| Grimms Märchen Angesichts der weltweit existenziellen Krisen türmen sich in der Bundesrepublik wegen vorgeblich überlebenswichtiger Wirtschafts- und Agrarsubventionen, teils sinnfreier Hochrüstung oder üppiger Investitionsprogramme für Industriesparten mit verheerender Umweltbilanz die Staatsschulden zu gigantischen Bergmassiven auf. Kein Wunder, dass als clever verschriene Köpfe sich Gedanken machen, wo ein wenig gespart werden könnte. Die Ökonomin Veronika Grimm erklärte dem staunenden Volk nun unlängst, wo zu knapsen sei, nämlich unten, auf dass es denen ganz oben an nichts mangle. Und Frau Grimm ist nicht irgendwer, sondern eine der „fünf Wirtschaftsweisen“. Die Konzernflüsterer Der Volksmund hat den Mitgliedern des Gremiums den blumigen Titel verliehen, der ein wenig an orientalische Religionslegenden erinnert. Nun ist der Begriff „weise“ definiert als „auf Weisheit beruhend“ oder „klug“, auf jeden Fall auch als „abgeklärt“ aufgrund von Lebenserfahrung. Er bezeichnet eine alle Daseinsbereiche erfassende und durchdringende kognitive Fähigkeit, eine fachliche Einengung hingegen ist nicht zulässig, da der/die Weise die Welt in ihrer Vielfalt im Blick haben muss. Mit anderen Worten: Termini wie Fußballweiser, Altersweiser oder eben Wirtschaftsweiser sind Verballhornungen. Tatsächlich handelt es sich um den fünfköpfigen „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (SVR), der seit 1963 für die Bundesregierung den nationalen ökonomischen Prozess beobachten und begutachten soll, was sich in einem Jahreswirtschaftsbericht niederschlägt. Die Wissenschaftler, deren Aufgabe es also ist, die regierende Politik zu beraten, zu mahnen oder vor Fehlentwicklungen zu warnen, werden sinnigerweise inzwischen von dieser selbst ausgewählt, was stark abweichende Meinungen von vornherein ausschließt. Die Weisen müssen folglich dem Glauben anhängen, im besten aller möglichen Systeme zu leben, das es nur noch im marktliberalen Sinn ein wenig zu optimieren gilt. Wer in Deutschland als Wirtschaftswissenschaftler etwas werden will, hat sich jeglicher grundsätzlichen Kapitalismuskritik zu enthalten und den Auftrag- und Brotgebern in Universitäten und Regierungen, vor allem aber den Übervätern in Konzernetagen fleißig zur Hand zu gehen. Wobei er schon das eine oder andere Versäumnis rügen und eigene Vorschläge zur Festigung der ökonomischen Hackordnung einbringen darf. Fast immer decken sich ihre Forderungen mit denen der großen Wirtschaftsverbände, was den Schluss zulässt, dass sie zwar von der Regierung beauftragt werden, sich in erster Linie aber den Interessen der Großkonzerne verpflichtet fühlen, als gelte die Abwandlung eines alten Werbespruchs: Ist die Wirtschaft gesund, freut sich der Mensch – selbst wenn ihm existenzielle Härten zugemutet werden. Mit ihren Botschaften erreichen diese Old-School-Influencer über die klassischen Print- und Funkmedien weite Teile der Bevölkerung und wirken auf viele Menschen neutral, in jedem Fall aber glaubwürdiger als Politiker oder Firmenchefs. Um den Anschein der Ergebnisoffenheit zu wahren, wird immer mal ein „Dissident“ in den erlesenen Kreis aufgenommen. Bekannt wurde durch seine abweichenden Meinungen vor allem Peter Bofinger, ein Keynesianer, also Anhänger jenes englischen Ökonomen, der versuchte, dem Kapitalismus durch staatliche Sozialkosmetik ein menschlicheres Gesicht zu verschaffen – gehört hat aber niemand auf ihn. Da ist die aktuelle Wirtschaftsweise Veronika Grimm aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie