Der ideale Flüchtling


Um es gleich einzuräumen, der Titel dieses Beitrags bezeichnet eine faktische Unmöglichkeit, ist ein Widerspruch in sich. In der Wahrnehmung der meisten Deutschen und der Politiker, die sie gewählt haben, gilt der Flüchtling/die Geflohene oder Geflüchtete von vornherein als etwas Lästiges, Unwillkommenes. Ausnahmefälle, etwa asylsuchende Milliardäre oder Spitzenwissenschaftler sind selten; andererseits benötigt die Bundesrepublik dringendst Fachkräfte oder anspruchslose Niedriglohn-Jobber aus dem Ausland, also sehen sich die uns Regierenden veranlasst, sich auf Kriterien zu verständigen, nach denen ein paar Gute aus der Welle/Flut/Invasion fremder Eindringlinge herausgepickt werden können. Der Rest – Menschenrechte hin, Flüchtlingskonvention her – soll tunlichst verschwinden.


Überschaubare Auswahl


Nach Ansicht der deutschen Antimigrationsbewegung unter Führung von Scholz, Habeck, Lindner, Merz, Söder, Weidel und Wagenknecht wäre der ideale Flüchtling ein Wesen, das sich in der nordafrikanischen Wüste oder über dem Mittelmeer in Luft auflöst, sich also verflüchtigt, bevor es auf europäischem Boden physische Präsenz annehmen kann. Da zum Entsetzen der Vorgenannten und ihrer regierenden EU-KumpanInnen aber immer wieder leibhaftige Eindringlinge en masse im Abendland aufscheinen, wurden die Ansprüche an den Musterimmigranten ein wenig abgespeckt:
Er/sie hat sich ein Flugticket gekauft, ist anstandslos durch die Passkontrolle am Airport gekommen und ordnungsgemäß aus dem Staat, dessen Regierung ihn verfolgt, ausgereist. Ein solcherart  „legaler“ Migrant dürfte um politisches Asyl ersuchen und auf Duldung hoffen wie jemand mit Schweizer oder dänischer Nationalität, kurz: BürgerInnen eines anderen Landes, das unmittelbar an die Bundesrepublik grenzt (ein eher rares Vorkommnis).


Diese Kriterien sind für Asylbewerber nur sehr schwer zu erfüllen: Wer vor staatlichen Häschern oder islamistischen Milizen flieht, verfügt meist nicht über die Mittel für einen Linienflug, reist er aber auf dem Landweg ein, müsste er seinen Asylantrag am ersten Ort seines Eintreffens in Europa stellen. Die bundesdeutschen Menschenrechtshüter haben diese Regelung schlau im Dublin-2-Abkommen platziert und so die Lasten der Prüfung, Versorgung und Beherbergung den überlasteten Mittelmeeranrainern und Nachbarn der Türkei im Süden des Kontinents überlassen. Kein Wunder, dass diese Erstaufnehmer gern ihre „Gäste“ nach Norden weiterreisen lassen.


Ausweispapiere haben Flüchtlinge oft aus diversen Gründen nicht dabei. Sie könnten marodierenden Banden, die damit Handel treiben, oder den Sicherheitskräften brutaler Regimes in die Hände fallen und für ihre Besitzer gefährlich werden. Zudem stellen etliche Diktaturen zweifelhaften „Subjekten“ keine Pässe aus. Nach Lesart der deutschen Politik handelt es sich dann um „illegale“ oder „irreguläre“ Migration. Zur Erinnerung: Die Genfer Konvention, die 1954 in Kraft trat und von der BRD unterzeichnet wurde, definiert Flüchtlinge als Personen, die sich aufgrund „einer begründeten Furcht vor Verfolgung außerhalb des Staates aufhalten, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, sowie Staatenlose, die sich außerhalb ihres gewöhnlichen Aufenthaltsstaates befinden“. Von gültigen Ausweispapieren oder Visa ist da nicht die Rede.


