Verbrannte Schiffe

 

Roman 

 

 

 

 

Inhalt:

Prolog: Omen

Erster Teil: Megalopolis

Zweiter Teil: Verräterstädte

Dritter Teil: Die Umkehrung der Reconquista

Vierter Teil: Verbrannte Schiffe

Epilog: Ausklingende Dissonanzen

 

 

 

Auszüge:

 

Erster Teil, aus dem Kapitel 5: 

 

Da Bernal keine Pfeife hatte, musste er die Halbzeitpause ausrufen. Emil, Kapitän und Wortführer der Mannschaft, kam, um sich zu beschweren. So haben wir uns das nicht vorgestellt, sagte der Torhüter wütend, auf dem Scheißplatz bricht man sich die Knochen, und wenn nicht in einem Rattenloch, dann weil diese Kanaken holzen wie Irre. Tatsächlich hatten beinahe alle Spieler kleinere Blessuren, Risse, Abschürfungen, blaue Flecken, bis auf Ali, der ein eleganter und wendiger Techniker war, und Stan, der den Einheimischen bei seinen Dribblings immer wieder entwischt war. Er wusste, dass sie ihn und nicht Hernan für die Auswahl des Gegners verantwortlich machen würden. Er ging zu dem Spanier, der sich abseits hielt, und bat ihn, auf die Mexikaner einzuwirken, dass sie sich bei den Zweikämpfen ein wenig mehr zurückhielten. Hernan zuckte nur mit den Schultern. Vielleicht waren sie gestern zu lange in der Pulqueria, sagte er, und: So sind sie dann eben in diesem Land, brutal und hinterlistig. Er wies auf die gegnerischen Spieler, die auf der anderen Seite im Schatten kauerten und Tortillas mit Salz und Chili-Schoten aßen. Vorgestern haben sie noch ganz gehorsam gewirkt. Aber spätestens in Puebla treffen wir auf diszipliniertere Krieger.  

   Bernal rief die Mannschaften wieder auf den Platz. Bis zur Pause waren die Deutschen nur eins zu drei hinten gelegen, ein achtbares Resultat angesichts der Umstände; jetzt aber zehrte die dünne Luft an ihrer Lungenkraft, fehlte der Sauerstoff, der fatalerweise durch Partikeln aus Ruß, Schwefel und anderen unzuträglichen Substanzen ersetzt wurde. Ihre Pässe gingen ins Leere, weil keiner sie mehr erlaufen konnte, stattdessen rollte eine Attacke nach der anderen auf ihren Strafraum zu. Mittlerweile spielten die Angreifer beinahe körperlos, konnten ihnen doch die Gringos nichts mehr entgegensetzen, weil sie viel zu beschäftigt damit waren, auf die Alarmzeichen ihrer erschöpften Physis zu lauschen, und nun vermochten die Opfer der ersten Halbzeit sich der flinken, konditionell überlegenen Einheimischen nur noch zu erwehren, indem sie alles taten, um sie von den Beinen zu holen, durch böse Grätschen, was allerdings wegen der mexikanischen Schnelligkeit selten gelang, oder indem sie den Ballführenden auflaufen ließen, ihn mit der höheren Masse des eigenen Leibes zu Boden stießen. In anderen Hemisphären der Fußballwelt hätte ein derart überlegenes Team die unbeholfenen Regelverstöße ignoriert und die eigene Spielkunst zelebriert, doch diese Männer aus den barrios waren keine Ästheten, kannten nur die direkte Antwort mit gleicher oder besser: härterer Münze, ließen nichts, nicht einmal den Fehlversuch einer Attacke, auch nur zwei Sekunden ungerächt. Und so musste es schließlich passieren.

