon auf Antisemitismus hinzudeuten, ein Vorwurf, der auch viele jüdische Bürger Israels, die der Siedlungspolitik äußerst kritisch gegenüberstehen, mit einbezieht. Das kriegerische Berlin Ob die gern bellizistisch auftretende Annalena Baerbock oder Bundeskanzler Olaf Scholz, ob Oppositionsführer Friedrich Merz oder diverse Wortführer der AfD – alle gestehen der israelischen Regierung in allen Belangen der Kriegsführung freie Hand zu; zumindest solange der Oberverbündete in Washington angesichts eines zu erwartenden Blutbades nicht zumindest teilweise zurückrudert. Das Wort „Frieden“, einst in Bonn und dann in Berlin der Dauerhit, wird gemieden, selbst dann, wenn die Staaten des globalen Südens oder EU-Partner wie Spanien, Irland oder Luxemburg es immer eifriger in den Mund nehmen. Das hat natürlich auch historische Gründe: Ohne die Shoa, das fürchterlichste aller Menschheitsverbrechen, von Deutschen erdacht und ausgeführt, hätte sich die Situation in den 1930er und 1940er Jahren, als die verfolgten Juden in Palästina die einzige (und auch angestammte) Heimstatt sahen, wohl weniger explosiv entwickelt. So aber existierte durch den Migrationsdruck kaum Zeit, eine friedliche oder wenigstens distanzierte Koexistenz zu erreichen, und bald fanden sich viele Araber als späte Opfer des deutschen Nationalsozialismus auf der Flucht wieder. In der jungen Bundesrepublik bekundeten die Regierungen unterdessen wortreich Reue wegen des Holocausts – und ließen heimlich Alt-Nazis, vom Gestapo-Bonzen bis zum Rassentheoretiker, in Ämtern, Ministerien der Justiz und in der Industrie an der deutschen Zukunft werkeln. Die Oberflächlichkeit, die Verharmlosung und Relativierung der nationalsozialistischen Vergangenheit verhinderten ein wirkliches Umdenken und machten Bekenntnisse zur nationalen Schuld oder Entschuldigungen bei den Opfern und Hinterbliebenen oft zu rhetorischen Pflichtübungen. Tatsächlich wurden viele Nachwachsende nie nachhaltig erreicht, was erklärt, dass sich – auch dank der mittlerweile so beliebten Verschwörungstheorien – ein latenter Judenhass auch in Teilen der jüngeren Generation halten konnte. Um solche Versäumnisse zu kaschieren, stellen die Verantwortlichen sich heute besonders lautstark an die Seite Israels. Dass sie dessen Existenz garantieren wollen, ist zu begrüßen, dass aber die leiseste Kritik an der israelischen Politik oder Kriegsführung zu höchstoffiziellen Abmahnungen und Abstempelungen führt, darf nicht akzeptiert werden. Die Fehler der Vergangenheit Doch zurück zum Ort der aktuellen Ereignisse: Historisches Geschehen ist häufig ein von Irrungen, Fehlern, Versäumnissen und verpassten Chancen geprägtes Feld. Im Nahen Osten der jüngeren Vergangenheit finden sich davon besonders viele, so dass hier nur die eklatantesten erwähnt werden sollen. Kaum hatte Israel 1948 nach der von der UN-Mehrheit beschlossenen Teilung Palästinas in dem ihm zustehenden Gebiet einen unabhängigen Staat ausgerufen, mobilisierten sechs Länder ihre Armeen, um „die Juden ins Meer zu treiben“. Auch mithilfe von Waffen aus den Staaten des Warschauer Paktes siegten die besser organisierten israelischen Truppen und erweiterten das im Plan der Vereinten Nationen vorgesehene Staatsgebiet um die Hälfte. Nach ägyptischen Drohgebärden startete Israel 1967 einen militärischen „Präventivschlag" und eroberte im sogenannten Sechs-Tage-Krieg das Westjordanland und den Gazastreifen von Jordanien sowie den gesamten Sinai, der allerdings nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 an Ägypten zurückgegeben wurde. Die arabischen Staaten versäumten es damals, das Angebot Israels „Land gegen