Inhalt

(Bitte scrollen: Texte folgen nach der Übersicht.)


2024


- Das Universalrezept (Faules Zauberwort "Bürokratieabbau")

- Geld für Gangster (EU-Mittel gegen statt für Flüchtlinge)

- Die Asozialen (Die Liberalen als erfolgreiche Ampel-Saboteure)

- Auf dem Rückzug (Für Erdgas tut die Ampel mittlerweile alles)

- Aus der Tarnung ("Remigration" - die braune Fratze der AfD)



2023


- Alle in die Wüste? (Arabisches Geld kauft Events und Einfluss)

- Welt als Geisterbahn (Rechtsextremer Vormarsch in Europa)

- Schnapsidee Reloaded ("Ruanda" ist das Zauberwort für Rechte)

- Das fünfte Rad (Lang erwartet, aber nicht neu: Sahras Ego-Partei)

- Braune Zeitenwende? (Die AfD scheint tief im Volk verwurzelt)

- Wutbürgers 10 Gebote (Aus der Bibel für Rechtsradikale)

- Sweet Dreams? (Pro und Contra der Cannabis-Legalisierung)

- Belagerung von Brüssel (Rechtsextreme wollen EU-Mandate)

- Nachhaltige Killer (Werden Teile der Ukraine zu No-Go-Zonen?)

- Mindestalmosen (Hubertus Heil bricht sein Versprechen)

- Armselige Moralisten (Die AfD treibt die Ampel vor sich her)

- Die UNO gegen Scholz (Es geht um die Letzte Generation)

- Falsche Baustelle (Justizminister Buschmann gewichtet seltsam)

- Milliardengrab Süd (Verkehrsprojekt kostet viel und wird nicht fertig)

- Türsteher der Nato (Wer in den Edelclub darf, bestimmt Erdogan)

- Braver Trotzkopf! (Verkehrsminister Wissing im Dienst von Porsche)

- Die Republik zockt (Der Staat verdient an der Spielsucht)

- Kritik erlaubt? (Israels Regierung auf dem Weg nach Rechtsaußen)



2022


- Gefahr? Welche Gefahr? (Rechte Medien ignorieren Putschgefahr)

- Exportschlager Bahn (Ägypten scheint die DB nicht zu kennen)

- Artenschutz à la FDP (Ein Herz für Lobbyisten)

- Bräunliches Europa (Wohin man in der EU schaut: Rechtsextreme)

- Hochsaison für Heuchler (Krokodilstränen für zwei Tote)

- Das ewige Übel (Religiöser Fanatismus nimmt wieder zu)

- Railway to Hell (Hat die Deutsche Bahn Angst vor Fahrgästen?)

- Wer darf? Wer nicht? (Nicht nur Putin führt einen Angriffskrieg)

- Ende der Allmacht (Die Welt tanzt nicht nach unserer Pfeife)

- Putins "Erfolge" (Er hat die Welt gefährlicher gemacht)

- Tod durch Diebstahl (Afghanen hungern, die USA klauen)

- Putin und das Chaos (Wie man die Welt gefährlicher macht)

- Impfgegner züchten (Die Politik munitioniert Covid-Leugner)

- Hilfe zum Untergang (Der Westen lässt die Afghanen sterben)

- Der doppelte Olaf (Ein diskretes Faible für Waffenexporte)



2021


- Rostiges Werkzeug (Rückkehr des Radikalenerlasses?)

- Abgang der Nieten (Massenabschied nach der Wahl)

- Klassenprimus? (Beliebte deutsche Umweltlügen)

- Befleckt ins Amt (Weiß ist die Weste des neuen Kanzlers nicht)

- Stuttgart 25 plus (Für alle, die BER für den größten Witz halten)

- Freie Fahrt für niemand (Verkehrswende nicht in Sicht)

- Die Lehren von Kabul (Deutsche Interventionspolitik gescheitert)

- Dumm oder inhuman? (Den Krieg verloren, aber weiter abgeschoben)

- Der Fisch darf stinken (Korruption fängt ganz oben an)

- Covid-Kolonialismus (Vor dem Virus sind nicht alle gleich)

- Ende des Regenbogens (EU gibt sich tolerant und handelt inhuman)

- Wer darf? Wer nicht? (Die Unterschiede zwischen Wien und Minsk)

- Hilfe durch Landraub (Entwicklungshilfe gegen Kleinbauern)

- Machiavellist Haseloff (Machtgedanken aus Sachsen-Anhalt)

- In die Ferne schweifen (Für Menschenrechte! Aber bitte nicht hier)

- Söderdämmerung (Strahlendes Image mit lauter Flecken)

- Krieg gegen die Natur (Stete Umweltzerstörung in Deutschland)

- Grünes Atomfaible (Die Öko-Partei ist nicht länger friedensbewegt)

- Internationale der Irren (Militante Rechte in der BRD und den USA)

 


2020


- Berliner Gewissen (Waffen-Schiebereien in Corona-Zeiten)

- Chronik des Versagens (Die Bundeswehr in Afghanistan)

- Vom Frieden reden... (Berlin will Atombomben nicht bannen)

- Endlich Perspektive (Ökos und Ver.di kämpfen gemeinsam) 

- Gelehrtenrepublik BY (Söder will kein Endlager in Bayern)

- Die Gottgleichen (Gates und Soros als Retter der Erde)

- Irre Träume der SPD (Ex-Volkspartei setzt auf Scholzomat)

- Honorige Komplizen (Regierung als Türöffner für Wirecard)

- Von Bayern lernen? (Söder taugt nicht als Vorbild in der Krise)

- Hiwis der Konzerne? (Das Verhältnis der Politik zur Industrie)

- Rettet Panama! (Corona-Hilfen für Steuerflüchtlinge)

- Spenden? Null Ahnung! (Die diskreten Almosen der Parteien)

- Krieg geht immer (Rüstungsindustrie floriert auch während Corona)

- Wirres im Virenland (Von Hamsterkäufen und Schuldzuweisung)

- System-Spürhunde (Die Feindbilder der Finanzbeamten)

- Erstligatauglich? (Gehört Rassismus zur Tradition von Schalke 04?)

- Ein Herz für Nieten (Die Wirtschaft sorgt für Ex-Minister)

- Verbieten verboten (Erlaubt ist, was der Umwelt schadet)


2019


- Das große Einknicken (Kommunalpolitik kuscht vor Rechten)

- Der kann nichts dafür (Scheuer nur bedingt verantwortlich)

- Schluss mit lustig! (Nazi-Gegner nicht mehr gemeinnützig)

- Braune Weihnacht (Die AfD mag kein dunkles Christkind) 

- Die Brandexperten (Ausgerechnet die CSU beklagt Hass-Sprache)

- Her mit den Migranten! (Altenpfleger aus der Dritten Welt)

- Adel verpflichtet nie (Hohenzollern wollen Beute zurück)

- Berserkers Rückhalt (Dubiose Ulster-Partei stützt Johnson)

- Die rechte Haltung (Neonazi-Aufmarsch in der Bundeswehr)

- Stunde der Komödianten (SPD-Rettung als Lachnummer)

- Logik des Untergangs (Saudi-Faible bis zum großen Knall)

- Untreuhandanstalt (wie der deutsche Osten verscherbelt wurde)

- Geht ein Gespenst um? (Juso Kühnert und das böse E-Wort) 

- Die Rache des Staates (Attac nicht mehr gemeinnützig)                      

- Afghanische Orakel (Tödliche Irrtümer des Westens)

- Donald und die Zwerge (Ein Berserker triumphiert)

- Prima Klima in Rio (Deutsche Geschäfte mit einem Faschisten)


2018


- Braundeutscher Eisberg (Rechtsextreme rüsten massiv auf)

- Grünes Vergessen (Man denkt nicht gern an alte Sünden)

- Vertragsbruch-Profis (Perfide Praktiken der USA)

- Die frohe Botschaft... (Die SPD macht sich überflüssig)

- Prinzip Belohnung (In der CSU zahlt sich Versagen aus)

- Die dümmsten Kälber (Populisten täuschen sozial Schwache)

- Das andere Israel (Künstler gegen die rechte Regierung)

- Völkermord als Test (Wurde in Afrika für den Holocaust geübt?) 

- Schmierenkomödianten (Menschenverachtung und Bundespolitik)

- Einäugiger Volkszorn (WM-Versagen und Fremdenfeindlichkeit)

- Ganz reale Ängste (Entwicklungen, die das Fürchten lehren)

- DGB am Scheideweg (Gewerkschaften verspielen Glaubwürdigkeit)

- Mit nacktem Finger (Chemiewaffen? Deutsche Firmen sind dabei!)

- Gehet hin und hört ab (Der BND bespitzelt Menschenrechtler)

- Jammern der Wölfe (Die fatale EU-Handelspolitik)

- Wieder was geschafft (Das Trauerspiel um die Inklusion)

- Überall Wiedertäufer (Sauereien einfach umbenennen!)

- Blut, Boden, Reisepass (Gefährliches Spiel um Südtirol)


2017


- Unwörter dieser Jahre (Sozialer Niedergang schöngeredet)

- Die süße Mafia (Coca Cola & Co. gehen brachial gegen Kritiker vor)

- Der U-Boot-Krimi (Deutsche Waffen-Deals wie geschmiert)

- Der Markt ist blind (Die Wirtschaft als oberste Instanz)

- German Angst (Die dubiose Sehnsucht nach Zucht und Ordnung) 

- Dem Fürsten sein Land (Nicht hochwohlgeboren, aber in der AfD) 

- Mörder und ihre Helfer (Die Saudis können sich auf uns verlassen)

- Gefährder aus Austria (Ein ÖVP-Rechtspopulist erobert Wien)

- Verhältnismäßigkeit (Von Steinewerfern und Heuchlern) 

- The Outsider (J. Corbyn, der etwas andere Sozialdemokrat)

- Lustige Kriegsspiele (Schon Kinder sollen Spaß an Waffen haben)

- Schreckliche Freunde (Statt Feinden hat Berlin die Saudis)

- Union der Verhinderer (Wie Integration unmöglich gemacht wird)

- Tödlicher Sehfehler (Die Bundeswehr lässt töten - die Falschen)

- Fürchtet Europa! (Unter deutscher  Führung rüstet die EU auf)

- Zur Bombe drängt... (Berlins feuchte Atommachtträume)

- Alle Kreter lügen (De Maizières Afghanistan-Paradoxon)
- Blindes Argusauge (Mehr Kontrolle? Durch wen bitte?)


2016


- Ende der Maskerade (Trumps Kabinett der Superreichen)

- Eine Sicht auf Castro (Was in Nachrufen unterschlagen wird)

- Ware Mensch (Vom wirtschaftlichen Wert des Flüchtlings)

- CETA-Marodeure (Wie man Freihandel erzwingen will) 

- Gefährliche Spießer (mit der AfD zurück in die 1950er Jahre)

- Spitzen-Nachbar! (AfD-Gauland möchte nicht wohnen wie andere)

- CETA spaltet DGB (Unternehmensfreunde in der Gewerkschaft)

- EU in freiem Fall? ("Wertegemeinschaft" auf Abwegen)

- Misstrauen geboten (Gabriel täuscht links an und geht rechts vorbei)

- Der letzte Strohhalm (Die SPD wird von ihren Sünden eingeholt)

- Aufschub für Austria (Atempause vor dem finalen Rechtsruck?)

- Die McKinsey-Republik (Externe Berater steuern die Arbeitsagentur) 

- Inklusionslügen (Bayern vergeigt die Inklusion, prahlt aber mit ihr)

- Europa wird braun (Rechtsradikale allerorten auf dem Vormarsch)

- Moral à la Turque (EU-Kuhhandel um verzweifelte Flüchtlinge)

- Durch die Wüste (Eine Kriegsministerin auf den Spuren Karl Mays)


2015 


- Die Christuskrieger (Fundamentalisten gibt es nicht nur im Islam)

- Die Widerlichen (Die CSU will von den Pariser Anschlägen profitieren)

- Hilfe für Pegida? (Unterstützung statt Bespitzelung durch Agenten)

- Schweizer Braun (Rechtsextreme sitzen in der Berner Regierung)   

- Asyl nach Wert (Nur hochqualifizierte Flüchtlinge sind willkommen)

- Die Flüchtlingsmacher (Deutsche Politik heizt Kriege an)

- Sichere Herkunft? (Regierung: Mit Märchen gegen Asylsuchende)

- Demokrexit (Wenn Griechen nicht so wählen, wie Berlin es will...)

- Die guten Schlächter (Deutscher Kolonialismus - eine Legende)

- Und es schießt doch! (Heckler & Koch tötet weltweit zuverlässig)

- Die Erpressung (Afrika - von der EU zum "Freihandel" gezwungen) 

- Die offenen Adern (Das Hauptwerk des verstorbenen E. Galeano)

- Terror auf Bestellung (USA und Saudis machten den IS stark) 

- Menschenrechtsstadt? (Nürnberg feiert sich - und weist aus) 

- Hüter der Spitzel (Wen deckt der Verfassungsschutz?) 

