Am Wochenende der EU-Wahlen noch eine Vorschau auf den Urnengang zu bringen, mag kurios erscheinen, ist aber technischen Problemen geschuldet, die eine Veröffentlichung fast einen Monat lang verhinderten. Aktuell ist der Text immer noch, zumal sich die skizzierten Rechtstrends in Westeuropa in der Zwischenzeit eher noch beschleunigt zu haben scheinen, wie etwa das Wiedererstarken der spanischen Vox, der prognostizierte Triumph des Vlaams Belang in Belgien oder die Wiedergeburt der portugiesischen Rechtsextremen belegen. Lediglich die AfD hat in der Zwischenzeit geschwächelt, wovon in der Nachbetrachtung noch die Rede sein wird. Kurz vor seinem Tod zeichnete Hachfeld den letzten Cartoon für walter-view.


Unterminierte Festung
Cartoon: Rainer Hachfeld


Die Europäische Union feiert sich intensiv und lautstark als Friedensgarant für den Kontinent, ja die ganze Welt. Was eigentlich als gemeinsame Antwort auf die einstige Handelsdominanz der USA und Japans sowie die Rohstoffpotenz der OPEC, zudem als koordinierte Unternehmung zur ökonomischen Beherrschung der Dritten Welt geplant war, entwickelte sich nebenher auf dem „zivilen“ Sektor zu einem Katalysator interkultureller Beziehungen. Nicht wenige Menschen profitierten von den Angeboten des informellen Austauschs und der persönlichen Begegnung. Die EU begann sich, in Teilen, etwa in den Themenfeldern Umweltschutz oder Kompensation von Strukturschwäche, als Korrektiv einer multinationalen Gesellschaft zu definieren. Doch diese goldene Phase scheint vorbei, derzeit ist eine sich nach außen abschottende  Wagenburg-Mentalität en vogue, und im Inneren überrumpeln reaktionäre Separatisten die bürgerlichen Wortführer.


Europa uneinnehmbar machen


Einst gab sich Brüssel weltoffen, lud die Staaten der Erde ein, sich das große europäische Experiment, das ewigen Frieden auf einem früher ständig von Kriegen erschütterten Kontinent garantieren sollte, näher anzusehen und davon zu profitieren. Aufgrund des Wirtschaftsprimats wollte man aus den armen Ländern vor allem Lieferanten mit moderaten Preisvorstellungen und Kunden mit bescheidenen Qualitätsansprüchen als Besucher – es kamen aber Menschen, und zwar nicht wenige.


Geflohene, zu einem Teil aus Kriegsgebieten und Diktaturen, zum andern aus Ländern, die die EU-Außenhandelspolitik hatte verelenden lassen, stellten die Behörden tatsächlich vor Probleme: Wie die Fluchtgründe bewerten? Wie die Menschen unterbringen und ihren Kindern Schulbesuch ermöglichen? Wann sollten sie Arbeit aufnehmen dürfen? Es war für die Beamten der jeweiligen Ausländerbehörden nicht unbedingt leicht, ihre Regelwerke an humanitäre Bedarfe anzupassen, und sie haben es auch zu oft nicht geschafft. Aber es wäre mit überschaubarem Mittelaufwand möglich gewesen, tragfähige Strukturen zur Integration aufzubauen und die Eingliederung der Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt zu erreichen, zumal die Industrie- und Handwerksbetriebe sowie der Gesundheits- und Altenpflegesektor in vielen EU-Ländern dringend personelle Verstärkung benötigten.


Doch berufliche und soziale Integration erfordert (anfangs) Geld, Mühe sowie intelligente Planung, was den in großen Teilen von Ressentiments gegen Einwanderer besessenen Bevölkerungen nie leicht zu vermitteln ist. Und dann ist vor allem bei den konservativen und nationalliberalen Parteien Europas ein Dünkel spürbar, der eine ernsthafte Beschäftigung mit Problemen von Unterprivilegierten überhaupt und von Sicherheit und Auskommen Suchenden aus fremden Kulturen im Besonderen, weitgehend ausschließt. Deshalb soll nun abgeschoben werden, so schnell wie möglich und wohin auch immer es geht, während man gleichzeitig die Außengrenzen für weitere Hilfesuchende so unbezwingbar und todesgefährlich gestaltet wie einst die Berliner Mauer.


Wenn aber SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser den „Asyl-Kompromiss“ des EU-Parlaments, der de facto völkerrechtswidrig ist, weil er gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt, im gleichen warmen Tonfall wie die italienische Neofaschistin Giorgia Meloni feiert, ist das dem typischen Opportunismus politischer Amtsinhaber und einer fatalen Art von Torschlusspanik geschuldet.