 

 

Dritter Teil, aus dem Kapitel 15:

 

Etwas klatschte auf den Boden. Ihm fiel erst jetzt auf, dass keine Musik lief. Einer der beiden Männer hatte ausgespuckt, eine volle Ladung, die keine zwanzig Zentimeter von seinem rechten Fuß entfernt einen Flecken, der so groß und substanziell war, dass er ihn trotz der relativen Finsternis sehen konnte, auf dem Lehmboden hinterließ. Jetzt spie der andere in seine Richtung aus, und er kam dem Fuß noch näher. Er glaubte, ein Grinsen unter den Hutkrempen zu sehen. Die letzte Illusion, er habe nur ein wenig Verfolgungswahn, verflüchtigte sich mit einem weiteren Quantum Spucke, das beinahe seinen Schuh traf. Die beiden Männer begannen, sich leise zu unterhalten, in einem Dialekt oder Jargon, den er nicht verstand. Wohl aber begriff er den höhnischen Grundtenor, hörte er das böse Lachen wie nach obszönen Witzen, identifizierte er von Zeit zu Zeit das Wort gringuito, nahm abschätzende Blicke von der Seite wahr. Er saß näher zur Tür, konnte also vermutlich draußen sein, bevor sie reagierten. Andererseits wusste er nicht, wie schnell sie reagierten, wie schnell er vor allem nach diesem Tag noch reagieren konnte, und ob er sich nicht fürchterlich lächerlich machte mit haltlosen Verdächtigungen. Er war immer stolz auf seinen Instinkt gewesen, der ihn heil durch Kolumbien und inzwischen vergessene oder verdrängte Bürgerkriege in Zentralamerika gebracht hatte, der ihn im entscheidenden Moment vor Taschendieben und ladrones gewarnt und ihn Auswege aus den düstersten Ecken hatte wittern lassen. Doch dieser Instinkt hatte ihm heute nichts genutzt, erst jetzt – und damit zu spät - suggerierte er ihm eindeutig, dass dies hier kein fröhliches Trinkerlokal war und dass ein Eigentumswechsel nicht ohne Gewalt abgehen werde. Die Tür öffnete sich leise, eine hagere Gestalt glitt herein, musterte die Szene, lächelte flüchtig den beiden Totschlägern zu, nickte und verließ die Bar. Mögliche Gegner kommen in bedrohlichen Situationen gefährdeten Menschen unweigerlich hässlich vor. Immer noch befand er sich der Tür näher als die beiden Kontrahenten, auch wenn auf der Straße ein weiterer Feind wartete. Aber er könnte ihn überraschen, zur Seite stoßen und in den dunklen Gassen verschwinden. Doch wo war er überhaupt? Sie würden ihn einholen, noch bevor er sich orientiert hätte. Und wenn er rechtzeitig auf eine Polizeistreife träfe? Er würde womöglich Cholera gegen Pest eintauschen, denn Anklagen und Gründe für Misshandlungen (in Notwehr) und Enteignungen waren rasch konstruiert. In jüngeren Jahren hatte er manche Schlägerei bestritten, nicht immer erfolgreich, aber auch nicht chancenlos; inzwischen war er lethargisch, ihm fehlten Schnelligkeit und Brutalität für Banditen wie diese hier. Er ergab sich dem Schicksal und bestellte noch einen Mezcal. Der Wirt reagierte nicht auf die Order, sondern stützte sich mit gespreizten Ellbogen, erwartungsvoll in die Runde schauend, auf das Brett, das eine Theke sein sollte. 