- Verramschter Verkehr (Privatisierer Dobrindt kann nicht rechnen) 

- Service für Folterer (VW do Brasil schmuste mit der Diktatur)  

- Fragen an die Irren (Die fatale Rabulistik der EU-Ökonomen)  

- Die dritte Drohung (nach CETA und TTIP soll TiSA kommen)


2014 


- Väter von Pegida (Die offizöse Verharmlosung der Xenophobie) 

- Gemeiner Nutzen (Was Parteien frommt, ist für Attac tabu)  

- Kreide gespeist (Politiker zeigen viel Verständnis - für Rassisten) 

- Europa der Diebe (Jean-Claude und die griechische Mythologie)  

- Primus aus Ankara (Erdogan hat viel von der NATO gelernt) 

- Gegen ein Monstrum (Entmündigung durch TTIP und CETA) 

- FREIHEIT und DEMOCRACY (Westliche Werte durch Intervention) 

- Tod aus Deutschland (Deutsche Wertarbeit lässt weltweit sterben) 

- Kokain (Länder versinken im Chaos, Banken scheffeln Milliarden) 

- Hässliches Profil (Wie sich die NSA einen Reim auf uns macht) 

- Dorf schlägt Staat (Aktive Bürger gegen zynische Politiker) 

- Der Teufelspakt (Ablenkungsmanöver rund um TTIP

- Blut am Stacheldraht (Die EU-Politik tötet Flüchtlinge)

- Mieser alter Mief (Sündenfall der Linken: Braunkohle-Abbau)

- Die Herren des Landes (Die Enteignung von Drittwelt-Staaten)

- Modell Haderthauer (Nicht ganz ernst gemeinte Ehrenrettung) 

- Bad Man Gabriel (Der SPD-Vorsitzende und die Waffenexporte) 

- Krippen ohne Heu (KiTas: Gebaut wird, aber die Erzieher fehlen) 

- Kleine Drohnenkunde (Wie Militärs elegant morden lassen) 

- Vorsicht: Hilfe! (Afrika leidet unter seinen EU-Gönnern)  

- Sport, Spiel, Krieg (Es darf wieder militaristisch gedacht werden)


2013

 

- Waffenbrüder? (DGB zwischen Friedenspolitik und Rüstungslobby) 

- Lobbykratie BRD (Korruption war gestern, es gibt Effektiveres)

- Partei der V-Leute (Vor lauter Spitzeln sieht man die NPD nicht) 

- Brave SPD! I und II (Wie man den letzten Rest Identität verliert)  

- Rechter Vormarsch (In der EU formieren sich die Ultras) 

- Die "Asyl-Experten" (Angst vor den USA macht schlau) 

- Die FIFA lässt sterben (Katar opfert Menschenleben für die WM) 

- Merkel-Lohn (Die Partei der Kanzlerin und die BMW-Mäzene) 

- EU-Verbrechen (Staatskriminalität gegen Flüchtlinge)      

Regio-Chauvinismus (Miniatur-Nationalisten in der EU)  

- Business à la Jesus (Beschäftigungspolitik im Zeichen des Kreuzes) 

- System Bayern I und II (Im Freistaat ist alles ein wenig anders) 

- Ein bisschen Krieg (Nato-Fehler in Syrien)

- FDP-Vorbild Obama (Wie man Mäzene versorgt!)

- Bravo, Niebel! (Ein etwas vergiftetes Lob)

Brot ohne Spiele (Fussball-Clubs gegen die Reichensteuer)

- Die Unbombe (Vom Iran spricht man, von Israel nicht.)

- Rächerin Ilse (Lebensmittelskandal verharmlost)


2012


- Deutsche Parteien (Eine Bestandsaufnahme als Panoptikum)

- Kissinger goes to Fuerth (Nobelpreis-Träger mit blutigen Händen)

- US-Wahlen: Pest? Cholera? ( Obama als kleineres Übel )



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2024


Das Universalrezept


In schweren Zeiten wie diesen fühlen sich die Bundesbürger allseits überfordert, drangsaliert oder vernachlässigt. Natürlich versuchen die beiden wichtigsten Oppositionsparteien, die Union und die FDP (zusätzlich in einer Doppelrolle als Regierungspartner), verführerische Lösungsvorschläge für die Misere zu entwickeln. Mit dem Zauberwort „Digitalisierung“ hat es nicht so recht geklappt, denn der Mangel an Lehrern und Pflegekräften lässt sich nicht weg-virtualisieren, und immer noch wissen viele Blockheads wenig mit EDV und Internet anzufangen. Also musste etwas Griffiges, Entlastung und Komfort Suggerierendes her – und es wurde gefunden. Bürokratieabbau oder – schmissiger formuliert – Entbürokratisierung sind sie neuen Wohlfühl-Begriffe. Clever eingesetzt, könnte mit diesen Schlagworten so manche schmerzhafte Reform verhindert werden.


Amtshilfe für Arme? Undenkbar!


Bundesfinanzminister Christian Lindner und Unionschef Friedrich Merz haben einiges gemeinsam: So mögen sie einen „schlanken Staat“ (am besten so dünn besetzt, dass Wohlhabende leicht an ihm vorbeikommen), bedienen gern die Interessen der Wirtschaft, vor allem aber reut beide jeder Cent, der in Sozialausgaben fließt und deshalb nicht für Subventionen ausgegeben werden kann. Andererseits würden sie auf das Kleingeld gern verzichten, wenn dadurch Steuererleichterungen für Besserverdienende herausspringen. 


Natürlich darf man dem Volk nicht unverblümt sagen, dass Unterstützung für Arme nach neoliberaler Ansicht eigentlich rausgeschmissenes Geld ist, also packt Lindner die Bürger bei ihrer Bürokratieverdrossenheit.
Die Familienministerin Lisa Paus will nämlich endlich ein Wahlversprechen der Grünen einlösen und die versprengten Leistungen für Kinder in den Sozialgesetzbüchern oder im Bildungs- und Teilhabepaket sowie Kindergeld und -zuschlag zusammenfassen. Diese „Kindergrundsicherung“ würde feste Beträge garantieren, da sich die Eltern nicht mehr im Antragsdschungel oder Behördenlabyrinth zurechtfinden müssten (was bislang nicht selten scheiterte). Vielmehr wäre eine neue Behörde in der Pflicht, ihnen die Leistungen automatisch zukommen zu lassen. Dass dazu 5000 neue Verwaltungsstellen geschaffen werden müssten, war wohl zu hoch gegriffen und wurde inzwischen korrigiert.


Für Merz, dem schon das Bürgergeld gegen den Strich ging, war sofort klar, dass auch bei der Kindergrundsicherung gespart werden müsse. Lindner hingegen fand die Vorstellung, dass der Staat eine „Bringschuld“ bei Sozialleistungen habe, „verstörend – erst recht, wenn dafür 5000 neue Staatsbedienstete eingestellt werden müssen“.
"Können wir die armen Kinderlein schon nicht genügend auspressen, sollen sie wenigstens nicht auch noch mehr Geld von uns bekommen!"


Für weniger „verstörend“ hält Lindner offenbar die Tatsache, dass in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut lebt, während seines Aufwachsens in prekären Verhältnissen oft genug auf Bildungs- und Sportmaterialen, Ausflüge, Reisen, gesundes Essen oder didaktisches Spielzeug, kurz: auf so ziemlich alles, was den Intellekt und das seelische Wohlbefinden während des Heranwachsens fördert, verzichten muss und seine weitere Laufbahn schon frühzeitig als Sackgasse definiert. Selbstredend hat ein verantwortungsbewusst regierter Staat die Pflicht, rechtzeitig einzugreifen, auch mit finanziellen Mitteln, um das Scheitern von Existenzen in naher Zukunft zu verhindern. Nicht umsonst drängen Wohlfahrts- und Sozialverbände auf eine rasche Umsetzung der Gesetzesänderung. Natürlich sind dazu neue Staatsdiener nötig, da es wesentlich mehr Arbeit verursacht, den Menschen unaufgefordert und gezielt zur Hilfe zu kommen, als ihnen vom Schreibtisch aus beim Irrweg durch die Ämter zuzuschauen. Die FDP sieht das anders, schließlich handelt es sich nicht um ihre Klientel.


Nette Blockade in Brüssel, auf Feld und Flur


Aber Lindner kann auch großzügig sein, etwa zu den Bauern, denen er sich kürzlich als Landwirtschaftsexperte vorstellte, hatte er doch schon einmal einen Pferdestall ausgemistet (der destruktive Saustall in der Lobby-Partei FDP harrt allerdings noch seiner Tatkraft). Zwar könne auch er die vollständige Steuerbefreiung für Agrardiesel nicht mehr retten, aber er versprach den ländlichen Demonstranten die Lösung ihrer vordringlichsten Probleme durch – Entbürokratisierung.


Wie sich die gestalten lässt, konnte man unlängst in Brüssel beobachten, wo sich Liberale und Europäische Volkspartei (mit CDU/CSU als Mitglied) darauf einigten, den Landwirten die Subventionen, die sie für die Stilllegung ihrer Böden zum Zweck der Renaturierung bekommen hatten, auch künftig zu lassen, obwohl die dringend nötige Maßnahmen zur Regeneration von Auen, Wäldern oder Mooren ausgesetzt wurden („Money für Nothing“). Heldenhaft verteidigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) das Abrücken von einem Plan, den sie zuvor so leidenschaftlich propagiert hatte.


Die Bauern ächzten unter den bürokratischen Belastungen, hieß es, sie seien mit der Dokumentation ihrer Maßnahmen überfordert (was vermutlich für die Beantragung der Subventionen nicht zutrifft). Nun sei das Landvolk von dem lästigen Papierkram und Emailverkehr zum Nachweis seiner Bemühungen um das Klima befreit – die Erderwärmung kann ja wohl noch ein bisschen warten.


Was den Ackersmann freut, kann auch für Handel und Produktion in fernen Ländern nicht schlecht sein, dachte sich die FDP und blockierte das EU-Lieferkettengesetz im Alleingang. Zu aufwendig und unfair den wohlmeinenden Kapitalisten gegenüber, befanden die Liberalen. Die deutschen Konzerne würden von ihrem Daseinszweck, nämlich irgendwie hohen Umsatz und Profit zu generieren, abgelenkt, wenn sie sich darum kümmern müssten, dass in Bangladesch die marode Fabrikhalle nicht über den Näherinnen zusammenbricht, dass Kinder in die Schule statt auf die Plantage zur Ernte hierzulande begehrter Südfrüchte gehen oder dass die Beschäftigungsverhältnisse nicht archaischer Sklavenarbeit (mit der VW do Brasil bereits intensive Erfahrungen gesammelt hat) ähneln. Schon beim Gedanken daran wird dem FDP-Fraktionschef im Bundestag, Christian Dürr ganz mulmig zumute. Es drohe die Gefahr, dass sich Unternehmen aus Angst vor Bürokratie und rechtlichen Risiken zurückzögen, bangt der Liberale.


Wir verstehen: Tote Arbeiter, von Pestiziden versehrte Kinder oder rechtlose Tagelöhner rechtfertigen noch lange nicht die Implementierung wirksamer Kontrollen, da für deren Durchführung Verwaltungskräfte von ihrer Kernaufgabe, der Absicherung von Profitmaximierung, abgezogen werden müssten. Außerdem lassen sich in der Dritten Welt indisponierte oder verstorbene Arbeitskräfte leicht ersetzen…


Der große Förderer Wissing


Dürrs Parteikollege Bundesverkehrsminister Volker Wissing wäre eine Quelle ständiger Heiterkeit, würde er nicht nebenher als größter und unbelehrbarster Luftverschmutzer der Republik fungieren: Gerade erst hat er in einem Brief der Bevölkerung mit Fahrverboten an zwei Wochentagen  für den Fall gedroht, dass das Klimaschutzgesetz nicht bald so novelliert werden sollte, dass seinem Ressort die Senkung der Verkehrsemissionen erspart bleibt (nachdem Wissing sie während seiner Amtszeit noch weiter hat ansteigen lassen). Dies bedeutet nicht, dass der Minister plötzlich zum radikalen Umweltschützer mutiert ist, vielmehr gebärdet er sich wie ein trotziges Kind: Keine Weekend-Trips und LKW-Warentransporte mehr an Wochenenden! Das haben euch meine Ampelpartner, die Klimaschützer  und andere Traumtänzer eingebrockt, die mich zu wirksamen, aber luxusfeindlichen Schritten drängen wollen, liebe Wähler.


Den naheliegenden ersten Schritt zur CO2-Einsparung aber will er weiter nicht gehen. Was haben wir schon gelacht über die Begründungen, mit denen der FDP-Kämpe, der eigentlich für eine drastische Absenkung der Verkehrsemissionen zuständig wäre, die dafür prädestinierte Beschränkung auf 130 km/h in der Spitze auf hiesigen Autobahnen ablehnt. Kleine Kostprobe: „Die Deutschen wollen kein Tempolimit“, erklärte der Minister zu einem Zeitpunkt, da sich laut repräsentativer Umfrage 54 Prozent der Bundesbürger für die Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h aussprachen und selbst der ADAC in der Sache Einsicht signalisiert. Noch skurriler wirkt das „Argument“, mit dem er selbst ein befristetes Tempolimit ausschließt. Es würde natürlich einen „erheblichen Aufwand“ verursachen, und außerdem: „So viele Schilder haben wir gar nicht auf Lager.“


Zwar weisen Experten darauf hin, dass sich der Schilderwald auf den Autobahnen signifikant ausdünnen ließe und bei dauerhaftem sowie allgemeinem Tempolimit die 130 nur noch an den Staatsgrenzen plakatiert werden müssten, doch fällt dem Minister sogleich ein neues seltsames Ausschlusskriterium ein: In der Regierungskoalition gebe es keine Mehrheit für eine flächendeckende Geschwindigkeitsbegrenzung. War die öffentliche Zustimmung von SPD und Grünen zur Entschleunigung reine Heuchelei, Fake News sozusagen? Oder hat sich die FDP heimlich zur Koalitionsmajorität geputscht? Nur Wissing scheint es zu wissen.


Ein paar Schilder mit Tempo 130 würden also „erheblichen Aufwand“ in der Fabrikation, der Montage und natürlich in der Bürokratie bedeuten, da bevorzugt der Minister den schnellen Coup, der uns seiner Meinung nach von Klima-Problemen befreien kann. Zusammen mit dem Freistaat Bayern wird Wissing 150 Millionen Euro in das Flugtaxi-Unternehmen Volocopter stecken.