glaubt zu wissen, wo angesichts der enormen Staatsverschuldung gespart werden muss: ganz unten. Die Erzählungen von Schwester G. Dass die 2020 in den SVR berufene Professorin an der noch jungen TU Nürnberg (Söders Prestigeobjekt) nicht ganz dem Ideal der objektiven, über den Interessengruppen schwebenden Expertin entspricht, wurde sogar von ihren vier KollegInnen festgestellt. Veronika Grimm ließ sich nämlich im Februar 2024 in den Aufsichtsrat von Siemens Energy wählen (wo sie mindestens 120.000 Euro jährlich verdient, vermutlich mehr als mit ihrem Brotjob an der Uni), was angesichts ihres Schwerpunkts in den Bereichen Energiemärkte und Energiemarktmodellierung im Expertenrat ein Geschmäckle hinterlässt, da sie die Bundesregierung in diesen Themen eigentlich „unabhängig“ beraten soll. Wenn der Schiedsrichter, der eine Spiel zwischen Bayern München und Borussia Dortmund pfeift, im Vorstand von Bayern sitzt, wird das schließlich auch nicht gern gesehen. Daher forderten die anderen Weisen (vergeblich) Konsequenzen, auf dass der Interessenkonflikt ein Ende habe. Überhaupt macht Frau Grimm kein Hehl aus ihrer eindeutigen Positionierung zu Gunsten profitorientierter Unternehmenspolitik. So forderte sie für den Fall eines Embargos gegen russisches Gas, die Energiepreise auf hohem Niveau zu belassen und stattdessen „kurzfristige Unternehmenshilfen“ zu gewähren, um die Folgen eines Lieferstopps abzufedern. Entlastungen für Normalbürger sieht die Gelehrte überhaupt recht kritisch, während sie Übergewinn- und Vermögenssteuer vehement ablehnt. Sie weiß ihre Klientel gegen gesamtgesellschaftliche Begehrlichkeiten zu verteidigen. Damit das Monopol wesentlicher Produktion in Privathänden verbleibt, lehnt sie auch Commoning, also die gemeinsame Schaffung und Verwaltung von Ressourcen sowie die freie Bereitstellung von Know-how, ab. Auch von Degrowth, Synonym für eine Änderung des Wirtschaftssystems und Lebensstils, um allen Menschen eine lebenswerte Existenz innerhalb ökologischer Grenzen zu ermöglichen, hält sie nicht das Geringste. Heutzutage wird gern von Narrativ gesprochen, wenn eine bekannte Person oder Gruppe eine Gott und die Welt betreffende Deutung publikumswirksam von sich gibt. Veronika Grimms Erzählung vom Wirtschaftsstandort Deutschland gipfelt stets in der These, dass das niedere Volk mehr Kröten schlucken sollte, um durch seine Opfer dem hässlichen Ochsenfrosch die Verwandlung zum glänzenden Kapitalfürsten, der sein Land weise zum Wohl des Palastes regiert, leicht zu machen – was Kanzler Merz, der grummelt, dass die Republik sich den Sozialstaat nicht mehr leisten könne, sicherlich ganz genauso sieht. (Der Name der streitbaren Neoliberalen verführt einfach dazu, Parallelen zu den Hanauer Märchen-Gebrüdern zu suchen.) Unlängst wagte sie es wieder, die Risiken unseres so übersichtlich von oben nach unten geordneten Systems wie Teufelsfratzen an die Wand zu malen: Renten, Kranken- und Sozialversicherungen sowie die törichte Hoffnung der Massen, nach langen Beitragsjahren am Lebensabend ausreichend abgesichert zu sein. Nein, spricht die Weise, auf Dauer seien Rente und Pflegeleistungen nicht mehr finanzierbar. Die Leute müssten schon auch noch privat vorsorgen. Wer in der Lage sei, Pflegeleistungen selbst zu bezahlen, müsse das auch tun. „Sonst können wir das System nicht auf Dauer finanzieren. Das heißt auch, dass wir mitunter Leistungen werden kürzen müssen.