   Er hätte sich konzentrieren sollen, stattdessen verfiel er in die Träumerei des Opfers, die wohl schon den Märtyrern der Weltreligionen zweckfreie Bedeutung suggeriert hatte. Durch den Schleier, den er resignierend in Erwartung der Attacke vor die notwendige scharfe Beobachtung der Umgebung gezogen hatte, erreichten ihn plötzlich zwei, dann drei widerstreitende oder unzusammenhängende Signale: Zuerst hörte das Spucken nach seinen Füßen auf, dann kam in tückischer, fast einschmeichelnder Milde das Flüstern „Ey gringo, tienes dinero? Yo tengo seis niños sin comida“, dieselbe Almosenbitte um ein wenig Geld für hungernde Kinder wenig später noch einmal, dann etwas lauter und jetzt in spöttischem Ton, begleitet von scheinbar absichtslosem Spiel der Rechten am Messer im Gürtel, als Aufforderung zum bösen Tanz, an sein Ohr und schließlich, während er noch daran dachte, ein paar lose Peso-Scheine aus der hinteren Hosentasche auf den Tisch zu werfen, um so von der Börse mit den Devisen und den Schecks in der vorderen rechten Jeanstasche abzulenken, schwoll ein langsam näherkommender fröhlicher Missklang aus mehreren besoffenen Stimmen draußen auf der Straße zu einer Einlass begehrenden Kakophonie an. Sie brachen durch die Tür, sieben oder acht stämmige, rotgesichtige Männer, angetrunken, aber bester Laune und auf der Suche nach mehr Alkohol. Die Gattinnen mochten sich im Hotel erholen, die im Bürgerleben gesetzten Anhänger von Arsenal oder ManU wollten mehr Alkohol. Der Wirt wechselte von der Rolle des Räubers oder Voyeurs ansatzlos in die des umsichtigen Patrons, stellte Flaschen Bier vor sie hin, Whisky aus Taiwan, Mezcal oder heimtückischen Pulque – alles, was sie wünschten, worauf sie deuteten, was er ihnen verkaufen wollte. Die beiden Totschläger warfen einen wohltuend sachlichen Blick auf ihn, ihr vermeintliches Opfer, und verließen grußlos die Cantina, wobei der eine noch einmal die fröhliche Runde aus Albion ins Auge fasste und ein resigniertes hijos de puta zwischen fast geschlossenen Lippen entweichen ließ. Zum dritten Mal hatte er die Route Britannias gekreuzt oder dieses alkoholgeneigte Flaggschiff unter den Nationen die seine, und jetzt beschloss er, dass er nicht mehr von den würdigen Repräsentanten lassen werde, wenigstens nicht, bis er in die sichere Nähe des Zócalo und damit seines Hotels käme, dann draußen im Dunkeln lauerte das urwüchsige México, zumindest der Teil davon, den wir nicht so mögen. Er gesellte sich zu den Briten, tauschte artige Höflichkeiten und derbe Scherze mit ihnen aus und lud sie zu einer Lage Bier und Schnaps ein, was sie auch ohne Zögern annahmen, war doch ein Englisch sprechender Deutscher, andernorts vielleicht nicht so gern von ihnen gesehen, in dieser fremdartigen Weltregion mit ihren unheimlichen Eingeborenen fast so etwas wie ein Landsmann. Immer wieder erhoben sie ihre in den Orkangesängen der Premier League geschulten Stimmen, um relativ harmonisch trunkselige Weisen, die nur geübten Ohren schön klangen, zum Besten zu geben. Dann aber, nach einer kurzen Pause besinnlichen Trinkens, begann einer von ihnen, der eine wirklich wohltönende Baritonstimme hatte, solo ein Lied zu singen, bei dem es ihm, dem passiven Zuhörer, eiskalt den Rücken hinunterlief: „There were three men coming out of the west...“ Die altenglische Ballade „John Barleycorn Must Die“ , die von der Verfolgung und dem letztendlichen Sieg des König Alkohol über Verfolgung und Folter erzählt, kannte er in mehreren Versionen, und vor vielen Jahren schon waren ihm die blasphemische Lyrik und die suggestive Melodie unter die Haut gegangen, als habe ein Drogen-Mystiker des ausgehenden Mittelalters zu ihm gesprochen.               

                     And little Sir John with his nut brown bowl               

And his brandy in the glass               

     And little Sir John with his nut brown bowl

                        Proved the strongest man at last 

 

 Noch eine halbe Stunde später, als er traumwandlerisch sicher mit seinen neuen Freunden, seiner ohne deren Wissen angeheuerten Leibwache, durch menschenleere Straßen dem Zócalo zustrebte, summte er verzückt die Kampfhymne wider die Abstinenzler vor sich hin.

