Mehr Assanges nötig
Cartoon: Rainer Hachfeld


Der Jubel war zunächst groß, erwies sich aber schnell als verfrüht: Julian Assange, der Mann, der die Kriegsverbrechen der Alliierten im Irak aufdeckte und deshalb von Washington unerbittlich verfolgt wird, darf nicht in die USA ausgeliefert werden. Wenigstens vorläufig nicht! Denn die Richter des High Court in London sahen noch Klärungsbedarf in drei Punkten und forderten Präzisierungen sowie Garantien von den US-Behörden und dem britischen Innenministerium. Sollten sie allerdings in den nächsten Tagen zufriedenstellende Antworten aus Übersee erhalten, könnte Assange doch noch in die Vereinigten Staaten überstellt werden. Und die stets demonstrativ auf Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit pochende „westliche Welt“ hätte einen Skandal allererster Güte.


Zynisches Pokern um ein Menschenleben


Assange, Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, hatte sich Dokumente über die Kriegsführung der US-Army im Irak und Afghanistan verschafft und so u. a. ein Massaker an Zivilisten im Zweistromland lückenlos nachweisen können. Für die Aufdeckung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhielt der gebürtige Australier den Media Award von Amnesty International, den Global Exchange Human Rights Award, den Stuttgarter Friedenspreis und zahlreiche andere internationale Auszeichnungen. Die US-Administration hingegen beschuldigte den Mann, der die dunklen Seiten der God’s Own Country so despektierlich öffentlich ausgeleuchtet hatte, der Spionage sowie des Datendiebstahls und verfolgte ihn mit grimmiger Hartnäckigkeit, assistiert von Regierungen, die es im Bündnisfall nicht so ernst mit den Menschenrechten nehmen wollten.


Als Assange eine Aufenthaltsgenehmigung in Schweden beantragte, sah er sich plötzlich mit zwei – im Nachhinein konstruiert wirkenden - Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert. Zwar wurden inzwischen die Anklagen wegen Beweismangels fallen gelassen, damals aber reichten die Indizien der Stockholmer Justiz zu einem internationalen Haftbefehl. Assange floh in die ecuadorianische Botschaft in London, wo er sieben Jahre lang in engsten räumlichen Verhältnissen ausharren musste, ehe ihn ein neues rechtes Regime in Quito auf Drängen Washingtons vor die Tür setzte. Seit fünf Jahren sitzt Assange nun in einer Isolationszelle des Londoner Hochsicherheitsgefängnisses Belmarsh, nach einem Schlaganfall krank und suizidgefährdet, was das Tory-Innenministerium nicht davon abhält, seine Übergabe an die US-Häscher massiv zu betreiben. Heißt also, dass Schweden trickste, Ecuador sein Wort brach und Großbritannien den Hilfssheriff gab, nur um einer Supermacht, die sich ungern bloßgestellt sieht, geflissentlich zur Hand zu gehen.


Statt diese Tatbestände zu berücksichtigen und das Recht der Whistleblower, schwere staatliche Vergehen gegen Kriegs- und Menschenrecht mit unorthodoxen Methoden zu enthüllen, anzuerkennen, wollen die Londoner Richter drei Infos zu eher rhetorische Anfragen von den US-Behörden, die diese relativ lässig geben können, ohne die Befriedigung des eigenen Rachedursts zu gefährden.


Ohrfeige für Schönwetter-Humanisten


Nachdem die untere Instanz dem Antrag auf die Auslieferung des Wikileaks-Chefs zugestimmt hatte, stellte sich der High Court zunächst quer. Drei von neun Punkten von Assanges Berufungsantrag befand das Gericht für so bedenkenswert, dass es quasi darum bittet, Ungereimtheiten in angemessener Zeit richtigzustellen, damit der Auslieferung nichts mehr im Wege stehe. Die Richter wollen von Washington wissen, ob für den Angeklagten ebenso wie für einen US-Bürger das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt. Weiter fordern sie, dass Assange nicht wegen seiner fremden (australischen) Staatsbürgerschaft vorverurteilt werden dürfe und auch die Todesstrafe nicht verhängt werde.


Um die in den ersten beiden Punkten geäußerten Bedenken zumindest oberflächlich zu entkräften, bedarf es nur einiger Lippenbekenntnisse bzw. schriftlicher Floskeln seitens der zuständigen US-Stellen. Papier ist geduldig, und die Texte darauf spiegeln nicht immer die Realität wider, wie sich an der US-Verfassung zeigt, die Freiheit für alle Menschen propagiert, aber von Sklavenhaltern wie Thomas Jefferson oder George Washington geschrieben und verabschiedet wurde. Diese Diskrepanz zwischen Worten und Taten befürchtet auch Assanges Gattin Stella, die Präsident Biden aufforderte, „keine billigen Zusicherungen“ abzugeben, sondern das Verfahren ganz einzustellen. Und zum dritten Punkt der Londoner Richter: Wenn statt der Hinrichtung „nur“ 175 Jahre in einem der berüchtigten US-Gefängnisse drohen, ist dies kein großer qualitativer Vorteil in Sachen Humanität.