Zwar ist nicht damit zu rechnen, dass aus den Deutschen ein Volk von Flugtaxi-Passagieren wird, dass das potentielle Gewimmel über den Städten emissionsfrei vor sich geht, dass diese Mini-Lösung erschwinglich für Normalsterbliche ausfällt und dass sie überhaupt einen wahrnehmbaren ökologischen Effekt zeitigt, doch imponierend ist schon, wie unbürokratisch sich der Ressortchef von der Lobby-Arbeit folgender Volocopter-Investoren überzeugen ließ: der NEOM Company des saudischen Kronprinzen (und Mörders) Mohammed Bin Salman, der Mercedes Benz Group AG, der Schenker AG (angeschlagene Bahn-Tochter), des Chip-Herstellers Intel, des Vermögensverwalters BlackRock (Herr Merz lässt grüßen!) und des IT-Konzerns Microsoft. Söders dubioses Prestigeobjekt hat also Vorfahrt - ganz ohne pingelige Evaluation durch Fachbehörden...


Manchmal wünscht man sich im Stillen mehr statt weniger Fachkräfte in der Bürokratie, etwa Rechnungsprüfer, Steuerfahnder, Kripo-Beamte und Sachbearbeiter mit Schwerpunkt Wirtschaftskriminalität, Angestellte in den Jugendämtern etc. Aber das wäre in den Augen der liberalen und christdemokratischen Hüter der heilen Geldspeicherwelt von Entenhausen ja so etwas wie Blasphemie.
04/2024
Dazu auch:
Frieren für Deutschland im Archiv von Helden unserer Zeit (2022)
Freie Fahrt für niemand im Archiv von Politik und Abgrund (2021)







Geld für Gangster


Wer die Repräsentanten der EU über die aktuellen Krisen und das daraus resultierende menschliche Leid reden hört, wird sich zunächst über so viel Hilfsbereitschaft und Empathie freuen – bis er/sie sich die Taten, die den Worten folgen, näher ansieht: Während etwa Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Abkommen mit Tunesiens korrupter Regierung unterzeichnet, lässt diese in den Wüstenregionen des Landes Flüchtlinge verdursten. In ganz Nordafrika werden von der Europäischen Union Militärregimes großzügig alimentiert und bewaffnete Banden geschmiert, um Asylbewerber vom Abendland fernzuhalten.


Leere Kassen? Etwas ist noch da!


Überall in den EU-Staaten wird lamentiert, die Krisenserie der letzten Jahre, von Corona über den Krieg in der Ukraine bis hin zu Sanktionen mit Bumerang-Effekt, habe die pekuniären Ressourcen erschöpft. Am lautesten aber klagt die Berliner Politik und macht gleich konstruktive Vorschläge, wie die Lasten nach unten abgewälzt werden könnten.


Finanzminister Christian Lindner denkt laut darüber nach, das Bürgergeld auf dem jetzigen (niedrigen) Stand einzufrieren. Die CDU möchte solche Almosen am liebsten ganz abschaffen, und die Junge Union demonstriert, dass sie die bessere FDP ist, indem sie mosert, die Rentenerhöhung ab kommendem Juli, die den durch drei Inflationsjahre entstandenen Kaufkraftverlust bei Weitem nicht ausgleichen kann, falle zu üppig aus.


Aber trotzdem muss Geld im Überfluss da sein. Jedenfalls zaubern EU-Kommission und Ampel-Regierung doch immer wieder enorme Mittel herbei, um bestimmte Klientel-Gruppen und ihre Lobbyisten bei Laune zu halten. So werden die Bauern (eigentlich für Renaturierung vorgesehene) Zuwendungen ausgerechnet dafür erhalten, dass sie keine Flächen für ökologische Erholung stilllegen und somit absolut nichts gegen den Klimawandel und für den Naturschutz unternehmen. Natürlich soll auch die Wirtschaft steuerlich entlastet werden, während Erleichterungen für die Bürger erst mal in die ferne Zukunft verschoben wurden, bis sie irgendwann gänzlich vergessen sind.


Die Rüstungsindustrie wird allerorten hochgepäppelt und ihre Produktion zu hohen Preisen aufgekauft sowie teilweise exportiert. Dabei lässt man die Überlegung außer Acht, dass Verhandlungen – auch mit dem Aggressor Putin – möglicherweise weniger Milliarden und ukrainische Menschenleben kosten würden. Verhandeln und auch Paktieren mit Kriegsverbrechern wäre für die EU ja nichts Neues, wie wir weiter unten noch feststellen werden.


Und dann bleibt immer noch eine Riesensumme übrig, die Brüssel, besonders eifrig von der Berliner Regierung und der deutschen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen dazu animiert, gewissenhaft dafür verplant, Flüchtlinge in prekären oder sogar lebensgefährlichen Verhältnissen zu halten, sie jeder Hoffnung zu berauben, ihnen lediglich das bloße Dahinvegetieren zu gestatten und Völkerrecht im Akkord zu brechen.


Milliarden gegen die Flüchtlingskonvention


Das Militärregime in Ägypten wird im Laufe der nächsten vier Jahre 7,4 Milliarden Euro in Form von Darlehen, Investitionen und Zuschüssen erhalten. Als Gegenleistung soll Diktator Abd al Fattah al Sisi die vor den Kriegen im Sudan geflohenen Menschen daran hindern, von der nordafrikanischen Mittelmeerküste aus nach Europa überzusetzen und dort ihr von der 1951 in Kraft getretenen Genfer Flüchtlingskonvention garantiertes Recht, Asyl zu beantragen, wahrzunehmen. Ein ähnliches Abkommen wurde bereits 2016 mit der Türkei geschlossen und war der EU damals 6 Milliarden Euro wert.


Auch wenn die in Erdoğans Autokratie Gestrandeten oft genug Opfer von Fremdenhass und Behördenwillkür wurden – Ägypten ist noch ein ganz anderes Kaliber: Die Armee des Landes führt als Teil einer Militärkoalition einen völkerrechtswidrigen Krieg im Jemen, ist am blutigen Chaos in Libyen beteiligt und füllt die Gefängnisse mit Oppositionellen. NGOs werfen Kairo vor, in der Vergangenheit Flüchtlinge inhaftiert, gefoltert und – etwa nach Eritrea und mittlerweile auch in den Sudan – zurück deportiert zu  haben.
Rund zehn Millionen Menschen befinden sich derzeit im Sudan auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg, knapp zwei Millionen haben sich ins Ausland gerettet. Ganz unbeteiligt scheint die EU an der Entstehung des Konflikts und damit des Massenexodus nicht gewesen zu sein, denn sie kooperierte früh zur „Flüchtlingsabwehr“ mit den Rapid Support Forces (RSF), die ab 2003 Massaker in der westlichen Provinz Dafur begangen hatten. Heute attackieren diese Milizionäre die reguläre sudanesische Armee und ziehen eine Blutspur durchs ganze Land.


Vor wenigen Wochen wurde auch mit Mauretanien ein lukrativer Deal geschlossen. Rund 600 Millionen sollte das dortige Regime dafür erhalten, Migranten auf ihrer Flucht mit Kurs auf die Kanarischen Inseln zu stoppen. Die Blaupause für Vereinbarungen im nordafrikanischen Raum, mit deren Hilfe die humanitäre Einigelung der Festung Europa undurchlässig gemacht werden soll, unterzeichneten am 16. Juni 2023 Ursula von der Leyen und die sich zunehmend islamistisch und totalitär gebärdende Regierung in Tunis. Wie die NGO Human Rights Watch (HRW) dokumentierte, verdursteten zur gleichen Zeit mindestens 27 Asylsuchende, die von den tunesischen Behörden in der Wüste nahe der algerischen Grenze ausgesetzt worden waren. Die EU mache sich mit ihrem Flüchtlingsabwehrdeal zur Komplizin von Menschenrechtsverbrechen, kommentierte HRW. Immerhin stieg Tunis drei Monate später aus dem Abkommen aus und zahlte 60 bereits ausgezahlte Millionen Euro zurück.


Alternativen geflissentlich ignoriert


Der Kolonialismus vergangener Zeiten, die jetzigen Handelsimperien und eine erpresserische Freihandelspolitik, die afrikanische Bauern und Fleischproduzenten ruiniert, kennzeichnen Europas Mitverantwortung für die Tragödien auf dem Schwarzen Kontinent. Dies hindert die stets die Menschenrechtsflagge hissende EU jedoch nicht daran, sich ihren humanitären Verpflichtungen in Form von gut organisierter Immigration und Integration zu entziehen. Also wird das derzeit angeblich so knappe Geld an korrupte Despoten oder Gangster wie die libyschen Küstenwachen oder die berüchtigten Dafur-Milizen gezahlt – Söldner, die unsere Regierungen vor dem Zorn der Rassisten schützen sollen, indem sie Verzweifelte weit vor unseren Grenzen abfangen. Selbst wenn man Menschenrechte und Wiedergutmachung (wie gewöhnlich) ignorieren würde, müsste einem/r doch selbst in rein ökonomischem Sinn Besseres für die Verwendung der Mittel einfallen.


Zumal die kostspielige Strategie nicht funktioniert. Entweder zeigen sich die Alliierten wankelmütig wie Mali und Niger, wo die Bundeswehr, die ihre drei Milliarden Euro schwere Sahel-Mission auch zum Stopp der Flüchtlingsströme aus den Staaten südlich der Sahara nutzen wollte, mit Fußtritten verabschiedet wurde; oder die verzweifelten Menschen suchen sich andere, noch gefährlichere Routen und vertrauen sich noch brutaleren Schleppern an.


Warum stellen die Verantwortlichen die allgemeine Erkenntnis, dass es in Deutschland an Mitarbeitern im Pflege- und Erziehungsbereich, im Handwerk, in der Dienstleistung etc. fehlt, nicht in Bezug zu dem  Angebot an Arbeitskräften, das uns die Migration macht? Statt in armen Ländern, die dort kostenlos ausgebildeten (und dringend benötigten) Fachkräfte abzuwerben, sollten Voraussetzungen für Lehre und Studium hierzulande bzw. sofortige Arbeitsaufnahme, abgesichert durch qualitativ hochwertigen, begleitenden Sprachunterricht, geschaffen werden. Das käme sicherlich nicht billig, würde sich aber innerhalb kurzer Zeit für die gesamte Gesellschaft lohnen. Die Mittel sind vorhanden, nur fließen sie derzeit noch in die Taschen erpresserischer Despoten und skrupelloser Warlords.
03/2024
Dazu auch:
Verfemte der Wüste im Archiv der Rubrik Medien (2023)

Her mit den Migranten! im Archiv von Politik und Abgrund (2019)






Die Asozialen

Sich noch mit der geistigen Verfassung der Ampelkoalition insgesamt auseinanderzusetzen, scheint verlorene Liebesmüh, lohnender dürfte die Beschäftigung mit den speziellen Absichten der drei feindlichen Partner sein. Während die (jeweils nach eigener Farblehre so deklarierten) Roten und Grünen mehr oder weniger glaubwürdig den Kampf gegen Klimawandel und Umweltzerstörung, für mehr ÖPNV und bessere Absicherung ärmerer Mitbürger propagieren und nach dem regelmäßigen Scheitern ihrer Projekte leise grummelnd weitermachen wie bisher, torpediert die gelbe Gefahr im Trio alles, was ihrer marktbeherrschenden Klientel lästig fallen könnte.


Liberale Auslegung von Verträgen


Im Sinne der gesamten Gesellschaft zu agieren, gilt landläufig als soziales Handeln. Hingegen wird die Vernachlässigung gemeinschaftlicher Ziele zugunsten eigener Interessen gewöhnlich als unsozial eingestuft. Es geht aber noch schlimmer: Wer vorsätzlich und skrupellos Maßnahmen zur Daseinsvorsorge, Gesundheitsprävention, Gleichberechtigung, gerechteren Ressourcenverteilung etc. be- oder verhindert, muss sich den Vorwurf der Asozialität gefallen lassen, einer Sabotagehaltung, die leider nicht immer strafbar ist. Nach dieser Definition hat sich die FDP die Einordnung als asoziale Gruppierung redlich verdient.


Manchmal verteidigen die Liberalen ihre Funktion als fünfte Kolonne innerhalb einer desolaten Koalition mit formaljuristischen Argumenten, die aber sehr willkürlich eingesetzt werden. Als das Verkehrsministerium in Berlin, sozusagen der Umwelt-Saustall innerhalb der Bundesregierung, aufgefordert wurde, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen einzuführen, das die Schadstoffemissionen sofort reduziert, für eine entspanntere Atmosphäre auf den Schnellstraßen gesorgt und etliche Menschenleben gerettet hätte, verweigerte Ressortchef Volker Wissing dies mit dem Hinweis, dass ein solches Vorhaben nicht in der Koalitionsvereinbarung stünde. Beim von der EU angestrebten Ende des Verbrennungsmotors bis 2035 hingegen blockierte die FDP in Brüssel den Beschluss lange, obwohl dieses Ziel im Ampel-Kompromiss festgeschrieben war. Erst als die in der Herstellung enorm energieintensiven und teuren E-Fuels zugelassen blieben, gaben die deutschen Liberalen ihren Widerstand gegen das Gesamtpaket auf.


