Bestmögliche Welt?
Eine Skizzierung des Chaos


Um angesichts all der Irrungen und Wirrungen der Gegenwart nicht in Depression zu verfallen, dystopische Phantasien zu nähren (wie es vor allem die Rechtsextremen im Internet tun) oder sich in den Elfenbeinturm bornierter Menschenverachtung zurückzuziehen, bedarf es eines gerüttelt Maß an innerer Gelassenheit und kritischer Vernunft. Die globale politische und ökologische Situation ist derzeit so stark von Krisen, Kriegen und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gekennzeichnet wie selten oder nie zuvor. Um positives Denken zu demonstrieren, müsste man schon ein hoffnungsloser Optimist wie der deutsche Professor Pangloss in Voltaires „Candide“ sein, der durch das von Erdbeben und Bränden zerstörte Lissabon irrt und dabei unablässig behauptet, wir lebten „in der besten aller möglichen Welten“.


Renaissance des Faschismus


Allerdings gibt es auch überall Leute, die aus der Tragödie politisches Kapital schlagen, in Europa gehören sie zumeist rechtsextremen Parteien an. Sie nutzen die diffusen Existenzängste vieler Menschen, lenken sie, verstärken sie, denunzieren die angeblichen Verursacher und bieten ebenso simple wie brachiale Lösungen an, die den Ressentiments und revanchistischen Bedürfnissen einfacher Geister Rechnung tragen. Doch wovor fürchten sich so viele Menschen derart, dass sie ausgerechnet den intoleranten, aggressiven und fachlich inkompetenten Rechtsaußen Abhilfe von allem Übel zutrauen und ihnen ihre Stimmen geben?


Da sind einmal die in prekären Verhältnissen lebenden Menschen, die Empfänger kümmerlicher Grundsicherung oder Aufstocker, die keine beruflichen Perspektiven mehr sehen und am gesellschaftlichen Leben mangels der nötigen finanziellen Mittel kaum noch teilhaben können. Die Reaktion dieser Unterprivilegierten auf jede Verschlechterung ihrer Situation setzt sich aus der Angst, „in die Gosse“ abzugleiten, und dem diffusen Hass auf bürgerliche Politiker, nicht weiter definierte „Eliten“ sowie Intellektuelle (gern auch queere Protagonisten) und Flüchtlinge oder Beschäftigte mit Migrationshintergrund zusammen. Letzteren würden staatlicherseits soziale Wohltaten gewährt, während das eigene Volk darbe – eine abstruse Behauptung, die von den Ultra-Nationalisten bis hin zu den Wortführern der Unionsparteien fröhlich mit Fakes „untermauert“ wird.


Da die „alternativen Fakten“ weitgehend über kurze, plakative Tweets und Filmchen in den sozialen Medien verbreitet werden, wobei auf halbwegs seriöse Quellenbelege oder die Erwähnung von Gegenargumenten verzichtet wird, fehlt es den aufgeputschten Usern an aktuellen Möglichkeiten zur Verifizierung und an kontinuierlich erworbenem Hintergrundwissen. Wie eine BILD-Schlagzeile prägt sich eine in vier bis fünf Wörter gemeißelte  „Wahrheit“ dem Bewusstsein der Empörten und Glaubwilligen nachhaltig ein.


So unterbleiben bei den von pekuniärer Benachteiligung betroffenen Menschen die fälligen Recherchen und Nachfragen. In Deutschland würde man zu gern wissen wollen, warum die AfD das neoliberale Wirtschaftsprogramm der Wohlhabenden-Lobby FDP in weiten Teilen kopiert, Reichenbesteuerung ebenso ablehnt wie Ausgleichsleistungen für Arme, mit den Geldern der Sozialversicherung an der Börse spekulieren will, und die Bedürfnisse der Hartz-IV- und Bürgergeld-Klientel ignoriert oder jene des Schmarotzertums bezichtigt und dennoch von den solcherart Diffamierten und Ignorierten bevorzugt wird. Ins Auge springt eine Parole, auf die sich viele im unteren Drittel der Bevölkerung mit den Weidels und Höckes einigen können, eine Universallösung für alle sozialen Probleme sozusagen: Ausländer raus!


