Über den Atlantik


Bei einem Mittagessen fragte mich Hermann Glaser, ehemaliger Nürnberger Kulturreferent und Doyen der deutschen Soziokultur, ob ich mir vorstellen könne, einen Band zu seiner Reihe „Buchfranken“ beizusteuern. Kunst, Geschichte, Sport – alles wäre denkbar gewesen, soweit der Bezug zu der nordbayerischen Region gewahrt bliebe. Ich hatte damals gerade einen Beitrag für das Lateinamerika-Dossier (Rubrik Politik und Abgrund) beendet und war noch nicht ganz frei von Erinnerungen an und Reflexionen über diesen Subkontinent. So schlug ich spontan vor, drei nicht gerade alltägliche und naheliegende Verbindungen Frankens zu diesem Teil der Dritten Welt zu thematisieren.


Der ewige Diktator


Das Ergebnis dieser Spurensuche liegt nun in Buchform vor. Die Recherchen für „Ich kann nicht mehr zurück…“ führten mich weit in die eigene Vergangenheit zurück, genauer: in die Zeit der längeren Reisen durch Mittel- und Südamerika, auf denen meine politische Orientierung geschärft wurde, als mir klar wurde, auf welcher Seite ich künftig zu stehen hätte. So soll der Band 13 der Reihe Buchfranken keine Heimatkunde mit exotischen Einsprengseln vermitteln, sondern die ewigen antagonistischen Probleme der globalen Herrschaftsausübung behandeln – wenn auch vom Beobachtungsposten meiner  Herkunftsregion aus. Das Buch ist nicht als Polit-Folklore für interessierte Nordbayern gedacht, es soll ein Report sein, der Menschen in Deutschland und anderswo über wenig beachtete Zusammenhänge informiert.


Migranten und Reisende aus Franken haben in Kolumbien und Nicaragua Positives bewirkt, doch wäre es fahrlässig und bar jeder Dialektik gewesen, nicht auch eine blutige, nach Mord, Herrenmenschentum und Korruption riechende Fährte zu verfolgen. Der Mann, der sozusagen den negativen Gegenpol zu den Initiatoren erfolgreicher sozialer Projekte bildete, hieß Alfredo Stroessner und war auf seine oberfränkische Abstammung väterlicherseits stolz.


Dreieinhalb Jahrzehnte lang regierte der ewige Diktator Paraguay, ein Land, das hierzulande oft als Operetten- und Bananenrepublik abgetan wird, das aber im 19. Jahrhundert ein beispielhaftes Projekt für die Souveränität und Autarkie ganz Lateinamerikas zu werden versprach. Die damalige Supermacht demolierte dieses Vorbild mit Hilfe ihrer Marionetten in Buenos Aires sowie Rio de Janeiro und leitete den Niedergang Paraguays ein, der seinen Tiefpunkt in Stroessners Kleptokratie finden sollte, deren Nachwirkungen noch heute jede Entwicklung hemmen. Es ging mir in den drei Teilen des Buches stets darum, die handelnden Personen bzw. ihre Aktivitäten in einen historischen und politischen Kontext zu stellen. So wird der deutschtümelnde Franken-Abkömmling mit seinem Faible für geflohene Nazi-Verbrecher vor dem Hintergrund der paraguayischen Geschichte abgebildet. Auszug:

Nach dem Sturz Peróns 1955 fühlten sich einige ehemalige NS-Größen in Argentinien nicht mehr sicher und siedelten nach Paraguay zum deutschstämmigen Sympathisanten Alfredo Stroessner über, allen voran Hans-Ulrich Rudel, am Ende des Zweiten Weltkriegs der am höchsten dekorierte Offizier der deutschen Wehrmacht. Rudel waren zwar keine Kriegsverbrechen nachzuweisen, doch machte er nie ein Hehl aus seiner nationalsozialistischen Gesinnung, war als Waffenhändler und Militärberater für mehrere lateinamerikanische Diktaturen tätig, kandidierte 1953 auf der Liste der  rechtsextremen Deutschen Reichspartei für den Bundestag und unterstützte später die Deutsche Volksunion. Noch heute gilt er  Neonazis und Militaristen in der Bundesrepublik als untadeliges Vorbild. In Asunción war Rudel bald der Wortführer der deutschen Nazi-Kolonie und avancierte schnell zum persönlichen Vertrauten Stroessners. Einen anderen Freund protegierte er getreulich und führte ihn in die feine Gesellschaft Paraguays ein: Josef Mengele.

