In dubioser Mission
oder
Eine Partei opfert sich


Die effizienteste Opposition dieser sich ihrem letzten Jahr entgegen schleppenden Legislaturperiode war zweifellos eine Partei, die gleichsam in einer Art kalkulierter Schizophrenie auch in der Regierung saß, anscheinend nur, um diese von innen heraus zersetzen zu können: Die FDP blockierte und sabotierte die wenigen sozial- und klimapolitischen Vorhaben, die sich müde Genossen und prinzipienlose Grüne noch abzuringen vermochten, nach Kräften und meist erfolgreich. Agierten die Herren Lindner, Wissing und Buschmann aus Eitelkeit, Trotz oder Ignoranz, glaubten sie als Verhinderer populär zu werden? Mitnichten. Die Liberalen waren in schwieriger Mission unterwegs – doch was schreibe ich da? Die Durchsetzung mehrerer Destruktivaktionen war ihnen mehr wert als die Zukunft der eigenen Partei und der Gesellschaftsmehrheit.


Freiheit fängt auf dem Highway an


Die Liberalen heften sich gern das Etikett der Freiheitspartei, für die Verbote generell verboten sind, auch wenn durch gezielte Verdikte Umwelt, menschliche Gesundheit oder soziale Rechte geschützt würden, an die Revers ihrer maßgeschneiderten Anzüge. Ob es sich um die Verschärfung der Waffengesetze, die Einführung von Tempolimits auf Autobahnen oder strengere Abgasnormen handelt – die Wortführer der FDP sind dagegen, ist man ja selbst Jäger, rast gern mit dem SUV über Fernstraßen und sieht sich als parlamentarischen Dienstleister für Porsche und Konsorten.


Und so verweigert der FDP-Verkehrsminister die Einführung von Tempo 130 (oder weniger) auf Autobahnen mit fadenscheinigen Begründungen, indem er wissenschaftliche Untersuchungen ignoriert, den klimatechnischen Effekt kleinredet und sich mit dem Hinweis, man habe nicht genügend Schilder (wo doch ein paar Verkehrszeichen an den grenznahen Auffahrten gereicht hätten), lächerlich macht. Das Ende des Verbrennermotors bis 2035, mit EU-Mehrheit beschlossen, bremste die winzige Lobbyisten-Partei ganz allein aus und setzte durch, dass der Verbrauch von E-Fuels weiter gestattet bleibt. Das symbiotische, beinahe intime Verhältnis von Wirtschaftsminister Christian Lindner zu Oliver Blume, Chef des Porsche-Konzerns, der zufällig gerade eine solche Treibstoffproduktion aufbaut, dürfte da kein Hindernis gewesen sein. Unter den Tisch fällt dabei, dass diese „alternative“ Technologie eine katastrophale Energiebilanz aufweist, massenhaft giftige Stickoxide freisetzt und darüber hinaus extrem kostspielig ist.


Das Gesellschaftsbild der FDP manifestiert sich auch klar in ihrer infrastrukturellen Schwerpunktsetzung: Wo Bevölkerungsmehrheiten und andere Parteien den Bau neuer KiTas und die Ertüchtigung des ÖPNV sowie des Schienenverkehrs insgesamt fordern, priorisieren die Liberalen die Schaffung weiterer Großparkplätze im großzügig versiegelten Deutschland und – natürlich – die Ausweitung des Autobahnnetzes. Frei ist der Bürger vor allem, wenn er durch die Restlandschaft brettern kann. Demokratie sollte vordringlich die Interessen und Launen wohlhabender Minderheiten bedienen. Parteipolitik hat zuallererst die Forderungen der Wirtschaft zu erfüllen – ohne Rücksicht auf Verluste an Natur, Chancengleichheit oder Menschenleben. Die Anliegen einer rigiden Klassengesellschaft scheinen bei der FDP in besten Händen, auch wenn die Wähler ihr ihr gegenüber der Wirtschaft devotes Engagement nicht immer honorieren.


