Armselige Moralisten
Cartoon: Rainer Hachfeld


Die InnenministerInnen der EU-Staaten haben nach schier endlosem Gezerre einen Kompromiss zum Umgang mit Flüchtlingen vereinbart. Um es vorwegzunehmen: Humaner wird die Behandlung von Asylsuchenden keineswegs, eher schreitet der Ausbau der „Festung Europa“ ohne Rücksicht auf Verluste (menschlichen Lebens) voran. Die zuständige deutsche Ressortleiterin Nancy Faeser nennt die Einigung trotzdem „historisch“. Das ist in gewissem Sinne nicht ganz falsch, erreicht doch die Raffinesse, mit der internationales Recht gebeugt wurde, eine beinahe geschichtliche Dimension.


Gefängnisse am Rande unserer Welt


Für einen faulen Kompromiss hebelten die EU-InnenministerInnen in Luxemburg die völkerrechtlich verbindliche Genfer UN-Konvention von 1951 aus – vorgeblich, um Verfahren zu vereinfachen und Asylsuchende gerechter auf die Länder der Union verteilen zu können; tatsächlich aber, um sie noch effektiver vom Gebiet der EU fernzuhalten.


Die Konvention schreibt vor, dass Menschen als Flüchtlinge anzuerkennen sind, wenn sie in ihrer Heimat wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Da werden doch einige Gründe für erzwungene Emigration angeführt, die von den Behörden der EU-Länder Fall für Fall geprüft werden müssten. Doch stattdessen hat man sich in Luxemburg darauf verständigt, ziemlich willkürlich den Katalog sicherer Herkunftsländer zu erweitern und dadurch eine „Vorauswahl“ zu treffen, welche Ankömmlinge denn überhaupt auf Asyl hoffen können.


Das Bundesamt für Migration führt außerhalb des EU-Bereichs namentlich nur fünf Länder des Balkan sowie Ghana und den Senegal in Afrika als „sichere Herkunftsstaaten“ auf, doch mit einem Trick wurde die Liste nun de facto erweitert: Flüchtlinge aus Ländern mit einer Asyl-Anerkennungsquote von unter 20 Prozent dürfen jetzt auch nicht mehr offiziell in die EU einreisen. Vielmehr werden sie in bewachten Lagern an den Grenzen (also im „Niemandsland“) drei Monate lang interniert und dann meistenteils (nach sicherlich nicht sehr gründlichen) Schnellverfahren abgeschoben. Asylbewerber aus Indien oder der Türkei etwa haben so kaum mehr eine Chance. Die politischen Systeme in ihrer Heimat ähneln schließlich zumindest formal bürgerlichen Demokratien, und ihre Gerichtsbarkeit funktioniert einigermaßen.


Dass in der Türkei kurdische Politiker und NGO-Mitarbeiter nach fadenscheinigen Verleumdungen ins Gefängnis wandern und dass in Kaschmir und in Regionen von indigenen Bevölkerungsgruppen mit Billigung der indischen Justiz gefoltert wird, ficht die Grenzschützer in den EU-Regierungen nicht an.


Offenbarungseid der Grünen?


Da Deutschland keine EU-Außengrenzen und keine für Fluchtrouten relevante Meeresküsten aufzuweisen hat, profitiert es von dieser Regelung. Weniger Menschen werden sich nach München oder Berlin durchschlagen, wo sie dann – ungeachtet ihrer tragischen Vergangenheit oder ihres Integrationswillens – die zweiprozentige Anerkennungschance als Asylberechtigte wahrnehmen können. Nancy Faeser, die klaglos die Ablehnung der deutschen Alibi-Forderung, Familien mit Kindern sollten von der Schnelljustiz ausgenommen werden, durch die Ministermehrheit hinnahm, frohlockt derweil, dass nun die „Grenzen in Europa offen bleiben können“ für einen Reiseverkehr ohne Grenzkontrollen. Problemloser Tourismus scheint in unserem schönen neuen Europa menschliches Elend locker auszustechen.