Aus Furcht vor Machtverlust erfüllen nämlich die Sozialdemokraten und Grünen in Brüssel (aber auch die in Berlin) noch die schärfsten Forderungen von Rechtsradikalen, um diesen die Themen wegzunehmen und eine von Horrormeldungen sowie Fake-News aufgeschreckte Wählerschaft an sich zu binden. Doch das Gegenteil davon tritt ein: Die rechtsradikalen Parteien werden für ihre Urheberschaft gefeiert und gebärden sich in neuen Postulaten immer dreister.


Die Eroberung der EU


Die Angst geht vor allem in den drei größten Fraktionen des Europaparlaments, der christdemokratischen EVP, der sozialdemokratischen S&D und der liberalen RE um, dass sie nach den Wahlen vom 6. bis 9. Juni allesamt nach hinten gespült werden. Aktuelle Prognosen sagen nämlich enorme Stimmengewinne für die beiden Rechtsaußenfraktionen EKR und ID voraus, und sollten die – wie allgemein erwartet wird – eine „patriotische“ Verbindung eingehen, läge diese nur noch knapp hinter der EVP an zweiter Stelle (wenn nicht schon ganz vorn).


Aber auch das muss noch nicht das Ende der bräunlich beflaggten Fahnenstange sein: So genießt Jordan Bardella, der 28-jährige Spitzenkandidat von Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich, inzwischen eine Popularität wie sonst nur Film- und Rockstars – und das vor allem beim jungen Wahlvolk. Als absoluter Favorit für die Abstimmung im Juni könnte er das Sitzkontingent der Rechtsaußen-Parteien noch wesentlich vergrößern, und mit seinen Plänen, über Einwanderung generell abstimmen zu lassen sowie Umweltschutzmaßnahmen zugunsten der Bauern zurückzunehmen, strahlt er in andere Länder aus. Zudem wird sich der von der EVP suspendierte Victor Orbán mit seiner Fidesz nach der Wahl wohl der EKR anschließen. All das könnte die Christdemokraten den ersten Platz im Parlament kosten.


Zwischen den beiden etwa gleichstarken nationalistischen EU-Fraktionen Europäische Konservative und Reformer (EKR) und Identität und Demokratie (ID) bestehen eher graduelle als wesentliche Unterschiede. Während die EKR die EU nach ihrer Vorstellung umformen will, propagiert die ID den Austritt aus der Union (was einer Unterminierung des eigenen Wirkungskreises und einer munter sprudelnden Geldquelle gleichkäme). Die EKR äußert sich bisweilen staatstragend statt extremistisch und wird als „rechtspopulistisch“ eingestuft, obwohl ihr die von den neofaschistischen, offen Mussolini verehrenden Fratelli d’Italia angehören. Größte Gruppierung ist die klerikal-reaktionäre PiS, die in Polen immer noch als stärkste Partei operiert, wenn auch jetzt von den Oppositionsbänken aus. Die erzreaktionäre Vox in Spanien musste ebenfalls Einbußen bei den letzten nationalen Wahlen hinnehmen.


Der gesamte Block aber sieht sich für Juni in stürmischem Aufwind.
Dies gilt erst recht für die rechtsextremistische ID, in der sich mit der rassistischen italienischen Lega, der durch und durch korrupten FPÖ in Österreich, den Autokratenfreunden von der AfD und den flämischen Separatisten vom Vlaams Belang die lautesten Chauvinisten versammelt haben. Lediglich ihr Partner, der Rassemblement National, hat derzeit ein wenig Kreide gefressen, liegt er doch in den französischen Umfragen auf Platz Eins in der Wählergunst und möchte weiter im konservativ-bürgerlichen Reservoir fischen.


Die Grenzen zwischen rechtsextrem und rechtspopulistisch sind fließend. Vielleicht hilft eine Definition des Politologen Frank Decker bei der Unterscheidung. Ihm zufolge versteht sich der Rechtsextremismus von Grund auf als antidemokratisch, während  die Rechtspopulisten behaupten, den „vermeintlichen Volkswillen“ gegen die Rechte von Einzelnen oder Minderheiten in Stellung zu bringen und so die wahre Demokratieform zu vertreten.


