Braune Zeitenwende?
Cartoon: Rainer Hachfeld


„Wir erleben eine Zeitenwende.“ Das hatte Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verkündet. Gut anderthalb Jahre später drängt sich angesichts der Wahlergebnisse von Hessen und Bayern der Eindruck auf, dass tatsächlich etwas zu Ende gegangen ist und in Politik wie Gesellschaft eine neue düstere Ära begonnen hat. Der Ampelkoalition mag diese Entwicklung als blaues Wunder erscheinen, bei näherem Hinsehen jedoch entpuppt sich der Wandel als braune Restauration.


AfD auf der Zunge


Dass die beiden Landtagswahlen vom vergangenen Wochenende für die Ampelregierung so katastrophal ausgingen, hat sich Wende-Visionär Scholz zu einem Gutteil selbst zuzuschreiben. Gemeinsam mit Wirtschaftsminister Lindner blockierte er die guten Ansätze der grünen Klimapolitik, ließ indes ein mit guter Absicht, aber weltfremd konzipiertes und dann auch noch verstümmeltes Heizungsgesetz passieren. Zudem offenbarte er, zum Hamburger Cum-Ex-Skandal befragt, merkwürdige Gedächtnislücken und verstrickte sich in widersprüchliche Aussagen.


Vor allem aber gestattete er seinen MinisterInnen, sich bei der Migrationsproblematik sowohl verbal als auch in der Sache mehr und mehr den Positionen der AfD anzunähern. Für die Chefin des Innenressorts, Nancy Faeser und ihre FDP-Kabinettskollegen war die global verbindliche Genfer Konvention bald nur noch Makulatur, korrupte Autokratien wurden zu „sicheren Herkunftsländern“ ernannt, und die gesamte Regierung schwelgte in Abschiebungs- und Rückführungsphantasien, denen lediglich die Grünen ein paar kosmetische Trostpflästerchen verpassten.


Doch es kam, wie es kommen musste: Die AfD konnte auf ihre Meinungsführerschaft in Sachen Inhumanität und Xenophobie pochen, und die Werte für die Plagiatoren aus der Ampel-Koalition fielen bei den Landtagswahlen ins Bodenlose. So ist es nicht verwunderlich, dass die SPD in Hessen von allen Parteien die meisten Wähler an die Rechtsextremen verlor. Da hätten die Genossen sich zumindest teilweise an der Union orientieren können, die sich ein wenig geschickter (weil noch perfider) anstellten.


Fake sells


Nicht erst seit dem Boom der sozialen Medien im Internet weiß man, dass sich mit Enthüllungsgeschichten über Asylsuchende, Unterhaltsempfänger oder andere aus der Norm Fallende – seien die Inhalte nun wahr oder frei erfunden – trefflich Massenempörung generieren lässt; schließlich hat BILD über etliche Jahrzehnte damit Milliarden verdient. Also wagte sich auch Friedrich Merz ins Reich der asozialen Mythen und schuf den Asylanten, der sich beim Zahnarzt das Gebiss fürstlich restaurieren lässt, während der arme Volksdeutsche keinen Termin bekommt. Mochten Ärzteschaft und Gesundheitsbehörden noch so heftig dementieren, die tolle Story war in der Welt und fand ihre Liebhaber.


Die AfD hat so schon oft den Hass auf Ausländer geschürt und dabei auch mal auf Fake News von Russia Today zurückgegriffen. Doch schon vor ihr ist ein findiger Christunionist auf solche süffigen Horror-Märchen verfallen: Peter Gauweiler pflegte gern nach unten tretende Spießer mit der Mär von der schwarzen Flüchtlingsfrau, die sich ihre Dreadlocks auf Kosten des Sozialamts flechten lässt, zu schocken. Dass alle zuständigen Stellen von völligem Unsinn sprachen, vermochte den Erfolg des Erzählers nicht zu mindern.


Zwar konnte die Union auf diese Weise ein paar Ultra-Rechte bei der Stange halten, aber auch hier gilt: Nur wer sich von ganzem Herzen der Fremdenfeindlichkeit verschreibt, und zwar mit dem Herzen auf dem rechten Fleck und nicht nur mit der Zunge, kann in immer weiter werdenden Bevölkerungskreisen ordentlich punkten. Folgerichtig wurde die AfD in Hessen zweitstärkste Partei und übernahm die Oppositionsführung im Landtag, während Nancy Faeser vergeblich die überschaubaren Reste ihrer Anhängerschaft um sich zu scharen suchte.


In Bayern gab es trotz zackigen Rechtsschwenks von Markus Söder und trotz der Unfähigkeit der Herausforderer, seine zahllosen Pannen und erratischen Richtungsänderungen (Stammstrecke 2, wirres Corona-Management, gebrochene Versprechungen beim Wohnungsbau, Versagen bei Stromtrassen und Windkraft etc.) publik zu machen, einen Dämpfer, das zweitschlechteste Wahlergebnis der CSU seit 70 Jahren nämlich. Dass die AfD knapp nur drittstärkste Kraft im Freistaat wurde, hat sie einem Kontrahenten zu verdanken, dessen Bauernschläue und Wortradikalität offenbar lange unterschätzt worden waren.