Ein anderes wichtiges Kriterium, das eine/n Asylsuchende/n zum idealen Flüchtling macht (auch wenn darüber ungern gesprochen wird), ist indes leicht zu erfüllen, da die entscheidenden Merkmale dem Ankömmling ohne individuelles Zutun von europäischen Behörden zugewiesen werden: Er/sie ist ein/e Abzuschiebende/r, ein Mensch, der im Handumdrehen in seine Heimat, in sichere Drittländer (zu denen so ziemlich alle Diktaturen und Autokratien zählen, mit denen der Westen politisch verbandelt ist, etwa die Türkei, Ägypten oder Marokko) oder – neuester Trend – in dafür alimentierte „Gaststaaten“ (etwa Albanien und Ruanda) verfrachtet werden kann.


Natürlich sprechen auch typisch deutsche Aversionen gegen die Idealisierung von Asylbewerbern, vor allem solchen mit ungewohnter Hautfarbe und Religionszugehörigkeit. So mag CDU-Chef Merz beispielsweise „kleine Paschas“ in den Schulen und exotische Patienten, die in seiner Traumwelt Einheimischen die Wartezimmerplätze in den Dentalpraxen wegnehmen, nicht, während Alice Weidel, die gerne AfD-Reichskanzlerin werden möchte, „Kopftuchmädchen und andere Taugenichtse“ nicht abkann.


Germany’s Next Top-Refugee


Zwar könnten Flüchtlinge, die eine Ausbildung durchlaufen oder eine Arbeitserlaubnis erhalten, das Problem des Fachkräftemangels lösen helfen, doch konzentrieren sich diesbezügliche Bemühungen der Bundesregierung eher darauf, sich intellektuellen Input und technisches Know-how aus fremden Ländern einzukaufen, quasi nach dem Beispiel der reichen Profi-Fußballclubs die Dritte Welt ihrer dort mit immensem Aufwand (für Schulen und Unis) entwickelten Talente zu berauben. Auf das Gelingen dieser Strategie können aber Industriebetriebe oder Pflegeeinrichtungen nicht warten und stellen in ihrer Personalnot Migranten mit Arbeitserlaubnis ein.


Das funktioniert, manchmal sogar ohne vorherigen Sprachkurs, so dass man die afrikanische Altenbetreuerin oder den arabischen Gesellen, der sogar die deutsche Berufsschule mit Bravour absolviert hat, für die erste Staffel der TV-Show GNTR (s. Zwischentitel) empfehlen möchte, doch dann schlagen die Behörden ganz im Sinne der Befürworter des reinen Deutschtums zu. Obwohl der unbescholtene Migrant seinen Lebensunterhalt selbst bestreitet, in unsere Sozialsysteme einzahlt und eine wichtige Arbeit, für die personelle Alternativen nicht in Sicht sind, verrichtet, wird er abgeschoben. Seine Aufenthaltsgenehmigung sei nur befristet gewesen, heißt es, und dann schützen ihn auch die internationale Ächtung des Taliban-Regimes oder die Schrecken des Bürgerkriegs im Sudan nicht vor der Repatriierung. Das zeitigte in Bayern, wo besonders gern und schnell „rückgeführt“ wird, den kuriosen Nebeneffekt, dass die eher konservativen Handwerkskammern in Rage gerieten, weil ihren Mitgliedsfirmen bestens eingearbeitete junge Schreiner oder Raumausstatter „entzogen“ wurden.


Einerseits soll der Top-Flüchtling fleißig, freundlich und zuverlässig sein, dazu gut Deutsch sprechen, nicht auffallen und bestenfalls im deutschen Vereinswesen aufgehen. Andererseits ist allzu viel Integration (oder besser: Assimilierung) auch nicht erwünscht, wie Andreas Scheuer, der später als Bundesminister die Welt durch ein Verkehrshindernis vulgo E-Scooter vor der Klimakatastrophe rettete, bereits 2016 feststellte: "Entschuldigen S' die Sprache, das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist - weil den wirst du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern der ist Wirtschaftsflüchtling."