Bröckelnde Brandmauern


Man darf der EU durchaus skeptisch gegenüberstehen, sollte aber abseits von den offiziösen Phrasen über die „europäische Idee“ ihre Institutionen, Gesetzgebung und Planungskompetenzen in Bereichen wie der Förderung strukturschwacher Regionen, der soziokulturellen Initiativen oder dem Natur- und Klimaschutz nutzen. (Und darauf achten, dass sie nicht von der Kommission, wie unlängst im Falle der Renaturierung von Bauernboden geschehen, in panischer Hast dem rabiaten Mob geopfert werden.)


Doch die Furcht vor dem Erstarken der rechtsradikalen Fraktionen treibt die bürgerlichen Parteien dazu, immer reaktionärere und restriktivere Politik zu machen – gut sichtbar im „Asyl-Kompromiss“, dem ja schon die Aufrüstung der Grenzschutztruppe FRONTEX zur größten Pushback-Miliz des Mittelmeerraums vorausgegangen war. Zudem zeigen sich die Christdemokraten trotz der von ihnen beschworenen „Brandmauern“ gegen Ultra-Nationalisten mehr und mehr dazu bereit, partiell mit restaurativen Kräften bis hin zu Neonazis zu kooperieren. Das offenbarte sich in den kommunalen Niederungen Thüringens, wo Gemeinderäte von CDU und AfD nicht selten übereinstimmen, aber auch auf Landesebene in Sachsen-Anhalt (gemeinsame Verhinderung der Rundfunkgebührenerhöhung durch CDU und AfD).


Besonders bemerkenswert, da nationale Grenzen überschreitend, war das jüngste Beispiel für eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Rechts und Rechtsaußen im EU-Parlament. Ein Antrag, der die Belästigung von Mitarbeitern durch Abgeordnete ahnden sollte, wurde mit den vereinten Stimmen von EVP, EKR und ID abgelehnt.

























"Ja darf mann denn als aufrechter EU-Abgeordneter seinen AssistentInnen und PraktikantInnen nicht mehr zeigen, wo unsere wahren Stärken liegen?"


Tatsächlich hält sich Manfred Weber (CSU), Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, gern in Italien auf und plauscht dort vorzugsweise mit Politikern der neofaschistischen Fratelli. Und deren Parteivorsitzende, Ministerpräsidentin Meloni, die in Rom die Medien rigide zensieren lässt und den staatlichen Sender RAI unter ihre Kontrolle bringt, gilt mittlerweile als Vertraute der Kommissionspräsidentin von der Leyen (EAP, CDU), die mit ihrer neuen Alliierten kürzlich sogar als „Team Europa“ zu Gesprächen nach Tunesien reiste. Brüssel ähnelt einer belagerten Festung, deren Verteidiger in vorauseilendem Gehorsam dem chauvinistischen Feind gegenüber die eigenen Stellungen unterminieren. Aber Ursula v. d. L. möchte ja schließlich wiedergewählt werden - egal, mit welchen Stimmen…


Kürzlich fiel mir ein Wahlplakat der Linken auf, dessen einziger Text aus dem simplen, aber für die selbsternannten Hüter der bürgerlichen Demokratie nicht mehr selbstverständlichen Satz bestand: Wer fliehen muss, muss Schutz finden. Die superbreite Anti-Flüchtlingskoalition aus Union, SPD, Grünen, FDP, AfD und Sahra Wagenknechts BSW kann darüber nur wie ein Mann/eine Frau den Kopf schütteln: Im vorherrschenden fremdenfeindlichen Klima der Republik begehe die Linke mit einem solchen Slogan doch Selbstmord! Mag sein, aber dann geht sie wenigstens mit Anstand unter…


05/2024


Dazu auch:


Bräunliches Europa (2022) und Europa wird braun (2016) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund



Nachbemerkung: Mittlerweile hat die Weigerung von der Leyens und ihrer EVP, eine Zusammenarbeit mit den beiden rechtsextremen Fraktionen nach den Wahlen auszuschließen, die Annahme bestärkt, dass es in wichtigen Fragen (Flüchtlingspolitik, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte etc.) eine zumindest informelle konservativ-faschistische Mehrheitskoalition in Brüssel geben dürfte. So viel zu den häufig beschworenen "Brandmauern"! Lediglich die AfD hierzulande ist ein wenig gestolpert, allerdings nicht über ihre fachlichen Unzulänglichkeiten, ihre Intoleranz oder nationalistische Hasstiraden, sondern über die Nachricht, dass einige Mandatsträger und Mitarbeiter sich ihre durchaus glaubhafte Sympathie für Autokraten mit imperialistischen Zügen wie Putin vergolden ließen bzw. sich als Spitzel in deren Dienste begaben.