| Die Gaza-Omertà Man stelle sich vor, es geschähen an einem Ort unserer Erde kaum vorstellbare Grausamkeiten, die Auslöschung oder zumindest Vertreibung eines Großteils der Bevölkerung billigend in Kauf nehmend, und die internationale Reaktion darauf bliebe vage oder ignorant. Gibt es öfter, zum Beispiel im Sudan, in Myanmar oder durch die russischen Bombardierung ukrainischer Städte, wird manche/r einwenden. Und gab`s auch früher schon, kommt die Ergänzung, etwa durch die flächendeckende Verminung von Laos, Kambodscha und Vietnam durch die US-Streitkräfte – und vor allem natürlich während der dunkelsten Menschheitsphase, der NS-Zeit in Deutschland. Schon wahr, aber neu ist im Falle des Kriegs in Gaza, dass sich die offizielle Missbilligung der schlechten Nachricht oft gegen die Überbringer richtet, nicht gegen die Urheber. Der inflationäre Begriff Unter „Antisemiten“ werden landläufig Menschen verstanden, die Antipathien bis hin zu tödlichem Hass gegen einzelne Juden und das gesamte jüdische Volk hegen. Der Begriff ist sehr nebulös und manchmal irreführend, sind doch auch die Araber und damit die Palästinenser Semiten. Wenn islamistische Fanatiker aus dem Nahen und Mittleren Osten bei Demonstrationen gegen das Existenzrecht des Staates Israel hetzen und die „Zionisten“ ins Meer treiben wollen, handelt es sich – strenggenommen – um Judenhasser, nicht um Antisemiten. Aber wir wollen nicht allzu beckmesserisch sein, hat das Etikett „Antisemit“ doch im Augenblick Hochkonjunktur und kann jedem appliziert werden, der die Kriegspolitik der Regierung Netanjahu für abscheulich und menschenrechtswidrig hält und dies auch noch zu äußern wagt, als da wären der UNO-Generalsekretär, die Richter des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, Menschen, die Agrar-Importe aus illegal besetzten Gebieten im Westjordanland boykottieren, kritische Journalisten in Jerusalem und sogar israelische Stars der Weltkultur wie der Großschriftsteller David Grossmann oder der Dirigent Daniel Barenboim. Um im weiteren Text aber nicht ständig semantisch korrigieren und präzisieren zu müssen, übernehme ich halt den ungenauen Terminus antisemtisch. Allerdings ist noch anzumerken, dass diese Sprachregelung ein von Politikern und Publzisten beachtetea Tabu, dem von der sizilianischen Mafia gepflegten Schweigegebot (Omerta) nicht unähnlich, impliziert. Bei Massenmord greift keine Relativierung Das Massaker der Hamas im November 2023 war ein grauenerregendes Verbrechen. Unter Befreiungskampf lässt sich die Abschlachtung und Verschleppung von Kindern, jungen Menschen oder alten Kibbuz-Bewohnern (Leuten, die in der Regel den berechtigten Anliegen der Palästinenser mehr Verständnis entgegenbrachten als andere Bürger Israels) beim besten Willen nicht einordnen. Eine harte, ja sogar von Rachegedanken geprägte militärische Reaktion erschien im ersten Affekt verständlich. Was dann jedoch folgte, sprengte alle völkerrechtlichen Normen und sämtliche Menschenrechtsvereinbarungen. Die israelische Armee führte Krieg gegen die Hamas, indem sie die Bevölkerung von Nahrung und Energie abschnitt, die Menschen im kleinen, übervölkerten Gaza-Streifen von einem angeblich sicheren Ort zum anderen trieb, Schulen sowie Krankenhäuser zerstörte und die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen erschoss. Auf einen getöteten Hamas-Kämpfer konnten leicht hundert zivile Kollateralopfer kommen. Bald machte Benjamin Netanjahu deutlich, dass es nicht um bloße Vergeltung, sondern um Annexion durch die Säuberung eines Gebietes von seiner Bevölkerung ging, darin lautstark unterstützt von Donald Trump (dessen Baulöwen-Clan prächtige Geschäfte im menschenleeren Gaza witterte). Zudem wollte der israelische Regierungschef seine wacklige Koalition mit rechtsradikalen Vorbestraften und orthodoxen Fanatikern retten, da ihn die Immunität seines Amtes vor dem Knast bewahrt. Die Rettung der Geiseln war für ihn nicht einmal drittrangig. Irgendwann entfernt sich ein Geschehen von seinem Anlass, wird selbst wegen der angewandten Methoden und erfahrenen Konsequenzen zum Untersuchungs- und Beurteilungsobjekt. So auch in im gegenwärtigen