Erziehung zu Demut und Bescheidenheit


Einigermaßen ausreichende Entlohnung und sichere Arbeitsbedingungen für Menschen im globalen Süden und Osten, die billige Jeans sowie T-Shirts für uns zusammennähen, und ein in Gesetzesform gegossener Schutz für Frauen in der EU vor Gewalt, auch in der Ehe? Nicht mit Marco Buschmann, dem FDP-Justizminister! Der will schon Beteiligte an der globalen Textilproduktion schützen, allerdings nicht die Ausgebeuteten in ihren einstürzenden Fabrikbauten, sondern die großen Handelskonzerne, denen ein Lieferkettengesetz mit Kontroll- und Dokumentationspflicht wegen des bürokratischen Aufwands nicht zuzumuten sei. Und beim Gewaltschutzgesetz für Frauen ließ er in Brüssel das eklatanteste Delikt, die Vergewaltigung, ausklammern, da seiner exklusiven Meinung nach die betreffende Klausel eine Kompetenzüberschreitung durch die EU darstelle. Daraus lässt sich folgern, dass die sich gerne als Wahrerin humanistischer Standards gerierende Europäische Union nach Buschmanns Dafürhalten nicht zum Schutz elementarer Menschenrechte berufen ist.


Exotische Malocher in prekären bis lebensgefährlichen Arbeitsverhältnissen und Frauen in höchster Not gehören nun mal nicht zur Stammklientel der FDP, ebenso wenig wie Flüchtlinge – und sozial Benachteiligte im eigenen Land ohnehin nicht. Aber Letztere dürfen sich immerhin einer gewissen Aufmerksamkeit seitens des Herrn Lindner rühmen. Genau sie sollen nämlich für die Mehrausgaben, die Hochrüstung in Zeiten des Ukraine-Kriegs, das Abfedern der Krisenfolgen oder die Subventionen an Wirtschaftskreise mit besonders guter Lobby-Arbeit erst ermöglichen, in die Pflicht genommen werden: Lindner hat etwa das „Bürgergeld“, die aufgehübschte Grundsicherung also, als Sparschwein entdeckt, das es zu schlachten gilt. Weniger Geld soll es also für die geben, die ohnehin schon nicht genug haben.


Da gehört es zum guten Ton der Liberalen (mit der Christenunion und BILD im Gleichklang), die paar Prozent Leistungsempfänger, die im Verdacht stehen, sich ihre Almosen trotz vorhandener Arbeitsfähigkeit zu erschleichen, als maßgebliche Verursacher der monetären Engpässe des deutschen Staates anzuprangern. Irgendwie haben sich die Relationen abenteuerlich verschoben.


Mögen einige Faulpelze unter den Sozialhilfeempfängern durch Arbeitsverweigerung die Bundeskasse alljährlich auch 350 Millionen Euro kosten – was ist das gegen die 40 Milliarden, die der Republik gemäß der bis vergangenen April aktiven Staatsanwältin und Chefermittlerin Anne Brorhilker durch die Cum-Ex- sowie Cum-Cum-Betrugsserien („Rückerstattung“ nie entrichteter Steuern sowie illegale Steuervermeidung) entgingen, weil drei ihrer Finanzminister (Peer Steinbrück, Wolfgang Schäuble, Olaf Scholz) sich trotz Hinweisen ihrer Beamten nicht bemüßigt fühlten, die beteiligten Kapitaljongleure zu stoppen?


Und um wie viel gravierender als die Unehrlichkeit einer Minderheit der Grundsicherungsbezieher wirken sich die routinierten Manöver von Konzernen aus, die laut VdK-Präsidentin Verena Bentele hundert Milliarden pro Jahr am Fiskus vorbeischmuggeln, begünstigt durch Landesregierungen, die ihre eigene Steuerfahndung personell ausdünnen oder sogar bei ihrer Arbeit behindern? Wie viel fehlt in den öffentlichen Kassen, weil etwa in der „Steueroase Bayern“ (so die SZ vom 4. März 2011) Unternehmen und Millionäre nur alle paar Jahrzehnte recht lax überprüft werden? Und dann wurde von Rot/Grün auch noch die Vermögenssteuer, die all die fiskalischen Ungerechtigkeiten zumindest zu einem Bruchteil korrigieren konnte, abgeschafft…