Frieden“ anzunehmen und das Existenzrecht des jüdischen Staates anzuerkennen. In den besetzten Gebiete begannen daraufhin jüdische Siedler Dörfer und Städte auf palästinensischem Boden zu errichten, ein Vorgehen, das vom UN-Sicherheitsrat, dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und sogar vom höchsten israelischen Gericht für illegal erklärt wurde. Fatah-Chef Jassir Arafat erkannte, dass die Palästinenser nicht mehr auf viel Unterstützung durch die umliegenden (und zerstrittenen) arabischen Monarchien und Regimes zählen konnte, erklärte die PLO-Charta von 1964, in der zur Zerstörung des Staates Israel aufgerufen wurde, für obsolet und schrieb 1989 in einem historischen Brief an Ministerpräsident Jitzchak Rabin: „Die PLO erkennt das Recht des Staates Israel auf Existenz in Frieden und Sicherheit an.“ Sie werde „auf Terror und jede andere Art der Gewalt“ verzichten. Nach dem Palästinenser sprang auch Rabin über seinen durch die Wunden der Vergangenheit vertieften Schatten und erkannte „die PLO als die Vertretung des palästinensischen Volkes“ an. Der Weg in eine friedliche Koexistenz schien geebnet, es folgten einige wenige Jahre der Hoffnung. Die Zweistaatenlösung schien plötzlich in greifbarer Nähe. Obwohl fundamentalistische Palästinensergruppen wie die Hamas und der Islamische Jihad sowie die fanatischen israelischen Siedler, die um das okkupierte Land fürchteten, die Einigung mit allen Mitteln bekämpften, gab es kontinuierliche Fortschritte: Arafat kehrte in seine Heimat zurück und gründete die Palästinensische Autonomiebehörde in Gaza, 1994 wurde ihm gemeinsam mit Rabin und dessen Außenminister Peres der Friedensnobelpreis verliehen. Am 28. September unterzeichnete Rabin zusammen mit dem PLO-Führer und den Regierungschefs der USA, Ägyptens und Jordaniens das zweite Osloer Abkommen, das u. a. die palästinensische Autonomie auf das Westjordanland ausdehnte. Nur sechs Tage später wird der israelische Ministerpräsident nach der größten Friedenskundgebung, die das Land jemals erlebt hat, von dem rechtsradikalen orthodoxen Juden Jigal Amir erschossen. Als geistiger Brandstifter in jenen Tagen gilt bis heute vielen Israelis der aktuelle Regierungschef Netanjahu. In ihrer Biografie erinnert sich Rabins Witwe Leah: „Jitzchak und ich bekamen diese Schmähungen, diese Vergleiche mit faschistischen Unmenschen immer häufiger zu hören, je mehr der Friedensprozess an Dynamik gewann. Auf einer Demonstration in Jerusalem einen Monat zuvor hielt Benjamin Netanjahu am Zionsplatz eine Rede, während irgendjemand ganz in seiner Nähe ein Bild, das Jitzchak in Naziuniform zeigte, vor einer laufenden Fernsehkamera hin- und herschwenkte.“ Damit endete de facto der Friedensprozess. Keine israelische Regierung danach nahm die Zweistaatenlösung noch ernst. Der Siedlungsbau in den 1967 besetzten Gebieten gedieh, zerschnitt das Westjordanland mittels Enteignungen der ursprünglichen Bewohner, willkürlich gezogenen Sicherheitsgrenzen und Zugangskorridore in unzusammenhängende Parzellen. Mittlerweile besiedeln rund 700.000 Israelis Land, auf das sie weder nach internationalem noch nationalem Recht Anspruch haben. Die Palästinensische Autonomiebehörde verkam nach Arafats Tod zu einer ineffektiven und als korrupt verschrienen Bürokraten-Clique, während die Hamas aufgrund ihrer brutalen Kompromisslosigkeit, die von desillusionierten und fanatisierten Habenichtsen gefeiert wurde, an Macht gewann. Service für die Rechten Vor Arafats Schwenk zum Frieden hin hatten israelische Regierungen die Anfänge der Hamas wohlwollend begleitet, um die PLO zu schwächen. Peter Philipp, der 23 Jahre lang aus Israel für den Deutschlandfunk berichtet hatte, ehe er Chefkorrespondent für die Deutsche Welle wurde, resümierte 2016: „Ironischerweise wurden sie dabei von Israel nicht nur geduldet, sondern auch indirekt unterstützt. Denn Israel sah in den Islamisten damals ein populäres Gegengewicht zur seinerzeit noch auf offenen Kampf gegen Israel eingeschworenen PLO. Eine Einschätzung, die Israel später bitter bereuen sollte.