“ Im Klartext: Wer es sich wie die Doppel-Spitzenverdienerin Grimm leisten kann, für eine Luxuspflege aufzukommen und das Renteneinkommen noch mit privaten Ansparungen abzusichern, soll das gefälligst tun, die Mehrheit der anderen, von denen viele ein prekäres Dasein geführt haben, darf nicht damit rechnen, im Alter oder Pflegefall auf Rosen gebettet zu werden. Schärfer kann man die Konturen einer Zwei-Klassen-Medizin und sich massenhaft anbahnender Altersarmut nicht umreißen. Ein weises Denkverbot? Die Moral von Grimms Geschichte ist recht simpel: So wie beruflicher Aufstieg und kulturelle Errungenschaften weitgehend denen vorbehalten bleiben, die in ein wohlhabendes Umfeld hineingeboren wurden oder sich durch Ehrgeiz (vielleicht auch durch Skrupellosigkeit) nach oben durchboxen, so werden künftig auch die Segnungen der modernen Medizin und Pflege sowie die ausreichende Alimentierung im Ruhestand nur denen zukommen, die sie sich von vornherein leisten können. Weil aber die anderen ziemlich macht- und wehrlos sind, sollen sie noch zusätzlich bluten, wenn der Staat finanziell in die Miesen gerät. Angesichts der Billionen von Euro, die in den nächsten Dekaden für Hochrüstung, Konzern- und Agrarsubventionen ausgegeben werden, wirkt die Ankündigung des Kanzlers, fünf Milliarden beim Bürgergeld einsparen zu wollen, wie ein schlechter Witz, sozusagen ein Feigenblättchen, das in den Medien Entschluss- und Durchsetzungskraft symbolisieren soll. Und wenn es um die Altersrente geht – wären statt solcher Kürzungsphantasien nicht eher Überlegungen, alle Bürger, und zwar nach Vermögenslage, in die Kassen einzahlen zu lassen oder – wie andere Staaten dies erfolgreich vormachen – auf eine Steuerfinanzierung umzustellen, angebracht? Aber die Wirtschaftsweisen kommen neoliberalen Politikern beinahe immer zu Hilfe, sie sind eben nicht ergebnisoffen Forschende, sondern Kapitalismus-Exegeten, Fachidioten der reinen sozial-darwinistischen Lehre. Daher könnte man ihre „Expertise“ als manipulativ mit Statistiken und ausgewählten Fakten vermengte Propaganda für das in ihren Augen sakrosankte ökonomische System werten. Für sie zählen nur zügelloses Wachstum, die „Gesetze“ der Profitmehrung, die Festigung einer im Kern undemokratischen, da weite Teile der Bevölkerung ausschließenden oder vernachlässigenden Wirtschaftsordnung und die gnadenlose Konkurrenz bei Produktion sowie Verteilung der Güter. Doch selbst innerhalb des Systems wählen der SVR und die konservativen Politiker noch den die Unterprivilegierten am schärfsten belastenden Kurs. Dabei wird der Artikel 14 des Grundgesetzes, dem zufolge Eigentum verpflichtet, der also auch eine höhere Beteiligung der Reichen und Mächtigen an der Vorsorge für die gesamte Gesellschaft impliziert, geflissentlich ignoriert. Alternative Gesellschaftsmodelle sind verpönt. Über eine nachhaltige, ausschließlich auf sich regenerierende Ressourcen zurückgreifende Wirtschaftsform, die auch die Folgen der Produktion für Klima, Umwelt und Mensch sowie deren Sinnhaftigkeit abwägt, darf erst gar nicht nachgedacht werden. Erst recht nicht, wenn sie auch noch eine echte Teilhabe an Produktionsmitteln oder eine schrittweise Angleichung der Bildungschancen beinhaltet. Stattdessen wird einem unreflektierten Wachstum das Wort geredet, während die Natur abstirbt, die Relikte der vorherigen Wachstumsschübe, ob im öffentlichen Verkehrssektor, in der Pflege oder in den Schulen, langsam verrotten und die Infrastruktur im Land in sich zusammenfällt. Weise im eigentlichen Sinn des Wortes ist das alles nicht. 09/2025 Dazu auch:
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