| Schnapsidee Reloaded Cartoon: Rainer Hachfeld
Überall, nur nicht in Europa Im Grunde dreht sich in den europäischen Heimatschutz-Gremien alles nur noch um die Frage, wie man die Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention, die dummerweise alle Staaten unterschrieben haben, am elegantesten umgehen kann. Dazu werden semantische Konstruktionen jenseits aller Fakten bemüht: So spricht man von Asylbewerbern, die „irregulär“ eingereist seien, als werde Menschen, die vor der Gottesdiktatur der Taliban, den ethnischen „Säuberungen“ in Eritrea und Äthiopien, dem Krieg im Sudan oder dem Hungertod in der Sahelzone ins Abendland fliehen, je eine reelle Chance eingeräumt, „regulär“, also auf anständigem Wege, einzureisen. Weil man auf eigenem Staatsgebiet die Asylgründe nicht mit der gebotenen Sorgfalt prüfen möchte und keine tragfähigen Integrationskonzepte entwickelt wurden, will man die Entscheidung, die tunlichst eine Ablehnung sein sollte, außerhalb der eigenen Grenzen treffen und die Unwürdigen sogleich zurück in die alte Heimat oder in ein „sicheres Drittland“ expedieren. Bei letzterem handelt es sich ebenfalls um eine sprachliche Schimäre (ein Trugbild also), die man beliebig auf Autokratien und weitgehend rechtlose Gebilde wie die nordafrikanischen Staaten Marokko, Tunesien und Algerien oder Erdoğans Türkei, wie Kasachstan oder das Indien des rassistischen Hindu-Nationalisten Modi anwenden kann. Gewissenhaft saufen sich Europas Politiker, auch die grünen und sozialdemokratischen Ampel-Moralisten, diese Regimes schön, um verzweifelte Migranten mit gutem Gewissen loswerden zu können. Noch raffinierter wollte Boris Johnson vorgehen. Er bot Ruandas seit 2000 zunehmend despotisch regierendem Präsidenten Paul Kagame umgerechnet 144 Millionen Euro an, wenn dieser aus Großbritannien angelieferte Geflüchtete in seinem Land aufnähme – natürlich ohne Aussicht auf eine Rückkehr ins Gelobte Albion. Nicht wenige Beobachter hielten das Vorhaben für eine Schnapsidee, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte untersagte den ersten Abschiebeflug kategorisch mit der Begründung, die Deportation stelle "ein echtes Risiko von irreversiblem Schaden" für die betroffenen Asylsuchenden dar. Doch ein gutes Jahr, einige Hunderttausend Migranten in Europa und etliche tausend Ertrunkene im Mittelmeer später, entdecken die von den Rechtspopulisten vor sich her getriebenen Regierungen den Charme der Reise ohne Wiederkehr. Pech gehabt, Boris. So ging es nicht Ein „Vordenker“ träumt von Ruanda Unser nördlicher Nachbar trat kurzzeitig in britische Fußstapfen. Erst nach heftigen Protesten stoppte Dänemarks Regierung ein Projekt, das ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in Ruanda vorgesehen hätte. Währenddessen verhandelt Italiens postfaschistische Regierungschefin Giorgia Meloni mit der Regierung in Tirana. Das finanzschwache Albanien könnte doch gegen Devisen Boat People aus Lampedusa in Karst-Ghettos ansiedeln. In London verfolgt Premier Sunak unverdrossen den Plan seines Parteifreundes Johnson weiter, mittellose und verfolgte Menschen in ein Land zu entführen, dem Armut und politische Verfolgung nicht fremd sind. Wer sich näher mit der jüngeren Geschichte Ruandas beschäftigt, wird knallhart mit der Absurdität und Skrupellosigkeit solcher Flüchtlingspolitik konfrontiert. Erst 1994 erlebte das Land den weltweit folgenschwersten Genozid der letzten Jahrzehnte. Ein militanter Mob vom Mehrheitsvolk der Hutus brachte rund 800.000 Tutsis und Gemäßigte aus der eigenen Ethnie um. Zwar gilt Ruanda inzwischen als vergleichsweise befriedet, doch dürfte die Ankunft von Tausenden Immigranten fremder Sprache und Kultur, die noch dazu gegen ihren Willen nach Afrika zurückgebracht werden, Probleme verursachen. Zudem kommen sie in eins der am dichtesten besiedelten Länder der Welt (fast 14 Millionen Einwohner auf nur 26.000 Quadratkilometern), das – obwohl es mit die höchsten Wirtschaftswachstumsraten auf dem Kontinent verbucht – immer noch zu den ärmsten Regionen der Erde gehört. Einiges könnte allerdings den politischen Flüchtlingen aus ihrer einstigen Heimat bekannt vorkommen: Paul Kagame hat