“ Was immer die Hamas mit den Massakern am 7. Oktober perspektivisch bezweckt hat, eines hat sie mit Sicherheit erreicht: Weltweit verschafft sie den Rechten, die sich ohnehin mit ihrer xenophoben Propaganda auf dem Vormarsch befinden, weiteren Aufwind und viel Stoff für krude Scheinargumente. Wie viel Mut ist heute erforderlich, sich in Israel weiter für die Zweistaatenlösung einzusetzen? Welcher amerikanische Politiker könnte es sich in der jetzigen Situation noch leisten, die völkerrechtswidrige Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch Trump zu kritisieren (außer vielleicht Bernie Sanders, der sich als Antisemit diffamieren lassen muss, obwohl er mehrere Angehörige im Holocaust verloren hat)? Welchen Shitstorm würde ein EU-Parlamentarier ernten, der im Augenblick eine faire Behandlung islamischer Asylbewerber aufs Tapet bringen würde? Wieder einmal stehen deutsche Verantwortliche mit an der Spitze der Bewegung. In geradezu 150-prozentiger Pflichterfüllung halten Regierung und Union ihre Erklärungen frei von friedensbewegten Äußerungen und schießen sich auf alle ein, die zwar nicht am Recht Israels auf einen Militärschlag gegen die Hamas, aber an der Sinnhaftigkeit des Vorgehens gegen eine hilflose Bevölkerung leise Zweifel anmelden. Der Hinweis, man solle auch die Vorgeschichte des Konflikts berücksichtigen (nicht zur Entschuldigung des Terrors, sondern zum Verstehen seiner Genese), trägt unweigerlich den Vorwurf des Antisemitismus ein. Auf der Strecke bleibt jegliche Differenzierung. Die 1400 von der Hamas Ermordeten beherrschen zurecht die TV-Nachrichten und Presse-Schlagzeilen; warum aber werden die zumeist zivilen Menschenverluste der israelischen Luftschläge im Gazastreifen (vermutlich ein Vielfaches der Hamas-Opfer) nur so selten und dann ziemlich verschämt erwähnt? Dass Juden in Deutschland sich wieder unsicher fühlen müssen, ist eine Schande. Doch es greift zu kurz, alle Übergriffe Islamisten oder arabischen Israel-Hassern anzulasten. Der Antisemitismus ist in großen Teilen des deutschen Rechtsextremismus noch immer virulent. Und dass manche AfD-Anhänger oder Reichsbürger, die ansonsten in ihren Zirkeln über globale Verschwörungen jüdischer Milliardäre unken und den Holocaust leugnen oder zumindest bagatellisieren, derzeit die Effektivität der israelischen Armee bewundern, ist ein vorübergehendes Phänomen: Auf der Hitliste der Fremdenfeindlichkeit stehen eben seit einiger Zeit Moslems und Dunkelhäutige ganz oben. In einschlägigen Milieus erinnern Kommentare zum massenhaften Sterben in Gaza fast an Statements zur „Vernichtung unwerten Lebens“ in fürchterlichen Jahren. Wenn der Krieg vorbei ist, werden sich die gar nicht so raren Rechtsextremisten auch wieder dem alltäglichen Judenhass zuwenden. Nahe an Denkverboten Regelrecht furchterregend ist die verbindliche Übertragung offizieller Deutung der Geschehnisse in Israel und dem Gazastreifen auf den Kulturbereich, seine Verantwortlichen und sein Publikum: Bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse verurteilte der recht eigenwillige, aber stets originelle slowenische Philosoph Slavoj Žižek in seiner Rede den Terror der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung scharf. Als er aber anfügte, man müsse auch den Palästinensern zuhören und deren Hintergrund beachten, wenn man den Konflikt verstehen wolle, verließen etliche Zuhörer aus dem Kulturestablishment den Saal. Zwei Tage später hätte die palästinensische Autorin Adania Shibli auf der Buchmesse für ihren Roman „Eine Nebensache“ mit dem Liberaturpreis des Vereins Litprom ausgezeichnet werden sollen. In dem Buch, das immerhin auch für den Booker Price, die wichtigste literarische Trophäe in der anglophonen Welt außerhalb der USA, nominiert war, wird die Vergewaltigung einer Palästinenserin durch israelische Soldaten, die tatsächlich stattgefunden hat, beschrieben. Aus Pietät, Rücksicht auf Gefühle der Regierung in Jerusalem oder vorauseilendem Gehorsam den deutschen Autoritäten gegenüber wurde die Ehrung für einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Im Einvernehmen mit der Schriftstellerin, hieß es – was eine glatte Lüge war. Wer die israelische Literatur liebt, wird oft auf Schilderungen von Unrecht, das Palästinensern angetan wurde, stoßen. Ob Amos Oz in „Ein Lied von Liebe und Tod“ von den Massakern israelischer Milizen an islamischen Dorfbewohnern im Kriegsjahr 1948 schreibt, in Jehoshua Kenaz' Roman "Nach den Feiertagen" die Vergewaltigung einer palästinensischen Hirtin durch den jüdischen Aufseher thematisiert wird oder David Grossmann schildert, wie sehr sich arabische Israelis häufig als rechtlose Bürger zweiter Klasse fühlen müssen („Eine Frau flieht vor einer Nachricht“). Der englisch-jüdische Schriftsteller Arthur Koestler, Kibbuz-Aktivist der ersten Stunde, erwähnt blutige Racheakte der Zionisten an Unschuldigen und das Faible etlicher Pioniere für den Faschismus italienischer Spielart („Diebe in der Nacht“). Wären die Auftritte dieser Autoren von Weltruf in Frankfurt auch verschoben worden? In einem offenen Brief haben mehr als 350 bekannte AutorInnen aus aller Welt, darunter drei Literatur-NobelpreisträgerInnen, den Veranstaltern der Frankfurter Messe vorgeworfen, die Stimmen der Palästinenser totzuschweigen. Auch Ehrengast Salman Rushdie äußerte Unverständnis für die Absage. Der Berliner Journalist Hanno Hauenstein kritisierte in einem Artikel für den britischen Guardian, dass in Deutschland „Palästinenser, Künstler und Kuratoren aus dem sogenannten globalen Süden und linke Israelis wegen ihrer als unbequem empfundenen Sichtweise auf israelische Politik regelmäßig gerügt oder ausgeladen werden“. So habe die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken sogar ein Treffen mit dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders wegen seiner Haltung zum derzeitigen Krieg im Gazastreifen abgesagt. Wenn die Suche nach einem Erklärungsansatz, differenzierte historische Einschätzungen, alternative Lösungsansätze kategorisch verpönt sind, weil sich die politische Elite bedingungslos hinter eine Partei stellt und dieser jegliche Handlungsfreiheit ohne Rücksicht auf Verluste zubilligt, zieht ein Hauch von Selbstzensur durchs Land. Oder riecht es schon nach Denkverboten? Dass es bei den unbotmäßigen Analysen nicht um die Relativierung der Hamas-Verbrechen geht, sondern um Ursachenforschung und Entwicklung neuer Friedensperspektiven, auch wenn diese noch so weit entfernt scheinen, wird einfach negiert. Auf der linken Plattform ak (analyse und kritik) hat Hanno Hauenstein, der sich oft in Israel aufhält, fließend Hebräisch spricht und als Interviewpartner für dortige TV-Nachrichtenkanäle fungiert, einen Essay mit dem Titel „Am Abgrund“ veröffentlicht, der seine Trauer, aber auch die Entschlossenheit, eine Friedensperspektive