Denn der beste Immigrant ist für die schwarzen Granden immer noch der, der gleich wieder weg ist oder gar nicht erst deutsches Hoheitsgebiet erreicht – indische Krankenschwestern oder EDV-Experten mal ausgenommen. Und deshalb fordert der omnipräsente Dauerredner Markus Söder, dessen vollmundige Ankündigungen großer Taten für den bayerischen Freistaat (Windkraft, Stromtrassen, Wohnungsbau, Münchner Stammstrecke 2 etc.) stets in kostspielige Rinnsalen versickerten, nun sogar eine Änderung des in der Verfassung verankerten Grundrechts auf Asyl.


Benimmregeln: Nicht wie auf Mallorca!


Seine CSU folgte ihm brav und beschloss, „das Asylrecht abzuschaffen, wie es das Grundgesetz vorsieht“ und die Zahl der Flüchtlinge pro Jahr „deutlich unter hunderttausend“ zu drücken. Eigentlich müsste BILD, das Leib- und Magenblatt des bayerischen Ministerpräsidenten, nun begeistert darüber berichten, wie Söder den Kriegsparteien dieser Erde, allen Diktaturen sowie den Naturgewalten ins Gewissen redet, ein wenig langsamer zu tun, damit die Anzahl der aus ihrer Heimat Fliehenden nur noch ein ihm genehmes Ausmaß erreicht. Wenn das nicht klappen sollte, ließen sich sicherlich andere Begründungen oder angepasste Zählweisen finden…


Bleibt allen humaner denkenden Menschen nur die Hoffnung, dass auch dieses Vorhaben des Scheinriesen Markus scheitert.


Da selbst konservative Politiker bisweilen hinter vorgehaltener Hand zugeben, dass wir nicht nur Abgeworbene, sondern auch Abgehaute, also Flüchtlinge/Geflohene/Asylbewerber, auf dem Arbeitsmarkt benötigen, und zwar für Jobs, die für Deutsche in zehnter Generation zu stressig, zu schlecht bezahlt oder auch zu kompliziert sind, gehen einige Volkstümler dazu über, Benimm-Regeln für die Neuankömmlinge aufzustellen. Schon Friedrich Merz hatte 2000 im Bundestag den Begriff „Leitkultur“ ins Spiel gebracht, den ein paar Jahre später zunächst CSU, dann CDU in ihre Parteiprogramme übernahmen. Ziel war vor allem, die Migranten auf ein christliches Welt- und Menschenbild und exzellente Kenntnisse der deutschen Sprache (die allerdings in abgelegenen Regionen dieses Landes auch Alteingesessenen nicht allzu geläufig ist) zu verpflichten.


Bleiben einige Fragen: Die Christen geraten in der Bundesrepublik langsam, aber sicher in die Minderheit. Müssten dann nicht auch urdeutsche Atheisten, die sich bewusst wegen der unheilvollen Geschichte dieser klerikalen Orientierung von der Religion entfernt haben, einer Umerziehung unterzogen werden? Dieser bedürfen wiederum ordentlich Getaufte, die sich auf dem Oktoberfest, in Fußballstadien oder im Lieblingsausland, etwa am Ballermann, wie gottlose Berserker gebärden, selbstredend nicht. Aber an deren überschwappender  Nationaltrunkenheit sollten sich die Neubürger auch nicht unbedingt ein Beispiel nehmen.


Würden die AfD-Herrschaften zustimmen?


