Belagerung von Brüssel
Cartoon: Rainer Hachfeld


Eine wilde Horde wütet gegen die Europäische Union, fordert deren Degradierung zum bloßen Wirtschaftsclub, erwägt sogar den Austritt Deutschlands aus dem Staatenverbund. Seltsamerweise wollen sich diese Berserker nächstes Jahr aber dennoch ins EU-Parlament wählen lassen, wo gut gefüllte Fleischtöpfe und gleichgesinnte Rassisten auf sie warten. Dass dieses schizophrene Verhalten hierzulande mehr und mehr Anhänger bzw. Befürworter an der Urne findet, belegt, dass es der AfD gelungen ist, die politische Auseinandersetzung auf ein inferiores Debattenniveau, geprägt von gärendem Hass und chauvinistischer Hybris, durch die kritischer Intellekt abgewürgt wird, zu drücken.


Reingehen und/oder abschaffen?


Sich Woche für Woche mit der AfD beschäftigen zu müssen, gehört angesichts des unterirdischen geistigen Potentials dieser Partei nicht gerade zu den publizistischen Lieblingsbeschäftigungen. Es ist aber absolut notwendig angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs des extremen Nationalismus und des Versagens des bürgerlichen Lagers, vor allem aber auch in Kenntnis der deutschen Geschichte. Wenn die AfD in den östlichen Teilen der Republik die Meinungsanfragen anführt, obwohl sie sich Pannen und Skandale am laufenden Band leistet, wenn landesweit jeder fünfte Wähler für die Rechtsradikalen votieren will, gewinnt der historische Appell an Aktualität: „Wehret den Anfängen!“


Wie absurd sich die widersprüchlichen Forderungen und Meinungen der Rechtsaußen-Partei zur EU darstellen, wurde auf einer „Europawahlversammlung“ anlässlich des Bundesparteitags der Ultranationalisten in Magdeburg deutlich. Nachdem mittlerweile die Anhänger Höckes und Weidels weitgehend unter sich sind, weil ihre zwar auch stramm rechten, aber noch bürgerliche Formen wahrenden Kontrahenten wie Meuthen oder Pauly desertiert sind, wabern Verschwörungstheorien und fremdenfeindliche Phantasien durch die Hallen. Dass von Alice im Wunderland der restaurativen Euphorie ein „Rückbau der EU-Kompetenzen“ und ein „Europa der Vaterländer“ propagiert wird, gehört noch zur abgestandenen Folklore, dass aber das Märchen vom „Großen Austausch“ der Bevölkerungsgruppen (kinderreiche Muselmanen rein, blonde Arier raus), den die „Eliten“ von Brüssel angeblich planen, sein Publikum findet, zeugt vom fortschreitenden Abbau geistiger Kompetenz im AfD-Spektrum.


Es lässt sich tatsächlich einiges gegen die EU vorbringen, der oft eher ein Europa der Konzerne als eins der Menschen vorzuschweben scheint, die zu lasch gegen Korruption in den eigenen Reihen vorgeht und nun auch noch den Anspruch erhebt, eine globale Militärmacht zu werden. Aber es gibt auch die EU des internationalen Jugend- und Bildungsaustausches, der kulturellen und infrastrukturellen Investitionen in sozial schwachen Regionen des Kontinents (auch in den Glasscherbenvierteln des Ruhrpotts oder des deutschen Ostens) und der friedlichen Begegnung einst verfeindeter Staaten. Dass Brüssel bei wichtigen Vorhaben, etwa der Implementierung strengerer Schadstoffnormen sowie den Verboten von Glyphosat und Verbennermotoren, teilweise oder total scheiterte, hatte es den Berliner Regierungen zu verdanken, die Deutschland als Klassenprimus im Umweltschutz präsentierten, aber tatsächlich als industriehörige Bremser auftraten.


Ganz ausbremsen möchte wiederum die AfD EU-Kommission und Europaparlament. Sie stritt sich nur, ob dies von außerhalb oder doch von den Abgeordnetenstühlen des Hohen Hauses aus geschehen sollte. Viele Parteimitglieder forderten den Dexit (Austritt Deutschlands aus der Union analog dem Brexit), konnten sich aber nicht durchsetzen. Vor allem Alice Weidel focht für den Verbleib, denn in Brüssel kommt die AfD an Ausschusssitze, Posten sowie Gelder, und sie kann zusammen mit anderen rechtsradikalen Parteien jedes humanitäre oder klimaschützende Vorhaben torpedieren. Bereits jetzt bilden die deutschen Extremisten eine Fraktionsgemeinschaft mit der österreichischen FPÖ, der italienischen Lega und Marie le Pens Rassemblement  National. Nun wollen sie der europäischen Xenophoben-Partei Identität und Demokratie beitreten.


