Erstmals erscheint auf walter-view ein Gastbeitrag, und zwar ein Essay des Schriftstellers Uwe Friesel, der den Gaza/Israel-Konflikt dialektisch beleuchtet und auch die historische Mitverantwortung der Deutschen thematisiert. Manche Gedanken in diesem Text werden da und dort auf Widerspruch stoßen – erörterungswürdig sind sie allemal.


Uwe Friesel wurde 1939 in Braunschweig geboren. Er schrieb zahlreiche Bücher, darunter Romane wie „Im Schatten des Löwen“ oder Erzählungsbände, etwa „Am falschen Ort“, war u. a. als Verlagslektor, als Chefdramaturg an der Freien Volksbühne in Berlin, als Herausgeber der AutorenEdition im Bertelsmann-Verlag tätig und wirkte am Grips-Theater mit. Im September 1989 wurde Friesel zum Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS) gewählt. Er hatte dieses Amt fünf Jahre inne.



Am Anfang war das Wort

Als Dichterinnen und Dichter jeglichen Geschlechts meinten wir oft, uns dank unserer speziellen Fähigkeiten den Tod buchstäblich vor Augen führen zu können. Doch nun erkennen wir, nein, eben das können wir nicht. In Wahrheit sind wir zu Anfang des dritten Jahrtausends dem Tod so wenig gewachsen wie Albrecht Dürer in Zeiten der Pest. Besonders in Kriegszeiten. Und die haben wir jetzt. Zu unserem Erstaunen: denn wir hatten Kriege kaum noch für möglich gehalten. Nicht in Mitteleuropa, und auch in Palästina nicht.


Denn hatten nicht die USA, The Land of the Free, ihren atomaren Schutzschirm über uns alle ausgespannt? Waren nicht in New York die UN zu Hause, jenes weltweite gläserne Parlament, hervorgegangen aus dem Völkerbund, wo seit dem Ersten Weltkrieg alle Feindschaften zur Sprache kommen und geschlichtet werden sollten, wie einst von Nathan dem Weisen?


Das gläserne UN-Gebäude, noch immer vom aufklärerischen Glanz der Freiheitsstatue erleuchtet, ist vom Hudson River aus gut sichtbar. Kommt man näher, bemerkt man unmittelbar vor dem internationalen Fahnenwald auf einem Marmorsockel einen riesigen Revolver, dessen Lauf verknotet ist: die weltberühmte Bronze des Schweden Carl Fredrik Reuterswärd. Sie heißt „Non-Violence“ – ein Kunst gewordener Menschheitstraum. Doch jenseits dieses Utopia-Geheges brechen weiterhin Kriege aus. Und, paradox genug, meist sind es scheinbar friedfertige Religionen, die sie auslösen. Oder Ideologien. Oder beides.


Vor dem Hintergrund von Aufklärung und Humanismus, unter der gläsernen Kuppel der Demokratie, an der Wand der gezähmte preußische Adler, sprach jüngst im deutschen Bundestag der Sportreporter Marcel Reif. In seiner Rede zitierte er den kurzen letzten Satz seines sterbenden Vaters, der Ausschwitz überlebt, jedoch nie darüber gesprochen hatte: „Sei ein Mensch!“ Es klinge im Hebräischen viel wärmer, so Reich, dem an diesem besonderen Mikro die Stimme zu brechen drohte. Das deutsche Fernsehen überträgt ohne Mitleid. Und wir, die Söhne, Töchter, Enkel der Mörder, hören und sehen zu.


Wir haben vieles gemeinsam, Reich und ich. Beide – er in Berlin, ich in Braunschweig – verbrachten in den Trümmern des Nazi-Reichs eine glückliche Kindheit. Doch ich bin älter als er, und mein Verdacht, dass mein Wehrmachts-Vater womöglich bei den Juden-Erschießungen im Tal von Babyn Yar dabei gewesen war, raubt mir seit dieser Kindheit des Öfteren den Schlaf.


Man soll auch nicht schlafen. Vielmehr, man soll die Ursachen ergründen, warum man nicht schlafen kann. Man soll, wie Jan Phillip Reemtsma es getan hat, die Gräuel dokumentieren. Auch die der Reichswehr, mit der mein Vater gen Russland gezogen war. Und in einer globalisierten Welt hier in unserem endlich demokratischen Deutschland uns fragen: Was ist der Grund für diesen Phönix aus der Asche, für diesen ringsum wieder auferstehenden Antisemitismus? Als Deutsche zumal dürfen wir uns nicht wegducken, sondern müssen uns gerade wegen unserer nicht zu tilgenden Schuld auch dem aktuellen Problem Gaza stellen.


Gaza, Palästina, Israel – ein komplexes Problem. Mag sein, dass die Ursachen schon im UN-Beschluss von 1947 liegen, der den Juden endlich einen eigenen Staat im gelobten Land einräumt. Ein wichtiger Beschluss demnach? Der Haken war, es kümmerte die postkolonialen Mandatsmacht Großbritannien wenig, dass in Palästina bereits Menschen lebten, nämlich überwiegend Araber. Auch sie mit semitischen Wurzeln und seit Urzeiten auf diesem Boden verankert, auch sie mit einem Urvater Abraham.


Und deshalb, kaum hatte sich Israel 1948 für unabhängig erklärt, explodierten regionale Blitzkriege en masse. Meist gewannen die Israelis, weil sie europäisch geschult waren. Ihre technische und wissenschaftliche Überlegenheit schien geradezu zementiert. Auch hatten sie ein naturwissenschaftlich begründetes Weltbild, waren „Ungläubige“, stiegen insgeheim zur Atommacht auf. Seit 1968 kann man aus dem Busfenster den Reaktor von Dimona erkennen.