 

 

 

Vierter Teil, aus dem Kapitel 19:  

 

 

Der Mann war lang und schlank, wirkte aber muskulös und irgendwie gefährlich. Ein Blick unter die Schreibtischplatte zeigte ihm, dass der Boss – natürlich – Cowboy-Stiefel trug, vermutlich handgefertigt und vermutlich aus seltenem Schlangen- oder Kaimanleder. Einer dieser in diversen Rasensportarten, Survival-Trainings für Multi-Millionäre und ihre Manager oder Westernreiten auf der eigenen Ranch in Montana oder Texas, die sicherlich die Ausdehnung eines deutschen Mittelgebirges besaß, gestählten jungen Alten, dachte er. Sie werden schnell fünfzig dem Aussehen nach, aber das bleiben sie dann bis zum Ende ihres Lebens. Als er sich, von einer Handbewegung ermuntert, auf dem einzigen Stuhl vor dem Arbeitsplatz des Hausherren niederließ, glaubte er zunächst, der Schreibtisch müsse auf einer Art Empore stehen, weil sich die Kante der Platte ihm gegenüber auf Höhe seines Brustkorbs befand. Bei näherem Hinsehen registrierte er jedoch, dass sowohl der Schreibtisch als auch der Stuhl des Produzenten enorm langbeinig waren, so dass wer immer hier mit ihm sprach oder verhandelte, zu ihm aufsehen musste. Die ganze Szenerie, diese oberflächliche Inszenierung von ökonomischer und medialer Macht, hätte ihm an anderem Ort und zu anderer Zeit ein Lächeln abgenötigt – hier im tropischen Veracruz, auf der Flucht vor anderen Malaisen, allein in diesem Tempel erfolgreicher Geschmacklosigkeit, der rücksichtslosen Ignoranz eines Magnaten ausgeliefert, wirkte sie beängstigend auf ihn. Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte, wobei sich sein Gesicht in ein Mosaik unzähliger kleiner Falten und Risse auflöste, was einen anderen sicherlich sympathisch gemacht hätte, dann stellte er eine Frage, das Demo-Band und die Begegnung mit dem Musiker betreffend; die Stimme, so tief, so sonor, wie erwartet, der Slang so südlich-breit, langsam und lässig, wie in jedem Klischee festgeschrieben.  

   Er legte den Tonträger auf die glänzende Mahagoniplatte und begann zu erzählen, wie er Neil in Tlaxcala getroffen hatte, von dessen Bitte, die Aufnahmen in Veracruz abzugeben. Weiter kam er nicht. Das glaube ich, dass er nicht selber vorbeischauen wollte, unterbrach ihn der Hausherr, hatte wohl Angst um seine Eier, damn’ motherfucker. Er hatte bislang geglaubt, diese gängige Beschimpfung in allen möglichen Situationen und Facetten gehört zu haben: in spöttischem Tonfall, aus momentanem Ärger, manchmal sogar aus Wut geäußert, oft beiläufig, seltener schon mit herablassender Zuneigung; diesmal aber schwang etwas so kalt Aggressives, gezielt Bösartiges in dem Ausdruck mit, dass er wie das Schlusswort eines Killers klang. Er zuckte beschwichtigend die Achseln, obwohl er nicht gemeint war. Der Mann erhob sich zu imposanter Größe, schob die Hände halb in die Vordertaschen seiner Jeans und schritt den Raum auf und ab. Dabei sprach er, und in dem fast leeren Zimmer vibrierte und dröhnte die Stimme, obwohl er sie nicht hob, nichts von dem, was er sagte, betonte. Es schien ihm wenig an der Wirkung auf den Zuhörer zu liegen; der begann sich sogar zu fragen, ob der Monolog überhaupt für ihn bestimmt oder eher als Rezitation gedacht war, vielleicht zur Stärkung des Langzeitgedächtnisses oder zur Entlastung des Magens, der Galle und der Leber von schwarzem Schleim, der sich dort angesammelt hatte. In jedem Fall war es die Suada eines reizbaren Giganten, endgültig wie das kategorische Resümee eines erzürnten Gottes, zumindest ebenso gebieterisch. 

