Wer straft Exxon?
Cartoon: Rainer Hachfeld
Immer wenn bedrohliche Prognosen zur Erderwärmung und zum Treibhauseffekt durch fossile Emissionen die Runde machten, wiegelten die Öl- und Gaskonzerne als maßgebliche Verursacher souverän ab. Vor allem ExxonMobil, der wohl mächtigste Energie-Dinosaurier, ließ alarmierende Klimaberechnungen durch eigene Sprecher als krude Horrorvision abtun. Vertraut der Konzern nur ihm gewogenen Fachleuten oder er hat wirklich keine Ahnung von den fatalen Folgen seines Tuns, wurde allerorten gerätselt. Nun kam heraus, dass der Konzern durch eigene Forscher all die Jahre genau darüber informiert war und die Öffentlichkeit permanent belog. Sehenden Auges beförderte er die Welt weiter in Richtung Katastrophe, und nun ist es fraglich, ob er irgendwelche Konsequenzen zu befürchten hat.
Auch die Wissenschaft dient
Globale Bedrohung durch die Erderwärmung? Nicht, wenn man den öffentlichen Verlautbarungen von ExxonMobil (EM), einem der weltweit größten Unternehmen, Glauben schenkte. Der Energiekonzern führte über Jahrzehnte hinweg einen regelrechten Propagandakrieg gegen die Klimaforscher, deren überwältigende Mehrheit wachsende Gefahren durch abschmelzende Polkappen und steigende Meeresspiegel, verursacht durch Treibhausgasemissionen, prognostizierte. Dabei wusste die EM-Führungsriege längst, dass die beunruhigenden Berechnungen korrekt waren, die eigenen Wissenschaftler kamen nämlich zu ähnlichen Ergebnissen. Der Ölkonzern täuschte also systematisch seine Kunden und Aktionäre, um ungestört weitere fossile Ressourcen erschließen zu können.
Die Nachrichtenagentur Reuters und die harscher Kapitalismuskritik unverdächtige Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zitieren aus der im renommierten Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichten Studie eines Forschertrios, die u. a. den Informationsstand von EM zum Sujet und den Umgang damit zum Thema hat: Geoffrey Supran und Naomi Oreskes von der Harvard-Universität sowie Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung haben zwölf Dokumente mit sechzehn Klimavorhersagen aus den Jahren 1977 bis 2003 untersucht, die der Konzern intern hatte erstellen lassen.
Immer wieder taucht in solchen Zusammenhängen die Frage auf, wie unabhängig die Wissenschaft sei, wie integer die Interpretation von Daten und Ergebnissen vorgenommen werde. Eine schlüssige Antwort fällt schwer, da die Hintergründe und Intentionen von Erhebungen und Untersuchungen oft nicht bekannt sind. Wenn aber ein Konzern Forscher, die in seinem Sold stehen, damit beauftragt, Klimamodelle durchzurechnen, dann sicherlich mit der Absicht, die ihn belastenden Aussagen anderer Wissenschaftler zu widerlegen. Es ist ein Unterschied, ob unterbelichtete AfD-Hanseln in Trump-Gefolgschaft die Erderwärmung aus purer Engstirnigkeit leugnen, oder ob die Chefs eines Öl-Multis dies tun, um künftige Geschäfte zu legitimieren.
Die Wissenschaft dient also – im Glücksfall der Menschheit, weit häufiger jedoch den Marktmächten. In unserem Fall allerdings leisteten die von EM beauftragten Experten ihrem Brotgeber einen Bärendienst: Sie arbeiteten zu genau, lagen mit ihren Prognosen im Mittel zu 75 Prozent richtig und sagten völlig korrekt eine Erwärmung der Erdatmosphäre um 0,2 Grad Celsius pro Jahrzehnt voraus. So kamen sie zu ähnlichen Ergebnissen wie die autarken Fachinstitute, denen sie eigentlich Fehleinschätzungen nachweisen sollten.
