Gnade für Bibi?


Die düsteren kriegsbereiten und toleranzfernen Zeiten, die wir derzeit durchleben, werden immer wieder von höchst bizarren Brüchen und Kehrtwendungen charakterisiert. Nun gab es in der Vergangenheit eine Garde erlesener Autoren, von François Rabelais über Jonathan Swift bis hin zu Voltaire, die über bloße Satire hinaus zu absurden Plots und Stilmitteln griffen, um ihren zeitgenössischen Gesellschaften einen überscharfen Spiegel vorzuhalten. Während diese scharfsinnigen Texte aber auch heute noch Vergnügen bereiten und Einsichten vermitteln, kann man/frau über die Sinnlosigkeit aktueller Elaborate und Aktionen nur noch den Kopf schütteln, zumal gegen Ende dieses unseligen Jahres ständig neue geistige Tiefpunkte erreicht werden.


Ein Gnadenloser will begnadigt werden


Die stille Zeit vor Weihnachten scheint selbst die perfidesten Gauner sentimental zu machen, urplötzlich zeigen sie Mitleid – vor allem sich selbst gegenüber. Überraschend beim jüngsten und krassesten Beispiel hierfür mutet an, wie souverän ein besonders belasteter Halunke kausale Abfolgen durcheinanderbringt, nur um sich der Öffentlichkeit mit reingewaschenen Händen zu präsentieren, und das außerhalb von Gefängnismauern, besessen von dem Gedanken „Hier stehe ich und kann so weiter!“.


Wurde Israels ewiger Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, von Spöttern und Anhängern gleichermaßen nur Bibi genannt, von seinem schlechten Gewissen gepeinigt, weil er dem von der Hamas am 7. Oktober 2023 an israelischen Kibbuzim und Pop-Fans begangenen Massaker einen Vergeltungsfeldzug von genozidalem Ausmaß folgen ließ? Wurde ausgerechnet der nichtchristliche Regierungschef in Jerusalem von vorweihnachtlicher Reue heimgesucht, nachdem der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag angesichts des von ihm angezettelten militärischen Amoklaufs in Gaza einen Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen hatte? War ihm die Ungeheuerlichkeit bewusst geworden, jedes israelische Opfer der Hamas nach letzten UN-Schätzungen mehr als hundertfach an der palästinensischen Zivilbevölkerung gerächt zu haben?


Mitnichten. Je länger Bibi den Krieg im Gazastreifen ausdehnen konnte, desto günstiger war es für ihn, rückten doch so Neuwahlen und ein Auseinanderbrechen seiner aus Vorbestraften, Rechtsextremen und religiösen Ultra-Orthodoxen zusammengeschmiedeten Regierung in weite Ferne – und er konnte seine vom Parlament gewährte Immunität in vollen Zügen genießen.


Doch nun droht ein wie auch immer gearteter Frieden, und der Prozess gegen Bibi wegen Korruption sowie Vorteilsnahme im Amt, der schon seit Jahren auf kleiner Flamme schwelt, wird wohl mit fatalen Folgen für ihn wiederaufgenommen. Seine Verteidigung steht nämlich auf tönernen Füßen, hat er doch zusammen mit seiner Frau Geschenke im Wert von 200.000 Dollar von dem Hollywood-Produzenten Amon Milchan angenommen, dem er im Gegenzug beim Erlangen eines US-Visums und mit einer für den Film-Mogul günstigen Änderung der Steuerbestimmungen behilflich war. Zugunsten der Zeitung Yediot Aharonot ließ er die Vorschriften zur Zeitungsverteilung umschreiben und dem Telekom-Riesen Bezeq verschaffte er regulatorische Vorteile, worauf beide Medien sein angeschlagenes Image im Print- und Net-Bereich aufpolierten.


Petitessen, mag manche/r sich angesichts der Kriegsverbrechen in Gaza denken, doch drohen Bibi in Israel lediglich für diese vergleichsweise läppischen Delikte, nicht aber wegen seiner Verantwortung für Vertreibung, Aushungerung und Tötung zahlloser Palästinenser harte Zeiten hinter Gittern. Da möchte er sich lieber vorsichtshalber begnadigen lassen, bevor er überhaupt verurteilt wurde. Zwar bestreitet er jede Schuld, aber präventive Absolution kann ja nicht schaden…


Der Herr der Welt greift ein


Die Idee, Bibi vorzeitig in Sicherheit vor Recht und Gesetz zu bringen, hatte indes ein anderer Staatsmann, ein Bruder im Geiste, der bereits einschlägige Erfahrungen mit kleinlicher Justiz und deren Übertölpelung gemacht hatte: Donald Trump, die Omnipotenz in persona, war im November beim israelischen Staatspräsidenten Herzog brieflich vorstellig geworden und hatte die Begnadigung seines Freundes gefordert. Netanjahu habe sich im Angesicht mächtiger Gegner für sein Land eingesetzt, seine Aufmerksamkeit dürfe nicht „unnötig abgelenkt werden“. Die Anklage gegen ihn sei ohnehin eine „politische, ungerechtfertigte Strafverfolgung“.


Trump kennt sich überall aus, in den Labyrinthen der Rechtsprechung ebenso wie in der Klimaforschung (die Erderwärmung ist ihm zufolge nichts als ein gigantischer Fake), der Geografie (der Golf von Mexiko heißt jetzt endlich richtig Gulf of America), mit der unabdingbaren Verpflichtung der Presse (nämlich sein Glaubensgebot MAGA zu preisen) oder mit der Rassendiskriminierung (existiert nur in Südafrika, und trifft dort ausschließlich Weiße). Der Mann scheint unfehlbar zu sein; kein Wunder, dass Bibi einem solchen Fürsprecher folgt und Gnade einfordert.


Wie lächerlich darf man sich machen?


Es gab Zeiten, da wären die Einmischungen Trumps ins Justizsystem eines anderen Staates und der Versuch Netanjahus, erst gar keine Rechtsprechung zuzulassen, in der internationalen Öffentlichkeit als kindische und leicht durchschaubare Manöver abqualifiziert worden. Die Politik war auch damals schon häufig verlogen und hinterlistig, aber es wurde wenigstens der seriöse Schein gewahrt, was aufgrund von Lautstärkeverlust und vorsichtiger Wortwahl bisweilen tatsächlich zur Deeskalation beitrug.


Heute hingegen haben die politischen Marktschreier in den „sozialen“ Medien und vor allem in den rechtsextremen Parteien Hochkonjunktur, und das rhetorische Niveau nähert sich dem inhaltlichen Vakuum an. Ob Putin einen mehrjährigen Eroberungskrieg als  begrenzte „militärische Spezialoperation“ verniedlicht oder Merz sein Stadtbild einfarbig haben will, Söder beim Verzehr fetttriefender Fleischklopse wortreich um Sympathien buhlt oder Trump Schiffe versenken in der Karibik spielt und dabei neben ein paar Drogenhändlern vermutlich auch arme venezolanische Fischer ersaufen lässt - jede/r  kann sich jetzt nach eigener Façon lächerlich machen, es fällt kaum mehr auf und zeitigt keine negativen Folgen.


12/2025


Dazu auch:


Schuld und Rache im Archiv der Rubrik Medien (2023)