Wann ist Deutschland, repräsentiert durch Politik, Medien und Stammtisch, in unseren Zeiten am unmenschlichsten? Im Vorfeld von Wahlen natürlich, wie man/frau aktuell angesichts der Schatten, die der im Dezember nächsten Jahres anstehende Entscheid über die Zusammensetzung der künftigen Bundesregierung vorauswirft, klar wird. Inhalte und rhetorischen Furor hat die rechtsextremistische AfD vorgegeben, die arrivierten Bürgerparteien bemühen sich, Schritt zu halten. Doch halt, was heißt hier Inhalte? Die AfD hat nur einen einzigen, mit dem sie punkten kann: Ausländerstopp, am besten ergänzt durch Remigration.


Das verfängt in einer Öffentlichkeit, die zu belegen scheint, dass Jahrzehnte des Mehr-Demokratie-Wagens, der angeblichen Friedenspolitik und des (behaupteten) Primats der Menschenrechte mehr oder weniger nur eine dünne Emailschicht über das Blech brauner oder zumindest chauvinistischer Tradition gelegt hatten. Dass der Lack ab ist, zeigt sich insbesondere bei den (noch) maßgeblichen Parteien. SPD-Innenministerin Nancy Faeser schämt sich nicht, in ihrem Abschiebungswahn das Vokabular der AfD-Spitzen Punkt für Punkt zu übernehmen, die Vorzeige-Grünen Baerbock und Habeck mucken zwar kaum wahrnehmbar moralisierend auf, stimmen letztendlich aber allen Grausamkeiten zu, selbst wenn ihnen dadurch die gesamte Nachwuchsorganisation abhandenkommt, weil sie allein noch Charakter beweist. Von Merz und Söder hätte man ohnehin nichts Konstruktives erwartet, und über die Lobbyisten von der FDP brauchen wir uns diesbezüglich hoffentlich nicht mehr allzu lange Gedanken zu machen.


Es ist verständlich, wenn sich (überwiegend) ältere Bürger Sorgen machen über die gefühlte und teilweise reale Zunahme von kriminellen Handlungen durch (meist junge und männliche) Migranten. Dabei wird gern übersehen, dass sich die Flüchtlinge in psychischer und sozialer Ausnahmesituation befinden und dass sich die weit überwiegende Mehrheit von ihnen dennoch nicht strafbar macht. Sicherlich gibt es Dealer, Gewalttäter oder Vergewaltiger unter den Zuwanderern, doch fällt dies in die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden, und das Problem, so gravierend es sein mag, erreicht nicht die gesamtgesellschaftliche Brisanz, die ihm die AfD sowie ihre bei den anderen Parteien beheimateten Brüder und Schwestern im Geiste andichten.


Wir verlieren gerade den Kampf gegen den Klimawandel, starren hilflos auf zwei Kriegsherde mit dem Potenzial zu Flächen- oder gar Weltbränden, erleben eine sich rasant vergrößernde ökonomische und soziale Ungleichheit, sowohl in der Bundesrepublik als auch in der globalen Staatenlandschaft – und unsere Politiker wollen Wahlen gewinnen, indem sie sich als zum Äußersten entschlossene Abschiebungsexperten präsentieren…


Es erwischt übrigens meist genau die Migranten, die sich selbst um Integration bemühen, die in unsere Sozialsysteme einzahlen und ihren Wohnsitz ordnungsgemäß angemeldet haben. Sie kann man in ihrem Zuhause, an ihrem Arbeitsplatz oder in der Berufsschulklasse antreffen und in ein Flugzeug setzen, das sie nach Afghanistan oder Ägypten zurückbringt. Möglicherweise landet zur gleichen Zeit auf dem selben Flughafen eine Maschine aus der Dritten Welt, die junge Leute für die soeben freigewordenen Jobs an Bord hat, abgeworbene Arbeitskräfte, für die ein bettelarmes Land und nicht Deutschland als Nutznießer die Ausbildung finanziert hat.


Dieser skrupellos kalkulierte Irrsinn ist Teil einer politischen Leitkultur, die nationalistische Restauration aufs Gedeihlichste mit neoliberalen Wirtschaftsinteressen und ethnischer Hybris verbindet.


10/2024


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