   Man wird sich fragen, warum ich mich überhaupt mit dem Gesindel beschäftige, diesen großmäuligen Chicanos mit langen Messern und wenig Geld in der Tasche und den Dilettanten aus meinem Vaterland, die unbrauchbare Drehbücher für sie liefern, sentimentales Gedudel komponieren und von einem sauberen Filmschnitt so viel Ahnung haben wie ein jüdischer Fleischer von einem Schweinekotelett. Ich sollte eine ordentliche Action-Serie für TV und Internet gleichzeitig produzieren oder einen Film mit Johnny Depp oder Bruce Willis und das Merchandising gleich mit übernehmen. – Er hielt kurz inne, blickte seinem schweigenden Zuhörer ohne großes Interesse ins Gesicht, nahm dann den Gang durch den Bürosaal und den Monolog wieder auf, wobei er sich dem Sujet von einer anderen Seite näherte. – Lange Zeit haben wir diese klebrigen Telenovelas, mit denen sie hier angefangen haben, überhaupt nicht beachtet: zu wenig Handlung, ein Milieu-Mix aus idyllischer Armut und anachronistischem Landadel, oft in einer historischen Urzeit angesiedelt, an die sich nicht mal Onkel Toms Großmutter hätte erinnern können. Gift für die Kassen, dachten wir. Welcher normale Mensch würde sich den Schmalz von annodazumal anschauen? Welche auch nur halb intelligente Werbeagentur würde ihre Spots zwischen Peitschenhieben und Sklavenküssen platzieren? Doch dann bekamen wir mit, dass die Mex-Sippen, die in unseren Südwesten eingewandert waren, an den Nachmittagen wie gebannt an der Glotze hingen, dass die Illegalen in Frisco und in Watts ihre Messerstechereien unterbrachen, um sich das hundertste Märchen vom bösen Haciendero und seinem edelmütigen Sohn reinzuziehen, dass sogar die weißen Farmerfrauen in Iowa und die WASPs in Oklahoma mit den bedrängten, aber noch unberührten Señoritas in ihren untertitelten Soaps mitfühlten. Und als wir uns umdrehten, mussten wir feststellen, dass nicht nur die Brasilianer, die inzwischen ähnlichen Schund drehten und - vor allem - verkauften, feuchte Augen hatten, sondern auch die Türken und Afrikaner in Timbuktu mit weinten, ja sogar die Schwuchtel der europäischen Fernsehgesellschaften ihren Lämmern diese Melasse wie Champagner vorsetzten. Das waren alles unsere Märkte, genau so wie dieser Wurmfortsatz von Land südlich des Rio Grande, in dem wir uns gerade aufhalten, unser kulturelles Einfluss- und Verbreitungsgebiet war. Wir hatten geschlafen, also mussten wir aufwachen und die Sache wieder in die Hand nehmen. Wenn die Leute braune Gigolos und Halbindianerinnen sehen wollten - kein Problem. Wir casteten ein paar mexikanische Señoritas, die gut genug Englisch radebrechten, um unsere Regieanweisungen zu verstehen, und bauten diese Eingeborenendörfer und verfallenen Städte nach, das alles in San Antonio. Aber es floppte. Wir imitierten die hiesigen Telenovelas zu perfekt. Um das zu kapieren, musste ich selber hier herunter kommen, meine Agenten und Regisseure in die Cafés, Cantinas und Bordelle schicken. Und Veracruz war ein gutes Pflaster. Vor hundert Jahren waren schon unsere Marines hier, jetzt haben wir uns festgekrallt. Unsere Truppen haben Veracruz wieder geräumt, das werden wir nicht tun. Hier haben wir die entscheidenden Tipps bekommen: Die Leute wittern, dass hinter den neuen Telenovelas Gringos stecken, und von denen erwarteten sie keine schwarzgelockten Lolitas mit Kupferhaut und Superbusen, keine Dörfer mit Kakteenzäunen und keine Cantinas mit Tequila-Leichen; sie wollten großgewachsene, durchtrainierte Blondinen, die nach Chanel und Wallstreet duften. Sie wollten natürlich immer noch Tragödien – keinen Zynismus wie seinerzeit in „Dallas“ -, aber die sollten sich in Metropolen abspielen, nicht in Dörfern, und nicht auf abgelegenen Fincas, sondern in Lofts und Penthouses. Aschenputtel war nie hässlich, warum sollten es dann die Heldinnen unserer Tage sein. Was ist langweiliger, als einem Mädchen bei harter Hausarbeit zuzuschauen. Also servierten wir junge Models auf den ersten Stufen der Erfolgsleiter. Versteht sich, dass dem privaten Glück noch etwas nachzuhelfen war. Im Augenblick gehen wir