Erst die Köpfe, dann die Inhalte


Dafür, dass sie aus tiefster Überzeugung Europa ablehnen, wollten erstaunlich viele AfD-Delegierte auf dem Parteitag das Ticket für 2024 nach Europa. Mehr als hundert bewarben sich für die Kandidatenliste der Wahlen zum EU-Parlament. Ein Kuriosum stellt dabei die Prioritätensetzung der Rechtspopulisten dar: Bevor überhaupt über das Wahlprogramm debattiert wurde, wählte man bereits die Bewerber um einen Sitz in Brüssel. Wollte man sicher gehen, dass sich die skurrile Riege der Kandidaten nicht durch Unkenntnis der eigenen Schwerpunkte lächerlich machen konnte? Oder ließ man so  durchblicken, dass der AfD Inhalte und Projekte ziemlich egal sind, solange nur der brachiale Ton stimmt und man gemeinsam mit den Kumpels aus anderen Ländern die Arbeit des EU-Parlaments möglichst effektiv behindert.


Und tatsächlich schicken sich in etlichen Staaten des Kontinents Parteien an, unter dem Ruf „Festung Europa“ ihre Truppen nach Brüssel zu entsenden, um den Belagerungsring um die Mehrheitsfraktionen dort enger zu ziehen, auf dass diese ihre todbringende Flüchtlingspolitik noch weiter verschärfen. Ob in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien oder Skandinavien – allerorten sind die Propagandisten eines rein weißen Europas der Vaterländer auf dem Vormarsch. Und als Verbündete bieten sich auch noch die Regierungsparteien Polens und Ungarns an.


Keine sinnfreie Metapher und kein schiefer Vergleich sind den Rechtsradikalen zu abwegig, um Angst und Ressentiments zu schüren. Ein besonders putziges Beispiel für wirre AfD-Phantasien lieferte die erneut kandidierende EU-Abgeordnete Christine Andersson, als sie forderte, den Jahrestag der Schlacht am Kahlenberg von 1683 zum europäischen Gedenktag zu machen. Damals wurden die türkischen Truppen vor Wien entscheidend geschlagen. Die Identität der Völker des Kontinents sei heute ähnlich bedroht, argumentierte die arische Historieninterpretin und vergaß dabei, noch ein paar weitere  Jubiläen, die an die entscheidenden Niederlagen Hitler-Deutschlands erinnern würden, vorzuschlagen. Schließlich war die NS-Bedrohung für ganz Europa wesentlich gravierender gewesen als die durch den osmanischen Feldzug.


Personal des Grauens


Was das Gerangel um die vorderen Listenplätze anging, zeigte sich, dass  ohne das Plazet des Thüringer Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke (den man als Nazi bezeichnen darf, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen) nichts ging. Sowohl der letztendlich erneut zum Spitzenkandidaten gewählte Maximilian Krah als auch dessen potentieller Konkurrent René Aust genießen das Wohlwollen des ungekrönten AfD-Führers.

















Herr Krah weist den Weg zu den Fleischtöpfen: Diese Versager im EU-Parlament lutschen wir doch zum völkischen Frühstück!


Dabei ist Krah auch in der eigenen Partei und in der rechten EU-Fraktion Identität und Demokratie nicht unumstritten. Kritiker werfen ihm vor,  Vergabeverfahren manipuliert zu haben. Von seiner Fraktion wurde er deshalb zweimal suspendiert. Seine Nähe zu dem extremistischen Publizisten Götz Kubitschek, Chef des völkischen Antaios Verlags und Vertrauter von Björn Höcke, wird mit Sorge gesehen, bietet sie den Medien und politischen Gegnern doch ein veritables Angriffsziel.


Aber man findet in der AfD ohnehin kaum unbelastete, integer scheinende Repräsentanten. Also lautet die Devise der Partei auch vor den EU-Wahlen: Augen zu und durch zu den Sitzen und Pfründen von Brüssel! Armes Europa…


08/2023


Dazu auch:


Bräunliches Europa im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)


Verblödungstheorien im Archiv der Rubrik Medien (2019)