| Die Republik zockt Wenn finanzielle Sicherheit, ein solider Daseinsentwurf oder befriedigende Arbeit in weiter Ferne liegen, halten etliche Menschen eine Gewinnverheißung, die sich zeitnah erfüllen könnte, für den letzten Ausweg aus der Misere, an den man nur glauben muss. In Glücksspielen, die suggerieren, per Geschick oder Wissen beherrschbar zu sein, wollen sie die Chance wahrnehmen, die sie im richtigen Leben nie hatten. Realiter aber häuft sich Verlust auf Verlust, wird der nüchterne Verstand durch die Illusion, beim nächsten Versuch liefe alles besser, übertrumpft – bis Zocken zur Sucht ausufert. Im Gegensatz zu Drogen, die ähnlichem Effekte zeitigen, ist die Steuerung des Irrsinns durch bedenkenlose Anbieter legal, bringt sie dem Staat doch Geld. Und für Finanzminister Lindner ist solches Hasardspiel sogar eine Option für unser Rentensystem. Der Weg nach unten Von „Pathologischem Spielen“ oder „Glücksspielstörung“ reden die Experten, in der Alltagssprache ist schlicht von „Spielsucht“ die Rede. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das Phänomen als psychischen Defekt ein und klassifiziert es in diesem Kontext als „Impulskontrollstörung“ bzw. „Abhängigkeitserkrankung“. Die Betroffenen daddeln an Automaten, zocken mit Karten und Würfeln oder wetten auf die Verläufe und Resultate von Events, am häufigsten im Sportbereich. Der schnelle Gewinn verschafft dem Anfänger eine mühelos erlangte Lustbefriedigung, die erste Niete spornt nur dazu an, es künftig besser zu machen und die Einsätze so lang zu steigern, bis nicht nur der Verlust ausgeglichen, sondern sogar ein üppiges finanzielles Polster geschaffen wird. Das gelingt fast nie, denn die Spiele sind allesamt zum Vorteil des Bankhalters bzw. Wettanbieters konzipiert. Doch das so gut wie nie eingelöste Versprechen, dass ein Lucky Punch das ganze Leben zum Positiven verändert, lässt die einmal „Angefixten“ weiterspielen, bis außerhalb des Kokons ihrer Sucht das soziale Umfeld in Trümmer fällt. Hierzulande weisen etwa 200.000 Menschen (mehr Männer als Frauen) dieses Syndrom auf, und ein Entzug gilt als mindestens so kompliziert wie eine Suchtdrogentherapie. Schicksalsträchtig auch in letzter Konsequenz: Die Selbstmordrate ist bei Spielsüchtigen dreimal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Zwiespältig (sehr milde ausgedrückt) wirkt der staatliche und öffentliche Umgang mit dieser durch enormen Werbeaufwand vorangetriebenen Verführung naiver und verunsicherter Gemüter. Um das Suchtpotential weiß man in der Politik, in den Behörden und ehrenwerten Vereinigungen, verbieten will man den „Stoff“ aber nicht, denn man verdient selber daran oder kennt einen Parteiensponsor, der es tut. Also verordnet man ein paar Vorsichtsmaßnahmen, die nicht greifen, lässt ansonsten aber hochgradig manipulative Reklame (vor allem im TV) zu und erleichtert den Dealern den effektiven Auftritt abseits der Schmuddelecke. Saubere Regelung für üble Verführung Nicht nur, dass Bund und Länder die Spiel- und Wettumsätze der privaten Anbieter besteuern, sie offerieren den Bürgern auch selbst Gelegenheiten, ihr Geld im Glauben an eine Minimalchance loszuwerden. Und damit auch alles seine Richtigkeit hat, gilt seit dem 1. Januar 2008 der Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV), der den Schutz der Spieler regeln soll. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies zur Verpflichtung gemacht und argumentiert, das staatliche Glückspielmonopol sei nur durch eine konsequente und glaubhafte Erfüllung der staatlichen Suchtprävention zu rechtfertigen. Die Bundesländer, die den GlüStV geschlossen hatten, akzeptierten die Vorgabe – mit der Umsetzung hapert es indes. Man fragt sich angesichts des Eifers, mit dem Lizenzen zum Abzocken ausgestellt werden, worin die Bemühungen, Menschen vor Abhängigkeit zu bewahren, eigentlich bestehen sollen. Als direkter Entrepreneur tritt die öffentliche Hand bei 6 aus 49 oder diversen Klassenlotterien auf, die allerdings so dröge beworben und präsentiert werden, dass sie nur sehr bedingt zur gefährlichen Verführung taugen. Es sollte dennoch darauf hingewiesen werden, dass sich etliche KleinrentnerInnen den ausgefüllten Tippzettel, die vermeintliche Fahrkarte in den späten Wohlstand, vom Mund absparen müssen. Nur verschulden sie sich dafür meist nicht. Beunruhigender ist die Tatsache, dass Sportwetten per Handy zu jeder Sekunde abgeschlossen werden können, dass den Aficionados ein Flair von Entschlossenheit, Sachkenntnis und Wagemut vorgegaukelt und in einer Intensität beworben wird, die sich nur mit dem einstigen Reklame-Hype um Klingeltöne vergleichen lässt. Während die klassischen Automatenzocker in mechanischer Redundanz ihr Geld, ihre Hoffnung und zuletzt Haus, Hof und Familie an den Münzschlitz verlieren, passionierte Poker-Spieler wiederum mit tückischer Geduld auf die Möglichkeit zum entscheidenden Bluff oder auf das perfekte Blatt (das kaum jemals kommt) warten, brauchen die Wetter der