In anderen Ländern sind die Rechtsextremen, die man getrost als Neofaschisten bezeichnen kann, schon weiter, in Italien etwa bereits an der Regierung. Giorgia Meloni, Italiens Ministerpräsidentin und damit Anführerin einer Dreierkoalition, die sich zu großen Teilen dem Erbe des Duce Mussolini verpflichtet fühlt, schaffte unlängst die Sozialhilfe für die meisten bedürftigen Haushalte ersatzlos ab. Vermutlich haben nicht wenige von den dadurch Betroffenen die Partei der Regierungschefin gewählt. Wenn Menschen im Existenzkampf mit dem Rücken zur Wand stehen, verfangen bei ihnen logische Argumente und eine gesunde Skepsis inhumaner Propaganda gegenüber oft nicht mehr, es dringt nur noch das laute und hasserfüllte Geschrei der Rechtspopulisten zu ihnen durch.


Ganz so weit ist das Gebaren der Ultra-Nationalisten nicht von den Gedankengängen und Intentionen des hiesigen Finanzministers Christian Lindner entfernt: Der besteht darauf, der Staat müsse an allen Ecken und Enden sparen. An fast allen, zumindest. Denn die Einführung einer Vermögens- oder Superreichen-Steuer lehnt er ebenso kategorisch ab wie die gerechtere fiskalische Belastung hoher Erbschaften. Bei der Kindergrundsicherung, dem Bürgergeld oder der Sozialhilfe hingegen knapst er mutig jeden Cent ab.


Dabei kamen verschiedene Untersuchungen von Wissenschaftlerteams in Schweden, Italien, den USA und hierzulande zu weitgehend identischen Ergebnissen, wie der SPIEGEL Ende Mai berichtete: Wenn eine Regierung in Europa einen rigiden Sparkurs einschlägt, der Sozialprogramme abwürgt und ohnehin schon prekäre Lebensbedingungen weiter erschwert, kommt das in Wahlen generell der extremen Rechten zugute. Schon der Aufstieg der NSDAP von der randständigen Splitterpartei 1929 zur stärksten Parlamentsfraktion 1933 wurde durch die Politik des sozialen Kahlschlags des Reichskanzlers Brüning begünstigt. Vor einigen Jahren förderten die Konservativen in Großbritannien durch ihre Austeritätsideologie Nigel Farages Nationalisten von Ukip und damit letztendlich den Brexit. Auf ähnliche Weise wurden die zumindest nationalistischen Schwedendemokraten zur zweitstärksten Partei in Stockholm.


Und hierzulande scheint der profilierungssüchtige Lindner Höcke & Co den Weg zu bereiten. Nun ja, in ihrem neoliberalen bis sozialdarwinistischen Wirtschafts- und Sozialverständnis unterscheiden sich FDP und AfD inhaltlich ohnehin nur unwesentlich, lediglich in der Attitüde werden Differenzen sichtbar. Während sich Lindners Parteifreunde überheblich und renitent geben, um den Besserverdienenden sowie den Konzernen zu imponieren, pflegen die Braunen das deftige Argument in Stammtisch-Reinkultur. So fliegen den Blaubraunen die Herzen und Kreuze jener ökonomisch Schwachen zu, für die sie keinerlei Sympathien hegen, dafür aber etliche soziale Grausamkeiten bereithalten, die sie als bloßes Stimmvieh betrachten.


Die AfD-Methode, Vorurteile und Behauptungen zu „Fakten“ aufzumotzen, verfängt längst auch bei Teilen des Mittelstands, vor allem bei Bürgern, die den Abstieg in die Unterschicht fürchten und sich in ihrer Ratlosigkeit mit wohlfeilen Feindbildern (Klimaaktivisten, Linke, Ausländer etwa) ködern lassen und allerorten Konkurrenten entdecken. Neid, Ressentiment, Existenzangst und hemmungsloser Egoismus sind die Ingredienzen einer mit nationaler und ethnischer Hybris angerührten Melange, die mittlerweile auch Beamten, kleinen Selbstständigen und sogar etlichen Gewerkschaftern mundet, die sich aber hinsichtlich eines toleranten Zusammenlebens in der Gesellschaft als unverdaulich erweist.