in den 23 Jahren seiner Herrschaft Ruanda in ein autokratisches System ohne Pressefreiheit und unabhängige Justiz verwandelt, in dem Oppositionelle spurlos verschwinden und Wahlen manipuliert werden. Amnesty International wirft den Behörden vor, die Zivilbevölkerung, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten zu kontrollieren und an ihrer Arbeit zu hindern. Nach Angaben von UNICEF wiederum wachsen 600.000 Kinder ohne Eltern oder als Halbwaisen in extremer Armut auf. Derzeit wirkt das Regime in Kigali am endlosen Bürgerkrieg im rohstoffreichen Ostkongo mit. Von dort stammt auch ein Gutteil der 130.000 Flüchtlinge in Ruanda, von denen fast alle in riesigen trostlosen Lagern dahinvegetieren müssen. Sieht so ein „sicheres Drittland“ aus, dem die Beherbergung tausender verzweifelter Migranten anvertraut werden kann? Ist dort, fern von Europa, eine unvoreingenommene Prüfung des Asylersuchens überhaupt möglich? Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus glaubt das erstaunlicherweise und tourt mit seiner exquisiten Meinung durch die Medien. Der Mann ist u. a. Vorsitzender der neoliberalen Denkfabrik ESI, die zu ihren Financiers so illustre Gönner wie den Börsenspekulanten George Soros oder das Auswärtige Amt in Berlin zählt. Zudem war Knaus für die UN-Interimsverwaltung im Kosovo tätig, deren Mitarbeiter über allen Gesetzen standen und sich von Serben wie Kosovaren Willkürakte und Untätigkeit vorwerfen lassen mussten. Jetzt schlägt der nicht so erfolgreiche „Experte“ Knaus der EU vor, sie solle mit Ruanda eine ähnliche Vereinbarung treffen, wie dies London schon getan habe. Dumm nur, dass in der vergangenen Woche die fünf Richter des Supreme Court, des höchsten britischen Gerichts, einstimmig die Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda untersagt haben, da für sie dort das Risiko bestehe, in ihre Heimatländer zurückgeführt zu werden, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben drohen könnte. Gerald Knaus empfiehlt also der EU, dem failed statesman Rishi Sunak in die Pleite zu folgen. Auch Brüssel hatte schon versucht, boat people von Europa fernzuhalten und nach Tunesien „umzuleiten“, ein Land, das gerade in Richtung islamistische Autokratie driftet und dessen Behörden Flüchtlinge ohne Wasser in die Wüste trieben. Bezeichnend sind solche Maßnahmen nicht für den Pragmatismus der EU-Politiker, sondern für ihre opportunistische Bedenkenlosigkeit und die Negierung jeglicher Menschenwürde und humanitären Verantwortung. Zwei Klassen von Traumatisierten Derzeit üben sich in der Berliner Etappe die Baerbocks, Hofreiters oder Strack-Zimmermanns in der medialen Zurschaustellung ihrer Kriegsbegeisterung, doch gibt es in Deutschland auch Menschen, die einen bewaffneten Konflikt an der Front überlebt haben und deren Rückkehr ins zivile Leben von schlimmen Erinnerungen überlagert wird. Es dauerte eine Weile, bis die Verantwortlichen registrierten, dass etliche Afghanistan-Veteranen nach ihren schrecklichen Erfahrungen unter Posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Die Betroffenen hatten vor dem Kriegseinsatz als psychisch und physisch gesund gegolten, sie waren freiwillig in den Hindukusch gegangen, dort halbwegs geschützt, verpflegt und betreut worden, dennoch erkrankten sie seelisch. Immerhin wurde ihnen mit einiger Verspätung professionelle Hilfe angeboten. Und wenigstens das ist gut so. Wie aber geht man mit Menschen um, die aus der Todesgefahr in ihrer Heimat fliehen, sich um ihre Angehörigen sorgen oder sie bereits betrauern, rechtlos durch die Welt irren, ohne Möglichkeit, in einem Land, in einer Berufstätigkeit, in einer toleranten Gesellschaft Fuß zu fassen? Ihnen verweigert die EU, deren PolitikerInnen die Menschenrechte stets auf den Lippen führen, jede Teilhabe – Traumatisierung hin, Genfer Konvention her -, pfercht sie in „Aufnahmezentren“, die Seuchenstationen gleichen, zusammen und will sie in Staaten abschieben, die sie fatal an jene, aus denen sie geflüchtet sind, erinnern… 11/2023 Dazu auch: Johnsons fieser Deal im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022) |
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