| Wunsch wird Vater Cartoon: Rainer Hachfeld Nicht nur das fachliche Wissen potenziert sich in der Welt unablässig, auch die verfügbaren Informationen (oder oft nur Meinungen) vermehren sich exponentiell. Diese Nachrichten zu überprüfen, einzuordnen, zu gewichten und gegebenenfalls zu verbreiten,gehört eigentlich zum Metier der Journalisten. Natürlich kann diese Mega-Aufgabe nie völlig zufriedenstellend bewältigt werden, doch zeigt sich in der gegenwärtigen völlig unübersichtlichen Situation auf diesem Planeten, dass die schreibende und kommentierende Zunft zumindest hierzulande zu schlecht darauf vorbereitet ist, um eine wenigsten halbwegs plausible Berichterstattung zu garantieren. Augen zu und rein in die Propaganda! Dass Journalisten in Krisenzeiten klinisch neutral und unverrückbar objektiv bleiben, ist nicht zu erwarten, schließlich kann sich kein Mensch gegen emotional bedingte Parteinahme absichern, und ohne Engagement sowie Empathie würden Reporter als bloße Nachrichtenticker wahrgenommen. Im Ukraine-Krieg allerdings geht der Gaul der ausufernden Sympathie mit vielen deutschen Korrespondenten und Kommentatoren durch, lässt sie geifern oder phantasieren und schmälert so die Ernsthaftigkeit und nicht selten auch den Wahrheitsgehalt der Artikel. Davon abgesehen, dass in der „Qualitätspresse“ etliche Politik-, Feuilleton- und sogar Sportredakteure über Nacht zu Experten in militärischer Taktik und Strategie, darüber hinaus zu Kennern sämtlicher lieferbaren Rüstungsgüter, vom Schützenpanzer bis zur Haubitze, geworden sind, wird der endgültige Sieg des ukrainischen Volkes über die Invasoren rastlos herbei geschrieben. Als Speerspitze einer zur Kriegspropaganda mutierten Berichterstattung fungieren die t-online-news von Ströer, einer Reklamefirma, die mit der Unterrichtung des Volkes auf der Telekom-Website beauftragt wurde. Keine Chance für Putin, wenn der deutsche Kulturredakteur Ernst macht... Selten vergehen mehr als zwei Tage, ohne dass von der unmittelbar bevorstehenden Niederlage der Russen, vom (sehr) heimlichen Aufstand gegen Putin und von dessen baldigem Ende als Feldherr, Staatschef oder Mensch die Rede ist. Moskau kann einem fast leidtun angesichts der NATO-Wunderwaffen, der permanenten ukrainischen Erfolge und der Unfähigkeit der eigenen Truppen. Wäre ja nichts gegen zu sagen, wenn es denn stimmte. Aber bei Ströer (wie in vielen anderen Publikationen) scheint der Wunsch zum omnipotenten Vater des Gedankens geworden zu sein – und das ist Fiktion, nicht Journalismus. Die russischen Truppen sind trotz aller schönen Hoffnungen immer noch nicht geschlagen, und der wirtschaftliche Kollaps des Putin-Regimes lässt auch auf sich warten. Sollten sich die Medien nicht vielleicht etwas von der Kriegsbegeisterung weg und auf Friedensbemühungen zu bewegen? Aber damit wollen sie sich derzeit nicht beschäftigen, auch wenn sie so die Todsünde der Unterschlagung von Informationen begehen. So wurde der chinesische Zwölf-Punkte-Vorschlag pauschal verworfen – von der Politik und den Medien hierzulande, nicht aber von der ukrainischen Regierung. Deren Außenminister Dmytro Kuleba telefonierte mit seinem Kollegen in Peking und teilte ihm mit, Kiew lehne zwar eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland ab, stimme aber anderen Punkten zu und werde den Plan genau prüfen. Sein Regierungschef Selensky hatte bereits erklärt, an Verhandlungen mit Chinas Staatsoberhaupt Xi interessiert