Internet-Generation den ständigen Thrill, die sich überschlagenden Anreize, es nur Sekunden nach der letzten Pleite mit etwas Neuem zu versuchen: Man hat auf ein Null zu Null gesetzt, aber es ist ein Treffer gefallen – kein Problem. Tippt man halt auf die Mannschaft, die das nächste Tor schießt oder die nächste Ecke zugesprochen bekommt… Es werden einem in Echtzeit so viele Chancen eingeredet, den Verlust wieder auszugleichen. Nur funktioniert die prompte Kompensation des „Pechs“ leider nicht, und im Gegensatz zum Süchtigen am Geldautomaten, der die Münzen noch händisch einwerfen muss, bemerkt man gar nicht, wie fortlaufend etwas vom Konto abgebucht wird. Und wer auf sein Fußball-Fachwissen vertraut, sollte einen Hinweis der IHK München für die Anbieter von Kicker-Hasard unter ihren Mitgliedsfirmen ernstnehmen: „Sportwetten sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Glücksspiele.“ Folglich unterliegen sie dem staatlichen Monopol, und so warnt die IHK auch pflichtschuldig: „Sportwetten dürfen daher nur mit der erforderlichen Erlaubnis der Landesregierung angeboten werden.“ Also könnten die zuständigen Ministerien eingreifen, zumal bereits mehr als ein Drittel aller deutschen Spielsüchtigen die Selbstkontrolle bei Sportwetten verliert, vor allem junge Menschen geködert werden und das Selbstmordrisiko dreifach höher als in der Normalbevölkerung liegt. Zumindest könnte – in Entsprechung zu den Werbe-Einschränkungen für Tabak – die Reklame in den Medien und im Straßenbild für den Zocker-Wahnsinn reglementiert oder ganz untersagt werden. Lediglich der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer von der SPD fordert ein solches Verbot, die FDP neigt wie gewohnt dazu, dem Markt freies Spiel zu lassen, wie immer das ausgehen mag. Das Bayerische Ministerium für Finanzen erklärte auf Anfrage sinngemäß, es sehe keinen Anlass einzugreifen, schließlich sei es besser, das Glücksspiel finde unter staatlicher Aufsicht statt, und nicht in der Unterwelt. Muss deshalb der Weg zur Selbstaufgabe medial so prächtig illuminiert und ins Bewusstsein gerückt werden? Überhaupt liebäugelt die Christenunion nicht nur mit zusätzlichen Steuereinnahmen, sondern auch mit Lobbyisten des Branchenführers Tipico. Lindners Rentencasino Was ein SPIEGEL-Team im Vorjahr über den deutschen Konzern, der seinen Sitz auf der Steuervermeidungsinsel Malta hat, recherchierte, hätte früher gereicht, dessen Manager aus dem Kreis der sich honorig gebenden Unternehmer auszuschließen: Vorständler mit wegen Wettbetrugs schmutziger Weste, Verstrickungen in den Kokainhandel und in die Geldwäsche; Ungereimtheiten in 20 Prozent der teilweise von Kriminellen geleiteten Filialen, die stets in ärmeren Stadtvierteln angesiedelt sind, wo das Glücksspiel als letzter Strohhalm, als einzige Aufstiegsoption wahrgenommen wird. Heutzutage geniert das niemanden mehr, nicht einen Werbe-Promi wie Oliver Kahn, Vorsitzender des FC Bayern, der einst von einem Steuerbetrüger und einem Uhrenschmuggler geführt wurde, nicht die seriöse ARD, die den Traum-Dealern für viel Geld Spots in der Prime-Time zwischen Sport- und Tagesschau einräumt. Und natürlich nicht den Springer-Verlag, dessen Flaggschiff BILD sogar mit Tipps und Einführungen zu Fußballwetten Tipico latent unterstützt. Vielleicht glaubt auch Christian Lindner, der vor seiner Politikerkarriere als „freier“ Unternehmer eher unterirdisch performte, dass ihm im Zockermilieu der große Coup gelingt. Schließlich ist auch auf den von ihm so geschätzten Kapitalmärkten der riskante Einsatz das probate Mittel, ganz gleich, ob man auf steigende oder fallende Kurse, gegen die Währungen von Staaten oder auf Ernteausfälle wettet. Also plant der Bundesfinanzminister, zehn Milliarden Euro im Jahr einzusammeln und in Aktien sowie Wertpapieren anzulegen. Ein solcher Fonds soll vom Ende der 2030er Jahre an das schwächelnde Rentensystem stabilisieren. Experten haben ausgerechnet, dass gut 212 Milliarden Kapital bei einer optimistischen Renditeschätzung von 8 Prozent nötig wären, um den Anstieg des Rentenbeitrags um nur 1 Prozent (!) zu verhindern. Den dreistelligen Milliardenbetrag würde Lindner gern aus den Versicherungsrücklagen für die Altersvorsorge nehmen… Um die Einzahler in die Rentenkasse homöopathisch zu entlasten, möchte der smarte Christian also ein riesiges Vermögen auf den häufig verrücktspielenden Kapitalmärkten riskieren. Es ist ja nicht seines, und die Investmentbanker sowie Spekulanten werden ihm applaudieren, denn er führt ihrem Roulettetisch frische Einsätze zu. In Chile führte ein ähnliches Experiment zum Abschmelzen aller Rücklagen und zu gravierender Altersarmut. „Verzockt meine Rente nicht!“ titelte denn auch die Ver.di-Zeitung publik besorgt. Aber keine Bange! Wenn alles schiefgeht, können die Ruheständler ihre Altersversorgung immer noch mit Fußballwetten aufbessern. 02/2023 Dazu auch: Bürger zu den Waffen im Archiv der Rubrik Medien (2019) |
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