Der SPD-Führungsspitze ist die Orientierung an Menschenrechtsgrundsätzen schon längst abhanden gekommen, die Grünen, die einst für globale Gerechtigkeit antraten, jetzt aber von bigotten Zeigefinger-Moralisten wie Baerbock und Habeck dirigiert werden, stehen allerdings vor einer Zerreißprobe. Und Amnesty International (AI) streute einen Tag nach der Einigung von Luxemburg Salz in die offene Wunde: „Gestern hat die deutsche Bundesregierung der vollständigen Aushöhlung des europäischen Flüchtlingsschutzes zugestimmt. Was bedeutet, dass zukünftig sogar Kinder an den europäischen Außengrenzen inhaftiert werden können!“ (Hervorhebungen von AI)


Damit nimmt die Menschenrechtsorganisation auch die Grünen als willige Koalitionspartner in die Verantwortung. Und deren Führung ist durchaus gespalten. Während Robert Habeck und Annalena Baerbock bereit sind, alle Zumutungen durch Scholz, die FDP und jetzt durch die reaktionäre EU-Ländermehrheit hinzunehmen und grüne Prinzipien ohne nennenswerten Widerstand im Rekordtempo aufzugeben, nur um weiter mit Herr und Frau Minister angesprochen zu werden, wenden sich die Co-Parteichefin Ricarda Lang und die Co-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge vehement gegen die inhumane „Reform“ des Asylrechts. Die Tandem-Partner der beiden Letztgenannten, Omid Nouripour und Britta Haßelmann, werben wiederum für das Mogelpaket. Widerstand haben dagegen Prominente auf dem Abstellgleis wie Jürgen Trittin und Anton Hofreiter angekündigt.


Am Ende wird es wohl wieder zu einem kleinen Sturm im Wasserglas kommen, der alsbald abebbt, ohne Spuren zu hinterlassen. Denn während die Hoffnung traumatisierter Menschen auf eine Zukunft in Sicherheit zwischen Stacheldrahtzäunen enden wird, haben sich die Grünen längst an das kuschelige Gefühl gewöhnt, noch ein wenig länger an der Macht teilhaben zu dürfen.


Unsägliche Angst vor der AfD


Dass die Abschottungspolitik der Bundesrepublik und der EU latente rassistische Merkmale aufweist, wurde erst letztes Jahr deutlich: Als Millionen Menschen aus der von Putins Truppen überfallenen Ukraine in den Westen flohen, wurden sie in Ländern, die sich sonst weigern, auch nur Hundertschaften von Flüchtlingen aufzunehmen, willkommen geheißen. Man bemühte sich, die Neuankömmlinge angemessen unterzubringen, stellte ihnen sofort Arbeitsgenehmigungen aus und beseitigte, wo immer möglich, die bürokratischen Hemmschwellen.


Davon konnten Millionen von Jemeniten, Sudanesen oder Afghanen, die zur gleichen Zeit einer noch wesentlich bedrohlicheren Situation in ihren Ländern entkommen wollten, nur träumen. Die Gründe für die Ungleichbehandlung? Falsche Heimat, falsche Hautfarbe, falsche Religion…
Bleibt die Frage, warum die Bundesregierung ohne erkennbare Not einer so offenkundig misanthropischen EU-Lösung der Asylrechtsfrage zugestimmt hat. Und es ist wieder Innenministerin Nancy Faeser, die – wohl eher unabsichtlich – den triftigsten Grund ausplappert:


„Dass Europa lange handlungsunfähig wirkte, hat nicht nur der AfD, sondern Rechtspopulisten in vielen Ländern genützt. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir den Rechten mit gemeinsamen europäischen Lösungen Wind aus den Segeln nehmen.“




















Das also ist der schlaue Plan! Um den Ultra-Nationalisten, Neonazis und Ethno-Puristen künftig Wählerstimmen wegzunehmen und das Wasser der völkischen Denkungsart abzugraben, setzen die Regierungen einfach deren Forderungen um. Armes Europa…


06/2023


Dazu auch:


Sichere Herkunft im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2015)