Milliardengrab Süd

Cartoon: Rainer Hachfeld


Bau der S-Bahn-Stammstrecke 2 in München – klingt nicht unbedingt spektakulär, zumal die City lediglich zehn Kilometer lang unterquert werden soll. Doch die nüchterne Benennung steht für das derzeit größte Infrastrukturprojekt der Bundesrepublik, dessen Kosten sich vom ersten Voranschlag bis zur jüngsten Bestandsaufnahme mindestens verdreifacht haben; das aber möglicherweise noch so teuer wird, dass es am Ende den Berlin-Brandenburger Flughafen (BER) und das schwäbische Bahn-Desaster Stuttgart 21 in der Hitliste der Pannen und Fehlkalkulationen überflügeln könnte.


Die Vier von der Baustelle


Da hatten sich 2016 aber auch vier glorreiche Stümper zur Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung für den Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke zusammengefunden: die Deutsche Bahn, die schon bei jedem Wetter überfordert ist, als Bauherr; der Bund mit seinem federführenden Verkehrsministerium, das seit Generationen von Autolobbyisten mit mehr Benzindämpfen als grauen Zellen im Hirn befehligt wird; die vor Hybris schäumende bayerische Staatsregierung und die Stadt München, deren SPD-Oberhäupter (anfangs Ude, später Reiter) nach dem urbanen Motto „A bisserl mehr geht immer“ gerne alle Fünfe gerade sein lassen.


Nach ersten bei zwei Milliarden Euro liegenden Schätzungen wurden  im Jahr darauf, als die Bauarbeiten begannen, die Gesamtkosten des von Experten als wirtschaftlich wenig relevanten Projekts auf 3,6 Milliarden Euro taxiert, die Inbetriebnahme sollte 2026 erfolgen. Bereits 2019 hieß es, erst 2028 würden die ersten S-Bahn-Züge durch den neuen Tunnel rollen. Und zwei weitere Jahre später waren die geschätzten Kosten auf 7,3 Milliarden gestiegen, und der Startschuss für den ÖPNV wurde nicht vor 2035 erwartet.


Nach einem Gespräch mit leitenden DB-Mitarbeitern zeigte sich der oberfränkische CSU-Landtagsabgeordnete Jürgen Baumgärtner erschüttert. Dem „Münchner Merkur“ sagte der Vorsitzende des parlamentarischen Unterausschusses zur Begleitung der Bauarbeiten, nun sei die Rede von 10,7 Milliarden Euro, die aber angesichts der Inflation wohl noch weiter steigen würden: „Ich schätze, dass die zweite Stammstrecke am Ende rund 14 Milliarden Euro kosten wird.“ Der FDP-Abgeordnete Albert Duin rechnet mit einer noch höheren Endsumme. Ob unser Lebensrest noch ausreicht, Erlebnisberichte von den ersten Passagieren genießen zu dürfen, steht in den fernen Sternen.


BER war ein beispielloses Desaster deutscher Logistik und Ingenieurskunst, Stuttgart 21 (wie München 2 mit der DB) schickt sich gerade an, es dem Pannenflughafen gleichzutun. Beide Unternehmungen galten aber von Anfang an als kompliziert und hatten internationale Weiterungen. Die Münchner Stammstrecke 2 ist jedoch ein regionales Projekt mit relativ einfacher Aufgabenstellung. Wie viel planerische Blindheit, politische Ignoranz und fachliche Inkompetenz mussten hier fusionieren, um eines der teuersten zeitfressenden Debakel der europäischen Technologie-Geschichte zu generieren?


Bayern, Bayern über alles!


München ist nicht nur „eine Großstadt mit Herz“ (Eigenwerbung), sondern auch eine ständig am Rande des Verkehrsinfarkts stehende Metropole. Oberirdisch stauen sich die KfZ-Ströme, die, von den Alpen kommend, in die Mitte und den Norden der Republik vorstoßen wollen, während von dort Touristen- und Frachtverkehr anrollt und sich nach Österreich oder über den Brenner durchschlagen möchte. Zugleich ist München mit seinen Unternehmen und Behörden eine Hauptstadt der Pendler, und die nutzen häufig den Untergrund, um zur Arbeit zu gelangen.


Täglich fahren 840.000 Menschen mit der S-Bahn, die im Jahr zwanzig Millionen Kilometer zurücklegt. Die meisten werden dabei durch einen 1972 gebauten Tunnel, die „Stammstrecke“,  transportiert, der die Knotenpunkte der Innenstadt wie Stachus, Marienplatz oder Hauptbahnhof miteinander verbindet. Dieses Nadelöhr leidet nicht selten unter Verstopfung, und dann geht in der City und in der Peripherie nichts mehr. Also musste Entlastung, eine Art Bypass, her, und wenn München schon mal handelt, dann generell unter der Devise „Think big!“


Also hörten Staatsregierung und Oberbürgermeister nicht auf Verbände wie den Bund Naturschutz oder Pro Bahn sowie die Grünen, die alle eine kostengünstige und pragmatische Lösung, nämlich den Ausbau des Südrings anstelle des zweiten Tunnels befürwortet hatten. Die Verantwortlichen in Land und Stadt wollten aber die neue riesige Röhre durch den ohnehin bereits intensiv genutzten Untergrund treiben. Beim Blick auf das übergroße Ganze verloren sie dabei die Details aus den Augen, und so traten nun die Defizite zutage, vor denen Experten zuvor gewarnt hatten.