Die Verurteilung Assanges wäre ein verheerender Schlag gegen Whistleblower und investigative Journalisten im Westen. Die EU hat jahrelang um ein Gesetz zum Schutz von „Hinweisgebern“ gerungen – anfangs noch mit britischer Beteiligung. Was 2023 dann beschlossen wurde, ist relativ zahnlos, auch weil die Deutschen eifrig entschärften und bremsten. Aber immerhin sollen Menschen, die Interna aus Unternehmen, die das Recht brechen, an die Öffentlichkeit bringen, sicher vor Verfolgung sein. Was für Firmen gilt, sollte für Staaten als obligatorisch angenommen werden können. Der frühere Präsident Obama hatte sich stets geweigert, Assange der Spionage zu bezichtigen, weil er wusste, dass man dann auch die New York Times, die Washington Post, den Guardian oder den Spiegel wegen ihrer Enthüllungen kriminalisieren müsste. Die Beschaffung und Veröffentlichung des Info-Materials ähnelt bei den Pentagon Papers, die zum Ende des Vietnamkriegs beitrugen, oder der Watergate-Affäre, durch die Nixon zum Rücktritt gezwungen wurde, dem Vorgehen Assanges, blieb aber straffrei für die Urheber.


An das redundante Moral-Geplätscher über Menschen- und Freiheitsrechte, mit dem Annalena Baerbock und Robert Habeck den öffentlichen Raum stets dann beschallen, wenn es deutschen Interessen nützt, hatten wir uns schon gewöhnt, das dröhnende Schweigen im Fall Assange schockiert uns hingegen regelrecht. Dass die Richter des High Court wenigstens ansatzweise Ungereimtheiten beim US-Auslieferungsersuchen thematisierten und Abhilfe fordern, ist eigentlich eine schallende Ohrfeige für unsere verstummten PolitikerInnen.



















Der Schweizer Freiheitsheld Wilhelm Tell ignorierte einst den Gesslerhut des Tyrannen, und Annalena Baerbock tat es ihm nach - als sie noch jung, rebellisch und ohne Posten war. Inzwischen zu Amt und Würden gelangt, salutiert sie gern und schert sich einen Dreck um Hut, Kopf und Leben eines einstigen Verbündeten. 


In Kriegen wird ein Assange benötigt


Julian Assange ist vielleicht kein sehr sympathischer Mann, man sagt ihm auch einige fragwürdige Ansichten zur medialen Allgewalt nach. Es ist aber sein Verdienst, dass die Welt zweifelsfreie Kunde über Kriegsverbrechen im Irak erhielt. Dank Chelsea Mannings Zuarbeit musste er sich nicht auf dubiose Informanten verlassen, statt Verschwörungsmunkelei konnte er Originalquellen präsentieren.


Dafür soll er nun büßen. Die Stimmung in den USA ist so stark mit Hass und Vorverurteilung aufgeladen, dass nur ein Phantast einen fairen Prozess erwarten kann. Bob Beckel, Moderator des rechten Nachrichtensenders Fox, sah nur einen Weg, mit dem „Verräter“ Assange abzurechnen, nämlich „den Hurensohn illegal erschießen“. Der populäre Radiomoderator Rush Limbaugh hingegen empfahl, Assange „aufzuknüpfen“. Und die ehemalige republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin fragte, warum der Australier nicht mit derselben Intensität verfolgt würde wie die Führer von al-Qaida oder der Taliban (also per Mordkommando). Einer solchen Atmosphäre will das britische Innenministerium Assange nun ausliefern…


Dabei bräuchten wir gerade jetzt etliche Assanges, etwa um Verlässliches über Kriegsverbrechen in der Ukraine (und auf anderen Schlachtfeldern) zu erfahren. Russland lässt ausländische Journalisten generell nicht an die Front, und die Regierung in Kiew sorgt dafür, dass embedded Reporter genau das zu sehen bekommen, was sie sehen sollen. Da beide Kriegsparteien die „sozialen“ Medien mit ihrer Wahrheit bespielen, existieren nur wenige Fakten zu den (überwiegend, aber nicht ausschließlich von der russischen Armee begangenen) Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Fakten, wie sie Assange im Irakkrieg den Medien zugänglich machte.


In ein paar Tagen werden wir wissen, ob der High Court in London das Ansehen Großbritanniens in der (kritischen) Weltöffentlichkeit vor weiteren Schäden bewahrt oder ob Assange dem Vergeltungsdrang einer Großmacht ausgeliefert wird, die ihn für den Rest seines Lebens hinter Gefängnismauern verschwinden lassen könnte.


04/2024


Dazu auch:


Unser Nawalny (2021) und Barleys Gesetz (2019) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit


Die Macht will Assange im Archiv der Rubrik Medien (2020)