Über das heroische Veto schüttelten selbst die Verantwortlichen der Autokonzerne Daimler und BMW verständnislos die Köpfe, obwohl sie der tapfer gegen strengere Abgasnormen, wie sie das EU-Parlament fordert, kämpfenden FDP ansonsten überaus gewogen sind. Den Nobelkarossenbauern war entgangen, dass Kollege und Konkurrent Oliver Blume von Porsche – die Firma errichtet gerade eine Produktionsstätte für E-Fuels - emsige Überzeugungsarbeit bei den Ministern Wissing und Lindner geleistet hatte. Und wenn ein Alphamännchen wie der Finanzminister etwas selbstlos liebt, dann ist das sein Porsche-Sportflitzer…


Auch bei anderen Gelegenheiten hat die FDP dafür gesorgt, dass das strahlende Image des deutschen Musterknaben in der EU bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt wurde. Sie riss innerhalb der Ampel eine Sperrminorität an sich, mit der sie in Brüssel nicht nur die eigenen Partner, sondern auch ganze westeuropäische Mehrheiten bei Vorhaben stoppen darf. Als Dritter im Bunde der großen Verhinderer neben Lindner und Wissing tat sich dabei Bundesjustizminister Marco Buschmann hervor.


Europas Ausbremser


Endlich wollten die Abgeordneten des EU-Parlaments etwas gegen die zumeist in der Dritten Welt von Konzernen aus Mitgliedsländern begangenen Schweinereien unternehmen. Durch strengere  Lieferkettengesetze sollte verhindert werden, dass die Produktion für Europas Wohlstand in Afrika, Asien oder Lateinamerika von Kindern, unterbezahlten oder sogar in sklavenähnliche Lebensverhältnisse gepressten Arbeitern unter Gefahr für Leib und Leben, in einstürzenden und höchst brandgefährdeten Bruchbuden sowie von durch Insektizidteiche watenden Plantagen-Tagelöhnern geleistet wird.


Gut, die europäischen Hersteller und Landwirtschaftsgiganten hätten ebenso wie die Transporteure, die Groß- und Einzelhändler die Mehrkosten eingepreist und am Ende an die Kunden weitergegeben, aber vor so viel bürokratischem Aufwand wollten die deutschen Liberalen ihre Gönner schützen und legten sich quer. Was sind angesichts der Gunst und der Zuwendungen aus der Wirtschaft schon erhöhte Sicherheit und ein paar Cent mehr für einen Lohnempfänger in Hinterindien? Der kann sowieso nicht FDP wählen.


Vor Kurzem machte Buschmann dann deutlich, dass selbst ein Tatbestand von Menschenrechtsformat von seiner Schrumpfpartei gekippt werden kann, wenn ihr danach ist. In Straßburg verabschiedeten die Abgeordneten ein Gewaltschutzgesetz für Frauen, das allerdings das gravierendste Delikt, nämlich das der Vergewaltigung, ausklammert. Zwar war eine vernünftige Definition gefunden worden, der zufolge die fehlende Einwilligung der springende Punkt sei, doch der deutsche Justizminister wollte in der Klausel eine Kompetenzüberschreitung der EU erkannt haben. Hier sei die nationale Gesetzgebung zuständig. Wir erinnern uns daran, dass unlängst der Präsident des EU-Beitrittsaspiranten Türkei den Austritt seines Landes aus der Frauenrechtskonvention von Istanbul verkündete, weil er die Ahndung von „Vergewaltigung in der Ehe“ für eine Kompetenzüberschreitung von Juristen hielt. Gab das einen demokratischen Shitstorm aus allen Staaten der Europäischen Union!


Doch ein Marco Buschmann in destruktiver Höchstform macht auch vor Maßnahmen zum Schutz von Leben und Auskommen deutscher Bürger nicht Halt, wenn es gilt, die Ansprüche von Rüstungsproduzenten oder Hausbesitzern zu bedienen. Seit Winnenden, Erfurt oder Hanau weiß man, dass Massaker durch den Gebrauch von Schusswaffen, seien sie in Schulen, auf offener Straße oder in Gaststätten begangen, kein Monopol der hochmilitarisierten US-Gesellschaft mehr sind. Auch hierzulande befinden sich zu viele Todeswerkzeuge in privater Hand oder können ohne größere Schwierigkeiten erworben werden. Doch während in den Vereinigten Staaten die mächtige NRA (National Rifle Association) alle Versuche, die Verbreitung von Schusswaffen durch Gesetze zu erschweren, vereitelt, versteht sich hierzulande offenbar die FDP als Rifle Lobby. SPD, Grüne, Kriminalpolizei, Verfassungsschutz und fast alle Experten fordern unisono eine Verschärfung des Waffenrechts. Doch die Liberalen und das von ihnen geleitete Justizministerium lehnen das ab. Sie halten die Evaluierung der Fakten für nicht ausreichend. Fragt sich nur, wie viele Tote es noch geben muss, bevor die FDP die Statistiken für valide genug hält, um ihrer Industrieklientel ein Abebben der Waffenströme in dunkle (oft rechtsradikale) Kanäle per Gesetz aufzuzwingen.


Sabotage in Gelb


Eifer kann sich auch im Nichtstun manifestieren, wie Buschmann gerade wieder demonstriert. Seit mehr als zwei Jahren warten Sozialdemokraten und Grüne auf die Mietrechtsreform, die im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Doch das Justizministerium war mit Wichtigerem beschäftigt, etwa der Neubewertung von Fahrerflucht, so dass Maßnahmen zum Schutz von Mietern bedauerlicherweise noch nicht erarbeitet werden konnten. Aber da handelt es sich ja ohnehin um eher ärmere Menschen, also nicht gerade die Zielgruppe einer Partei für Besserverdienende, die sich ja schließlich vorrangig um Immobilienkonzerne und Investoren kümmern muss.


Diese Liste des Grauens ließe sich noch eine Weile fortsetzen, doch können nicht alle inhumanen Aktionen der Ampelkoalition als Alleinstellungsmerkmale der FDP zugeschrieben werden. Die Aushöhlung des Asylrechts etwa oder die weitgehende Abwälzung der durch Krisen entstandenen Belastungen auf Rentner sowie Minderverdienende haben die grünen und sozialdemokratischen Partner mitzuverantworten.
Dass jedoch Schädliches nicht verhindert und Sinnvolles nicht getan wird, darf man getrost dem kleinsten Koalitionspartner anlasten, dem anscheinend von seinen Mäzenen aus der Wirtschaft die Rolle der Blockade-Instanz um jeden Preis zugedacht wurde. Warum aber wehren sich die beiden anderen Parteien nicht gegen die Störmanöver und Zumutungen des mit ihnen „verbündeten“ Feindes? Es ist wohl eine Art Schicksalsgemeinschaft entstanden, denn wenn von den drei „Partnern“ einer ausschert, gehen die beiden anderen mit unter. Das Kleben an einem Fetzen Macht hält Scholz, Habeck und Lindner noch zusammen.


Hätte Robert Habeck statt Kinderbüchern Ratgeber für Hundeführer geschrieben und sich Olaf Scholz mit Dog Coaches zum Tee getroffen anstelle von zwielichtigen Bankiers, würden die beiden viel besser mit ihrem ungebärdigen Markt-Zerberus umgehen können.


Offenbar haben aber die Wähler, die das Polit-Geflecht in der Republik sonst nur noch teilweise zu durchschauen scheinen (s. Aufstieg der AfD), hinsichtlich der FDP den richtigen Riecher. Jedenfalls verdammen sie die Liberalen nach derzeitigem Stand ins Reich des Vergessens. Und Christian Lindner, der einst zum selbstverliebten Senkrechtrechtstarter aufstieg, dürfte vor einem schweren Sturz stehen. Wir wollen nicht hoffen, dass er direkt ungebremst vom Himmel fällt wie ein illustrer FDP-Grande vor ihm.
02/2024
Dazu auch:
Falsche Baustelle und Braver Trotzkopf! im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (beides 2023)

Der fleißige Christian im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)





Auf dem Rückzug


Am Anfang wurde die Ampelkoalition von Rassisten und Querdenkern angegriffen, dann gesellten sich konservative Medien, Dystopien anhängende Blogger und Politiker aus den C-Parteien zur rechtspopulistischen Fronde. Damals konnten Scholz, Habeck & Co noch kontern, ihre Opponenten würden globale Kernthemen wie Klimawandel, Menschenrechte oder Friedenspolitik nicht ernst nehmen oder zumindest keinerlei eigene Vorschläge dazu entwickeln. Gut zwei Jahre später fragen sich Forscher, NGOs und aktive Bürger, ob nicht das Berliner Kabinett selbst inzwischen die wichtigsten Vorhaben vergessen hat bzw. entschlossen ist, sie rigoros in die Tonne zu treten.


Fossiler Boom in Übersee?


Selbst Sympathisanten des Parteien-Trios aus SPD, Grünen und FDP schütteln angesichts des täppischen Erscheinungsbilds, der amateurhaften Kommunikation nach außen und der handwerklichen Fehler dieser Regierung die müden Häupter. Doch greift derart formale Kritik zu kurz, bleibt allzu bequem an der Oberfläche: Beängstigend ist die Geschwindigkeit, mit der sich vor allem das grüne und sozialdemokratische Spitzenpersonal von einst essenziellen Inhalten verabschiedet, um einen schwer verständlichen Rückzug in jene Kohl- und Schröder-Zeiten durchzuführen, in denen der Zweck jedes statuserhaltende Mittel heiligte.

Anmerkung am Rand: Die Liberalen haben von vornherein auf Inhalte verzichtet, um sich in ihrer Marktfetischisierung nicht von der Realität ablenken zu lassen.


Um zu erkunden, ob es sich bei der Abkehr von (einst) nicht verhandelbaren Prinzipien, Maßnahmen und Zukunftsplänen um eine rätselhafte Amnesie, also ein krankhaftes Versagen von Erinnerungsvermögen, das mit dem Verlust des Verantwortungsbewusstseins einhergeht, oder um schiere Skrupellosigkeit zur Sicherung der Macht handelt, wollen wir uns ein Beispiel für besonders jähe Kehrtwendungen näher ansehen, das uns in die Südstaaten der USA führt.


In Louisiana, wo der Mississippi über ein weites Delta in den Golf von Mexiko mündet, sollte CP2, das größte von zwölf geplanten Exportterminals für Flüssiggas (Liquified Natural Gas, kurz: LNG), entstehen, obwohl das sensible Öko-System, etwa durch Meeresverschmutzung, und das Festland durch Bodenerosion erheblich geschädigt sind. Allein von hier würden 65 Millionen Tonnen des fossilen Energieträgers, größtenteils durch Fracking gefördert, ausgeführt werden – gut zwei Drittel davon nach Westeuropa, das sich durch Putins Krieg weitgehend von kommodem Nachschub abgeschnitten sieht. Um die Dimension einschätzen zu können: Im vergangenen Jahr verschifften die gesamten USA lediglich 86 Millionen Tonnen, avancierten aber damit schon zum weltweit größten Flüssiggasexporteur vor Katar und Australien. Jetzt aber hat Präsident Biden den Bau der Terminals einstweilen gestoppt. Das Moratorium soll für umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen Umweltschäden genutzt werden.


Beim Fracking werden giftige Chemikalien in den Untergrund gepresst, was das Grundwasser und die Statik ganzer Regionen bedrohen kann, zudem wird das gefährliche Methan freigesetzt. Viele Experten halten durch diese Methode gewonnenes Gas für umweltschädlicher als Kohle. So verwundert es nicht, dass Naturschützer gegen die Genehmigung des CP2 Sturm gelaufen waren und darüber hinaus darauf verwiesen hatten, dass die Terminals vor allem in Armutsgebieten mit nicht-weißer Bevölkerung gebaut würden. Aber auch 60 demokratische Kongressabgeordnete hatten von Präsident Biden ein Veto gefordert, da er auch wegen seiner Ankündigungen eines energischen Kampfes gegen den Klimawandel und des Endes der fossilen Energien gewählt worden war; dazu kommt noch, dass die USA das Fracking-Gas gar nicht benötigen, weil sie ihren Bedarf problemlos mit klassischer Förderung decken können.


Deutsche Umweltschutzorganisationen forderten inzwischen Kanzler Scholz auf, Bidens Vorbild zu folgen. Und die Nord- und Ostsee-Anwohner an den Küsten sowie auf den Inseln wollen nicht mehr dulden, dass schwimmende Terminals und in Planung befindliche Hafenanlagen zum Löschen des US-Gases das ökologische Gleichgewicht bedrohen. Weitere Bauvorhaben, so argumentieren sie, seien nach Bidens Entscheidung schon Industrieruinen, bevor sie fertiggestellt wären.


Hauptsache nicht bei uns


Aus der EU – vor allem aus Deutschland, das zu den größten Abnehmern von US-Flüssiggas zählen würde – bläst den Umweltschützern allerdings Gegenwind ins Gesicht: Das hiesige Unternehmen SEFE, besser unter seinem früheren Namen Gazprom Germania bekannt, erklärt in einem Schreiben an die US-Administration geradezu apodiktisch, das Terminal CP2 sei „für die Energiesicherheit Deutschlands lebensnotwendig“. SEFE befindet sich übrigens im Besitz der Bundesrepublik, was bedeutet, dass die Berliner Regierung, die sich gern auf Weltklimakonferenzen die Vorbildfunktion anmaßt, nach all den Versäumnissen beim Ausbau der alternativen Energie, der Leitungswege und Speicherkapazitäten hierzulande die Drecksarbeit über ihren Staatskonzern nach Nordamerika zu delegieren versucht.


Gemeinsam mit der US-Erdgasindustrie, die natürlich glänzende Profitchancen wittert, bearbeiteten also Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck, die sich die Klimarettung aufs Ampel-Panier geschrieben haben, via SEFE die Behörden in Washington, doch bitteschön kleinliche Umweltbedenken fallenzulassen, um Deutschland mit einem Stoff zu beliefern, den es selbst nicht herstellen darf. In den meisten Staaten Europas, so auch hierzulande, ist Fracking nämlich wegen seiner unabsehbaren Folgen verboten. Somit sollte man mit dem Enderzeugnis eigentlich auch nicht dealen. Zynisch gedacht, müsste die Ampel nun auf einen Wahlsieg Trumps hoffen, denn für den existieren weder Klimawandel noch Umweltschutz.