  Mit keinem anderen Namen (von dem Eichmanns vielleicht abgesehen) verbinden sich der Rassenwahn, die pseudo-wissenschaftlich maskierte Bestialität und die mörderische Konsequenz des deutschen Nationalsozialismus derart eng wie mit dem des Lagerarztes im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Mengele war für die „Selektion an den Rampen“ zuständig, d. h. er sortierte die Alten, Kranken und Schwachen aus und schickte sie in die Gaskammern, während er die anderen Häftlinge zu einer Sklavenarbeit einteilte, an deren grausamer Härte die meisten früher oder später zugrundegingen. Andere KZ-Insassen infizierte er mit Krankheitserregern, operierte sie ohne Betäubung oder führte an ihnen Experimente mit äußerst schmerzhaftem bis tödlichem Ausgang durch. Für die Menschenverachtung, den ungezügelten Sadismus und die kriminelle Energie des NS-Regimes stand Mengele weltweit als düstere Symbolfigur, als Synonym des Grauens, als Todesengel des Holocaust. Und dieser Mann, nach dem die halbe Welt – zumindest vorgeblich – fahndete, wurde am 27. November 1959 offiziell in Paraguay eingebürgert.


Ein Kämpfer gegen die Armut


Von ganz anderem geistigen Kaliber und von ungleich mehr Nutzen für die Menschen, speziell die recht- und stimmlosen Bewohner der Elendsviertel, war der Protagonist des zweiten Buchteils, der streitbare Jesuit Alfred Welker, der aus der Bamberger Gegend kam. Von Nürnberg aus, wo er mit straffällig gewordenen, süchtigen und/oder obdachlosen Jugendlichen gearbeitet hatte, zog er aus mit dem Anspruch, einen kolumbianischen Slums innerhalb von zehn Jahren zu sanieren – ein Vorhaben, das eines Don Quijote würdig gewesen wäre. Welker blieb länger, an die dreißig Jahre; er schaffte es nicht, die Gewalt, die Drogen, die inhumane Hackordnung gänzlich zu eliminieren, aber er ebnete den Weg zu schulischer Bildung und Gesundheitsvorsorge für die Kinder, schuf eine menschenwürdige Umgebung für Familien und bahnte zahllosen Jugendlichen den Weg aus den barrios.


Auch Welkers Ansatz und Leistung lassen sich nur adäquat einordnen, wenn man wenigstens rudimentär über la Violencia, den permanenten Bürgerkrieg in Kolumbien, die Drogenmetropole Cali und die historische (durchaus ambivalente) Rolle der Jesuiten in Südamerika Bescheid weiß. Daher habe ich mir auch im zweiten Teil einige Exkursionen in die Geschichte des Landes und des Ordens, der zurzeit den Papst stellt, erlaubt.


Neben Welker selbst kommen Weggefährten und Unterstützer, aber auch Betroffene aus den Slums selbst zu Wort. Sie zeichnen das unvollendete Bild eines schroffen Menschenfreundes, eines unorthodoxen Christen (ob uns der religiöse Beweggrund nun gefällt oder nicht) und gleichzeitig eines Antikapitalisten, der seine Gemeinde nicht auf das Jenseits vertrösten wollte und sich deshalb pausenlos mit den Mächtigen und der Obrigkeit anlegte. Bezeichnend für seine Ausstrahlung, aber auch seine Effizienz war das Entsetzen vieler Menschen beiderseits des Atlantiks, das sein trauriges Ende auslöste. Auszug:


Und Alfred Welker musste nun erleben, dass sich la violencia, das unselige kolumbianische Phänomen der Geringschätzung fremden menschlichen Lebens, direkt gegen ihn selbst richtete. Als Mann klarer Worte hatte er sich bald Feinde gemacht, Drogendealer, Betrunkene und Machos, deren Ehrgefühl er gekränkt oder deren Frauen er vor ihrer Brutalität gerettet hatte, aber auch manche Stützen der besseren Gesellschaft in Cali und deren uniformierte oder klandestine Helfershelfer. In einem Land, in dem jeder kritische Geist unter Kommunismus-Verdacht fiel und damit vogelfrei wurde, aus dem selbst der weltberühmte Schriftsteller und Nobelpreisträger Gabriel García Márquez emigrierte, weil er seines Lebens nicht mehr sicher war, geriet man leicht auf irgendeine Todesliste. Welker war vorgewarnt: Sein Freund, der belgische Pater Daniel Hubert Gillard war 1985 von Soldaten erschossen worden, und auf ihn selbst waren bereits fünf eher halbherzige Anschläge begangen worden, am 2. November 1989 aber wurde es todernst: Welker wurde nachts in seinem Heim überfallen. In einem Brief an seinen Nürnberger Mentor, Pater Joe Übelmesser, schrieb er: „Diesmal war es ausgezeichnet organisiert, und den Typen gelang es sogar, sich ins Pfarrhaus durchzuschießen und mir einige Schüsse zu verpassen. Einer ging durch den Arm, ein anderer streifte die rechte Augenbraue. Außer, dass ich geblutet habe wie ein Schwein, ist mir nichts passiert. Und klar, ein mittelschwerer Schock, so dass ich ungefähr jede Nacht um 1.00 Uhr früh aufwache und Angst habe. Dieses halbe Dutzend Schüsse – auch wenn mit Schalldämpfer abgegeben – haben mich und auch die Leute aus dem Schlaf der Sicherheit aufgeweckt. Wir müssen sehr bald dieses Werk so organisieren, dass die Arbeit weiterläuft, auch wenn der Kopf abgeschlagen wird.“