zu sein. Und Präsident Luiz Ignácio Lula, der die Neutralität des einflussreichen Schwellenlandes Brasilien betont und ebenfalls zwischen den Kriegsgegnern vermitteln würde, nannte das Gespräch von Xi mit Putin „eine gute Nachricht“. Es handelt sich zwar nur um zarte Pflänzchen der Friedenshoffnung, um schüchterne Anbahnung von Kontakten, aber alles, was die Zerstörung der Ukraine stoppen könnte, ist medialer Aufmerksamkeit wert. Die deutschen Leser bekommen davon allerdings kaum etwas mit, weil ihre Zeitungen in Kriegsbesoffenheit schwelgen. Die Nachricht hinter der Nachricht Ganz anders geht es oft zu, wenn die Zeitungen der Republik über den ökonomischen und sozialen Status der Bevölkerungsmehrheit im eigenen Land schreiben. Dann verschanzen sie sich hinter nackten Zahlen und verzichten gern auf Interpretation sowie Relativierung. Fakt ist, dass die Altersrenten auch in diesem Jahr steigen werden, so wie sie bereits zum Juli 2022 bereits erhöht wurden. Rund 4,4 Prozent im Westen der Republik, knapp 5,9 im Osten heuer: Das deutet die gut- und großbürgerliche FAZ als „Ordentliches Plus“ für Rentner und Rentnerinnen, während Springers WELT bereits Ende 2022 angekündigt hatte: „Die Rentner in Deutschland können mit mehr Geld im kommenden Jahr rechnen.“ Können sie, nützt ihnen aber nichts. Bereits im vorigen Jahr gab es 5,35 Prozent (Osten: 6,12) mehr Geld aufs Konto, zu gleichen Zeit stiegen aber die Lebenshaltungskosten um 7,9 Prozent, was unter dem Strich weniger Mittel für alle Ruheständler und zunehmende Bedürftigkeit für Millionen von Rentnerhaushalten bedeutete. In diesem Jahr lag die Inflationsrate im Februar bei 8,7 Prozent. Selbst wenn sie in den nächsten Monaten ein wenig zurückgehen sollte, verwandelt sich bei 4,4 Prozent Steigerung auch für 2023 das „ordentliche Plus“ in ein reales Minus. Die extreme Zuspitzung eines solchen Missverhältnisses gab es während der Hyperinflation 1923 in der Weimarer Republik: Plötzlich hatten die Menschen mehr Geld, sogar Banknoten im Wert von Millionen Reichsmark, nur konnten sie sich dafür nichts kaufen. Es sei nicht verschwiegen, dass einige Journalisten die gegenwärtige Krise thematisierten und so die vielerorts irreführenden Schlagzeilen konterkarierten. So warnte etwa der Kölner Stadt-Anzeiger: „Trotz Erhöhung steigt also weiter die Gefahr, im Alter in die Armutsfalle zu geraten.“ Ein Hort der Toleranz? Unsere Welt wird immer bunter, offener und diverser! Gut, vielleicht nicht in Qatar und anderen arabischen Wüsteneien, auch nicht in Russland, China, den meisten afrikanischen Staaten und bei BILD, aber doch bei uns, zumindest in der liberalen Presse. Warmherzig wurde dort das Outing des tschechischen Fußball-Nationspielers Jakub Jankto gefeiert. Er ist weltweit der erste aktiv für sein Land spielende Kicker-Profi, der seine Homosexualität öffentlich gemacht hat. Vor ihm waren nur ein australischer und ein englischer Berufsspieler, jeweils ohne nationale Berufung, so frei; der Deutsche Thomas Hitzlsperger wagte den Schritt erst nach Ende seiner Karriere. Überschwänglich reagierten die Bundesliga-Vereine, sonst eher als knallharte Konzerne der Unterhaltungsindustrie mit teils krawallbereiter Anhängerschaft bekannt, auf das Outing im fernen Prag: „Respekt und Dank“ zollte etwa Borussia Dortmund, der VfB Stuttgart übermittelte „Gratulation und Liebe“, desgleichen Mainz 05, und Eintracht Frankfurt kreuzte gar die Schwelle zum Kitsch („Liebe hat