noch ein Stückchen weiter: Was in Europa die Zuschauer argwöhnisch machen würde, kommt bei den nach Kohle und Statussymbolen hungernden Emporkömmlingen in Mexiko, Argentinien, Malaysia oder sonst wo in der gottverdammten Dritten Welt besonders gut an, das unverhüllte Product Placement. Nicht verschämt hier ein Ford-Emblem oder ein MacDonald’s-Plakat, dort ein Lacoste-Shirt, nein,  offen die Citibank als Hüterin der Werte, General Electrics als Garanten des Fortschritts. Und da, wo wir den Rahm abzuschöpfen gedenken, kommt das an, dort weiden unsere eigentlichen Goldesel. Nicht mehr im alten Europa und in den Vereinigten Staaten, wo die Leute sich nicht mal mehr die Versicherung ihrer überschuldeten Häuser leisten können. Und wir erzielen Quote damit, und unsere Kunden machen Umsatz. Die Mexikaner haben kapiert, dass es in unseren Soaps nicht um die Peripherie dieser gottverdammten Welt geht, den  Salat auf dem Teller, sondern um das Zentrum. die Wirtschaft, die Macht, sexy politics, das Steak sozusagen.  Und wir können noch mehr als gut verkaufen und Eingeborenen imponieren: In diesem unseligen Land träumen einige immer noch von Revolution, von Pancho Villa oder Zapata. Nicht umsonst bekommen die Commies von der PRD bei jeder Präsidentenwahl immer noch so viele Stimmen, dass sie alle sechs Jahre wieder lautstark über Betrug lamentieren, wenn sie leer ausgehen. Mag ja sein, dass was dran ist, aber manchmal muss man der Vernunft ein wenig nachhelfen. Warum nicht ein wenig reality in unsere Telenovelas einstreuen, mal eine Nutte auftreten lassen, deren Vater als Funktionär bei den Perredistas für die Arbeiterrechte blökt, oder in einer – fiktiven – Zeitungsschlagzeile einem Kandidaten von dem linken Gesocks ein schwules Verhältnis mit Schwester Subcomandante Marco von den Zapatisten anhängen. Man kann auch manchmal bei der Wahrheit bleiben. Wenn sich die sozialistischen Damen und Herren von der Stadtverwaltung in Mexico City wieder mal einen Skandal bei der Verteilung von Milch an die Ärmsten leisten, schöpfen wir den Rahm ab und zeigen in Großaufnahme, wie die süßen Babys hinreißender Mütter mit angeborenem Huren-Appeal an der Molke verhungern. Es ist an uns Fernsehmachern, die Werte von Handel und Freiheit auf unserem Kontinent hochzuhalten, wenn der Clan der Unfähigen in Washington glaubt, sich unter Einsatz kostspieliger, aber unzureichender Mittel und Methoden mit den Kameltreibern zwischen der Sahara und Vorderindien herumschlagen zu müssen, und dabei seine Pflichten in unserem ureigensten Hinterhof vernachlässigt. Unsere Pflicht ist es, Soldaten durch Schauspieler zu ersetzen und Politik durch Entertainment. Wir haben die richtigen Produkte, deshalb können wir die Mex weichkochen. Wir arbeiten für die freie Welt und den freien Handel, und jetzt beginnen wir auch, ganz gut damit zu verdienen. Unser Konzept geht auf. Der Plot, die Kulisse, das Outfit und die Weiber müssen ihren Vorstellungen entsprechen, die Moral liefern wir. Natürlich brauchen sie stimmungsvolle Musik dazu, sie sind schließlich herzerweichend sentimental; selbst die brutalsten Messerstecher vergießen heiße Tränen, wenn sie ein Lied von verlorener Liebe hören. Pures Mariachi- und Ranchero-Gedudel haben sie allerdings längst satt, das läuft schließlich auf allen Kanälen. Also mischt man das Gewimmer mit einem Schuss Country und ein wenig Rock, aber nicht zu extrem; so erkennen sie ein paar Melodiefetzen aus ihren kitschigen Balladen wieder und bekommen gleichzeitig mit, wo jetzt der Takt geklopft wird. Der Sound ist wichtig, und am besten nimmt man dazu abgehalfterte Rock-Musiker, die keine Ambitionen mehr haben, aber noch in der Lage sind, zwei, drei Themen zu schreiben und dramatisch aufzupeppen, eben kommerzielle Versager wie Neil Jordan. Der spinnt wohl, ist ständig von irgendwas stoned oder von Mezcal verkatert, aber man muss sich nicht mit jungen Talenten und verkannten Genies herumschlagen, die sich für Johnny Cash und Miles Davis in einer Person halten. So, jetzt wissen Sie, warum ich auf das Tape gewartet habe. 