Nun ist dies nicht der erste Berliner Versuch, der eigenen, anfangs stolz ausposaunten Umwelt-Ethik eine längere Narkose zu verpassen: In Argentinien regte Olaf Scholz Erdgaslieferungen an, obwohl die Vorkommen in einer Gegend liegen, die seit dem Beginn der Fracking-Arbeiten bereits 40 Erdstöße verzeichnete. In Afrika wiederum wurden Staaten, die kurz zuvor von deutschen Politikern aufgefordert worden waren, die Ausbeutung fossiler Bodenschätze durch den Ausbau erneuerbarer Energien zu ersetzen, plötzlich dazu gedrängt, neue Gasfelder zu erschließen. Und der Kotau von Robert Habeck vor dem Energieminister von Katar ist noch in voller Peinlichkeit erinnerlich; um an den Stoff zu kommen, darf man sich offenbar auch Autokraten gegenüber von der servilen Seite zeigen.


Wie es uns gefällt


Das hat sich offenbar auch Außenministerin Baerbock gedacht, als sie diversen westafrikanischen Putschisten und Militärregimes deutsche Expeditionstruppen wie sauer Bier anpries, um die gescheiterte Sahel-Mission der Bundeswehr wenigstens in Einzelteilen zu verlängern. Doch zurück zum Ampel-Veitstanz ums flüssige Gas.


Dass die Ampel öffentlich fossile Rohstoffe in die Giftkammer der Energieversorgung verbannt, sie aber klammheimlich überall einkauft, belegt nicht nur die Scheinheiligkeit, mit der weiterhin der Anspruch, Klassenprimus beim Klimaschutz zu sein, gegen alle Fakten aufrecht erhalten werden soll, es zeugt auch von sehr naivem Denken.

Der Schmutz, der bei Förderung und Transport von Öl oder Gas anfällt, wird dann zwar in der Bilanz des Herkunftsstaats auftauchen und nicht in der Deutschlands, in der Wirkung aber wird er weltweit und unterschiedslos für Schaden sorgen.


Die Atmosphäre kennt keine Landesgrenzen.
Wenn wir unsere Diesel-Dreckschleudern stilllegen, macht das nur Sinn, wenn wir sie dauerhaft entsorgen. Verscherbeln wir sie aber nach Afrika oder in den Nahen Osten, kommen die CO2- und Feinstaubpartikel zu uns zurück – spätestens, wenn sie das globale Klima „regulieren“. Ähnliches gilt für die Giftmüllsubstanzen, die wir gern auf Kippen in der Dritten Welt deponieren, nur um sie im Wasser oder in Nahrungsmitteln irgendwann wieder anzutreffen.


Noch vor zweieinhalb Jahren hatten viele Wähler geglaubt, die Grünen wüssten das, und die SPD könne es noch lernen…
02/2024
Dazu auch:
Gas- und Waffenmakler (2023) und Klassenprimus? (2021) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund






Aus der Tarnung


Die Pläne deutscher Rechtsextremisten, das Vaterland von zugereisten Individuen zu säubern, muten ungeheuerlich an, sind aber nicht unbedingt brandneu: Die Reihen fest geschlossen, Arm in Arm auch mit AfD-Größen, marschiert eine Rassistenfront auf, die schon lange kein Hehl mehr aus ihren fremdenfeindlichen Intentionen macht, aber ungeachtet aller Pflichtdistanzierungen Berliner Politiker immer noch sträflich verharmlost wird. Dabei erinnern nationale Hybris und verrohtes Menschenbild der Neofaschisten seit geraumer Zeit an die braunen Protagonisten des Untergangs vor knapp acht Jahrzehnten.


Extremisten-Treff mit AfD-Präsenz


Was vor einigen Tagen vom Rechercheportal correctiv über ein heimliches Treffen rechtsradikaler Aktivisten mit hochrangigen AfD-Politikern berichtet wurde, löste in vielen Medien routinierte Betroffenheit und in der arrivierten Bundespolitik die üblichen verbalen Reaktionen („Demokatie schützen!“) aus, die Bevölkerung indes schien es ziemlich kalt zu lassen. In einem Hotel bei Potsdam hatten sich im November 2023 Vordenker der völkischen Szene zu einem halb-konspirativen Treffen versammelt. Dabei und mittendrin zu sein, war jedem Teilnehmer dem Vernehmen nach 5.000 Euro wert, denn es ging um ein Herzensanliegen puristischer Rechter, nämlich die Reinhaltung der teuren Heimat von anders aussehenden, andersgläubigen und andersdenkenden, vor allem aber von ausländischen Subjekten. Und sollten diese die Einbürgerung bereits hinter sich gebracht haben, müsse das per „Remigration“ irgendwohin außerhalb Deutschlands rückgängig gemacht werden (obwohl der Artikel 16 des Grundgesetzes die Aberkennung der Staatsbürgerschaft ausdrücklich verbietet).


Was schert uns die Rechtslage in dieser Republik, dürften sich die Pioniere eines „rassenreinen“ Vater/Mutterlands in ihrer Klausur wohl gedacht haben, schließlich konnte im Dritten Reich die großdeutsche Nationalität auch entzogen werden – und was damals recht(s) war, kann doch heute nicht Unrecht sein. Zu der Zusammenkunft hatte Hans-Christian Limmer, Ex-Chef der SB-Kette Backwerk, geladen, den aber scheinbar die Angst vor solcher Vertreibungscourage von eigener Präsenz abhielt. Genützt hat ihm die Absenz jedoch nichts. Nachdem correctiv die Veranstaltung und ihre Inhalte publik gemacht hatte und sogar alle wesentlichen TV-Sender darüber berichteten, trennte sich der Hamburger-Grill Hans im Glück von Limmer, der bis dato Anteilseigner des Unternehmens gewesen war; vermutlich dachten seine Mitgesellschafter an die dunkelhäutigen Mitarbeiterinnen in der Küche und das gute Geld der ausländischen Speisegäste.


Der rassistische Reinigungsdienst scharte sich übrigens um Martin Sellner, Gründer der Identitären Bewegung Österreichs, der den Begriff Remigration (schon 2017 von Björn Höcke und 2019 im EU-Wahlkampf von der AfD verwendet) für den in Potsdam beratenen Masterplan zur Deportation von Ausländern sowie deutschen Staatsbürgern mit „ausländischen Wurzeln“ wieder ins Spiel brachte.


Es handelte sich bei den Diskutanten dieser geistigen Taskforce mitnichten nur um Wirrköpfe aus diffusen Gruppierungen, von den Reichsbürgern bis hin zu simplen Verschwörungstheoretikern, denen man Unzurechnungsfähigkeit aufgrund pathologischen Fremdenhasses hätte zubilligen können, sondern um knallhart mit weit verbreiteten Ressentiments kalkulierende Vertreibungsideologen, darunter forsche AfD-Spitzenkräfte.


Von correctiv befragt, wichen allerdings einige der Alternativen für Deutschland pur  ein wenig täppisch aus. So hatte  Roland Hartwig, immerhin persönlicher Referent von Parteichefin Weidel, nach Ohrenzeugenberichten zugesagt, die inhaltlichen Pläne der Konferenz in die Partei zu tragen. Der neue Bundesvorstand sei bereit, Geld in die Hand zu nehmen und Themen zu betreiben, die nicht nur unmittelbar der Partei zugutekämen. Wohl um die Vertreibung von Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund und hierzulande arbeitenden Ausländern aufwendig via Social Media zu bewerben, darf hier vermutet werden. Bevor sich Kanzlerkandidatin Alice Weigel aus Vorsichtsgründen von dem zu früh ins Rampenlicht gezerrten Tölpel Hartwig trennte, hatte ein Sprecher der AfD-Fraktion in Berlin noch abgewiegelt, Hartwig habe in Potsdam keine Ideen mitentwickelt, die anschließend im Bundesvorstand diskutiert worden seien.


Hauch von brauner Volkshygiene


Neben dem ideenlosen Hartwig befand sich auch der Fraktionschef der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, unter den zwei Dutzend rechtsradikalen Aktivisten und Unternehmern von Potsdam. Der bestätigte seine Anwesenheit, unterstrich aber, dass er als „Privatperson“ und nicht in seiner Funktion als Abgeordneter, also eher per Zufall oder aus reiner Lust und Freude, an der Veranstaltung teilgenommen habe, was wiederum Interesse an der Feierabendgestaltung rechtsextremer Spitzenpolitiker weckt: Deportation von Millionen als Freizeithobby?


Vorsichtig, wie er nun mal ist, ließ Siegmund über seine Anwaltskanzlei der Presse mitteilen, dass er Menschen „nicht gesetzwidrig ausweisen“ wolle. Auf der Konferenz hatte er noch ganz anders geklungen: Man müsse in seinem Bundesland dafür sorgen, dass es „für dieses Klientel möglichst unattraktiv zu leben“ werde. Mit dieser Klientel waren Migranten und Deutsche mit ausländischen Wurzeln gemeint.


Im Gegensatz zu ihren nachträglich zaudernden Kollegen sprach die AfD-Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy, die ebenfalls in Potsdam dabei war, von vornherein und auch später braunen Klartext. Sie verfolge das skizzierte Ziel schon länger und habe bei ihrem Parteieintritt bereits ein „Remigrationskonzept“ mitgebracht“, brüstete sie sich. Dass die Entwürfe der Konferenzteilnehmer dankenswerterweise nur die Entfernung, nicht aber die physische Vernichtung unwillkommener Einwanderer vorsahen, ergibt sich aus dem Vorhaben, sie in einen nordafrikanischen „Musterstaat“ zu verfrachten. Was Boris Johnson und Rishi Sunak ihr Ruanda, scheint den deutschen Ultra-Nationalisten ihr Maghreb zu sein…


Doch schon länger wabert ein Hauch xenophober Hybris in den Reden der AFD-Repräsentanten mit, wobei auch waschechten Einheimischen die Zugehörigkeit zur gesunden Volksgemeinschaft abgesprochen wird, wenn sie anderer Meinung sind. So postulierte im vergangenen September der Bundestagsabgeordnete Roger Beckamp am Rande einer Demo und in den sozialen Medien: "Remigration jetzt, und zwar millionenfach. Und gerne auch die Herrschaften, die sich besonders laut aussprechen und die im Zweifel alles Deutsche sind und (...) die es besonders toll finden, dass alle, alle bleiben sollen, egal woher, egal warum."


MdB-Kollege René Springer nutzte ebenfalls Social Media, um die Intentionen der Potsdam-Konferenz in konkrete Drohungen umzumünzen: "Wir werden Ausländer in ihre Heimat zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimplan. Das ist ein Versprechen." In seinem Berliner Büro beschäftigt Springer übrigens eine Führungskraft der Identitären Bewegung.


Unterstützung für ihre ambitionierten Ziele erhalten die AfD-Aktivisten auch von außerhalb. Der ehemalige CDU-Finanzminister von Berlin, Peter Kurth, hatte schon im vorigen Juli einige erlesene Rechtsradikale, darunter den Europa-Parlamentarier und AfD-Spitzenkandidaten für die kommende EU-Wahl, Maximilian Krah, sowie die graue Verleger-Eminenz der Partei, Götz Kubitschek, zu einem Treffen eingeladen, bei dem Krah sein Buch „Politik von rechts“ vorstellen durfte. Als der SPIEGEL dem Unionschristen Kurth die Kopie einer Spendenquittung über 450 Euro vorlegte, mochte der seine Großzügigkeit gegenüber den Kameraden vom äußersten Steuerbord nicht abstreiten und erklärte etwas kleinlaut, eine Parteispende an die AfD schließe er nicht aus.


Die zerredete Gefahr


In einem lesenswerten Hintergrundbericht warnt Jonas Mueller Töwe in den t-online-news: „Die AfD lässt die Maske fallen. Ihre Spitzenpolitiker planen ein ethnisch weitgehend homogenes Deutschland – gemeinsam mit Verbündeten. Millionen sollen das Land verlassen müssen.“ Die Partei reagiert auf die sie eigentlich kompromittierenden Veröffentlichungen eher zweigleisig. Offiziell distanziert sich der Vorstand halbherzig von den menschenverachtenden Plänen der ideologischen Vorhut, zugleich aber stellen sich ihre Spitzenpolitiker in den sozialen Medien dahinter.


Nach und nach kann es sich die AfD leisten, ihre hässliche Fratze zu enthüllen und statt faschistoid im Dunkeln zu raunen, offen faschistisch zu agieren. In einem Land, das mehrheitlich Klimakleber im Knast zu sehen wünscht, während rechte Putschisten, opportunistische Politiker, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, oder die umweltschädigende Produktion großer Konzerne dem massenhaften Zorn meist entgehen, schockiert es offenbar nicht mehr, wenn eine Partei Anleihen bei einer für Deutschland und die Welt schrecklichen Vergangenheit tätigt.


Die anschließend begangenen Fehler der Nachkriegszeit wirken auch drei Generationen später noch nach. Die Verbrechen der Nazis wurden als zeitlich begrenzte Verstöße gegen die internationale Etikette behandelt, nicht als die furchtbaren Folgen von übersteigertem Nationalismus und instrumentalisiertem Rassismus einer Henkerriege, die zuvor von bürgerlichen Konservativen unterschätzt und von etlichen Unternehmern goutiert, umworben und unterstützt worden war. Die Deutschen haben sich während einer kurzen Phase (O-Ton Gauland: „Vogelschiss“) der Weltgeschichte schlecht benommen, aber das muss nach geschichtsrevisionistischer Auffassung ja irgendwann mal Schnee von gestern sein. Hätte es die 68er Revolte nicht gegeben, wäre es gelungen, das Kapitel endgültig abzuschließen. Aber auch danach war die Aufklärung, die selten die systemischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus umfasste, nicht analytisch tief und nachhaltig genug.