Spätestens mit seiner Wutrede von Erding hatte sich Hubert Aiwanger von den Freien Wählern (FW) unauslöschlich ins Herz nationalistischer Querulanten getobt. Markus Söder war auf derselben Veranstaltung bei seiner Hetztirade gegen die Ampel, nur zweiter Sieger geworden. Als Aiwanger wegen früherer Nazi-Sympathien scheinbar in eine Affäre geriet, ging er aus dem Medienwirbel gestärkt hervor. Offenbar goutierten es die Anhänger, dass der junge Hubsi nie zum Joint gegriffen und einen Hang zum Humanismus oder Pazifismus gezeigt, sondern sich der braunen Traditionspflege mit bemerkenswertem Humor  gewidmet hatte. Zum Dank machten die Wähler seine FW nun zur Nummer 2 in Bayern. Die AfD lässt sich punktuell also doch noch rechts überholen.


Hoffnung auf die nächste Generation?


In Hessen gab jeder fünfte Wähler der AfD seine Stimme, in Bayern war es jeder siebte. Das sind nicht Ergebnisse aus dem Osten der Republik, wo wir in den Wahlen des nächstes Jahres (Thüringen, Sachsen, Brandenburg) möglicherweise jeweils ein Drittel brauner Sympathisanten an den Urnen begrüßen dürfen, falls sich die chronisch zerstrittene Partei bis dahin nicht wieder einmal selbst zerlegt. Zusammen mit den FW und der von ihr weiter nach rechts getriebenen CSU bildet die AfD in Bayern einen mächtigen Rechtsblock, in Hessen nimmt sie bereits die Vize-Führungsposition ein, die bundesweit auch kein unrealistisches Ziel mehr zu sein scheint.


Wie kann eine Gruppierung, die keine praktikablen Vorschläge macht, deren Programme entweder instinktiven Unmut in der Bevölkerung aufgreifen oder – wie im Wirtschaftsteil – von der FDP abgeschrieben wurden, die trotz ihres Namens keinerlei Alternativen für die Deutschen oder die Welt an sich bietet (lässt man Chauvinismus und Geschichtsklitterung nicht als originäre Leistungen gelten) so erfolgreich sein?


Zumindest zwei Teilantworten auf diese Frage seien hier angeführt: Die AfD befreit einen großen Teil der Bundesbürger von den diesen lästigen Schatten der Geschichte, indem sie die nationale Vergangenheit banalisiert (Gaulands Einschätzung der Nazi-Herrschaft als „Vogelschiss in der Geschichte“) oder die Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen nonchalant verunglimpft (Höckes Bezeichnung „Denkmal der Schande“ für das Holocaust-Mahnmal). Die Forderung Irgendwann muss doch mal Schluss sein mit den ewigen Schuldzuweisungen! ist entgegen allen Politiker- und Edelmedien-Aussagen in der Mehrheit der Bevölkerung durchaus konsensfähig. Die Tatsache, dass 80 Prozent das Asylrecht ändern (etliche davon es sogar abschaffen) wollen und Flüchtlinge als Schmarotzer denunzieren, belegt die Geschichtsvergessenheit eines Landes, dessen Geisteselite sich einst zu großen Teilen nur noch durch Emigration retten konnte.


Und dann ist da noch die Klaviatur der Ängste, auf der die AfD trefflich klimpert: In Kleinstädten und auf dem Land legte sie besonders stark zu, fürchten doch die Kleinbauern den EU-Trend zur Agrarindustrie. Von der Union, in der die Besitzer großer Landwirtschaftsbetriebe organisiert sind, oder den Grünen, denen der rechte Block unisono das Prädikat der „Verbotspartei“ anhängte, glauben sie, nichts als Ungemach erwarten zu können. Dazu kommt die Angst vor „Überfremdung“, vor dunklen Gesichtern in den Straßen, vor Kriminalität, vor der Minderung von Löhnen und Renten, vor ausländischer Konkurrenz usw. Die AfD braucht dazu keine Konzepte zu entwickeln, sondern nur ihr mittelalterliches Weltbild zu propagieren, in dem multikulturelle Beziehungen nicht vorkommen, internationale Beziehungen an der Burgmauer enden und der deutsche Schrebergärtner ganz allein mit eiserner Harke Ordnung in seinem Gau hält.


Angesichts der jüngsten Wahlergebnisse könnte man über die geistige Verfassung der eigenen Zeitgenossen verzweifeln, glatt zwei bis drei Generationen hinsichtlich eines humaneren Gesellschaftswandels abschreiben und auf den Nachwuchs hoffen. Doch eine weitere Hiobsbotschaft kommt wiederum aus dem südlichen Freistaat.


Je jünger, desto fürchterlicher: Diese unreifen Bengel soll man wählen lassen?


Der Bayerische Jugendring organisierte eine U18-Landtagswahl im Freistaat. Etwa 60.000 Kinder und Jugendliche gaben ihre Stimme ab und bestätigten im Großen und Ganzen die Binsenweisheit, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Die CSU wurde mit 26 Prozent stärkste Partei vor der AfD (15 %). Immerhin schaffte es die bei den Großen so kläglich abgestürzte SPD auf Rang drei, knapp vor den Grünen (beide über 13 %). Dann kam schon der unvermeidliche Hubert Aiwanger mit 9 %. Die Zukunft war auch schon einmal besser.


10/2023


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