Gaza-Konflikt, wo ein Hamas-Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit einem derart überdimensionierten Vernichtungsfeldzug beantwortet wurde, dass das Überleben der Bevölkerung einer ganzen Region gefährdet ist. Verbrechen können dann nicht mehr als Reaktion auf frühere Verbrechen gerechtfertigt werden. Wenn nun Netanjahu und seinen Ex-Minister Gallant (sowie Hamas-Führer Deif) auf Strafantrag Südafrikas hin vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Verhaftung ausgeschrieben wurden, so handelte es sich um folgerichtiges juristisches Handeln, nicht um Antisemitismus. Zeugen, Belege und Vorgeschichte Dass es die von der ehemaligen Befreiungsorganisation ANC angeführte südafrikanische Regierung war, die in Den Haag vorstellig wurde, ist kein Zufall, erinnert man sich am Kap doch noch recht genau an die guten Beziehungen, die Israel zum weißen Apartheid-Regime unterhielt. Jerusalem verhalf den Rassisten in Pretoria sogar zum Besitz der Atombombe. Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, ein scharfer Kritiker der heutigen Likud-Politik, berichtete dem SZ-Magazin im vergangenen März, dass sich schon frühere Regierungen des jüdischen Staates intensiv für die international geächtete Homeland-Programme Südafrikas, also die Abschiebungen schwarzer Gemeinschaften in unfruchtbare Regionen ohne Infrastruktur, interessiert hätten – quasi als Blaupause für die eigene Palästinenserpolitik. Wer aber heute die Regierung in Jerusalem offener Sympathien für das Apartheid-System anklagt, riskiert die Abstempelung zum Antisemiten. Während man aus der Ukraine die genaue Zahl der Opfer russischer Drohnen- und Raketenangriffe erfährt, kann man über die Folgen der israelischen Kriegsführung nur spekulieren. Im Vietnamkrieg sorgten die Medien mit ihren Recherchen und Reportagen für einen Umschwung in der internationalen öffentlichen Meinung. Die USA lernten daraus und betreuten im Irak die embedded journalists so fürsorglich, dass diese nur zu sehen bekamen, was sie nach Gutdünken der Army auch sehen sollten. Im Gaza-Krieg wird weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit bombardiert, ausgehungert und gestorben. Die israelischen Streitkräfte wollen keine Journalisten und damit Augenzeugen vor Ort. Von den Geschehnissen und menschlichen Katastrophen erfahren wir im Wesentlichen durch Mitarbeiter westlicher Hilfsorganisationen oder der UNO, desillusionierte und teils traumatisierte Reservisten nach ihrem Einsatz in Gaza und die wenigen Reporter, die sich in die Gefahr begeben, als Kollateralziele von Militärattacken zu enden. So lässt sich wohl nie feststellen, wann genau der hunderttausendste palästinensische Zivilist dem Feldzug gegen die Hamas zum Opfer fällt. Zarte Stimmchen regen sich Lange Zeit hielten sich die westeuropäischen Staaten zurück mit Kritik an der israelischen Kriegsführung in Gaza. Inzwischen aber sind die Bombardierungen, Vertreibungen und Infanteriemassaker derart zahlreich und grausam effizient geworden, dass man in Madrid, Dublin, London und Paris endlich das Menschenrechtsbanner aus der Asservatenkammer holt und – wenn auch zögerlich – mit Waffenembargo, Aussetzung von Handelsverhandlungen oder Importstopp für Produkte aus illegal besetzten Gebieten droht. Da mag Deutschland nicht mittun. Hat es doch eine inhaltliche und vor allem nachhaltige Aufarbeitung der NS-Zeit in der Bundesrepublik nie gegeben. Heute schämt man sich ein wenig dafür, dass Altnazis und Mitläufer bis in die 1970er Jahre hinein den Staat und seine Institutionen mitprägten. Also lässt man der israelischen Regierung – von ein paar Bedenkenäußerungen abgesehen – freie Hand. Aus schlechtem Gewissen? Oder vielleicht auch, weil man das High-Tech-Land als Handels- und Militärpartner nicht missen möchte? Dabei wird ein Verhalten offenbar, das man mit mehr Recht „antisemitisch“ nennen kann als die Kritik an Jerusalems Kriegsführung auf dem Uni-Campus oder den Straßen, denn die Stillhaltepolitik wird damit begründet, dass die Bundesrepublik aus historischen Gründen stets die Interessen Israels unterstützen müsse. Das ist richtig, wenn so das auch von der UNO anerkannte Existenzrecht