Das zeigt sich heute an der Leichtigkeit, mit der die AfD ihre Tarnung fallen lassen kann. Sie erntet wenig Widerspruch aus der „Mitte der Gesellschaft“, wenn sie Hass gegen Migranten, Umweltschützer, Intellektuelle oder Schwule schürt. Trotz einiger (technischer) Restriktionen bespielt sie das Internet mit unsäglicher Propaganda, verbreitet Behauptungen und Beschuldigungen, die keinem Faktencheck standhalten, aber von immer größeren Teilen der Bevölkerung für bare Münze genommen werden, zumal die Hetzer nach deren Ansicht ja nur reden, „wie ihnen der Schnabel gewachsen ist“. BILD diente als Print-Vorbild, Donald Trump ist ein aktueller Geistesbruder.


Und die Politiker der bürgerlichen Parteien gerieren sich als Hüter der Demokratie, verurteilen salbungsvoll den uferlosen Hass, dessen Anschwellen sie begünstigt haben: durch Unwahrheiten, Vorteilsnahmen, unsoziale Entscheidungen, Arroganz und Populismus eigener Machart etc. Und statt öffentlich darüber nachzusinnen, wie es möglich war, dass während der Zeit ihres eigenen Regierens oder ihrer Meinungsführerschaft aus einer rechtsextremen Minderheitenposition heraus ein Drittel der Deutschen erneut so gefährlich verführt werden konnte (wobei das Potenzial noch weit größer sein dürfte), zerreden sie das Problem, bleiben rhetorisch an der Oberfläche, bangen um ihre Wahlkreise, Parlamentssitze und Pfründen.


Nachträglich sickerte durch, dass am Potsdamer Vertreibungsforum auch CDU-Mitglieder teilgenommen haben, was beweist: Die vielbeschworenen Brandmauern gegen die AfD halten bereits jetzt nicht mehr; in der Union nicht, weil im Osten immer mehr Kommunalgrößen mit den Blaubraunen kungeln wollen, in der Ampelkoalition nicht, weil diese den Nationalisten das Wasser abgraben will, indem sie in vorauseilendem Gehorsam deren Eingangsforderungen nach einer inhumanen Flüchtlingspolitik peu à peu erfüllt.


Der AfD ist es mittlerweile gleichgültig, wenn der Bundespräsident sie rügt. Selbst die Empörung, die sich inzwischen in Massendemonstrationen gegen ihre Deportationsphantasien manifestiert, lässt die Partei ziemlich kalt, da die Mehrheit weiterhin schweigt und sie damit zumindest duldet. Sie kann – ohne Rücksicht auf Wahrheitsgebot oder Anstand - inzwischen wieder (fast) alles sagen und tun, was ihrem Gebräu aus Hass, Panikmache und Sozialdarwinismus erstaunlich viel Zustimmung sichert – und die (noch) maßgebliche Politik in Berlin stellt sich nicht kompromisslos gegen sie, sondern möchte sogar das eine oder andere von ihr lernen.
01/2024
Dazu auch:
Wutbürgers 10 Gebote und Armselige Moralisten im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (beides 2013)
Land der AfD (2023) und Zwei Seiten der AfD (2020) im Archiv der Rubrik Medien







2023


Alle in die Wüste?


Dass die Weltklimakonferenz in Dubai für die meisten Länder und für fast alle Fachleute sowie Umwelt-NGOs höchst unbefriedigend endete, ist eigentlich keine Überraschung; schließlich behält der Hausherr stets das letzte Wort. Allerdings sei die Frage erlaubt, ob es Sinn macht, immer mehr Kongresse, Events und Sportturniere von globaler Bedeutung an Fürstentümer auf der arabischen Halbinsel zu vergeben. „Doch, macht es!“ würden Organisatoren unterschiedlicher Couleur entgegnen, denn dort gebe es Geld wie Sand in der Wüste.


Geld lässt spielen


Die Geschichte der Menschheit kennt die Tragik von Personen, die zur falschen Zeit am falschen Ort die falsche Rolle spielen mussten. Seit einiger Zeit jedoch beschleicht den aufmerksamen Beobachter das Gefühl, dass der Beauftragung völlig inkompetenter, ja sogar destruktiv wirkender Figuren und Staaten durch internationale Institutionen eine gewisse Systematik innewohnt.


Vor gut einem Jahr fand eine Kicker-WM, die weltoffen und tolerant sein sollte, in einem arabischen Emirat statt, das durch Frauenunterdrückung, Homophobie sowie durch Sklavenhalter-Attitüde punktete. Die Leichen asiatischer Bauarbeiter pflasterten den Weg zu den Fußballstadien, die in Katar, einem Staat, in dem Profi-Sport fast ausschließlich von zusammengekauften afrikanischen Athleten betrieben wird, nach dem Event in den Dornröschenschlaf des kollektiven Vergessens gefallen sind.


„Geld schießt keine Tore“, hatte der erfolgreiche Trainer Otto Rehagel einst getönt, und tatsächlich schied das Nationalteam des öl- und steinreichen Katar bei seiner Heim-WM bereits in der Vorrunde sang- und klanglos aus. Aber Geld lässt spielen – und  zwar, wann und wo es will, wenn es dem internationalen Renommee und dem Glanz des Regimes dient. Deshalb wird allem Anschein nach die FIFA die Saudis mit der Ausrichtung der Fußball-WM 2034 betrauen, obwohl deren Menschenrechtsstandards als unterirdisch gelten, der Hang zur Kicker-Kunst auf der arabischen Halbinsel eher mondäner Langeweile als gewachsenem Enthusiasmus entspringt und die klimatischen Verhältnisse dort erneut zu einer erratischen Verlegung des Turniers in die Wintermonate zwingen dürften.


Mekka der Lobbyisten


Die finanziellen Möglichkeiten der auf gigantischen Öl- und Erdgasvorkommen sitzenden Herrscher dürften auch den Ausschlag für den Tagungsort des überdimensionierten Weltklimagipfels in Dubai gegeben haben. Aus allen Nähten platzte die sich im Ungefähren verlierende Konferenz, auf der nichts weniger als die nähere Zukunft verhandelt wurde, nicht etwa, weil zu viele Betroffene in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) reisten, sondern weil die Hüter der fossilen Rohstoffe laut dpa mindestens 2456 Zugangspässe an Lobbyisten der die Welt mit CO2-Schmutz versorgenden Branchen ausgestellt hatten. Die zehn am stärksten vom Klimawandel gebeutelten Länder hingegen durften nur 1509 Delegierte entsenden.


Sicherlich war es auch kein Zufall, dass als Konferenzvorsitzender ausgerechnet Al-Dschaber, der Chef des staatlichen VAE-Ölkonzerns Anoc, fungierte. Ungeachtet aller Forderungen und Warnungen der Klima-Wissenschaftler will das Unternehmen seine Förderung bis 2030 um 25 Prozent erhöhen. Mit List und Geschick setzte Al-Dschaber eine vom britischen Guardian geleakte Forderung des Opec-Kartells weitgehend um, der zufolge Beschlüsse, die ein Aus für Kohle, Öl und Gas beinhalteten, blockiert werden sollten.


Im ersten Entwurf des von Al-Dschaber verantworteten Protokolls fehlte jeglicher Hinweis auf das Ende der fossilen Energien. Als die Mehrheit der anwesenden Ländervertreter, angeführt von den dem buchstäblichen Untergang geweihten Inselstaaten des Pazifik, meuterte, wurde der Text ein wenig geschönt, enthielt am Ende jedoch immer noch keinen konkreten Ausstiegsplan. Es blieb bei einer unverbindlichen Absichtserklärung ohne konkrete Pläne und Sanktionen.


Optionen für den Politikerversand?


Dass sich dies auf der nächsten Weltklimakonferenz ändert, ist eher unwahrscheinlich, findet sie 2024 doch im korrupten und autokratisch regierten Aserbaidschan statt, also erneut einem Erdölstaat. Das mutet an, als solle den Wölfen die Rettung der Lämmer übertragen werden.


Andererseits könnte die Praxis, Übeltäter auf verantwortungsvolle Positionen zu hieven, am besten weit entfernt von ihrem bisherigen Wirkungsfeld oder gar im Widerspruch zur bisherigen Position, Schule machen: Dann dürfte Olaf Scholz nach seinem absehbaren Scheitern als Bundeskanzler die Leitung der Bankenaufsicht übernehmen. Friedrich Merz wäre als Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands sicherlich ein Hingucker, Annalena Baerbock wird zur Äbtissin eines Schweigeklosters geweiht und Christian Lindner gestaltet als neuer Vorsitzender des BUND die Natur endlich autogerecht um.


Zu Nobelpreisen würden verurteilt: Donald Trump (alle möglichen Wissenschaftsdisziplinen) und Wladimir Putin (Frieden) sowie Robert Habeck (Literatur). Die Verpflanzung der auffälligsten Protagonisten müsste nicht zwangsläufig in die arabische Wüste erfolgen, es reicht schon das Land, wo der Pfeffer wächst.
12/2023
Dazu auch:
Fußball über Gräbern im Archiv der Rubrik Medien (2021)







Welt als Geisterbahn


Wahrlich, wir leben in chaotischen Zeiten. Die erschütternden Nachrichten von Krieg, Terror, Pandemie und Naturkatastrophen werden von irritierenden Meldungen aus der Politik ergänzt, die selbst zurückhaltende Grübler unter uns am gesunden Menschenverstand ihrer Zeitgenossen in Deutschland und anderswo zweifeln lassen: Vorgebliche Moralisten üben die Rolle rückwärts in die Ära der Ressentiments, irre Revisionisten leugnen überprüfte Fakten und berufen sich auf „Werte“, die wir mitsamt ihrer braunen Urheber längst im Massengrab der Geschichte verscharrt wähnten, und dystopische Prophezeiungen haben Hochkonjunktur. Wie konnte es zu solcher Geistesverwirrung kommen?


Das Mittelalter lässt grüßen


Vor ein paar Jahren noch belächelten wir die in dunkle schwere Klamotten gehüllten Gothic-Anhänger als nekrophile Punks mit einem Hang zu archaischen Mysterien – bizarr, aber im Grunde harmlos. Mittlerweile beobachten wir allerdings im „normalen“ öffentlichen Leben eine Renaissance althergebrachten (und zum großen Teil wahnwitzigen) Gedankenguts, das den Massenhysterien des Mittelalters entlehnt zu sein scheint. Überall in Europa modifizieren derzeit rechte Parteien die damals grassierenden Vorurteile und Anschuldigungen für den aktuellen Gebrauch. Und sie haben durchschlagenden Erfolg damit, nicht zuletzt, weil die etablierten bürgerlichen Kräfte ihrerseits ihre einst dazu konträren Positionen räumen, um den Retro-Trend nicht zu verschlafen und die Wahlchancen zu wahren.


Als beliebteste Methoden der Apokalyptiker gelten die Leugnung aller Forschungsergebnisse und die Diffamierung missliebiger Entwicklungen: Der menschengemachte Klimawandel? Eine Erfindung des (nirgends genau definierten) Establishments und der von ihm alimentierten Wissenschaftler – wie übrigens auch Corona.


Emanzipation und Chancengleichheit der Frauen, Akzeptanz der Queer Community? Typische Zeichen für die allgemeine Dekadenz! Soziale Ungerechtigkeit in der kapitalistischen Gesellschaft? Soll sich doch der Stärkere durchsetzen; und wer das im Alltag und im Beruf nicht schafft, muss dann halt auf der Straße leben.


Propagandisten, die so die Interessen der Bevölkerung oder relevanter Teile der Gesellschaft negieren, können in einem modernen Gemeinwesen keinen Zuspruch finden, sollte man/frau meinen. Von wegen! Mit abseitigen Meinungen und absurden Parolen ist in Deutschland ein Trupp aus einigen raffinierten Nazis und vielen mitlaufenden Tölpeln zur derzeit zweitstärksten Partei aufgestiegen.


Aber auch in anderen europäischen Staaten feiert die rechtsradikale Unvernunft Triumphe: In der Schweiz steht die AfD-Gesinnungsschwester SVP sogar auf dem ersten Platz unter den Parteien. In Schweden regieren die Rechtsradikalen mit den Konservativen zusammen, in den Niederlanden wird nach dem Wahlsieg des Rassisten Geert Wilders kein Weg zur Staatsspitze an ihm vorbeiführen, und in Italien herrscht seit Oktober 2022 ein wahres Gruselkabinett, angeführt von der Duce-Verehrerin Giorgia Meloni, dem Lega-Chauvinisten Matteo Salvini, kongenial ergänzt von der Forza Italia des verblichenen Skandal-Cavaliere Silvio Berlusconi. Und dann noch Orbán in Ungarn, Marine Le Pen als aussichtsreiche Aspirantin auf die Macron-Nachfolge in Frankreich und weitere Horror-Aussichten…


Mögen sich diese Ultra-Nationalisten auch in Nuancen unterscheiden, an einer Kernaussage halten sie ebenso unverrückbar fest wie im Mittelalter die Veitstänzer und Geißler an ihrer verheerenden Wahnvorstellung, die Juden hätten Brunnen vergiftet, christliche Kindlein geschlachtet und die Pest übers Volk gebracht: Schuld an allem, ob Arbeitslosigkeit, Kriminalität oder Altersarmut, sind jetzt die paar Millionen Flüchtlinge, die Europa ansteuern. Je simpler die Behauptung, je exotischer der Sündenbock, desto mehr Stimmen von verunsicherten Wählern!