Ferne Nachbarn


Die Welt schaute ein paar Jahre lang auf Nicaragua, ein kleines Land, das sich des Diktatoren-Clans der Somozas entledigt hatte, nur um sich in den 1980er Jahren im ökonomischen und militärischen Würgegriff der Vereinigten Staaten wiederzufinden. Einige Aktivisten in Nürnberg machten sich daran, den Sandinisten in Managua, die gerade die erfolgreichste Alphabetisierungskampagne der Geschichte durchführten, politische, aber auch materielle Unterstützung durch eine lokale Initiative zukommen zu lassen. Gegen den Widerstand der CSU und auch einiger SPD-Rechter gelang es ihnen, eine Städtepartnerschaft der fränkischen Halbmillionenstadt mit der von Regenwald umgebenen Gemeinde San Carlos am Nicaragua-See, die kaum 40.000 Einwohner zählt, durchzusetzen. Es ging damals hoch her im Nürnberger Stadtrat, und selbst das Münchner US-Generalkonsulat schaltete sich in den Meinungsstreit ein, der übrigens auf kuriose Weise durch ein unvorhersehbares Votum entschieden wurde – doch bald hörte man nirgends mehr Kritik gegen eine Partnerschaft, die diesen Namen wirklich verdient.


In mehr als drei Jahrzehnten wuchs die intensive Beziehung der beiden Kommunen, die durch Kultur- und Jugendaustausch, Klimapartnerschaft, Hilfe seitens der Stadt Nürnberg bei Infrastruktur-Projekten und Umweltschutz in Nicaragua, umgekehrt durch Kunst und Musik als Gegengaben des einst bitterarmen San Carlos sowie zahlreiche zwischenmenschliche Kontakte befeuert wurde, zu einem Modell für eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen der Dritten und der Ersten Welt heran. Die Effekte dieser nun schon länger als eine Generation andauernden Symbiose lassen sich ganz einfach beschreiben: ein besseres und gesünderes Leben für die Leute in San Carlos und viele neue Erfahrungen und Freunde für die Menschen in Nürnberg. Auszug:


Bislang war den Initiatoren nur klar gewesen, dass eine Partnerschaft mit irgendeiner Stadt in Nicaragua eingegangen werden sollte, mit welcher wussten sie noch nicht. Dies änderte sich erst durch den Kontakt mit Wolfgang Meier von der hiesigen Botschaft des zentralamerikanischen Staates. Der Oberpfälzer aus Schnaittenberg, Diplom-Volkswirt, bereiste 1979 Nicaragua, schloss sich den sandinistischen Guerilleros an, kämpfte in ihren Reihen gegen den Somoza-Clan und wurde schwer verwundet. Nach dem Sieg der Revolution entsannen sich die Comandantes der ökonomischen Kenntnisse des Deutschen und machten ihn zum Wirtschaftsattaché an der diplomatischen Vertretung des Landes in Bonn. Ich war Wolfgang Lobo Meier bereits in Managua begegnet und bat ihn nun, die Akzeptanz einer möglichen Partnerschaft mit Nürnberg in Nicaragua zu prüfen und gegebenenfalls in Frage kommende Orte zu benennen. Meier kam nach Nürnberg und berichtete uns, dass die Verantwortlichen im Ministerium für Kultur in Managua dem Vorhaben sehr positiv gegenüberstünden, und schlug uns einige Städte „zur Auswahl“ vor, darunter waren der Hafen Corinto, eine Kaffeeanbau-Kommune im Norden und eben – als gottverlassenste Gegend – die Region Río San Juan mit San Carlos als Hauptstadt. Wir entschieden uns aus drei Gründen für die letztere Option: Zum einen konzentrierte sich damals die internationale Unterstützung weitgehend auf die Zentren und die Agrargebiete im Norden Nicaraguas, während der bettelarme und schwer zu erreichende Süden des Landes ein wenig abseits der Hilfetransfers lag; zum andern existierte in San Carlos nur eine rudimentäre Infrastruktur, so dass jede Form logistischer, medizinischer oder technischer Aufbauarbeit trotz unserer bescheidenen Möglichkeiten den Lebensstandard der Menschen dort bereits positiv beeinflussen konnte. Zudem lag die Region Río San Juan so weit ab vom Schuss, dass sich hier der schmutzige Krieg der Contras weniger gravierend auswirkte als anderswo, was eine kontinuierliche Entwicklung und die Verbesserung der Lebensverhältnisse wahrscheinlicher machte.

 

Band 13 „Ich kann nicht mehr zurück… Fränkische Spuren in Lateinamerika“ ist im Schrenk-Verlag, Röttenbach, erschienen. Sie können es unter www.buchfranken.de direkt bestellen und erhalten auf dieser Website auch Infos über die weiteren Titel der Buchreihe.