Die Fähigkeit zur kritischen Beobachtung und Bewertung geht im chauvinistischen Dauerfeuer verloren, wozu auch die klassischen bürgerlichen Parteien durch Tatsachenverdrehungen, Vorteilsnahme oder Unfähigkeit beitragen. Würde das Offensichtliche von weiten Teilen der Bevölkerung noch gesehen und nüchtern eingeordnet, hätte eine so unterirdische Gurkentruppe wie die Führungsriege der AfD keine Chance, eine größere Rolle in der Politik der Bundesrepublik zu spielen. Da banalisiert der Ex-Vorsitzende Gauland mit der Feststellung "Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte" das wohl größte Menschheitsverbrechen, steht damit aber dennoch im Widerspruch zum AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag, Björn Höcke, der immer noch gern Parolen aus der Glanzzeit der angeblichen Gefiederten-Diarrhöe skandiert.


Da schwadronieren hohe Funktionäre im Schulterschluss mit erklärten Faschisten von „Umvolkung“, „Bevölkerungsaustauch“ und „Remigration“ und ergänzen ihre Verschwörungstheorie mit Hetztiraden gegen eine ominöse „Elite“ von Regierungspolitikern und Geldsäcken, lassen sich aber aus dubiosen Schweizer Quellen finanziell unter die Arme greifen. Und da stehen die beiden AfD-Spitzenkandidaten für die EU-Wahlen, Krah und Bystron, unter dringendem Verdacht, als Einflussagenten fremder Mächte zu agieren und – in einem Fall – einen Spion als Mitarbeiter beschäftigt, im anderen ein paar Tausender für gute Dienste angenommen zu haben.


Den meisten Parteien hätte diese Performance alle Wahlchancen verhagelt, im abstrusen Panorama, das die AfD ihren Jüngern per Social Media als „alternative Wahrheit“ verkauft, verschwinden eigene Vergehen ebenso spurlos wie Fakten, die den propagandistischen Schwachsinn der Partei lückenlos widerlegen. Vielleicht aber finden viele Menschen inzwischen auch die übelsten Schweinereien nicht mehr so schlimm, weil sie weltweit, wohin sie auch schauen, ähnliches Personal entdecken und nicht mehr nach Logik, sondern nach Unterhaltungswert urteilen.


Bühne frei für asoziale Narren


Nun ist es ja so, dass die Chronisten in den letzten zwei- bis dreitausend Jahren über jede Menge lächerlicher, sinistrer, skrupelloser und blutrünstiger Charaktere sowie deren absurde Taten berichtet haben. Der als besonders grausam berüchtigte römische Kaiser Caligula etwa machte sein Rennpferd zum Konsul, der Kollege Nero soll seine eigene Residenzstadt angezündet haben. Heinrich VIII. von England gründete eine eigene Kirche, um mehr Frauen ehelichen und ggf. hinrichten lassen zu können. Kurzum, viele Mächtige dieser Erde hatten auch früher schon enorme Macken, die augenblickliche Häufung von Narren, Schurken und Lügnern auf Führungspositionen deutet allerdings darauf hin, dass wir – schon aufgrund der globalen Interaktion – in besonders verworrenen und gefährlichen Zeiten leben.


Lassen wir die zweitrangigen Fehlbesetzungen in der hiesigen Politik der jüngsten Vergangenheit wie Scheuer, Lindner, Aiwanger, Söder, Scholz etc. einmal beiseite und wenden wir uns dem internationalen Panoptikum zu. Seit einigen Jahren gewinnen die großen „Schwellenländer“ der Dritten Welt immer mehr an Bedeutung. Einige der wichtigsten fügen sich nicht mehr der von den USA und der EU dominierten Markt- und Bündnispolitik, treten zunehmend selbstbewusst auf und entwickeln sogar eigene Friedenspläne für Konflikte wie den Krieg in der Ukraine. Bis vor knapp zwei Jahren allerdings wurde das einflussreiche (und ökologisch enorm wichtige) Brasilien von Jair Bolsonaro, Putschistenfreund, Rassist sowie Leugner des Klimawandels, regiert – zur Freude der Neoliberalen weltweit. Dann wurde er als Präsident, der die Zerstörung der Regenwälder gefördert und die Rechte der Indigenen missachtet hatte wie kein Amtsvorgänger, abgewählt. Bei Naturschutzverbänden, Menschenrechtsorganisationen und Klimaschützern atmete man auf, bis ein Jahr später die Argentinier an die Urnen strömten.