   Der Produzent umrundete den Schreibtisch und setzte sich auf seinen Stuhl. Dann beugte er den Oberkörper nach vorne, legte die Unterarme auf die glänzende Platte und sah seinem Besucher direkt ins Gesicht. Er grinste. Sie halten mich für ein Arschloch, nicht wahr? Einen – wie sagt ihr – rücksichtslosen Ausbeuter und Imperialisten? – Er antwortete nicht. Was zählten schon Wahrheit und persönlicher Mut in der Höhle des Löwen? – Nun, sagte der Südstaatler, vielleicht haben Sie recht. Aber das ist ganz egal. Entscheidend ist, auf welcher Seite man steht, und die richtige Seite ist immer die des Erfolgreichen und Mächtigen. Falls ich Ihnen mit meiner Privatphilosophie dienen darf.

   Er sagte nichts, wie hätte er auch sein dünnes Stimmchen in diesem engen Kosmos aus bedenkenloser Arroganz, hermetisch geschlossenem sozialdarwinistischem Weltbild und unschlagbarem Durchsetzungswillen zur Gehör bringen können. Ein seltsamer Vergleich fiel ihm ein: Waren nicht die einzelnen Menschen verschiedener Klassen, nicht etwa wegen rassischer Zugehörigkeit oder genetischer Vorbestimmung, sondern in ihrer Wesensart und Sicht der Lebensdeterminanten mindestens so weit voneinander entfernt wie zwei höchst gegensätzliche Tiergattungen? Was nützt es dem Bonobo-Affen, wenn er intelligenter ist und sozialer denkt als der muskulöse und auf sein Ziel fixierte Leopard, wenn er am Ende doch von diesem gefressen wird? Der Produzent indes schien auch gar keine Antwort erwartet zu haben. Er lehnte sich zurück, betrachtete seine Fingerspitzen (breite, aber gepflegte Nägel, soweit man es erkennen konnte). Und was machen Sie in diesem langweiligen Land?   Er zögerte, aber irgendwann musste er einmal etwas sagen, eine Antwort geben, und so dachte er kurz und angestrengt nach, wie er den Grund seiner Anwesenheit in Mexiko beschreiben sollte, ohne sich lächerlich zu machen. Von irgendeinem Soccer-Team (sein Gegenüber hielt europäischen Fußball vermutlich für einen „Schwulensport“) zu erzählen, das aufgrund seiner Trinkfestigkeit sich mittlerweile hierzulande dezimieren lassen durfte, hätte wahrscheinlich Unglauben, Hohn und Spott hinter dem Schreibtisch geerntet. Während er noch über eine abgeschwächte Version (vielleicht eine deutsch-mexikanische Sportpartnerschaft) nachdachte, wurde er durch Intervention von außen jeder geistigen Anstrengung enthoben. Das Model aus dem Vorzimmer hatte geräuschlos den Raum betreten, stellte sich neben den Produzenten und flüsterte ihm ein paar Sätze ins Ohr. Tut mir leid, sagte dieser, wieder seinem Besucher zugewandt, ich hätte mich gern noch weiter mit Ihnen unterhalten, auch wenn Sie nicht zu den Gesprächigen gehören, aber immer wenn’s am schönsten ist, muss einer gehen. Grüßen Sie Neil von mir und sagen Sie ihm, dass ich alles brauche, alle Tapes und die gesamte Instrumentierung. Sein Dope kann er behalten, so lange er funktioniert. Ich führe ihn an langer Leine, habe auch den Cops nichts gesteckt. Noch nicht. Aber Gott gnade ihm, wenn er mich hängen lässt... Carmen wird Sie hinaus begleiten und Ihnen etwas für den Weg geben.

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