„Mit uns gibt es keine höhere Belastung für die Reichen!“ tönen da die Liberalen und schweigen als Vordenker des Klassenkampfes von Oben nach Unten zu solchen sozialen Ungereimtheiten. Sie verstehen sich eben als Interessenwahrer der Hautevolee, Hüter des Rechts auf unbeschränkte Ausbeutung und strenge Moralprediger und ggf. sogar Züchtiger des niederen Volkes. Dieses wurde von Christian Lindner vor zwei Jahren ermahnt, mehr Überstunden zu machen, soll aber seiner Gutsherrenmeinung nach auf regelmäßige Erhöhungen der Altersrente verzichten müssen. Die Kindergrundsicherung ist für ihn Teufelszeug und wird so gedeckelt, dass die Jüngsten künftig zwangsläufig in ein erhöhtes Armutsrisiko hineinwachsen.


Dagegen sind Wohltaten für die Bevölkerungsminderheit bestimmt, die sie eigentlich nicht bräuchte. Und hier mühen sich die Herren Lindner, Wissing und Buschmann im Schweiße ihres Angesichts, verrenken sich argumentativ bis zur Lächerlichkeit und versuchen, ihre Gönner, die Besserverdienenden, Parvenüs, die frischen Millionenerben und den alteingesessenen Geldadel also, vor Unbill zu schützen. Lästige Besteuerung, juristische Unzumutbarkeiten, gerechte Beteiligung an der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge sind von dieser Klientel fernzuhalten, traditionelle Vorteile, etwa das Dienstwagenprivileg, staatliche Subventionen für umweltschädigende Produktion, noch dazu ohne Tarifbindung, die Lizenz zur hemmungslosen Bodenversiegelung für Gewerbegebiete oder Luxusvillen im Grünen sowie zur spektakulären Umwandlung enormer Finanzmittel in PS und letztlich Co2-Emissionen auf Autobahnen und Bergseen müssen hingegen gewahrt bleiben.


In ihrem servilen Übereifer hat sich die Lobby-Partei FDP allerdings derart lückenlos als fünfte Kolonne innerhalb der Ampelkoalition enttarnt, dass sie wegen Stimmenschwund und damit Einflussverlust für die Auftraggeber in der Wirtschaft uninteressant zu werden droht, wie die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen nahelegen. Da hilft es auch wenig, wenn die Liberalen den allen Sozialdarwinisten heiligen Moloch beschwören, der auf einem Auge, nämlich dem der Gewinnmaximierung um jeden Preis, scharf sieht wie ein Falke, auf dem anderen, dem der Verantwortung für Mensch und Umwelt, aber vollkommen blind ist.


Hohepriester des Marktes


Der Markt regelt alles, er ist klüger als Politiker oder kritische Ökonomen, er gleicht seine Schwankungen selbst wieder aus, deshalb darf man ihm keine Vorschriften machen, ihn nicht einengen. So lautet das Credo der Neoliberalen, also der meisten Konzernlenker, der FDP-Jünger und – mit Einschränkungen, den globalen Handel betreffend, auch der AfD. Die deutschen Nationalsozialisten, die italienischen und spanischen Faschisten haben lediglich einige unliebsame Wirtschaftsführer aussortiert, die ihnen gewogenen hingegen durften anschließend nach Gusto die eigenen „Volksgenossen“ ausbeuten und Zwangsarbeiter sogar bis zum Erschöpfungstod auspressen.


Dass der freie Markt weder frei noch unfehlbar ist, durften wir hierzulande und die Nachbarn in der EU immer wieder erleben und erleiden, doch wurden scheinbar alle Pleiten und Katastrophen zugunsten des gutbürgerlichen Narrativs von dieser alleinseligmachenden Produktions- und Handelsform verdrängt. Wer spricht schon davon, wie oft die Staaten dirigistisch ins Marktgeschehen eingreifen mussten, um ihre Industrie, ihre Agrarwirtschaft, die Banken oder gar die Landeswährung zu retten, wer zählt die Hilfen, Subventionen und Schutzzölle? Die FDP jedenfalls nicht. Die Vita ihres Frontmanns könnte einen Hinweis darauf liefern, dass die merkantilistische Ideologie der Partei eher vom Wunschdenken als von Analyse und praktischem Know-how geprägt ist.