Seit Ende 2023 herrscht in Buenos Aires der durchgeknallte Ökonom Javier Milei, gegen den sich Bolsonaro wie ein handzahmer Salonrebell ausnimmt. Wie der Brasilianer hatte Milei dem gemeinsamen Vorbild Donald Trump (der ansonsten in diesem Text nicht auftaucht – zu viel wurde allerorten schon über ihn geschrieben) nachgeeifert, indem er Fakes über Social Media verbreitete, seine Gegner mit Ratten verglich und irrsinnige Heilsbotschaften verkündete. Er bezeichnet sich als Anarchokapitalist, was einen Widerspruch in sich birgt: Zwar propagiert Milei wie die Anarchisten die Abschaffung des Staates, doch während Letztere das gesellschaftliche Handeln freien Assoziationen überlassen wollen, möchte der extreme Sozialdarwinist den Weg für Konzerne und Superreiche zur unumschränkten Macht freimachen. Folglich erklärte er seinem mindestens zur Hälfte verarmten Volk, dass es künftig keine Grundsicherung mehr geben werde und begann sogleich damit, die sozialen Sicherungssysteme  zu zerschlagen, die Arbeitnehmerrechte auszusetzen und die Gewerkschaften zu bedrohen, wofür ihn Wirtschaftsverbände in den USA und der EU feiern.


Selbstverständlich hält Milei den Klimawandel für Quatsch, interessiert sich nicht für die Umwelt, plant die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung, befürwortet den hemmungslosen Freihandel und hält sich gern in rechtsextremistischen Zirkeln auf. Bei seinem Staatsbesuch in Spanien sprach er auf dem Parteitag der neofaschistischen Vox, in Deutschland begegnete er Beatrix von Storch (AfD) und Hans-Georg Maaßen (Werteunion).


Empathie für Menschen, zumal für sozial Benachteiligte, kann man Milei vielleicht nicht nachsagen, aber ganz ohne Gefühle für andere Wesen ist der Mann auch nicht: Sein Mastiff Conan sei sein bester Freund gewesen, erklärte der tierliebende Präsident und ließ den Hund, der einer Rasse angehört, deren Zucht und Haltung in mehreren europäischen Regionen wegen ihres Aggressionspotenzials verboten ist, gleich fünfmal klonen.


In einer anderen Weltgegend, im Nahen bzw. Mittleren Osten geben zwei waschechte Gottesstaaten, nämlich der Iran und Saudi-Arabien, den Ton an. Der starke Mann in Riad, Kronprinz Mohammed bin Salman, gilt als Auftraggeber für die Ermordung des regimekritischen Journalisten Jamal Kashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul. Die westlichen Staaten gebärdeten sich entsetzt und drohten mit Konsequenzen. Keine fünf Jahre später schüttelte US-Präsident Biden dem mutmaßlichen Schwerverbrecher herzlich die Hand, und die Bundesregierung lässt schier unbegrenzte Waffenexporte in den theokratischen Wüstenstaat zu.


Wer nun denkt, menschenverachtendes und asoziales Führungspersonal fände man nur im Orient oder in fernen Ländern des globalen Südens, möge sich auf unserem Kontinent und da in der unmittelbaren politischen wie geografischen Nachbarschaft, umsehen. Im nahen Brüssel residiert Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin, eine Dame, deren Überzeugungen wie Standpunkte ähnlich volatil und wandelbar zu sein scheinen wie die eines Donald Trump oder Markus Söder, die auch mit dem Teufel Abkommen zu schließen scheint, wenn es um ihren eigenen Posten geht. Mit viel Pomp hatte sie in der letzten Legislaturperiode den „Green Deal“ verkündet, um nach ein paar Bauernprotesten eilends vom Kernvorhaben abzurücken: Die Landwirtschaft hätte als Gegenleistung für üppige EU-Subventionen 4 Prozent der Felder und Weiden renaturieren sollen, um im Kampf gegen den Klimawandel und die Umweltzerstörung zu retten, was noch zu retten ist. Sämtliche Auflagen wurden nun von ihr aus Angst vor den Agrarlobbyisten und dem Landvolkszorn ausgesetzt, und die Monokultivatoren bekommen nun ihr Money for Nothing.