des Staates Israel in den Grenzen von 1967 gemeint ist. Dies kann nicht gelten für völkerrechtswidrige Landaneignungen durch radikale Siedler auf den Westbanks, und erst recht nicht für die schwerer Kriegsverbrechen zumindest verdächtige Politik des Netanjahu-Regimes, das nationales und internationales Recht gleichermaßen im Akkord bricht. Eine knappe Mehrheit der israelischen Bevölkerung lehnt die Enteignung palästinensischen Grund und Bodens durch rechtsradikale Okkupanten ab und fordert ein Ende des Gemetzels in Gaza. Diese Menschen werden von der Bundesregierung quasi in Sippenhaft genommen, denn Berlin setzte – wenigstens bis vor Kurzem - die Interessen des überführten Kriminellen Natanjahu mit denen des ganzen Volkes gleich und verleumdete damit auch die Kritiker in Israel. Das könnte man in der Tat als antisemitisch, da gegen viele Juden und Araber gerichtet, bezeichnen. Das Euphemismus-Prinzip Ein bisschen haben deutsche Politiker die Omertà-Regel gebrochen und die israelische Regierung vorsichtig ermahnt, vielleicht weniger rigoros gegen die palästinensische Zivilbevölkerung vorzugehen. Der neue Außenminister Johann Wadephul äußerte allerdings auch Verständnis für die Blockade des Gaza-Streifens, wobei er Jerusalems Behauptung, die Hamas stehle Hilfsgüter, zitierte. In seinem (englischsprachigen) Blog the third draft auf der Internet-Plattform Substacks befragte Hanno Hauenstein, ehemaliger Feuilletonchef der Berliner Zeitung, den Kommunikationschef des Euro-Med Human Rights Monitor, Muhammad Shehada, zu den Vorwürfen. Dieser wies auf Joe Bidens Menschenrechtsgesandten David Satterfield hin, der ebenso wie die UN-Verantwortlichen erklärte, dass es keinen Beweis für die Abzweigung von Hilfsgütern durch die Hamas gebe. Die einzige dokumentierte Plünderung sei durch kriminelle Banden erfolgt. Die israelische Regierung beauftragte dennoch eine private „Hilfsorganisation“ mit der Versorgung der Gaza-Bevölkerung – wohl auch um das Weltgewissen zu beschwichtigen. Shehadas Ausführungen im Gespräch mit Hauenstein, der geraume Zeit u. a. für den Deutschlandfunk und den britischen Guardian aus Tel Aviv und Ramallah berichtete, legen Befürchtungen nahe, dass hinter diesem Plan ein zynisches Kalkül lauert. Denn die mit der künftigen Verteilung von Hilfegütern beauftragte Gaza Humanitarian Foundation (GHF) ist eine dubiose in der Schweiz von Israelis und US-Amerikanern mit Kontakten zum militärisch-industriellen Komplex gegründete Organisation, deren Aufgabe darin besteht, sogenannte gated communities zu managen. Diese ähneln gemäß der israelischen Zeitung Ma‘ariv Konzentrationslagern und werden von einst im Irak und Afghanistan eingesetzten US-Söldnern bewacht. Nach Regierungsangaben aus Jerusalem sollen nur etwa 60 Prozent der Bevölkerung verpflegt werden, und zwar in diesen Camps. Der Rest wird nicht mehr versorgt. Andere Hilfsorganisationen haben den Gaza-Streifen tunlichst zu verlassen, und von bislang 400 Ausgabestellen für Hilfsgüter werden ganze vier, in eben jenen Lagern, übrigbleiben. Knapp die Hälfte der Einwohner wird also keine Versorgung mehr erhalten, und alle anderen werden an den vier Orten im Süden der Region zusammengetrieben, um sie kontrollieren und gegebenenfalls über die Grenze nach Ägypten abschieben zu können, auf dass Trumps wirrer Traum von einer (palästinenserfreien) Riviera des Nahen Ostens Wirklichkeit werde. Während sich die meisten westlichen Regierungen in vornehmer Zurückhaltung oder sanftem Protest üben, stufen einige autoritär geführte Staaten und vor allem die extreme europäische Rechte, die ihren früheren Judenhass scheinbar gegen Islamophobie ausgetauscht hat, die Kriegsführung und Rhetorik der israelischen Regierung mittlerweile als vorbildlich ein. Diesen widersinnigen Sympathiewandel nahm ein Cartoon in der spanischen Zeitung EL Pais folgendermaßen aufs Korn: Am Rande eines Neonazi-Treffens, auf dem gerade ein Redner unter Hakenkreuzfahne schäumt, sagt ein Volksgenosse zu seinem Kameraden: „Also ich habe keinen blassen Schimmer mehr. Sind wir jetzt gegen oder für Israel?“ 06/2025 Dazu auch:
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