Drei kurze Ausflüge ins Consulting- und Hightech-Business erlaubte sich Christian Lindner zu Beginn seiner Karriere. Jedes Mal musste er nach ein paar Monaten einsehen, dass die ökonomische Realität nicht sein Ding ist und beschloss, fürderhin als „Finanzexperte“ im politischen Überbau so halsstarrig zu dilettieren, dass selbst eher konservative Wirtschaftswissenschaftler beispielsweise angesichts des Festhaltens an der „Schuldenbremse“ und seiner Austeritätsmanie  nur noch den Kopf schütteln. Für die FDP insgesamt aber könnten der Kadavergehorsam gegenüber ihren mächtigen Gönnern in Konzernen und Großbanken sowie die Scheuklappen-Perspektive, mit der sie sich auf den Markt fokussiert und dabei Mensch und Umwelt aus dem Blickfeld verliert, den Beginn des Endes einläuten.


Höckes Steigbügelhalter


Mehrere Studien in verschiedenen Ländern haben nachgewiesen, dass in Westeuropa eine rigorose Sparpolitik, die vor allem Sozialleistungen und Daseinsvorsorge kürzt, stets der radikalen Rechten nützt. Ob in Schweden, Italien, Großbritannien oder jetzt in Deutschland – der Kahlschlag auf unterer ökonomischer Ebene trieb den Neofaschisten und Ultra-Nationalisten die einkommensschwachen Wähler in Scharen zu, und ihnen folgten die Verunsicherten des Mittelstands, die in ähnlich prekäre Situation zu geraten fürchteten.


Dass die blauen Chauvinisten von der AfD gerade diesen Teilen ihrer Wählerschaft einiges zumuten, fällt nicht ins Gewicht, weil niemand ihre Programme liest oder inhaltliche Aussagen prüft. (Die Beispiele Trump, B. Johnson und Söder lehren, dass Worte, Ankündigungen und Behauptungen im Zeitalter von Social Media Schall und Rauch sind.) So lehnten die Rechtsaußen-Verteidiger einer erzkapitalistischen Gesellschaft Erhöhungen des Mindestlohns im Bundestag ab und wollen allen, die nicht 45 Beitragsjahre erreicht haben, die volle Altersrente verweigern. Mit den Geldern der Rentenversicherung beabsichtigen sie, an der Börse zocken – das Risiko tragen die Beitragszahler.


Das haben wir so ähnlich bereits von der FDP gehört, und tatsächlich hat die AfD weite Teile des Wirtschaftsprogramms der Liberalen abgeschrieben und in vielen Punkten zugespitzt. Diese inhaltliche Verwandtschaft ist kein Zufall, pflegen doch beide Parteien sozialdarwinistische Gesellschaftsvorstellungen. Doch während Lindners Truppe in der Sache radikal, im Ton aber distinguiert den Führungsetagen der Großkonzerne huldigt, bringen die Neonazis ihrer Wählerschaft das vermeintliche Recht des Stärkeren, der nur seine humanitäre Restschüchternheit loswerden muss, in Form von rassistischer Hybris und völkischem Furor unter die zunehmend empörte Wählerschaft.


Zweifellos hat sich die FDP für die Wirtschaftseliten der Republik nach Kräften, an deren Ende sie jetzt ist, aufgeopfert, doch wird sie dafür belohnt? Es sieht derzeit nicht danach aus, selbst ihre Stammwähler und Mäzene zweifeln an ihr und suchen nach Alternativen - eine Partei, die bei Wahlen in Sachsen und Thüringen gerade mal 1 Prozent erreicht, ist schließlich eine schwache Interessenvertretung. Die Vorstände der DAX-Unternehmen könnten den Christ-Neoliberalen Merz (oder den Rechtspopulisten Söder) einer immer weiter schrumpfenden Splitterpartei vorziehen; die Handwerksmeister und Apotheker, die ihre Selbständigkeit und Interessen bei der FDP gut aufgehoben sahen, würden hingegen vielleicht der radikaleren Stände-Rhetorik der AfD den Vorzug geben. Dann hätte sich das gewissenhafte Sabotieren in der Ampelregierung für die unerschrockenen Brandstifter letztendlich nicht ausgezahlt und sie müssten von der Bildfläche abtreten. Darüber wären wir nicht traurig, über alle anderen Folgen ihres Wirkens allerdings schon.


09/2024


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