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Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich nach langem Zögern dazu entschlossen, einen angesagten Club aufzusuchen, um sich auf Ihre alten Tage mit Gleichgesinnten – je nach Temperament oder Lebensalter – in heiße Disco-Musik oder tiefschürfende Konversation zu stürzen. Doch am Eingangsportal erklärt Ihnen der etwas schmierig und brutal wirkende Türsteher, Sie hätten in diesen heiligen Hallen nichts zu suchen. Und jetzt endlich erkennen Sie den Zerberus: Das ist doch Recep Tayyip Erdoğan… Ein wahrhaft würdiger Partner So erging es Schweden und Finnland, als sich beide bis dato zumindest formal neutralen Länder gemeinsam unter die Fittiche der Allianz für die hehren Werte und – last not least – die wirtschaftlich-militärischen Interessen des Westens, der NATO also, begeben wollten. Ausgerechnet ein Außenseiter im 30 Staaten umfassenden Bündnis verhinderte die Aufnahme zunächst beider skandinavischer Aspiranten, was durch das Gebot der Einstimmigkeit bei solchen Entscheidungen möglich wurde. (Übrigens zickt auch noch ein anderes Sorgenkind der Militärgemeinschaft, nämlich Ungarn, weil dem Staatschef Viktor Orbán die Wahrnehmung seiner Politik in Stockholm und Helsinki zu negativ erscheint.) Inzwischen stimmt Erdoğan dem Beitritt Finnlands zu und wird dies im Mai vom Parlament ratifizieren lassen, gegen Schweden aber, wo unlängst einige unappetitliche anti-islamische Kundgebungen stattgefunden hatten, besteht das türkische Off-Limits-Verdikt weiter. Bleiben die Fragen, was den autoritären Populisten in Ankara dazu bewegt, sich gegen den Rest der NATO zu stellen, was ihm überhaupt die Macht dazu verleiht und mit welchen Finten sowie windelweichen Zugeständnissen sein Zorn besänftigt werden soll. Schweden-Ulf und Finnen-Sanna freuten sich auf einen behaglichen Aufenthalt im angesagten NATO-Club, doch der auf den Namen Recep Tayyip Zerberus hörende Wachhund und sein gefiederter Freund Viktor hatten etwas dagegen. Die Türkei hatte zuvor Bedingungen gestellt, darunter die Wiederaufnahme von Waffenlieferungen und die Auslieferung türkischer Exilanten, die das Regime in Ankara des Terrorismus verdächtigt. Finnland und Schweden haben ein Abkommen mit der Türkei unterzeichnet, um die Einwände Ankaras auszuräumen. Für die Gegner ungehemmter Rüstungsexporte und für Oppositionelle im Exil sind dies schlechte Nachrichten, doch im Falle Schwedens reichen die Zugeständnisse Edoğan immer noch nicht. Im Grunde erpresst der türkische Staatschef den eigenen Club ebenso unverschämt wie erfolgreich. Da er sich auch mit seinem Bruder im Geiste, Wladimir Putin, gut versteht, erhält er nicht nur das russische Verteidigungssystem S400 (was die ihn ebenfalls umwerbenden USA provoziert), sondern auch das westliche Plazet für seine Feldzüge in den Irak und nach Syrien. Um ihren unsicheren Kantonisten nicht zu verlieren und gleichzeitig eine lange Ostfrontlinie unter Einbeziehung Finnlands und Schwedens zu ermöglichen, segnet die selbsternannte Menschenrechtsvereinigung NATO die völkerrechtswidrigen Überfälle Erdoğans auf andere Staaten ab und schweigt zu den türkischen Drohgebärden gegenüber dem Mitglied Griechenland sowie zur aggressiven Diskriminierung ethnischer Minderheiten in Anatolien. Verbündete elegant fallen lassen Seit dem Ende des osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg wurden Armenier, Kurden, assyrische Christen und die letzten verbliebenen Griechen in türkischer Diaspora häufig Opfer von Anfeindungen bis hin zu Pogromen seitens der in Ankara an die Macht gekommenen Militärs und Nationalisten. Den höchsten Blutzoll entrichteten einst die Armenier in zahllosen Massakern, heute zahlt ihn die kurdische Gemeinschaft, deren (gewählte) Bürgermeister entmachtet, deren Politiker ins Gefängnis geworfen und deren junge Aktivisten liquidiert werden. Da der „Vater der modernen Türkei“, Kemal Atatürk, als Modernisierer im Sinne westlicher Zivilisation wahrgenommen wurde, regte