Vollmundig hatte von der Leyen jahrelang Brandmauern gegen die beiden Rechtsaußen-Fraktionen im EU-Parlament beschworen. Als sie befürchten musste, angesichts der zu erwartenden Erfolge der Nationalisten für ihre Wiederwahl 2024 nicht genügend Stimmen zusammen zu bekommen, entdeckte sie in Giorgia Meloni, der neofaschistischen Ministerpräsidentin Italiens, eine geistesverwandte Partnerin, die sie sogleich nach Tunis mitnahm, wo mit dem dortigen Regime eine beinahe milliardenschwere Vereinbarung zu besiegeln, durch die Flüchtlinge aus dem Sahel von der Mittelmeerküste ferngehalten werden sollen. Zeitgleich mit der Unterzeichnung am 17. Juli letzten Jahres wurden etliche schwarzafrikanische Migranten von tunesischen Sicherheitskräften deportiert und in der Wüste ausgesetzt. Verdursten dünkt die EU-Granden offenbar humaner als Ersaufen. Die Unterstützung Melonis für ihre zweite Kandidatur bekam die schlaue Ursula trotzdem nicht.


Es fällt auf, dass die alte und neue Kommissionspräsidentin, wohl aus Furcht, in populistischen Gegenwind zu geraten, seit geraumer Zeit die Asylbewerber, die es doch in die EU geschafft haben, nicht als Flüchtlinge/Geflüchtete/Geflohene bezeichnet, sondern als Abzuschiebende


Krieg und Krise


Auch die kriegerischen und hochgefährlichen Entwicklungen in den letzten zwei bis drei Jahren zeigen, dass die Erde sich gerade in einer Phase multilateraler Unvernunft befindet. Im Sudan, in der Sahelzone oder in Äthiopien wird ebenso gekämpft wie in Myanmar, Syrien oder Gaza. Afrika, Asien und neuerdings auch Europa stellen Schauplätze für Bürger-, Vertreibungs- und Eroberungskriege. Unlängst gingen Experten in Genf von 120 bewaffneten Konflikten weltweit aus. Wegen der politisch-ökonomischen Verflechtungen, der (relativen) geografischen Nähe und des Potenzials, Flächenbrände auszulösen, schocken uns die Kriege in Palästina und der Ukraine besonders heftig.


Über den in seiner Brutalität verstörenden Überfall der Hamas auf israelische Orte am 7. Oktober 2023 sowie den anschließenden Vergeltungsfeldzug israelischer Truppen in Gaza, dessen fortdauernde Maßlosigkeit inzwischen ebenfalls entsetzt, haben wir in diesem Blog bereits mehrfach berichtet. Eine Schwierigkeit bei der Kommentierung der Geschehnisse rührt davon her, dass man das Kabinett Netanjahu mit seinen vorbestraften und/oder rechtsextremen Mitgliedern in Jerusalem mittlerweile ziemlich genau kennt und seine Absichten im Ansatz einschätzen kann, während die Hamas-Führer samt ihrer finsteren Motive weitgehend im Dunkeln bleiben. In der Regel werden ihre Gesichter (auf Fotos) und Funktionen erst dann öffentlich bekannt, wenn ihre „Eliminierung“ durch die die israelische Armee erfolgt ist – meist unter Inkaufnahme erheblicher menschlicher Kollateralschäden.


Dagegen sind die Kontrahenten im Ukraine-Krieg gleichermaßen bekannt, was aber die Gemengelage nicht unbedingt einfacher macht. Dies ist allein schon einer Vielzahl divergierender strategischer und ökonomischer Interessen, einigen Winkelzügen der jüngeren Geschichte und dem Hegemonialanspruch zweier verfeindeter Mächte geschuldet. Es bleiben Fragen über Fragen.