keine Grenzen“). Wenn man den Kolportagen in den deutschen Blättern folgte, konnte man den (männlichen) Profi-Fußball in Deutschland für einen Hort der Toleranz halten. Schade nur, dass in den ersten drei Ligen, also unter knapp 1600 Spielern, die dem Ball berufsmäßig nachjagen, kein einziger Schwuler ist. Jedenfalls hat sich noch keiner gemeldet. Es wäre ein lohnendes Sujet der Recherche für Sportjournalisten, herauszufinden, warum dem so ist. Mögen Homosexuelle keinen Fußball, sind technisch zu schlecht und körperlich zu wenig fit – oder misstrauen sie vielleicht den Toleranz-Bekenntnissen einer als ziemlich skrupellos und reaktionär verschrienen Branche (St. Pauli sei ausgenommen)? Die etwas andere KI Wenn die Bundesregierung ein Gesetz, einen Personalwechsel oder einen neuen Etat ankündigt, wenn der Oppositionsführer dagegen wettert, hat die Presse dies als Faktum zu melden, danach kann sie es überprüfen und kommentieren. Und sie darf den Unsinn, der häufig in öffentlichen Statements abgesondert wird, gewichten und für zu leicht befinden. Versagt ein Minister, hat ein Politiker den Bürgern geschadet oder fraternisiert er allzu deutlich mit den Wirtschaftslenkern (wie die Oligarchen bei uns heißen), sollten die Medien als Vierte Instanz wirken, Änderungen anregen oder anrüchige Vorhaben bloßstellen. Wenn aber Leitartikler die grob fahrlässige Ignoranz des Dreigestirns Lindner, Wissing und Scholz gegenüber der Notwendigkeit, den Klimawandel durch schnelle, radikal durchgreifende Maßnahmen zu bremsen, behandeln, sind vornehme Zurückhaltung und laue Unparteilichkeit fehl am Platz. Wenn betuchte Umweltsünder und schadstoffhaltigen Müll produzierende Betriebe geschont und gefördert, Rennstrecken für SUVs ausgebaut und die Schienennetze dem Verfall preisgegeben werden, wenn die Grundversorgung der Bevölkerung immer konsequenter eingeschränkt wird, sich die Kluft zwischen einer allgemeine Ressourcen verschwendenden Minderheit ganz oben und einem rasch anwachsenden Prekariat unten rapide erweitert, dann müssten die Edelfedern der Republik eigentlich öffentlich die Frage stellen, ob ein System des ungehemmten Marktes und des bedenkenlosen Wachstums die Zukunft aller garantieren kann. Stattdessen liefern die Granden der gehobenen Publizistik meist fein ziselierte Essays über den Zustand der Gesellschaft, in denen man geistreiche Vignetten zum Status quo finden kann, aber keine profunde inhaltliche Auseinandersetzung. Die Sinnhaftigkeit der Politik und die Eignung unserer Wirtschaftsordnung für den globalen Überlebenskampf in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren wird nicht hinterfragt. Die jetzige Konstellation wird als gegeben akzeptiert, der gesellschaftliche Ist-Stand gilt als sakrosankt, allenfalls kosmetische Änderungen sind denkbar, die in eleganten Kommentaren mit spritzigen Sottisen für die Galerie beschrieben werden. Das Sentiment, das viele Journalisten in ihre derzeitige Kriegsbegeisterung investieren, lassen sie vermissen, wenn es um unsere gesellschaftlichen Perspektiven geht. Dann wirken ihre Elaborate so routiniert und substanzlos, als stecke die vielbeschworene KI dahinter. Und irgendwie ist es ja auch so: Was da abgesondert wird, scheint künstlicher Intelligenz zu entstammen – „künstlich“ im Sinn von „unecht“ oder „nachgeahmt“. 04/2023 Dazu auch: Unterbliebene Fragen im Archiv der Rubrik Medien (2022) |
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