Sweet Dreams?

Cartoon: Rainer Hachfeld


Den einen geht der Schritt nicht weit genug, die andern warnen vor hemmungslosem Rauschmittelkonsum, und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach verspricht vollmundig den „Wendepunkt einer leider gescheiterten Cannabis-Drogenpolitik“. Gegen Ende dieses Jahres sollen Freunde der sanften Trance unter gewissen Bedingungen und nach reglementiertem Erwerb ihr Haschisch-Pfeifchen und den Marihuana-Joint angstfrei genießen können. Ist diese bedingte Zulassung einer weiteren Droge sinnvoll oder leitet sie den Untergang des Abendlands ein? Der Argumente und Halbwahrheiten sind so viele, dass einem bei intensiverer Beschäftigung der Kopf schwurbelt, als habe man gerade ein wenig grass zu viel durchgezogen.


Inspiration oder Sucht und Gewalt?


Im Idealfall sollte der Mensch seine gesellschaftliche Umgebung ja ohne künstliche Aufheller, euphorisierende, besänftigende oder halluzinogene Substanzen bestreiten. Aber in einer Welt wie der gegenwärtigen fällt es angesichts immer neuer Krisenmeldungen, von Hungersnöten über Klimakatastrophen, Flüchtlingsströme bis hin zu Kriegen in der Ukraine, im Jemen und anderswo, immer schwerer, völlig klaren Kopf zu bewahren. Und wer angesichts eines verdächtigen Personals von Meinungsbildnern, dem u. a. Putin, Trump, AfD-Braune, Superreiche mit Mega-Energieverbrauch, Auto-Lobbyisten im Ministerrang und Markus Söder angehören, völlig nüchtern und psychisch unbeschwert durchs Leben geht, muss katholischer Schweigemönch oder buddhistischer Asket sein und Finger, Augen sowie Ohren von allen Medien lassen.


Es existieren also genügend Gründe, sich den Status quo schönzutrinken, die Nervosität mit Nikotin zu dämpfen – oder eben mittels Cannabis in wohligen Dunst einzutauchen. Überall auf der Erde kauen Menschen Kat, Bethelnuss oder Koka-Blätter, rauchen Tabak, Haschisch oder Opium, um die Realität ertragen zu können. Solche Flucht- und Ersatzhandlungen lassen sich nicht ausrotten, bleibt also die Frage: Braucht es in unserer Kultur neben Alkohol, Glimmstängeln, Tee, Kaffee und Beruhigungsmitteln noch eine weitere Droge? Davon abgesehen, dass nichts von alledem überlebensnotwendig (aber wohl begehrt) ist, kommt die Frage viel zu spät. Eine Untersuchung von 2021 ergab, dass knapp 9 Prozent der jungen Erwachsenen regelmäßig Haschisch oder Marihuana konsumierten. Cannabis hat sich also längst als Volksdroge etabliert.


Bis zu 30 Gramm im Monat sind statthaft, die Abgabe sowie der Gehalt des Wirkstoffs THC sollen kontrolliert werden, und ein User mit grünem Daumen darf sich drei Cannabis-Pflänzchen ziehen. Klingt gemäßigt, dennoch laufen konservative Politiker Sturm gegen das Gesetzesvorhaben. Vor allem Bayern, wo das Bier, mit dem sich Millionen regelmäßig high saufen, als Lebensmittel gilt, ist strikt gegen jede Form der Legalisierung. Immer wieder wird in rechten Kreisen kolportiert, der Konsum des indischen Hanfs werde exorbitant ansteigen, wenn das Strafgesetz erst nicht mehr greife. Dabei haben Experten im Cannabis 2002 Report, den die Gesundheitsminister von Belgien, Frankreich, Deutschland, Niederlande und der Schweiz in Auftrag gegeben hatten, längst Gegenteiliges ermittelt: “Die meisten Studien zeigen, dass der Cannabiskonsum nicht durch entspannte Cannabisbesitz-Gesetze steigt.”


Seit jeher werden Haschisch und Marihuana bestimmte Eigenschaften und Wirkweisen zugeschrieben, die auf einer Positiv-Negativ-Skala von „Beflügelung der Kreativität und Phantasie“ bis zu „Auslösung von Gewaltexzessen“ reichte. Entmystifiziert man diese Zuschreibungen, ergibt sich immer noch ein widersprüchliches Bild.