Eigene Verbrechen analysiert
Trickserei, Täuschung und Übervorteilung im Kunden- und Medienverkehr gelten als gängige Kavaliersdelikte der „freien“ Marktwirtschaft (vergl. die Praktiken von Pharma-, Auto- oder Lebensmittelkonzernen), viel schwerer wiegt jedoch die Anschuldigung, die Perspektiven der Erdbevölkerung für den kurzfristigen Profit aufs Spiel zu setzen. Besonders peinlich für EM ist dabei, dass der Versuch, sich vom Verdacht der universalen Umweltzerstörung reinzuwaschen, in eine lückenlose Analyse der eigenen Verantwortlichkeit für das Desaster mündete.
Natürlich blieb der Konzern bei seiner Strategie der Desinformation, negierte die Erkenntnisse seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter und fährt bis heute damit fort, die Erde durch verstärkte Förderung fossiler Brennstoffe und Ausbeutung neu entdeckter Vorkommen (vorzugsweise in Naturschutzgebieten) unbewohnbarer zu machen. Dummerweise widerlegten seine Forscher auch das EM-Schutzargument, eine neue Eiszeit stehe unmittelbar bevor. Stattdessen prognostizierten sie, dass ein „Super-Interglazial“, eine durch die weltweiten CO2-Emissionen ausgelöste Warmzeit mit ungewöhnlich hohen Temperaturen, zu erwarten sei.
Nein, lieber Dino! Brütend heiß wird's, nicht eiskalt. Du gehst in die Irre, aber ich fürchte, wir müssen alle mit.
Selbstredend bleibt EM bis heute bei seiner „alternativen Wahrheit“ und profiliert sich als Umweltfake-Produzent ersten Ranges, richtet sich das Augenmerk des Managements doch auf die Quartalsberichte für die sowie die Erfolgsmeldungen von der Börse und nicht auf ein fernes (nicht kurzfristig zu kapitalisierendes) Überleben der Menschheit. Die NZZ zitiert in diesem Zusammenhang Nadine Strauß vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Uni Zürich, die den „Fall ExxonMobil“ als „Paradebeispiel“ sieht, und zwar für die Tatsache, dass sich die größten Emittenten unserer Welt ihrer Verantwortung in der Klimakrise entzögen – und das schon seit Jahren.
Seit etlichen Dekaden, möchte man hinzufügen, und dies auch noch in Dekaden tun werden – wenn man sie denn lässt.
Zur Verantwortung ziehen! Aber wie und wo?
Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (SZ) hat sich der Kulturjournalist und Schriftsteller Felix Stephan mit dem Mega-Skandal beschäftigt, vor allem aber mit der Frage, wie ein so offenkundiges Vergehen gegen die Bevölkerung und die künftigen Generationen geahndet werden könnte. Er erinnert an die Kriegsverbrecherprozesse nach 1945, die den Anfang der Strafverfolgung staatlicher Verbrechen und einer in supranationalen Gerichtshöfen angesiedelten internationale Rechtsprechung markierten. Nun ist dem Autor aber zumindest ansatzweise bewusst, dass im Fall von Öko-Verbrechen der Nachweis der Täterschaft, das Ausmaß von Umweltschäden, die sich erst noch in ihrer Zerstörungskraft zeigen werden, das Strafmaß und die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten kaum im internationalen Konsens definiert werden können, wenn es sich um global agierende Konzerne handelt.
Tatsächlich stellt die Industrie lediglich das Equipment zur Verfügung, betätigt aber nicht selbst den Auslöser. Schließlich sprüht kein Bayer-Angestellter das giftige Glyphosat auf die Felder, und die SUVs, die bei 200 Stundenkilometern neue Emissionsrekorde aufstellen, werden in der Regel von ignoranten und prestigesüchtigen Lindner-Avataren gesteuert, nicht von Porsche- oder Mercedes-Chefingenieuren. Noch dazu ist es vielen Durchschnittsbürgern aus finanziellen Gründen, vielleicht auch aufgrund des Mangels an Alternativen, kaum möglich, im Alltag auf umweltverträgliche Produkte auszuweichen, sie versündigen sich also ebenfalls an der Zukunft, wenn sie Fleisch aus Massentierhaltung kaufen oder wenn in ihrer näheren Umgebung nur Gemüse und Obst aus fernen Weltgegenden oder den Monokulturen von Lebensmittelgiganten für sie erschwinglich sind.
