| Nachhaltige Killer Cartoon: Rainer Hachfeld, Fotos: Autor Die „Mutterbombe“ explodiert in der Luft und verstreut Hunderte kleiner ball- oder keulenähnlicher Sprengkörper über ein ziemlich weites Terrain. Von diesen detoniert ein Teil beim Aufprall auf dem Erdboden sofort, die anderen graben sich ins Erdreich und verharren dort als „Blindgänger“, bis ein Mensch oder ein Tier auf sie tritt. Dann zerfetzen feine Splitter Haut oder Fell und Gewebe. Streumunition zählt zu den perfidesten und folgenschwersten Kampfmitteln der konventionellen Kriegsführung. Und sie kann noch Jahrzehnte nach einem Konflikt töten. Bombis für die Ukraine US-Präsident Joe Biden hatte eine – zumindest aus seiner Sicht – frohe Botschaft für die Ukraine parat: Zwar werde langsam auch in den Vereinigten Staaten die Munition knapp, doch man könne dem osteuropäischen Land Streubomben liefern – eine Nachricht, die in Kiew begrüßt wurde, während sie in anderen Teilen der Welt Entsetzen auslöste und bittere Erinnerungen weckte. Im Oslo-Übereinkommen von 2008 war Streumunition von 123 Staaten geächtet worden, von denen bislang 111 das Verbot ratifiziert haben. Mehr als 30 weitere Länder unterstützten 2020 im Rahmen einer UN-Deklaration die Inhalte der Vereinbarung im Grundsatz. Nicht zu den Unterzeichnern zählen die USA, Russland und die Ukraine. Die beiden letzteren Staaten haben gemäß Berichten von Journalisten und NGOs im gegenwärtigen Krieg bereits Streumunition eingesetzt, jetzt soll die Büchse der Pandora mit Hilfe Washingtons ganz weit geöffnet werden. Warum aber setzt man eine Waffe ein, die nicht auf gezielte Liquidation des Feindes geeicht ist, sondern mittels Sprengkörpern, von denen jeder bis zu hundert Unterbomben, von den GIs in Indochina einst verniedlichend bomblets oder bombis („Bömbchen“) getauft, enthält, die ein Stück Land unterschiedslos für Tiere und Menschen, Militärs und Zivilisten unpassierbar machen sollen? Es sind vor allem die Blindgänger, durch die ein Areal zur Todesfalle wird, nicht nur während des Krieges, sondern noch für Jahrzehnte danach. Die Organisation Handicap International erklärte, 98 Prozent der von den Auswirkungen der Streubomben betroffenen Menschen seien Zivilisten, darunter 27 Prozent Kinder. Washington beschwichtigt mit einer Notlüge, und die Ukrainer kommen der US-Administration mit einer Zusage, die unmöglich einzuhalten ist, zu Hilfe: So soll nur Streumunition geliefert werden, die eine Blindgängerrate von weniger als 2,35 Prozent aufweise. Kiew wiederum versprach, die Waffe nur dort zu nutzen, wo keinerlei Gefahr für Zivilisten bestehe. Um das zu garantieren, müsste man die Bomben auf dem Meeresgrund oder in tiefen Bergwerkschächten explodieren lassen oder das Betreten von Wegen, Weiden und Feldern im Großteil des umkämpften Gebiets für immer verbieten. Die Mär von den ziemlich „sicheren“ Streubomben widerlegte indes John Ismay in den New York Times: Die tatsächliche Blindgängerrate bei der an die Ukraine gelieferten Munition liegt demnach bei über 14 Prozent. Eine Warnung aus Kambodscha Als der große Scheinheilige auf dem Bundespräsidentensessel erweist sich auch diesmal Frank-Walter Steinmeier. Noch in seiner Funktion als Außenminister der Merkel-Regierung hatte er 2008 das Abkommen von Oslo zur Ächtung von Streumunition für Deutschland unterzeichnet. Jetzt windet sich der seltsam wählerische Moralist aus eigenen Gnaden um eine klare Ablehnung des üblen Deals herum. Man könne „in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen“, erklärte er, was Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung zu einem eindeutigen Kommentar veranlasste: „Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußert sich vertragsbrüchig und feige.