sich gegen ihn und seine Nachfolger in Europa und den USA kaum Kritik (wenn nicht gerade mal wieder das Militär eine bürgerliche Regierung aus dem Amt geputscht hatte). Recep Erdoğan aber schuf ein klepto-kapitalistisches System mit islamisch-fundamentalistischem Überbau, in dem die Angehörigen anderer Völker und Religionen von vornherein unter Generalverdacht standen. Den Westen schien dies abermals nicht weiter zu stören. Dass sich bereits Jahrzehnte zuvor bewaffneter kurdischer Widerstand formierte und dass die Truppe der PKK auch terroristische Methoden anwendete, ist die logische Konsequenz staatlicher Repression. Als aber die Kämpfer die Waffen niederlegen wollten, sich ein progressives ökologisches wie basisdemokratisches Programm verordneten und Verhandlungen über eine begrenzte Autonomie anboten, ging Erdoğan zum Schein darauf ein, nur um kurz danach umso brutaler zuschlagen zu können. Die meisten NATO-Länder hatten die PKK längst auf die Terror-Liste gesetzt (wie auch Schweden, wo sie verboten wurde) und revidierten diese Einschätzung weder, als sie das grausame Vorgehen Ankaras registrierten, noch als sie die Partisanen der kurdischen Arbeiterpartei und ihre syrischen Kollegen von der YPG benötigten, um die von der Ausrottung bedrohten Jesiden im nordirakischen Sindschar-Gebirge zu retten und um den IS niederzuringen. Wenn Erdoğan Menschenleben und Infrastruktur in Nachbarländern vernichten lässt und seiner politischen Gegner auf der ganzen Welt habhaft werden will, kann er auf Waffenlieferungen seitens des Westens (wie auch aus Russland), auf stillschweigende Billigung und - im Falle der PKK-Einstufung - auf Entgegenkommen zählen. Der IS ist besiegt, also braucht man die einstigen Verbündeten nicht mehr, man paktiert lieber mit dem Beelzebub, um den Teufel in Moskau auszutreiben. Die Morallüge Um Putin zu bekämpfen, ist es aus Sicht der NATO offenbar legitim, einen Mann gewähren zu lassen, der sich wie der Russe als nationalistischer Eroberer geriert, der wie dieser erzreaktionäre, rassistische, homophobe und religiös-ultraorthodoxe Positionen vertritt. Und Erdoğan lässt sich seine „Neutralität“ wie ein Pate, der zwischen Mafia-Familien vermittelt, teuer bezahlen. Damit die Finnen noch vor den Schweden unter den NATO-Schutzschirm kriechen dürfen, rüsten sie die Invasionsarmee der Türkei auf, beide skandinavischen Länder werden wohl die Meinungsfreiheit zumindest in Bezug auf Ankara beschränken müssen. Wir werden sehen, ob sie künftig auch noch die eine oder andere Auslieferung wohlwollend prüfen werden. Natürlich sind Zweckbündnisse im globalen Machtkampf durchaus üblich, selbstredend verfolgen Länder und Staatengemeinschaften ihre Interessen oft skrupellos, doch sollten Grenzen dort respektiert werden, wo der Frieden einer Weltregion oder des ganzen Globus durch aggressives Vorpreschen bedroht wird. Die NATO ist ohne Rücksicht auf Verluste nach Osten expandiert, statt ein entmilitarisiertes Gebiet zwischen den Atommächten zu initiieren, und Putin diente diese Provokation zur Rechtfertigung eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs, der nun auch „großrussische“ Ansprüche durchsetzen soll. Ihn wegen des inhumanen Vorgehens in Den Haag anzuklagen, scheint legitim, löst aber nicht nur in der Dritten Welt Kopfschütteln aus. Wo blieben denn, so fragen sich viele Beobachter mit einem Rest von Geschichtsgedächtnis, die Prozesse gegen westliche Regierungschefs und Militärs nach den Kriegen in Vietnam, im Irak, in Jugoslawien oder in Libyen? Und wieso hofiert der Westen den Putin-Klon Erdoğan und verbündet sich mit dem saudischen Mörder Mohammed bin Salman? Eine ehrliche Antwort fiele recht ernüchternd aus: Weil es uns nie um Menschenrechte oder politische Moral gegangen ist, sondern ausschließlich um die Durchsetzung unserer militärischen und ökonomischen Interessen. 03/2023 Dazu auch: Wer darf? Wer nicht? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022) |
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