Wildes Deutschland

Cartoon: Rainer Hachfeld


Von jenseits der Grenzen wurde unsere Heimat einst als Hort der Pünktlichkeit, Ordnung, Gemutligkeit und des Spießertums angesehen, bisweilen auch als Land der Dichter und Denker gepriesen. Die Zeiten ändern sich, verwirrt blicken die Zaungäste nun auf ein Staatsgebilde, in dem kein Zug mehr nach Fahrplan verkehrt, Straßen blockiert werden und allenthalben der Volkszorn tobt. Zum Glück können wir aber noch den 300. Geburtstag des philosophischen Superstars der Aufklärung, Immanuel Kant, feiern, auch wenn wir uns fragen müssen, ob nicht die reine Vernunft dem Gros unserer Landsleute abhanden gekommen ist.


Wenn Zwei das Gleiche tun…


„Denken heißt vergleichen“, lautete ein Sinnspruch des 1922 von Rechten ermordeten Reichsaußenministers Walther Rathenau, der heute nicht mehr berücksichtigt wird. Wenn zwei Tatbestände einander ähnlich sind, müssten sie auch einigermaßen adäquat beurteilt werden können, oder? Von wegen! Während die Klima-Kleber der Letzten Generation vom Fußvolk mit Selbst- bis hin zur Lynchjustiz bedroht, von Gerichten der Präventivhaft für würdig befunden und von Politikern sowie Springer-Journalisten als Verbrecher diffamiert wurden, wenn sie den Verkehrsfluss hemmten, schlug den Bauersleuten hoch zu Traktor überwiegend Sympathie entgegen, als sie Straßen massiv blockierten.


Selbstverständlich spielt bei der Bewertung von Aktivitäten das jeweilige Motiv eine Rolle, und hier müssten die Umweltschützer ein klares Plus verzeichnen, kämpfen sie doch uneigennützig gegen die Gefährdung der Lebensgrundlagen aller Menschen – wenn auch vielleicht nicht immer mit geeigneten Methoden. Die empörten Landwirte hingegen wollen das Ende von Steuerbefreiungen, den Kraftstoff für ihre landwirtschaftlichen Gefährte („Agrardiesel“) und die Kfz-Abgabe betreffend, nicht hinnehmen. Die weitere Subventionierung der Nutzung fossilen und damit die Klimakatastrophe befeuernden Sprits wird also aus Eigennutz gefordert. Allerdings müsste derselbe Schritt auch beim Flugbenzin unternommen werden, doch fürchtet die Ampel anscheinend die Blockade von Start- und Landebahnen durch Millionen von Ballermann-Touristen. Feststeht aber, dass Egoismus viel populärer und in der Sache durchsetzungsfähiger ist als ökologische Notwehr.


Tatsächlich wird vor allem den kleinen Landwirten derzeit viel zugemutet. Zwar fließen die Subventionen der Regierung und der EU recht munter, doch kommen sie vor allem bei den großen Agrarbetrieben an, was allerdings weniger der Ampel als den eigenen Bauernfunktionären geschuldet ist. Und die geringen Erzeugererlöse für Landwirtschaftsprodukte haben ausnahmsweise nicht die Grünen, sondern die Handelsketten und Discounter-Oligarchen zu verantworten. Aber die Öko-Partei, die ein bisschen weniger Pestizide auf den Feldern und ein paar stillgelegte Flächen mehr für den Naturschutz propagiert, ist in ihrem miesen Erscheinungsbild derzeit ein griffiger Gegner. Wenn man, ohne viel Sinn und bar jeglicher Verständigungsbereitschaft, grüne Politiker attackiert, aussperrt oder verfolgt, weiß man im heutigen Deutschland viel Sympathie auf seiner Seite, und das nicht nur im ländlichen Raum. Ausländische Beobachter indes wundern sich, wie wild und wirr die Stimmung zwischen Alpen und Nord-Ostsee doch geworden ist.


Sind Affen bessere Menschen?


Auch die Tierwohl-Kampagnen, die zu artgerechter Aufzucht und Haltung des Rinds, Schweins oder Huhns beitragen sollen, sind vielen Menschen suspekt, fürchten sie doch einen (bescheidenen) Griff in ihre Geldbörse oder – im Fall des Nutzviehhalters – eine Überprüfung der animalischen Lebensbedingungen. Zur gleichen Zeit aber überschlagen sich viele Städter vor Empathie, wenn es um das traurige Los tierischer Geschöpfe geht, die als „süß“, interessant oder menschenähnlich empfunden werden.


Der Nürnberger Zoo hält eine Horde der in freier Wildbahn vom Aussterben bedrohten Guinea-Paviane – offenbar mit gutem Erfolg, denn in ihrem Freigehege vermehrten sich die Tiere so ausgiebig, dass auf dem für 25 Exemplare ausgelegtem Gelände sich mittlerweile 45 Affen tummeln.

Überalterung und Inzucht bedrohen den Erfolg des Artenschutzprogramms. Maßnahmen zur Empfängnisverhütung schlugen fehl, andere Zoos haben keine Kapazitäten und für die Auswilderung fehlen die natürlichen Habitate, da die wenigen geeigneten Gebiete in Westafrika ebenfalls übervölkert sind. Also trat Tiergartendirektor Dag Encke vor die Presse und kündigte die Tötung mehrerer Paviane als unvermeidlich an.