Diese Überlegenheit könnte dank Globalisierung, neuer politischer Bündnisse und neuer Waffen genau jetzt zu Ende gehen. Ihr Mythos hat schon gelitten, wie der Terror-Überfall von Oktober 2023 zeigt. Denn der war in seinem Ausmaß wohl nicht einmal vom allwissenden israelischen Geheimdienst Mossad vorhergesehen worden, trotz langjähriger Tunnel-Buddelei der Hamas.


Und wir Deutsche? Was haben wir damit zu schaffen?


Ich übergehe hier mal die oft beschriebene Baader-Meinhof-Episode mit der Entführung des Lufthansa-Flugzeugs nach Mogadishu. Und lasse auch das Olympia-Attentat von München beiseite. Beim Verlassen des Rathauses ist man klüger als beim Eintritt. Wichtig ist hier und heute, dass die jungen Muslime, die zum Teil erstmals aus Gaza und den Westbanks zu uns kommen, diese Vor-Geschichten gar nicht oder nur in nationalistischer Verfälschung kennen können: Denn sie kennenzulernen, war ihnen ja jahrelang verwehrt worden!


Wahrlich, sie dürfen mit weit mehr Berechtigung über no future reden als unsere Kinder. Und so richten sie nun diese Anklage einer verlorenen Jugend ohne Perspektive gleichermaßen gegen Israelis und Deutsche. Ausgerechnet in Berlin. Ausgerechnet in der Freien Universität. (Ich füge hinzu, ihre Wut  müsste sich vor allem auch gegen arabische Nachbarn richten, die seit langem aus politischem Kalkül Wächter des Gefängnisses namens Gaza sind.)


Im Jahre 1994 erhielten Yasser Arafat auf palästinensischer und Shimon Peres und Yitzhak Rabin auf israelischer Seite den Friedensnobelpreis, weil sie politisch einem friedlichen Miteinander durch eine Zwei-Staaten-Lösung ganz nahe gekommen waren. Hätten sie doch Erfolg gehabt! Gewaltsame Landnahmen auf der Westbank wären ebenso unterblieben wie Selbstmord-Attentate in städtischen Bussen von Tel Aviv. Indes, religiöse Orthodoxe beider Seiten stachelten zu immer neuem Wahnsinn an. Mein langjähriger Freund und Mentor Walter Grab, Professor für neuere Geschichte an der Uni Tel Aviv, sagte angesichts der anscheinend unausrottbaren Vorurteile zu mir: „Uwe, denken tut weh!“


Er meinte es in beide Richtungen. Denn der neue panarabische Antisemitismus ist auch der uralte, er hat nur die Kleidung gewechselt.
Und die neue Aneignungs-Arroganz jüdischer Westbank-Siedler? Israel hält am illegitimen Siedlungsbau fest. Begründung: zum Zeitpunkt der Okkupation hätten die Grundstücke niemandem gehört. Das ist zwar in vielen Fällen richtig, erklärt sich aber aus dem Umstand, dass viele Palästinenser sich auf das Gewohnheitsrecht stützten. Nirgendwo hatten Dorfgemeinschaften gemeinschaftlich genutztes Land eintragen lassen. Es gab kein Katasteramt.
Man könnte nun beiden Seiten einen Knobelbecher in die Hand geben und sie auswürfeln lassen, wer wohl und mit welchen historisch verbrieften Rechten rassistischer sei. Als unwiderlegbare antike Beweise ließen sich sicherlich noch genügend Fetzen von Thorarollen oder assyrische Tonscherben aus irgendwelchen Felshöhlen beibringen. Die Frage ist nur, wohin soll diese Art von missbrauchter Archäologie führen? Man kann solche Grotten ausräubern oder auch etwas in sie hineingeheimnissen, je nach Bedarf. Des Pudels Kern enthüllen sie nicht.


Zurück zu uns: schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts haben wir den gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“ geglaubt, in denen von einer angeblichen Jüdischen Weltverschwörung die Rede ist. Dieser Irrglaube wirkt noch zu Anfang des 21. in Verschwörungstheorien der Ultra-Rechten nach. Damals wie heute ist es der Neid auf die intellektuellen und künstlerischen Leistungen der jüdischen Gemeinschaft.


Die Überlegenheit jedoch ist, sofern überhaupt vorhanden, aus den jeweiligen Lebensumständen zu erklären, nicht aus Rassenzugehörigkeit. Wir wissen das doch selbst am besten! Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten sich unsere eigenen Vertriebenen mehr anstrengen, und später die „Ostdeutschen“ aus der scheinsozialistischen DDR auch. Und so erreichten viele von ihnen auch mehr, im Neo-Kapitalismus.


Putin treibt nun, so sagt er, den Ukrainern den Faschismus aus: offenkundiger Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, nicht etwa orthodoxer Christ, sondern Jude ist. Doch der Wahnsinn hat Methode: Putins mörderischer Krieg erfährt unversehens Rechtfertigung durch die Weihen des Moskauer Patriarchen Kyrill – auch er, wie sein Chef, nachrichtendienstlich geschult und steinreich. Da kann sich Mütterchen Russland schon mal leisten, abertausende junge Söhne über die Klinge springen zu lassen. Und Donald Trump macht sich anheischig, den grauenvollen Krieg an einem einzigen Tag zu beenden…


Solange solche Allmachtphantasien nicht aus den Gehirnen der Herrschenden verschwinden, wird das Morden wohl weitergehen.
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07/2024


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