„Um aber zur Verantwortung gezogen werden zu können, muss man zumindest die Möglichkeit gehabt haben, sich anders zu verhalten“, schreibt Felix Stephan in der SZ. Davon abgesehen, dass den Produzenten heikler Ware ohnehin stets eine besondere Schuld an den negativen Entwicklungen trifft (ohne Rüstungsindustrie gäbe es weniger Opfer, ohne Heroinlabors der Mafia weniger Süchtige), liegt im Falle EM ein besonders klarer Schuldbeweis wegen Zerstörung von Lebensgrundlagen vor: Wenn ein Konzern, der von seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern schon 1977 informiert wird, dass seine Geschäfte die „potenziell katastrophalen Folgen“ des menschengemachten Klimawandels nach sich zögen und diese um das Jahr 2000 auch mess- und spürbar würden, muss er seine Strategien ändern. Tut er das nicht und lässt seine Propagandisten wider besseres Wissen noch 2004 verbreiten, dass die Rolle des Menschen „wissenschaftlich ungewiss“ sei, handelt er nicht fahrlässig, auch nicht grob fahrlässig, sondern vorsätzlich und kriminell.
Folglich müsste EM zur Rechenschaft gezogen werden, doch die internationale Justiz ist auch schon beim Versuch, staatlich in Auftrag gegebene Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen, weitgehend gescheitert. Zwar wurden ein paar afrikanische Warlords und Militärs des gescheiterten Jugoslawien abgeurteilt, aber die Massaker in Vietnam, im Irak, in Libyen, Lateinamerika oder auch im mehrfach besetzten Afghanistan blieben in Den Haag ungesühnt, weil die Großmächte die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs dort für ihre Delikte einfach nicht anerkennen. Wer sollte nun erst die ökonomischen Global Players an den Pranger stellen und ihnen das Handwerk legen? Und wo soll gegen sie verhandelt werden?
Seltsamerweise ist es manchmal die nationale Justiz, das Provinzgericht sozusagen, die den großen Umweltzerstörern oder der eigenen Regierung Einhalt gebietet und bei Zuwiderhandlung empfindliche Strafen auferlegt. So erst unlängst geschehen, in Mexiko, Kanada, Frankreich und den Niederlanden. In Deutschland wirkt die Justiz bei der Verfolgung von hochrangig verantworteten Versäumnissen allerdings ziemlich zahnlos: Als der bayerische Verwaltungsgerichtshof 2017 die Landesregierung dazu verpflichtete, Diesel-Fahrverbote in vom Smog besonders belasteten Stadtvierteln zu konzipieren, ignorierte diese das Dekret schlichtweg, vielleicht weil es sie bei der Ausübung ihrer Autolobby-Funktion störte. Und als Söder & Co dann nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe zu 4000 Euro Zwangsgeld verurteilt wurden, weil sie der Anordnung des Gerichtshofs nicht nachkamen, dann zahlten sie die paar Kröten aus der Portokasse. Wo Umweltdelikte wie Lappalien behandelt werden (und dies ist hierzulande häufig der Fall), verliert die Rechtsprechung jegliche korrigierende Wirkung.
Sollte aber EM vor den US-Gerichten einige der bereits wegen Umweltverschmutzung angestrengten Prozesse gegen bissige Star-Anwälte verlieren und zu Entschädigungen in Milliardenhöhe verurteilt werden (wie es etwa dem Exxon-Konkurrenten Shell nach der Ölpest im Golf von Mexiko widerfuhr), wird der Konzern vermutlich erst einmal auf seine (für diesen Fall weitsichtig) gebildeten Rückstellungen für Schadenersatzforderungen zurückgreifen und anschließend die finanziellen Einbußen per Erhöhung der Produktpreise an die Kunden weiterleiten. Der Markt regelt schließlich alles…
01/2023
Dazu auch:
Verbieten verboten im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2020)