Ewig grüßt der Avatar
Cartoon: Rainer Hachfeld


Pausenlos liest oder hört man derzeit über die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, die positiven Anwendungen und die unkalkulierbaren Risiken der Künstlichen Intelligenz (KI). Höchste Zeit also, dass auch wir auf dieser Homepage unseren mit Spannung erwarteten Senf dazugeben. Wir wollen uns nicht im Ungefähren ergehen, sondern potentielle Einsätze der bahnbrechenden IT-Entwicklung auf ganz konkreten Gebieten prüfen.


Hauptsache real


Der Mensch hat es nicht gern abstrakt, daher sollte der KI, wenn sie denn ihren Auftritt bekommt, eine gegenständliche bzw. persönliche Entsprechung zugeordnet werden, was sich am leichtesten mit Avataren (virtuellen Doppelgängern sozusagen) bewerkstelligen lässt. Schon der Liebe Gott schuf einst Adam aus ordinärem Lehm und hantierte zum Zweck der Diversifizierung mit seinen Rippen, statt reinen Geisteswesen Leben einzuhauchen. Die Verwendung von Avataren empfiehlt sich natürlich erst recht für Aktionen der Irreführung oder Demoralisierung des Feindes, wie etwa Selenskyjs in Putins Reich sorgsam gefakte Kapitulationsrede im Frühjahr 2022 andeutet. Gut, perfekt war die Täuschung nicht gerade, aber man/frau ahnt doch, welche Chancen sich an der Cyber-Front auftun.


Eigentlich lässt sich KI in allen Lebensbereichen einsetzen, durchaus erfolgversprechend, zumindest für den Player, der sie anwendet. Im Zeitalter der allgegenwärtigen Plattitüden und der weltumspannenden Gegenaufklärung lässt sie sich elegant instrumentalisieren und wird die von gesunder Skepsis, vorsichtigem Verstand und humanitärer Denkungsart gesetzten ethischen Grenzen locker überwinden. Wir wollen uns hier deshalb nicht über den Verfall der Sitten beklagen, sondern -  ganz positiv eingestellt – die gesellschaftliche Wirkweise der real aussehenden Surrealität charakterisieren.


Angesichts der schier endlosen Bandbreite des Spektrums beschränken wir uns allerdings auf zwei konkrete Spielplätze der KI, die exemplarisch für alle anderen Lebensbereiche stehen sollen: die Imitation der Hoch- und Niederkultur sowie die Frage, was man mit Algorithmen so alles in der Politik und vor allem mit deren Darstellern anfangen kann.


Second Hand in der Kunst


Auf den ersten Blick scheint es so, als sei ein Zeitalter der digitalen Kunstfälscher angebrochen – doch Vorsicht, die bloße Kopie bringt kaum Profit: Die Mona Lisa kann von KI durchaus nachgepinselt werden, vielleicht sogar diffiziler als vom Meister selbst, aber dummerweise hängt sie unverrückbar hinter Panzerglas im Louvre, weswegen die Nachfrage gering sein dürfte. Also wäre unsere artifizielle Kreativität am ehesten dafür geeignet, bislang nicht entdeckte Werke großer Maler oder Bildhauer hervorzubringen. Nun ist KI jedoch zwar handwerklich äußerst geschickt und speichert so ziemlich alles, was eine Kunstgröße von sich gegeben und produziert hat, leider hat sie aber keine Ahnung davon, was einem Genie noch so alles in den Sinn hätte kommen können, weil ihr die Originalität fehlt.


Bei dem Befehl „Mach mir einen Kupferstich von Dürer!“ würde KI wohl auf das antrainierte Geschick sowie das gespeicherte Wissen über Themenschwerpunkte und Stilelemente des Malers zurückgreifen. Damit könnte sie dann versuchen, etwas „Ähnliches“ zu schaffen. Im besten Fall wird das Ergebnis bemüht und epigonenhaft wirken, mit etwas Pech kämen dann „Hase, Tod und Teufel“ oder ein Nashorn mit gefalteten Händen bzw. ein „Mittagessen“ von da Vinci dabei heraus. Wenn der digital versierte Fälscher aber ein ziemlich plausibles „bislang unbekanntes Opus“ auf den Kunstmarkt werfen will, sollte er dafür sorgen, dass es nicht unbedingt im Silicon Valley oder im Trump Tower gefunden wird.


Erasmus von Rotterdam mit Nashornschädel und betenden Händen: Es handelt sich nicht um einen Kupferstisch von Albrecht Dürer, sondern um eine mit KI (Künstlerischer Intelligenz) kreierte Collage von Rainer Hachfeld.