zu entwickeln, widerspiegelt. Er ordnet die Massaker der Hamas klar ein: „Was außer Zweifel steht: Das Massaker, das Hamas letzten Samstag verübte, ist ein schwer in Worte zu fassendes Kriegsverbrechen. Die Ermordung von Zivilisten*innen, die Tötung und Entführung von Neugeborenen und Kindern, die psychische Folter ganzer Freundeskreise und Familien, die nicht wissen, ob Seelenverwandte oder Angehörige tot sind, wird über Jahrzehnte nachwirken und tiefe Spuren hinterlassen. Schmerz wird zu Trauma wird zu Angst werden – zumal unter dem Einfluss weltweit anwachsender rechter Demagogie, die das Trauma schon jetzt für eine Politik der Abschottung und bedingungslosen Militarismus instrumentalisiert. Diese Angst nicht zu Hass werden zu lassen und bestehende, fragile Bündnisse nicht an ihr zerbrechen zu lassen, ist eine vorhersehbare Herausforderung, die linke Gruppen und ganze Gesellschaften auf die Probe stellen wird. Dieser Herausforderung gebührt Solidarität.“ Hauenstein, der seit dem 7. Oktober mit jüdischen Friedensaktivisten und auch Angehörigen von Hamas-Opfern in ständigem Kontakt steht, charakterisiert den jede dialektische Betrachtungsweise ignorierenden reaktionären Deutungsanspruch der Regierung in Jerusalem (und hierzulande) dezidiert: „Die Versuche der israelischen Rechten, den historischen und politischen Kontext des Massakers im Süden Israels auszuklammern – Versuche, die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihrer politischen Repräsentation in diesen Tagen weitgehend unkritisch übernommen werden –, wirken bizarr reduktionistisch. Kontext ist nicht gleich Rechtfertigung. Kontext ist nicht gleich Verharmlosung. Kontext ist die Grundlage jeder ernstzunehmenden moralisch-politischen Bewertung.“ Während die Zahl der Opfer im Gazastreifen inzwischen in den fünfstelligen Bereich klettert, muss man sich mittlerweile rechtfertigen, wenn man die Wörter „Feuerpause“ oder „Waffenstillstand“ in den Mund nimmt. Was wird uns in einigen Jahrzehnten die nächste Generation fragen, wenn es plötzlich 50.000 oder 100.000 Tote sind (in der Mehrheit Zivilisten)? Etwa, konntet ihr nichts dagegen tun? Eine dürftige Antwort wäre: Nein, wir mussten uns damals gegen den Vorwurf des Antisemitismus zur Wehr setzen. Eine befriedigende Lösung dieses mörderischen Konflikts ist im Augenblick nicht in Sicht. Die Hamas kann wegen ihres Judenhasses und ihrer exzessiven Brutalität als Verhandlungspart nicht mehr in Frage kommen, so sie denn überhaupt den Krieg physisch übersteht. Die Autonomiebehörde der Fatah wurde durch den illegalen Siedlungsbau nachhaltig geschwächt, wäre aber dennoch der legitime Ansprechpartner. Auf der anderen Seite aber steht ein rechtsradikales Kabinett in Jerusalem mit stattlicher Vorstrafenliste und archaischen Rachevorstellungen, wie unsägliche Äußerungen der Mitglieder belegen. Vielleicht bleibt uns derzeit als einzige Möglichkeit, die Israelis, die sich weiter gegen den Abbau demokratischer Rechte durch Netanjahu & Co und für eine friedliche Koexistenz engagieren, zu unterstützen. Dazu müssen wir die eigene Position klar definieren. Dazu nochmals Hauenstein: „Die Linke muss Widerstand leisten gegen Antisemitismus im Namen des antikolonialen Kampfes genauso wie gegen Rassismus im Namen der sogenannten Israelsolidarität.“ Dies wäre ein Statement gegen die permanente Diffamierung der Nachdenklichen in Deutschland, aber auch gegen die Beschimpfung von Oppositionellen als „Nestbeschmutzer“ in Israel. 11/2023 Dazu auch: Kritik erlaubt? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2023) Amnesty am Pranger im Archiv der Rubrik Medien (2022) |
| |||