Kein rein europäisches Phänomen


Es war interessant zu beobachten, wie liebevoll sich der sonst so hölzerne Bundeskanzler Olaf Scholz um die Neofaschistin Giorgia Meloni kümmerte, als sie Deutschland besuchte. Die Schamgrenzen im politischen Umgang (bisweilen auch als Kungelei apostrophiert) dürfen fallen, solange die Bollwerke gegen Menschen, die vor den Folgen von Kolonialismus, Handelsimperialismus, Krieg und globaler Umweltzerstörung fliehen, gehalten werden. Katharina Stolla, die Vorsitzende der Grünen Jugend, mahnte mit Blick auf die neue inhumane Flüchtlingspolitik der eigenen Partei: „Wer Rechten hinterherläuft, der gerät ins Stolpern.“

Die Antwort von Vizekanzler Robert Habeck fiel ebenso naiv wie selbstentlarvend aus. 


„Handlungsleitend“ dürfe nicht das Verlangen sein, in dieser Frage „auf der richtigen Seite zu stehen“.


Mit anderen Worten: Es geht nicht mehr um das Korrekte, den Anstand oder die Verantwortung, die einstige grünen Moraldoktrin also, jetzt müssen die den Populisten hörigen Massen bedient werden, ohne Rücksicht auf Verluste (etwa im Mittelmeer). Und so beeilen sich die Konservativen, Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten in Europa, den profanen Forderungen der sich lustvoll in Untergangsphantasien und Verschwörungstheorien ergehenden Nationalisten, Identitären, Reichsbürger und Neonazis peu à peu nachzukommen.


Doch der durch irrationale Tatsachenbehauptungen forcierte Rechtsruck ist kein ausschließlich europäisches Phänomen, wie Entwicklungen in Amerika belegen. In den USA droht im November nächsten Jahres die Rückkehr des Soziopathen Donald Trump ins Weiße Haus, was die politische Weltlage noch unberechenbarer machen würde. Ohne das Manipulationspotenzial der Social Media hätte der „Erfinder“ der alternativen Fakten bereits die erste Amtszeit als US-Präsident kaum antreten können.


Das Internet, das ein Segen für eine aufgeklärte Informationsgesellschaft sein könnte, entwickelt sich mehr und mehr zur Domäne rechter Fanatiker und Hassprediger. Dieser destruktiven Medienmacht hatte es auch der Sozialdarwinist Jair Bolsonaro zu verdanken, dass er drei Jahre lang als brasilianischer Präsident die Amazonas-Regenwälder, die wertvollsten Bio-Ressourcen der Erde, abfackeln lassen und die Rechte indigener Völker in die Tonne treten durfte. Und jetzt gewinnt der selbsternannte „Anarcho-Kapitalist“ Milei auf ähnliche Weise die Wahl in Argentinien, dem zweitgrößten Land Südamerikas. Im Netz hat er schon angekündigt, dass er den Staat und die Sozialsysteme herunterfahren will, und der Klimawandel ist für ihn – wie für seinen brasilianischen Bruder im Geiste – eine Chimäre.


Es geht selbst den Mächtigen zu weit


Hier schließt sich der Kreis, wird die ideologische Verwandtschaft von lateinamerikanischen Rechtspopulisten und deutschen AfD-Hetzern sichtbar. Neben Rassismus und Hass auf Flüchtlinge gehört die absolute Ignoranz gegenüber dem Erhalt der Umwelt und der Notwendigkeit, die Erderwärmung zu stoppen, zu den prägenden Merkmalen ihrer Politik.
Selbst in den Chefetagen großer Konzerne reagiert man inzwischen mit Besorgnis auf die rechtsextremen Umtriebe. Wenn die Vorstände nicht gerade selbst von Luftverschmutzung, Pestizidausbringung oder Wasservergeudung profitieren, sehen sie nämlich die Umwelt recht gern in tadellosem Zustand. Und sie fürchten auch, dass die organisierte Xenophobie dringend benötigte Fachkräfte aus dem Ausland fernhalten könnte.


Die Politik hingegen starrt auf die chauvinistische Gefahr, wobei nicht vergessen werden darf, dass es in den meisten Parteien schon früher klammheimliche Sympathisanten für erzreaktionäre Positionen – etwa in Migrations-, Besteuerungs- oder Energiefragen – gab. Das macht es jetzt leichter, besonders geschmeidig nach der AfD-Pfeife zu tanzen.
12/2023
Dazu auch:
Belagerung von Brüssel und Armselige Moralisten im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2023)






Schnapsidee Reloaded


Ein Plan, der nur von einem ausgemachten Zyniker stammen konnte, der einst ungläubiges Staunen und empörte Ablehnung auslöste, soll nun doch zur Anwendung kommen und findet plötzlich Zustimmung in (angeblich) honorigen EU-Kreisen: Der rechte englische Quartalsirre Boris Johnson hatte als Premier einen Deal mit dem Regime im zentralafrikanischen Ruanda ausgehandelt, das sich verpflichtete, „illegale“ Flüchtlinge aus Großbritannien gegen üppige Honorierung aufzunehmen. In letzter Sekunde konnte die Zwangsverbringung juristisch gestoppt werden. Doch Rishi Sunak, der jetzige Hausherr in Downing Street 10, der über ebenso geringe Empathie wie Johnson, aber bessere Manieren verfügt, will die Sache nun durchziehen – und weckt Begehrlichkeiten bei Think Tanks und Politikern der Brüsseler Union.


Überall, nur nicht in Europa


Im Grunde dreht sich in den europäischen Heimatschutz-Gremien alles nur noch um die Frage, wie man die Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention, die dummerweise alle Staaten unterschrieben haben, am elegantesten umgehen kann. Dazu werden semantische Konstruktionen jenseits aller Fakten bemüht: So spricht man von Asylbewerbern, die „irregulär“ eingereist seien, als werde Menschen, die vor der Gottesdiktatur der Taliban, den ethnischen „Säuberungen“ in Eritrea und Äthiopien, dem Krieg im Sudan oder dem Hungertod in der Sahelzone ins Abendland fliehen, je eine reelle Chance eingeräumt, „regulär“, also auf anständigem Wege, einzureisen.


Weil man auf eigenem Staatsgebiet die Asylgründe nicht mit der gebotenen Sorgfalt prüfen möchte und keine tragfähigen Integrationskonzepte entwickelt wurden, will man die Entscheidung, die tunlichst eine Ablehnung sein sollte, außerhalb der eigenen Grenzen treffen und die Unwürdigen sogleich zurück in die alte Heimat oder in ein „sicheres Drittland“ expedieren. Bei letzterem handelt es sich ebenfalls um eine sprachliche Schimäre (ein Trugbild also), die man beliebig auf Autokratien und weitgehend rechtlose Gebilde wie die nordafrikanischen Staaten Marokko, Tunesien und Algerien oder Erdoğans Türkei, wie Kasachstan oder das Indien des rassistischen Hindu-Nationalisten Modi anwenden kann. Gewissenhaft saufen sich Europas Politiker, auch die grünen und sozialdemokratischen Ampel-Moralisten, diese Regimes schön, um verzweifelte Migranten mit gutem Gewissen loswerden zu können.


Noch raffinierter wollte Boris Johnson vorgehen. Er bot Ruandas seit 2000 zunehmend despotisch regierendem Präsidenten Paul Kagame umgerechnet 144 Millionen Euro an, wenn dieser aus Großbritannien angelieferte Geflüchtete in seinem Land aufnähme – natürlich ohne Aussicht auf eine Rückkehr ins Gelobte Albion. Nicht wenige Beobachter hielten das Vorhaben für eine Schnapsidee, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte untersagte den ersten Abschiebeflug kategorisch mit der Begründung, die Deportation stelle "ein echtes Risiko von irreversiblem Schaden" für die betroffenen Asylsuchenden dar. Doch ein gutes Jahr, einige Hunderttausend Migranten in Europa und etliche tausend Ertrunkene im Mittelmeer später, entdecken die von den Rechtspopulisten vor sich her getriebenen Regierungen den Charme der Reise ohne Wiederkehr.


Ein „Vordenker“ träumt von Ruanda


Unser nördlicher Nachbar trat kurzzeitig in britische Fußstapfen. Erst nach heftigen Protesten stoppte Dänemarks Regierung ein Projekt, das ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in Ruanda vorgesehen hätte.

Währenddessen verhandelt Italiens postfaschistische Regierungschefin Giorgia Meloni mit der Regierung in Tirana. Das finanzschwache Albanien könnte doch gegen Devisen Boat People aus Lampedusa in Karst-Ghettos ansiedeln.


In London verfolgt Premier Sunak unverdrossen den Plan seines Parteifreundes Johnson weiter, mittellose und verfolgte Menschen in ein Land zu entführen, dem Armut und politische Verfolgung nicht fremd sind. Wer sich näher mit der jüngeren Geschichte Ruandas beschäftigt, wird knallhart mit der Absurdität und Skrupellosigkeit solcher Flüchtlingspolitik konfrontiert.


Erst 1994 erlebte das Land den weltweit folgenschwersten Genozid der letzten Jahrzehnte. Ein militanter Mob vom Mehrheitsvolk der Hutus brachte rund 800.000 Tutsis und Gemäßigte aus der eigenen Ethnie um. Zwar gilt Ruanda inzwischen als vergleichsweise befriedet, doch dürfte die Ankunft von Tausenden Immigranten fremder Sprache und Kultur, die noch dazu gegen ihren Willen nach Afrika zurückgebracht werden, Probleme verursachen. Zudem kommen sie in eins der am dichtesten besiedelten Länder der Welt (fast 14 Millionen Einwohner auf nur 26.000 Quadratkilometern), das – obwohl es mit die höchsten Wirtschaftswachstumsraten auf dem Kontinent verbucht – immer noch zu den ärmsten Regionen der Erde gehört.


Einiges könnte allerdings den politischen Flüchtlingen aus ihrer einstigen Heimat bekannt vorkommen: Paul Kagame hat in den 23 Jahren seiner Herrschaft Ruanda in ein autokratisches System ohne Pressefreiheit und unabhängige Justiz verwandelt, in dem Oppositionelle spurlos verschwinden und Wahlen manipuliert werden. Amnesty International wirft den Behörden vor, die Zivilbevölkerung, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten zu kontrollieren und an ihrer Arbeit zu hindern. Nach Angaben von UNICEF wiederum wachsen 600.000 Kinder ohne Eltern oder als Halbwaisen in extremer Armut auf.


Derzeit wirkt das Regime in Kigali am endlosen Bürgerkrieg im rohstoffreichen Ostkongo mit. Von dort stammt auch ein Gutteil der 130.000 Flüchtlinge in Ruanda, von denen fast alle in riesigen trostlosen Lagern dahinvegetieren müssen.


Sieht so ein „sicheres Drittland“ aus, dem die Beherbergung tausender verzweifelter Migranten anvertraut werden kann? Ist dort, fern von Europa, eine unvoreingenommene Prüfung des Asylersuchens überhaupt möglich? Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus glaubt das erstaunlicherweise und tourt mit seiner exquisiten Meinung durch die Medien. Der Mann ist u. a. Vorsitzender der neoliberalen Denkfabrik ESI, die zu ihren Financiers so illustre Gönner wie den Börsenspekulanten George Soros oder das Auswärtige Amt in Berlin zählt. Zudem war Knaus für die UN-Interimsverwaltung im Kosovo tätig, deren Mitarbeiter über allen Gesetzen standen und sich von Serben wie Kosovaren Willkürakte und Untätigkeit vorwerfen lassen mussten. Jetzt schlägt der nicht so erfolgreiche „Experte“ Knaus der EU vor, sie solle mit Ruanda eine ähnliche Vereinbarung treffen, wie dies London schon getan habe.


Dumm nur, dass in der vergangenen Woche die fünf Richter des Supreme Court, des höchsten britischen Gerichts, einstimmig die Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda untersagt haben, da für sie dort das Risiko bestehe, in ihre Heimatländer zurückgeführt zu werden, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben drohen könnte.


Gerald Knaus empfiehlt also der EU, dem failed statesman Rishi Sunak in die Pleite zu folgen. Auch Brüssel hatte schon versucht, boat people von Europa fernzuhalten und nach Tunesien „umzuleiten“, ein Land, das gerade in Richtung islamistische Autokratie driftet und dessen Behörden Flüchtlinge ohne Wasser in die Wüste trieben. Bezeichnend sind solche Maßnahmen nicht für den Pragmatismus der EU-Politiker, sondern für ihre opportunistische Bedenkenlosigkeit und die Negierung jeglicher Menschenwürde und humanitären Verantwortung.


Zwei Klassen von Traumatisierten


Derzeit üben sich in der Berliner Etappe die Baerbocks, Hofreiters oder Strack-Zimmermanns in der medialen Zurschaustellung ihrer Kriegsbegeisterung, doch gibt es in Deutschland auch Menschen, die einen bewaffneten Konflikt an der Front überlebt haben und deren Rückkehr ins zivile Leben von schlimmen Erinnerungen überlagert wird. Es dauerte eine Weile, bis die Verantwortlichen registrierten, dass etliche Afghanistan-Veteranen nach ihren schrecklichen Erfahrungen unter Posttraumatischen Belastungsstörungen litten.


Die Betroffenen hatten vor dem Kriegseinsatz als psychisch und physisch gesund gegolten, sie waren freiwillig in den Hindukusch gegangen, dort halbwegs geschützt, verpflegt und betreut worden, dennoch erkrankten sie seelisch. Immerhin wurde ihnen mit einiger Verspätung professionelle Hilfe angeboten. Und wenigstens das ist gut so.