Etwa die nach der von mehreren Seiten bestätigten mündlichen Zusicherung, die Gorbatschow vom Westen erhalten hat, die NATO werde sich nicht bis an Russlands Grenzen ausdehnen. Der letzte KPDSU-Generalsekretär glaubte offenbar, eine so wichtige Abmachung komme ohne schriftliche Fixierung aus, so wie bis vor Kurzem im Handwerk ein Handschlag den Arbeitsvertrag ersetzt hatte.


Der Westen wiederum steht im Verdacht, nach der UDSSR nun auch Russland „totrüsten“ zu wollen. Jedenfalls häuften sich die Stationierungen immer potenterer Raketensysteme in Rumänien oder Polen. Wäre die Entmilitarisierung einer Pufferzone mit der Ukraine als Herzstück nicht eine Friedensoption gewesen?


Andererseits beunruhigt Putins Wandlung vom autoritär regierenden Regierungschef zum Despoten, der Kritik zunehmend unterdrückt und dessen Staatssicherheitskräfte inzwischen ähnlich repressiv vorgehen, wie es in den grauen Zeiten der Sowjets üblich war. Er verbündet sich mit der erzreaktionären Russisch-Orthodoxen Kirche, schürt Rassendiskriminierung und Homophobie, betont das Führerprinzip und hat die ihm genehmen Superreichen in ein staatlich kontrolliertes Oligopol, die wohl restriktivste Kapitalismusform, gezwungen. Zum Vergleich: In der Ukraine bekämpfen sich die Oligarchen und Kleptokraten immer noch so munter wie vor dem Krieg.


Bis zu seinem Tod 2008 fungierte der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn als geistiger Mentor für Putin. Der einst im Westen hoch angesehene Autor hatte sich im Alter zu einem rabiaten „Reichsbürger“ entwickelt, der die Herrschaftsgebiete des Zarenreichs zurückforderte, also dem russischen Staat die Ukraine, die baltischen Staaten oder Kasachstan wieder einverleiben wollte. Möglichweise entsprang aus der Freundschaft zwischen dem greisen Propagandisten der Restauration und dem Mann im Kreml der Gedanke zu einem revanchistisch-imperialistischen Feldzug.


Spätestens als die „begrenzte militärische Operation“ (O-Ton Putin) zu einem Luftkrieg gegen die Zivilgesellschaft der gesamten Ukraine eskalierte, ließ sich die euphemistische Rechtfertigung, es handle sich um präventive Selbstverteidigung sowie um Maßnahmen zum Schutz der russischen Diaspora im Nachbarland, nicht mehr aufrechterhalten. Wer Mariupol oder Cherson ins „Vaterland“ zurückholen möchte, bombt diese Städte nicht in Schutt und Asche, so handelt nur ein skrupelloser Eroberer.


Die Behauptung Putins, er wolle die Ukraine vor den Faschisten retten, entbehrt nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik. Tatsächlich gibt es dort faschistische Organisationen, man denke nur an das Asow-Regiment mit seinen 3000 paramilitärischen Kämpfern, das mittlerweile in die ukrainische Nationalgarde integriert wurde. Doch in Kiew regiert der Jude Selenskyj, dem man zwar ein gewisses Faible für autokratische Manieren und das große Geld nachsagen kann, der aber nie internationale Neonazis, Rassisten und Ultra-Nationalisten einlud, wie es eine der Moskauer Regierungsparteien im März 2015 tat. Rund 150 Rechtsextreme trafen sich in St. Petersburg und bildeten eine Art Interessengemeinschaft mit russischen Regimevertretern. Für Deutschland war damals die NPD dabei, inzwischen setzt Putin mehr auf die AfD.