In der abstrakten Kunst ist von KI abzuraten, da diese möglicherweise versuchen würde, gegenständliche Ordnung in die Gemälde zu bringen. Das könnte auch beim Einsatz für das Absurde Theater passieren, wenn etwa der Versuch, ein Stück à la Becketts „Warten auf Godot“ zu kreieren, in einer deutschen Schalterhalle, in der die Schauspieler Nummern ziehen müssten, landet.


In der populären Musik ist hingegen eine führende Rolle von KI durchaus denkbar, wirken doch bereits heute die Rolling Stones wie auf alt getrimmte Avatare, die seit Jahrzehnten Songs spielen, die vor vielen Jahrzehnten von den jüngeren Originalen fabriziert worden sein könnten. Die vier schwedischen Pop-Nachtigallen von ABBA lassen sich mittlerweile ganz offiziell von digitalen Doppelgängern vertreten. Und das führt uns direkt zu dem Feld, auf dem KI die wichtigsten Schlachten schlagen dürfte, und zwar zur Politik.


War‘s er? Oder war‘s sein IT-Klon?


Auf einer hochseriösen Reise nach Schweden, die Energie- und Sicherheitsfragen diente, verschlug es den deutschen Kanzlerkandidaten in Lauerstellung, Markus Söder, auf die Karaoke-Bühne des ABBA-Museums in Stockholm, wo er zwei Minuten lang zusammen mit den vier Band-Avataren den Hit „Dancing Queen“ sang und physisch performte. Eine gnädige Tontechnik ließ seine Stimme im Playback untergehen, aber die linkischen Tanzbewegungen blieben Zehntausenden von Followern auf dem Twitter-Ersatz X in Erinnerung. Manche fragten sich: War’s echt der Söder, oder doch nur ein digitales Imitat? Die Antwort fällt aus zwei Gründen leicht: So ungeschickt präsentiert KI eine ihr anvertraute Person von Rang nicht, und außerdem hätte der den notorischen Lautsprecher Söder mimende Avatar es nie zugelassen, dass man nicht hören kann, was er so von sich gibt.


Allerdings wäre natürlich eine mit Algorithmen gedopte Instanz, die sämtliche Rollen des großen Franken und dessen blitzschnelle Wechsel von dumpfer Demagogie zu irgendwie logisch klingenden Äußerungen zusammenfassen, artikulieren und eventuell sogar erklären könnte, schon sehr hilfreich. Andererseits würde die Personalunion aus tiefgläubigem Christen, der gerne Hetzreden hält, überzeugtem Bayern, der seine Heimat nie im Stich lassen würde, außer wenn er gerade deutscher Kanzler werden will, und standhaftem Opportunisten vielleicht selbst elaborierte KI überfordern.


Einfacher scheint es, einem Olaf-Scholz-Klon gefakte Statements in den Mund zu legen. Für die äußere Erscheinungsform, insbesondere die Mimik, bräuchte man sich nicht viel Mühe zu geben, da der Hanseat offenbar als Kind in einen Botox-Bottich gefallen ist. Die Sprache wiederum ist einfach, monoton und vorhersagbar, könnte also leicht künstlich generiert werden, soweit die zuständige KI vom Auftraggeber ausreichend mit Kinder-Comics (für den „Wumms“) und Landserheftchen (für „Bazooka“) gefüttert wird.


Ganz anders schaut es bei dem großen Berserker Donald Trump aus, der in seiner rasenden Irrationalität sich selbst, uns allen, aber auch der auf Reste von reproduzierbarer Vernunft erpichten KI ein Rätsel ist. Einst hieß es in der schönen analogen Werbung: „Ist der Hund gesund, freut sich der Mensch.“ Nun könnte man im Umkehrschluss bangen: „Ist der Trump wahnsinnig, dreht möglicherweise auch seine KI-Version durch.“


03/2024


P.S. Beim nochmaligen Lesen des obenstehenden Textes fällt mir auf, dass ich mich nur an das Verfassen der Überschrift und des Vorspanns erinnern kann. Soweit ich weiß, begab ich mich, als ich beides fertig hatte, mit ein paar Büchern in mein Stammcafé, um dort bei einem Glas Wein die dürftigen Kenntnisse über Künstliche Intelligenz aufzufrischen. Jetzt finde ich das abgeschlossene Machwerk auf dem Schreibtisch vor. Mein PC schweigt eisern dazu.