Zu spät für den Kampf gegen Kartelle


Unbestritten ist, dass viele Rock- und Jazzmusiker, aber auch Maler und Literaten ausgiebig kifften. Das mag sie angespornt haben, war jedoch nicht die ursächliche Quelle ihres Talents. In den Zirkeln, die in den 1960er und 70er Jahren gegen die erzreaktionäre Geisteswelt in Deutschland und in den USA gegen den Vietnamkrieg protestierten, kreisten die Joints wie selbstverständlich. Das macht Cannabis aber nicht zu einer „progressiven Droge“, denn die kriminellen und oft rechtsradikalen Hell’s Angels griffen ebenfalls zu Dope. Dass Haschischraucher oft Friedensphilosophien entwickelten, wird durch die Tatsache gekontert, dass sich auch die GIs, die das Massaker von My Lai begingen, zuvor mit Lady Mary Jane (Umschreibung für Marihuana) antörnten. Die Droge per se vermittelt weder Werte noch Weltanschauung oder böse Triebe, das alles muss der Konsument schon selbst beisteuern.


Cannabis hat im Gegensatz zu Nikotin kaum Suchtpotential, und die Folgen bei übermäßigem „Missbrauch“ fallen meist glimpflicher aus als bei einem mutwilligen Vollrausch nach Konsum von hochgeistigen Getränken. Allerdings scheint erwiesen, dass der exzessive grass-Genuss bei Jugendlichen zu häufigerem Auftreten von Psychosen führen kann. Der Jugendschutz wird daher im Gesetzesentwurf auch großgeschrieben. Wie er gewährleistet werden soll, steht auf einem anderen Blatt.


Dass früher immer wieder Cannabis-Raucher zu härteren Rauschgiften griffen, ist kein Beleg für eine Funktion als „Einstiegsdroge“, sondern auf den Umstand zurückzuführen, dass Haschisch, das übrigens selten rein war, im selben kriminellen Milieu wie Heroin oder Kokain gekauft werden musste. Dies entfiele künftig, ob sich aber der Schwarzmarkt gänzlich austrocknen lässt, muss die Zukunft zeigen.


Für die hehre Absicht aber hat sich die teilweise Legalisierung arg verspätet: Kaum eine Regierung, die auf sich hält, versäumte es, einen erbitterten Krieg gegen das organisierte Verbrechen, in diesem Fall gegen die großen Drogen-Kartelle, anzukündigen. Für diese aber ist das Geschäft mit Cannabis längst zum marginalen Beifang geworden, die Legalisierung tangiert sie kaum mehr. Zunächst stiegen sie auf den ungleich lukrativeren Kokain-Handel um, dann ließen sie ihre Milliarden von westlichen Banken waschen, monopolisierten den Schmuggel von Raubkopien aller Art, übernahmen IT-Firmen oder sicherten sich altehrwürdige Wirtschaftszweige. Ob das Sinaloa-Kartell oder La Familia in Michoacan – an den mexikanischen oder guatemaltekischen Früchten in unseren Supermärkten, von Ananas bis Avocado, verdienen meist Gangster mit.


Die Kleinen müssen nicht mehr hängen


Ein großer Wurf ist Lauterbachs Gesetz, so es denn im Parlament reüssiert und der Bundesrat es nicht stoppen kann, sicherlich nicht. Aber es trägt einer sich – auch im Freizeitverhalten – verändernden Gesellschaft Rechnung. Wer einen Joint raucht, muss nicht zwangsläufig als Rechtsbrecher oder „asozialer Rauschgiftsüchtiger“ diffamiert werden.


Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte zwei Gramm Haschisch, die bei ihm gefunden wurden, für einen jungen Menschen das Ende der akademischen Laufbahn oder der beruflichen Karriere bedeuten. Bei zehn Gramm lag die Vermutung nah, es handle sich um einen hochkriminellen Dealer, Haftstrafen und Einträge ins Vorstrafenregister waren an der Tagesordnung. Später mäßigten sich die Staatsanwälte und werteten den Besitz geringer Mengen gewöhnlich als Bagatelldelikte. Doch dies entsprang informellen Übereinkünften, nicht den Buchstaben des Gesetzbuchs. Sollte Lauterbachs Entwurf nach der Sommerpause des Bundestags angenommen werden, hat der gelegentliche Cannabis-Konsument erstmals Rechtssicherheit.



















         Subkultur, vertreten durch Prof. Dr. Karl Lauterbach, 

         versus Hochkultur, repräsentiert von Dr. Markus Söder


Die gleiche Rechtssicherheit, die auch der Besucher des Münchner Oktoberfests oder des Politischen Aschermittwochs in Passau hat, wenn er sich fünf Maß Bier hinter die Binde kippt…


08/2023


Dazu auch:


Rauch der Unschuld im Archiv der Rubrik Medien (2015)