Falsche Baustelle

Cartoon: Rainer Hachfeld


Wie für eine bürgerliche Demokratie üblich, ist die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat. Das heißt nicht unbedingt, dass es allerorten gerecht zugeht, sondern dass es mehr oder minder klar formulierte Regeln und eine relativ unabhängige Rechtsprechung gibt. Von Zeit zu Zeit wird vom Justizministerium an den Gesetzen herumgedoktert, d. h. es werden Stellschrauben angezogen, Geltungsbereiche verändert oder Anwendungen entschärft. Solches hat sich nun FDP-Justizminister Marco Buschmann vorgenommen, und zwar beim Delikt der Fahrerflucht. Die Intention des Vorhabens, die Reaktionen sowie die Frage nach der Relevanz des Sujets lassen allerdings vermuten, dass an der falschen Baustelle gearbeitet wird.


Reparaturbedarf vorhanden


Im FDP-Regierungsteam sind die Rollen von Christian Lindner und Volker Wissing klar. Beide stehen im Blickpunkt der Öffentlichkeit, als Sparer, Bremser und Verhinderer, wobei der Verkehrsminister für viele die Rolle des Umweltfrevlers und für einige den Part des Freiheitshelden übernommen hat, während der Chef des Finanzressorts den staatstragenden Buchhalter gibt. Im Hintergrund und fern des Medieninteresses werkelte Marco Buschmann im Justizministerium, bis vor kurzem wusste allerdings niemand, woran.


Dabei gäbe es einiges zu reparieren, zu justieren und zu präzisieren in der deutschen Gesetzgebung. Wie kann die Steuergerechtigkeit verbessert und die Ahndung von Hinterziehung sowie Betrug im Finanzbereich verschärft werden (wohl ein frommer Wunsch bei einem Cum-Ex-Kanzler)? Wie ist darauf zu reagieren, dass die Bundesrepublik die von der WHO vorgeschriebenen Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft weiter missachtet, was – wie die Europäische Umweltagentur mahnt – den Tod von Kindern und Jugendlichen verursachen kann, vor allem aber auch deren Lebenserwartung senkt? Ein Justizminister könnte die zuständigen Ressorts, etwa für Umwelt oder Verkehr, zur Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen anhalten und ihnen fachliche Unterstützung anbieten.


Und er könnte die Strafgesetze für die notorischen Umweltsünder in der Automobilindustrie erheblich verschärfen, damit Konzernchefs, die, per Manipulation bei Emissionstests, die Gesundheit anderer Menschen vorsätzlich schädigen, nicht mit Bagatellstrafen davonkommen. Stattdessen aber ist der scheue Marco Buschmann jetzt mit einem Vorhaben ins Rampenlicht getreten, das eine Änderung der Rechtsprechung im Verkehrsbereich vorsieht. Nur wird man das Gefühl nicht los, der Justizminister hat eine seltsame Vorstellung von Prioritäten sowie Notwendigkeit, und er wird auf der falschen Baustelle aktiv.


Von der Straftat zum Kavaliersdelikt?


Wie sein Ministerium verlauten ließ, möchte Buschmann den Tatbestand der Fahrerflucht zumindest teilweise entkriminalisieren. Bislang musste der Verursacher einer Karambolage im Straßenverkehr „eine angemessene Zeit am Unfallort“ warten, bis der Geschädigte oder die Polizei eingetroffen war. Entfernte er sich und hinterließ nur eine Notiz oder auch gar nichts, drohten ihm Geldstrafen, ja sogar bis zu drei Jahren Haft. Jetzt soll es reichen, wenn der Übeltäter Meldung über eine noch zu standardisierende Online-Maske erstattet oder einfach einen Zettel (mit hoffentlich lesbaren Infos zum Unfall) am demolierten Fahrzeug anbringt. Dies gilt allerdings nur, wenn kein Personenschaden entstanden ist.


Der Gegenwind ist heftig. Die Versicherer erinnern daran, dass „Unfallursache und –hergang sich zweifelsfrei feststellen“ lassen müssen. Zudem lässt sich bei Abwesenheit des Verkehrssünders nicht klären, ob Alkohol oder Drogen im Spiel waren. Der Deutsche Richterbund sieht keinen Grund dafür, „das unerlaubte Entfernen vom Unfallort in Fällen ohne Personenschaden zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen“. Und die Grünen-Rechtspolitikerin Canan Bayram unterstellt Buschmann schlicht, eine „Nebelkerze“ gezündet zu haben.


Bleibt die Frage: Warum kündigt der Bundesjustizminister ein Reförmchen an, nach dem niemand gerufen hat? Eine möglicher Grund könnte in seiner politischen Heimat liegen: Die FDP ist eine Autofahrerpartei, und dazu besonders wählbar für die Halter teurer Vehikel. Für die wiederum ist es schwer erträglich, dass ein SUV-Fahrer, der einen dringenden Termin bei seinem Makler oder Banker hat, seine kostbare Zeit mit Warten auf die Polizei vergeuden muss, nur weil er beim Einparken ein Fahrrad plattgemacht oder vielleicht beim Abdrängen eines impertinenten Kleinwagens eine Karambolage verursacht hat – ein Vorgang, der, als Stoßstangen noch Stoßstangen und nicht Zierleisten waren, als normale Praxis durchgegangen wäre.


Arme Kriminelle und nachlässige Reiche


Marco Buschmann möchte also Nachlässigkeit bzw. Zeitnot der Wohlhabenden nicht länger als Straftatbestand bewerten. Zur gleichen Zeit werden Petitionen am alternativen Ende der Gesellschaft gestartet, ein anderes Vergehen zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen und damit zu entkriminalisieren, nämlich das Schwarzfahren. Doch dazu schweigt der Liberale, hier geht es schließlich nicht um die klassische FDP-Klientel.


Wenn jemand, der sich freie Beförderung im ÖPNV erschlichen hat, erwischt wird, erhält er eine Geldstrafe. Kann der Schwarzfahrer diese nicht bezahlen, ist ersatzweise eine Gefängnisstrafe möglich. Gerät ein Fahrgast mehrmals ohne Ticket in Kontrollen, droht ihm sogar bis zu einem Jahr Knast. „Ein Bußgeld ist ausreichend“, sagt u. a. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Heinemann von den Grünen.



















Die ganze Schärfe des Gesetzes und die wunderbare Leichtigkeit der Vergebung - Justitia, vorbildlich verkörpert vom zuständigen Minister Buschmann 


Nun würden die Liberalen vielleicht argumentieren, dass in den meisten Fällen mit Vorsatz schwarzgefahren wird, während der Unfallflüchtige den Blechschaden ohne Absicht verursacht hat. Dem könnte man entgegenhalten, dass der Zahlungsunfähige oder –unwillige in Bus, Tram oder U-Bahn weder eine Gefahr für den Straßenverkehr darstellt, noch Schäden verursacht, der Kollisionsverursacher aber schon. Um noch weiter zu gehen: Fordern nicht Mittellose per Schwarzfahren das Recht auf öffentliche Mobilität im Sinne der Inklusion ein? Doch diese Sichtweise wird sich wohl erst dann durchsetzen, wenn keine SUVs mehr die Straßen beherrschen und die FDP Geschichte ist.


05/2023


Dazu auch:


Deutsche Autofahrer im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2017)