Trotz aller Versäumnisse und Machtdemonstrationen des Westens liegt die Hauptverantwortung für die gefährlichste Situation seit dem Zweiten Weltkrieg, die ganz Europa derzeit erlebt, in der alles bis hin zur Entfesselung des atomaren Zerstörungspotenzials denkbar geworden ist, bei demjenigen, der den ersten Schuss abfeuerte. Und manche Rechtfertigung Putins belegt nur, dass auch er einen Hang zu „alternativen Fakten“ hat. Uns stellt sich die Frage: Sollen wir alle Hoffnung fahren lassen, oder Stellung beziehen und über Auswege aus der Misere nachdenken? Aber wie realistisch können Analysen und Lösungsvorschläge sein, wenn wir von keiner Seite valide, d. h. nachprüfbare, Informationen bekommen?


Was tun?


Weder in Gaza noch in der Ukraine und auch nicht im Sudan ist Frieden oder zumindest ein längerer Waffenstillstand ohne Verhandlungen zu erreichen. Zum Glück können Menschen miteinander reden und sich schriftlich äußern, ansonsten wäre es um unsere Spezies schon längst geschehen. Obwohl das globale Vernichtungspotenzial, bestehend aus atomaren Sprengköpfen, biologischen Waffen, tödlichen Krankheitserregern also, und chemischen Kampfstoffen, bereits seit etlichen Jahrzehnten ausreichend wäre, die Menschheit gleich mehrfach auszulöschen, existieren wir noch – weil die finale Gefahr durch Vereinbarungen gebannt werden konnte.


Auch in den jetzigen Konflikten bedarf es der  Vermittlung und der Kompromisse. Um das Sterben in Gaza zu beenden und die restlichen Geiseln zu befreien, muss selbst die israelische Hardliner-Regierung verhandeln, auch wenn sie immer neue Bedingungen stellt. Benjamin Netanjahu spielt verzweifelt auf Zeit, weil er weiß, dass seine politische Karriere vor dem Ende steht, egal, ob nun die Gespräche an seiner sturen Haltung scheitern oder es zu einem Ende des Blutvergießens und zum Gefangenenaustausch kommt. Auf ihn wartet die Justiz, die heimische und die internationale.


Noch komplizierter stellt sich die Lage im Osten Europas dar: Ließe sich eine breite entmilitarisierte Zone beiderseits der ukrainisch-russischen Grenze einrichten, die angesichts der fehlenden Glaubwürdigkeit Putins, aber auch der bisweilen recht undurchsichtig handelnden Regierung in Kiew von UN-Truppen scharf kontrolliert werden müsste? Steht die Krim zur Disposition? Diese mehrheitlich von Russen bewohnte Halbinsel wurde vom ukrainischen KPDSU-Generalsekretär Chruschtschow 1954 offenbar in einer Wodka-Laune seiner Heimat-Sowjetrepublik geschenkt. Insofern gehört die Krim völkerrechtlich zur Ukraine, was eigentlich nicht verhandelbar wäre. Aber beim Kosovo, das nach internationaler Jurisdiktion ebenso klar Teil Jugoslawiens bzw. Serbiens ist, setzte sich die NATO schließlich auch über alle Bedenken hinweg und führte sogar Krieg für die (illegale) Loslösung der Region. Wenn Putins Großmachtphantasien anderorts ausgebremst werden könnten und der Ukraine damit Sicherheit beschert würde, wäre dann die Krim nicht ein geringes Opfer?


Statt solche (und viele andere) Fragen ernsthaft zu diskutieren und Alternativen zum Heißen Krieg zu erörtern, setzt man hierzulande auf Hochrüstung (was zwar die Rheinmetall-Aktien an der Börse beflügelt, aber öffentliche Mittel für Bildung, Daseinsvorsorge etc. zweckentfremdet), als stünde nicht schon genügend letales Material mit enormer Reichweite in Deutschland herum.


Die Welt scheint aus den Fugen – aber das war sie, genau besehen, immer schon. An uns liegt es, hinter der medialen Manipulation aus Russland und dem Falkengeschrei der Bundesregierung nach verlässlichen Informationen und belastbaren Fakten zu suchen. Ein nüchterner Blick würde dann nicht auf „die beste aller möglichen Welten“ fallen, aber immerhin auf eine, die trotz ihres verheerenden Führungspersonals noch verändert werden kann.


08/2024


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