“ Ein Bundespräsident im Erklärungsnotstand: "Was schert mich eine Unterschrift von 2008? Unsere amerikanischen und ukrainischen Freunde werden schon wissen, was sie tun - vielleicht aber auch nicht. Und die Russen erst recht nicht!" Aus dem Chor der vielen internationalen Stimmen, die Bidens fatale Entscheidung offen kritisierten, klang die Stimme eines Mannes, für den Streubombeneinsätze nicht infernalische Theorie, sondern gelebte Realität sind, heraus. Kambodschas Regierungschef Hun Sen, der sich einst von Pol Pot losgesagt und an der Seite der Vietnamesen die Terrorherrschaft der Roten Khmer beendet hatte, veröffentlichte einen Appell an die „Handelspartner“ in Washington und Kiew: „Aus Mitgefühl mit dem ukrainischen Volk rufe ich den US-Präsidenten als Lieferanten und den ukrainischen Präsidenten (Wolodymyr Selenskyj) als den Empfänger auf, Streubomben in dem Krieg nicht zu verwenden, weil die wahren Opfer die Ukrainer sein werden.“ Hun Sen hatte miterleben müssen, wie sein Land während des Vietnamkriegs von den USA regelrecht mit Streubomben vermint wurde. Zehntausende von Menschen wurden getötet oder verstümmelt. Mehr als ein halbes Jahrhundert später lägen immer noch Sprengkörper im kambodschanischen Boden, schrieb er. Noch wesentlich schlimmer traf es damals den Nachbarstaat Laos. Ohne den Krieg offiziell erklärt zu haben, überzogen die Vereinigten Staaten das nur 240.000 Quadratkilometer große Land mit dem dichtesten Bombenhagel der Geschichte. Zwischen 1964 und 1973 warf die US-Luftwaffe über zwei Millionen Tonnen Sprengsätze auf Laos ab – mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg auf alle Feindstaaten zusammen. Als ich Ende 2012 dort war, also vier Dekaden nach dem Ende des Krieges, starben immer noch Jahr für Jahr mehr als hundert Menschen durch explodierende bombis, die im Ackerboden oder im Gebüsch unentdeckt geblieben waren. Entschärfte Trägerbomben und Bombis in Phonsavanh: Die ursprünglich todbringenden Hinterlassenschaften der US-Luftwaffe in Laos In der kleinen Provinzhauptstadt Phonsavanh am Rande der Ebene der Tonkrüge, Schlachtfeld und Kulturerbe zugleich, das aus der Luft flächendeckend vermint worden war wie keine andere Gegend der Welt, sprach ich im Hauptquartier der Mines Assesory Group (MAG) mit dem dortigen Leiter. Die britische Organisation, die auch schon für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, räumt auf den Kriegsschauplätzen der Erde Sprengkörper und kümmert sich um die medizinische sowie berufliche Rehabilitation überlebender Bombenopfer. Auf meine Frage, wann Laos wohl minenfrei sein werde, antwortete der Mann von MAG: „Vielleicht in zweihundert Jahren.“ Wohl keine Landschaft der Welt wurde so intensiv bombardiert und mit Streumunition vermint wie die Ebene der Tonkrüge in Laos. Das perverse Kalkül Warum also wird von einer kriegführenden Partei eine Waffe eingesetzt, deren Wirkung in erster Linie Zivilisten, möglicherweise auch die eigenen Leute schädigt und die noch Jahrzehnte nach dem Krieg eine Gefahr für Leib und Leben darstellt? Warum sollten die russischen Streitkräfte Cherson und Teile der Ostukraine verminen, nur weil der Feind sie nach der Invasion zurückerobert hat? Laut Putin handelt es sich doch um russische Heimat? Warum sollte wiederum die ukrainische Armee eigenes Land für unabsehbare Zeit in einen Todesstreifen verwandeln, nur um einen russischen Vorstoß zu stoppen? Das Faible für Streumunition entspringt perverser militärisch-strategischer Logik: Die Bombensplitter töten viele Menschen, aber sie verstümmeln noch mehr. Verkrüppelte Opfer aber bedeuten für ein Land im Notstand eine größere Belastung als Tote; sie müssen medizinisch versorgt und möglicherweise lebenslang betreut werden. Auf die Bevölkerung wirkt ihr Anblick im Straßenbild deprimierend, während die Gefallenen nur in Verlustlisten aufscheinen, quasi lediglich die Ruhe der Angehörigen stören. Zudem leben die Menschen, ob sie nun als Bauern auf dem Feld arbeiten, oder ihre Autos über abgelegene Straßen steuern, in einem Gefühl permanenter Bedrohung und existenzieller Verunsicherung. Um den Feind zu demoralisieren, wird ohne Rücksicht (auch auf eigene) Verluste Menschen- und Kriegsrecht gebrochen. Dass die durch den Einsatz von Streumunition entfesselte Gefahr auch nach einem Waffenstillstand oder Friedensschluss nicht vorbei ist, wird dabei billigend in Kauf genommen. Die ukrainische (aber auch die russische) Führung sollte Hun Sens Appell sehr genau lesen. Ich fürchte jedoch, genau das wird nicht passieren. 07/2023 Dazu auch: Dossier Tatort Indochina - Laos: Die Verminung der Zukunft in der Rubrik Politik und Abgrund |
| |||