So können zwar künftig mehr Menschen mit der subterrestrischen S-Bahn fahren, nur sind ihnen dann zahlreiche Umsteigemöglichkeiten verwehrt und andere nur nach langen Laufwegen erreichbar. An diesen wenigen aber, etwa am heute schon überfüllten Marienplatz, wird „das Gedränge noch dichter“, wie der Bund Naturschutz prognostiziert. Die Bauherren mussten tiefer buddeln lassen und ihre Pläne für einige S-Bahnhöfe umfassend ändern, was zu Kostensteigerungen und Verzögerungen führte (und führen wird).


In der Verantwortung für die gigantische Steuervergeudung sehen Kritiker die bayerischen Staatsregierungen unter Seehofer und Söder, die in der Münchner Stadtspitze eifrige Claqueure fanden. Vor allem die Untätigkeit des amtierenden Ministerpräsidenten angesichts der sich potenzierenden Verluste an Zeit und Geld soll im Parlament jetzt ein wenig aufgeklärt werden.


Probleme für das „System Söder“?


Ausgerechnet im bayerischen Landtagswahljahr hat Markus Söder zwei Untersuchungsausschüsse am Hals, er darf jedoch zuversichtlich sein, dass ihn die Sünden der Vergangenheit zwar verfolgen, aber nicht einholen werden. Er regiert schließlich in Bayern, wo sich jeder CSU-Häuptling Pannen und Skandale leisten darf, ohne in kleinlicher Manier dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.


Das System Söder, mit dem das Wahlvolk besänftigt wird, beruht auf drei Säulen, welche sind: Vollmundige Ankündigung; diskretes Schweigen zu dezentem Nichtstun, überraschender Kehrtwende oder desaströsem Scheitern; permanenter Themenwechsel. Der CSU-Chef redet einfach nicht mehr über Dinge, die gestern schiefgingen, als etwas anrüchig empfunden wurden oder einfach in der Versenkung verschwanden. Stattdessen macht er ein weiteres Fass auf, treibt eine neue Sau durchs Dorf und verlässt sich darauf, dass sich morgen auch daran keine/r mehr erinnern kann.


Söder-Bayern ist bundesweit einfach in allem Spitze - bei den Fehlplanungen, bei der Überschreitung der Baukosten und  bei bei der Rekordverspätung der Fertigstellung!


Wenn ein Volksbegehren gegen das Bienensterben trotz schwarzen Widerstands reüssiert, setzt Söder sich an die Spitze der Bewegung, kreiert ein unverbindliches Naturschutzgesetz und nimmt so den Kritikern viel Wind aus den Segeln. Er umarmt Bäume und sieht ungerührt dabei zu, wie der bayerische Boden im Rekordtempo versiegelt und das immer knapper werdende Grundwasser an Mineralsprudel-Konzerne verramscht wird.


Bis 2025 werde er 10.000 neue Wohnungen errichten lassen, tönte er 2018. Bis heute, zwei Jahre vor dem Stichtermin sind gerade mal 8 Prozent der Behausungen gebaut. Eine Stellungnahme werden Sie von Söder dazu nicht bekommen, er ist nämlich gerade damit beschäftigt, Bayern als künftige Nummer 1 in Sachen landgestützter Windkraft zu bewerben (nachdem er einst bei Anne Will erklärt hatte, im Freistaat gäbe zu wenig böige Luftbewegung). Dass gerade eine Studie einen bundesweiten Anstieg an Genehmigungen von Windrädern in der Republik ermittelt, Bayern dabei aber den letzten Platz zuweist, wird er ebenfalls unkommentiert lassen.


Einen Untersuchungsausschuss hat Markus Söder wegen des Zukunftsmuseums in Nürnberg an der Backe. Als damaliger Wirtschaftsminister hatte er den Standpunkt am eigentlich zuständigen Wissenschaftsministerium vorbei durchgesetzt und seinem Parteifreund, dem Baulöwen Gerd Schmelzer, der zufällig gerade eine hohe Spende für die CSU platziert hatte, beste Konditionen und eine wahre Luxus-Mieteinnahme garantiert. Von Söder, mittlerweile Ministerpräsident, ist dazu wieder kein Wort zu erfahren, und letztendlich wird der parlamentarische Untersuchungsausschuss unverrichteter Dinge auseinandergehen.


Ein wenig brisanter dürfte es beim zweiten Untersuchungsausschuss zugehen, der die Gründe für die Untätigkeit und das Schweigen der Staatsregierung angesichts der Kostenexplosion beim Bau der Stammstrecke 2 eruieren soll, da sich sogar CSU-Abgeordnete schockiert zeigen (s. o.). Der eher konservative Münchner Merkur zitiert einen Referatsleiter der Bayerischen Staatskanzlei, der im Dezember 2020 notierte, dass solche Nachrichten „kein Gewinnerthema“ seien, und stellt heikle Fragen: „…weswegen jetzt schwarz auf weiß nachzulesen ist, dass die Staatskanzlei von Markus Söder damals die dilatorische Behandlung  bis nach der Bundestagswahl 2021 empfahl. Es dauerte dann tatsächlich auch noch über zwei Jahre, bis die Öffentlichkeit von der Stammstrecken-Katastrophe erfuhr. Weil Söder sich schon als Bundeskanzler-Kandidaten sah und ihm das Thema unangenehm war?“


Mal schauen, mithilfe welcher spektakulären Ankündigungen und Tricks Söder das Loser-Thema Stammstrecke 2 während des Wahlkampfs in den Hintergrund drängen und schließlich ganz verschwinden lassen wird…


04/2023


Dazu auch:


Profis ohne Schimmer in der Rubrik Helden unserer Zeit


Stuttgart 25 plus im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)