Plötzlich explodierte das hierzulande bisweilen so schmerzlich vermisste Mitgefühl und ergoss sich wie glühende Lava in die Leserbriefspalten der fränkischen Zeitungen und die Hörerdiskussionen bayerischer Sender, ja erreichte sogar den SPIEGEL. Nun darf man sich sicherlich fragen, ob die Planung der Zoo-Verantwortlichen präzise genug war, bezeichnender aber scheint mir die Diskrepanz zwischen allgemeiner Gleichgültigkeit im gesellschaftlichen Alltag und beinahe hysterischer Erregung im exotischen Einzelfall. Dieselben Bürger, die angesichts der tage- und wochenlangen Torturen, die Schweine und Rinder vor ihrer Schlachtung erdulden müssen, angesichts der Viehhaltung in engen, schmutzigen und dunklen Verliesen, der Qualzucht-Moden bei Hunden oder der materiellen Not von Tierheimen, in die nicht mehr genehme Spielgefährten verwöhnter Kinder kurzerhand entsorgt werden, lediglich mit den Achseln zucken, ereifern sich in moralischer Hybris über das Einschläfern von wenigen alten Affen.


Sehr selektiv vergießen die Bundesbürger bittere Tränen über das traurige Schicksal unserer Freunde aus dem Tierreich


Immerhin handelt es sich bei Pavianen um Primaten, sozusagen die nahen Verwandten aus der Urzeit unserer Menschwerdung, höre ich den Einwand passionierter Tierschützer. Mag sein, dass die Aufklärung die Bürger empfindlicher gegen Barbarei und Willkür von oben gemacht hat, einen Sinn für Gewichtung und realistische Einordnung eines brachialen Vorgehens hat sie ihnen offenbar nicht vermittelt. Ansonsten würden sich sehr viel mehr Menschen sehr viel lauter darüber entrüsten, dass Tausende von Flüchtlingen, sozusagen unseren nächsten Verwandten in der Gegenwart, im Mittelmeer ertrinken, teils wegen unterlassener Hilfeleistung hochzivilisierter Länder, teils weil sie von Küstenwachen oder von FRONTEX, der maritimen Wach- und Schließgesellschaft der EU, in die Wellen zurückgetrieben werden.


Universalreiniger Kant?


Die bürgerliche Aufklärung, deren Superstar Kant die Edelmedien anlässlich seines Wiegenfestes im 18. Jahrhundert derzeit ausgiebig feiern, war ein Fortschritt, denn sie leitete den Anfang vom Ende einer angeblich gottgewollten Allmacht der Fürsten und des Adels ein. Andererseits zeigt sich 300 Jahre später, dass Urteilskraft und Solidarität in unserer Gesellschaft mal wieder abnehmen und Figuren wie Trump, Höcke, Putin oder Orbán einen rasanten (nationalen wie globalen) Rückschritt in die weit entfernte Vergangenheit zu signalisieren scheinen.


Immanuel Kant selbst hatte – wie so viele deutsche Geistesgrößen – auch seine dunklen Seiten. Vollmundig forderte er die Gleichheit aller Menschen, teilte aber die Erdbevölkerung in Rassen ein, von denen nicht alle seine Wertschätzung hatten. Im Bewusstsein geblieben sind von ihm eigentlich vor allem ein paar Allgemeinplätze, etwa die Pflicht, das eigene Handeln stets nach generellen moralischen Prinzipien auszurichten, als Forderung im Kategorischen Imperativ. Übrigens hat der Universalgelehrte Kant seine ostpreußische Heimat in Königsberg nie verlassen, also nichts außerhalb seiner engeren Umgebung je persönlich kennengelernt, offenbar seine weltumspannenden Maximen also aus der Heimaterde gesogen. Nach dem letzten großen bewaffneten Ausflug Deutschlands ging die leider verloren und nach ihr scheint auch die vom großen Sohn beschworene reine Vernunft in kleinbürgerlicher Aufgeregtheit unterzugehen.


Ein häufig zitierter Satz Kants hinterlässt derzeit einen bitteren Nachgeschmack: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Wenn der aber recht dürftig, unfähig zur Selbstreflexion oder bereits total vergiftet ist? Dann zerstören Bauern die eigene Umgebung durch Monokulturen, Abholzung und Trockenlegung; regen sich Bürger über den effizient geführten Streik der GdL auf, ohne daran zu denken, dass bei dessen Erfolg ihre eigenen Rentenansprüche steigen; will Christian Lindner die Aufrüstung künftig auf Kosten der Empfänger von Sozialhilfe und Grundsicherung bestreiten; verteidigen Markus Söder und Hubert Aiwanger das Grundrecht auf Schweinsbraten, ohne sich um dessen Entstehungsgeschichte zu scheren. Aber zur Ehrenrettung der Letzteren sei hinzugefügt, dass sie nie im Sinn hatten, Paviane zu verspeisen.


03/2024


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