Wie aber geht man mit Menschen um, die aus der Todesgefahr in ihrer Heimat fliehen, sich um ihre Angehörigen sorgen oder sie bereits betrauern, rechtlos durch die Welt irren, ohne Möglichkeit, in einem Land, in einer Berufstätigkeit, in einer toleranten Gesellschaft Fuß zu fassen? Ihnen verweigert die EU, deren PolitikerInnen die Menschenrechte stets auf den Lippen führen, jede Teilhabe – Traumatisierung hin, Genfer Konvention her -, pfercht sie in „Aufnahmezentren“, die Seuchenstationen gleichen, zusammen und will sie in Staaten abschieben, die sie fatal an jene, aus denen sie geflüchtet sind, erinnern…
11/2023
Dazu auch:
Johnsons fieser Deal im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)






Das fünfte Rad


Sie versucht es wieder: Nachdem Sahra Wagenknecht bereits 2018 die Sammlungsbewegung aufstehen gegründet hat, die Massen mobilisieren sollte, im darauffolgenden Jahr jedoch sanft entschlief, versucht sie es nun eine Spur kleiner, allerdings auch zielgerichteter. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wird bei der Geburt einer neuen Partei assistieren, die „eine Rückkehr zur Vernunft in der Politik“, was immer man darunter verstehen mag, einleiten soll. Nach ersten vagen Aussagen der Chefin ist programmatisch nicht viel Neues zu erwarten, es scheint eher, als werde an einem Karren mit genügend asynchron laufenden Rädern, Symbol für die jetzige Parteienlandschaft, ein weiteres unrund eierndes angebracht.


Die kalte Egomanin


In den letzten Tagen der DDR und in den Anfangszeiten der vereinigten Republik wurde Wagenknecht viel Respekt ob ihrer Unabhängigkeit gezollt. Sie hatte sich nicht von der SED vereinnahmen lassen, sie ließ sich zunächst auch nicht vom bundesdeutschen Polit-Mainstream umgarnen. Ihr schien jeglicher Opportunismus fremd, sie eckte an und sprach Unbequemes offen aus. Erst als sie mit ihrer Partei, der Linken, fremdelte, weil sie sich in ihrer Star-Rolle zu wenig hofiert fühlte, und gemeinsam mit dem umtriebigen, aber ein wenig wetterwendischen Ehemann Oskar Lafontaine begann, neue Forderungen, die eher vom rechten Rand der Gesellschaft und aus dem AfD-Vokabular zu stammen schienen, zu propagieren, nahm man wahr, dass sie sehr wohl den Trends nachjagte – wenn es persönlichen Erfolg versprach.


In der Tat ist für Sahra Wagenknecht, die als teamunfähig und eigenbrötlerisch gilt, das eigentliche Programm schlicht Sahra Wagenknecht – in ihrem Ego-Hype dem bayerischen Narziss Markus Söder sehr ähnlich. So erklärt sich auch die Benennung des neuen Bündnisses, was wiederum an andere Selbstdarsteller und Namensgeber wie den niederländischen Rechtsaußen Geert Wilders oder den konservativen Chef Jürgen des Team Todenhöfer gemahnt. Wagenknecht wirkt bei Interviews irgendwie gefühlsarm, scheint in einem Kokon zu leben, in den sie nur Fragmente der vorherrschenden Volksmeinung einlässt, die sie auf Brauchbarkeit für die eigene Kampagne prüft. Nach Empathie oder Verantwortungsbewusstsein sieht das nicht gerade aus.


So wirken die Inhaltsfetzen, mit denen sie die neue Parteigründung rechtfertigt, auch wie Bestandteile eines Potpourris aus historischen Forderungen der Sozialdemokratie, aggressivem Öko-Bashing, vagen Entspannungsvorschlägen und rigider Flüchtlingsabwehr. Zudem spricht sie sich für einen breiteren „Meinungskorridor“ in Deutschland aus – lobt damit also doch die reaktionären Meinungsmacher, die nach dem Motto „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ gern Ausländer, queere Menschen und eifrige Klimaschützer diffamieren.


Totengräberin der Linken


Unter den paar Brocken, die uns die Unnahbare zur Begründung für ihren nächsten politischen Ego-Trip hinwirft, sind auch solche, die man akzeptieren kann, etwa wenn sie eine deutliche Anhebung des Mindestlohns oder „mehr soziale Angleichung“ fordert, auch wenn sie nicht sagt, wie Letzteres zu erreichen wäre. Scheinbar konzentrieren sich die  Bundestagsabgeordneten der Linken (unter ihnen immerhin die Co-Fraktionsvorsitzende Amira Mohamad Ali), die aus der Partei ausgetreten sind, um Wagenknecht ins neue Glück zu folgen, auf solche unverdächtigen Aussagen. Was die Abtrünnigen vom Klischee „ungeregelte Zuwanderung“ und von dem die Verantwortlichkeit der Industrienationen ausklammernden Allgemeinplatz, Migration sei nicht die Lösung für Armut in der Welt, halten, ist bis dato nicht bekannt. Eigentlich sollten sie aus der linken Kinderstube noch wissen, dass es auch nicht wirklich zielführend ist, die Menschen im Mittelmeer ertrinken oder im Sahel verhungern zu lassen.


Nichts an dem, was uns da aufgetischt wird, klingt wirklich originell. So ähnlich haben wir das alles schon mal gehört, mal von der AfD, mal vom Bundeskanzler, seit Kurzem auch von grünen Vordenkern. Ein weiteres Etikett für Ausschussware, das Wagenknecht einer überlebenswichtigen Initiative anheftet, indem sie von „blindem Öko-Aktivismus“ schwadroniert, belegt angesichts der sich häufenden Umweltkatastrophen einen bislang unentdeckt gebliebenen Hang zum blanken Zynismus.


Die Linke, die in ihrer Mehrheit eine differenziertere Haltung zu diesen Themen einnimmt, wird wohl das erste Opfer von Sahra werden. Mit Recht verweigert die Restpartei den Dissidenten den Verbleib (und die Pfründen) in der Bundestagsfraktion, was bedeutet, dass sich diese auflöst, und die Ex-Mitglieder auf Mittel, Referenten, Redezeit und Gremiensitze verzichten müssen. Und das ist schade, denn die Bundestagsabgeordneten der Linken waren die fleißigsten Initiatoren parlamentarischer Anfragen und die gründlichsten Kontrolleure in den Untersuchungsausschüssen. Zwar ist es positiv zu bewerten, dass die Partei nun rechtslastigen Ballast abwirft, ob sie aber überhaupt noch den Absturz in die Bedeutungslosigkeit vermeiden kann, ist äußerst fraglich.


Koalition aus Vernunft und Populismus?


Laut einer aktuell von t-online-news bei Civey in Auftrag gegebenen Umfrage können sich 44 Prozent der Linken-Anhänger vorstellen, für die Partei von Sahra Wagenknecht, die Anfang 2024 endgültig aus der Taufe gehoben werden soll, zu stimmen. Vor allem im Osten der Republik dürften es Unzufriedene ohne dezidierte politische Grundeinstellung sein, die zur neuen Partei abwandern. Zugleich erwägt fast ein Drittel der AfD-Wähler laut Civey-Erhebung, das Kreuzchen bei der neuen Partei zu machen, was für den Wiedererkennungswert der alten Parolen in neuer Verpackung spricht.


Doch Sahra Wagenknecht darf sich nicht zu sicher fühlen. Zwar wird ihr ein Potenzial von 20 Prozent der bundesweiten Wählerstimmen bescheinigt, doch da spielt sicherlich der gegenwärtige Hype um sie eine entscheidende Rolle. Was aber wird geschehen, wenn der Glamour angesichts aktueller Ereignisse verblasst, BILD sich auf andere Themen kapriziert und die kurzfristig entzückten AfD-Sympathisanten sich wieder dem Original zuwenden? Dann reichen ein paar vernünftige Ansichten, die sich schlecht mit dem restlichen rechtspopulistischen Getöse paaren, kaum dazu aus, andere Unterstützer zu rekrutieren.


Denn die Konkurrenz ist unter den Epigonen der xenophoben AfD-Programmatik zu groß. Seit Kanzler Scholz, seine FDP, die beiden anderen Ampel-Parteien und die Union ankündigen, das Asylrecht ähnlich wie die Rechtsradikalen einschränken oder ganz aushebeln zu wollen, und bisweilen sogar Anleihen bei deren Rhetorik machen, dürfte es für eine weitere migrationsfeindliche Kraft schwer werden, sich von den Mitbewerbern abzuheben, sich als fünftes Rad am rückwärts rollenden Wagen zu profilieren.


Doch selbst wenn es Sahra Wagenknecht nicht gelingen sollte, genügend Wähler zu mobilisieren, ist ihr eine gewisse historische Rolle möglicherweise nicht abzusprechen: Sie könnte am Todesstoß für die einzige bundesdeutsche Partei, die sich nicht der Ressentiments der Gosse bediente, maßgeblich beteiligt haben.
10/2023
Dazu auch:
Sahras rechter Flirt im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2018)






Braune Zeitenwende?


„Wir erleben eine Zeitenwende.“ Das hatte Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verkündet. Gut anderthalb Jahre später drängt sich angesichts der Wahlergebnisse von Hessen und Bayern der Eindruck auf, dass tatsächlich etwas zu Ende gegangen ist und in Politik wie Gesellschaft eine neue düstere Ära begonnen hat. Der Ampelkoalition mag diese Entwicklung als blaues Wunder erscheinen, bei näherem Hinsehen jedoch entpuppt sich der Wandel als braune Restauration.


AfD auf der Zunge


Dass die beiden Landtagswahlen vom vergangenen Wochenende für die Ampelregierung so katastrophal ausgingen, hat sich Wende-Visionär Scholz zu einem Gutteil selbst zuzuschreiben. Gemeinsam mit Wirtschaftsminister Lindner blockierte er die guten Ansätze der grünen Klimapolitik, ließ indes ein mit guter Absicht, aber weltfremd konzipiertes und dann auch noch verstümmeltes Heizungsgesetz passieren. Zudem offenbarte er, zum Hamburger Cum-Ex-Skandal befragt, merkwürdige Gedächtnislücken und verstrickte sich in widersprüchliche Aussagen.


Vor allem aber gestattete er seinen MinisterInnen, sich bei der Migrationsproblematik sowohl verbal als auch in der Sache mehr und mehr den Positionen der AfD anzunähern. Für die Chefin des Innenressorts, Nancy Faeser und ihre FDP-Kabinettskollegen war die global verbindliche Genfer Konvention bald nur noch Makulatur, korrupte Autokratien wurden zu „sicheren Herkunftsländern“ ernannt, und die gesamte Regierung schwelgte in Abschiebungs- und Rückführungsphantasien, denen lediglich die Grünen ein paar kosmetische Trostpflästerchen verpassten.


Doch es kam, wie es kommen musste: Die AfD konnte auf ihre Meinungsführerschaft in Sachen Inhumanität und Xenophobie pochen, und die Werte für die Plagiatoren aus der Ampel-Koalition fielen bei den Landtagswahlen ins Bodenlose. So ist es nicht verwunderlich, dass die SPD in Hessen von allen Parteien die meisten Wähler an die Rechtsextremen verlor. Da hätten die Genossen sich zumindest teilweise an der Union orientieren können, die sich ein wenig geschickter (weil noch perfider) anstellten.


Fake sells


Nicht erst seit dem Boom der sozialen Medien im Internet weiß man, dass sich mit Enthüllungsgeschichten über Asylsuchende, Unterhaltsempfänger oder andere aus der Norm Fallende – seien die Inhalte nun wahr oder frei erfunden – trefflich Massenempörung generieren lässt; schließlich hat BILD über etliche Jahrzehnte damit Milliarden verdient. Also wagte sich auch Friedrich Merz ins Reich der asozialen Mythen und schuf den Asylanten, der sich beim Zahnarzt das Gebiss fürstlich restaurieren lässt, während der arme Volksdeutsche keinen Termin bekommt. Mochten Ärzteschaft und Gesundheitsbehörden noch so heftig dementieren, die tolle Story war in der Welt und fand ihre Liebhaber.


Die AfD hat so schon oft den Hass auf Ausländer geschürt und dabei auch mal auf Fake News von Russia Today zurückgegriffen. Doch schon vor ihr ist ein findiger Christunionist auf solche süffigen Horror-Märchen verfallen: Peter Gauweiler pflegte gern nach unten tretende Spießer mit der Mär von der schwarzen Flüchtlingsfrau, die sich ihre Dreadlocks auf Kosten des Sozialamts flechten lässt, zu schocken. Dass alle zuständigen Stellen von völligem Unsinn sprachen, vermochte den Erfolg des Erzählers nicht zu mindern.


Zwar konnte die Union auf diese Weise ein paar Ultra-Rechte bei der Stange halten, aber auch hier gilt: Nur wer sich von ganzem Herzen der Fremdenfeindlichkeit verschreibt, und zwar mit dem Herzen auf dem rechten Fleck und nicht nur mit der Zunge, kann in immer weiter werdenden Bevölkerungskreisen ordentlich punkten. Folgerichtig wurde die AfD in Hessen zweitstärkste Partei und übernahm die Oppositionsführung im Landtag, während Nancy Faeser vergeblich die überschaubaren Reste ihrer Anhängerschaft um sich zu scharen suchte.


In Bayern gab es trotz zackigen Rechtsschwenks von Markus Söder und trotz der Unfähigkeit der Herausforderer, seine zahllosen Pannen und erratischen Richtungsänderungen (Stammstrecke 2, wirres Corona-Management, gebrochene Versprechungen beim Wohnungsbau, Versagen bei Stromtrassen und Windkraft etc.) publik zu machen, einen Dämpfer, das zweitschlechteste Wahlergebnis der CSU seit 70 Jahren nämlich. Dass die AfD knapp nur drittstärkste Kraft im Freistaat wurde, hat sie einem Kontrahenten zu verdanken, dessen Bauernschläue und Wortradikalität offenbar lange unterschätzt worden waren.


Spätestens mit seiner Wutrede von Erding hatte sich Hubert Aiwanger von den Freien Wählern (FW) unauslöschlich ins Herz nationalistischer Querulanten getobt. Markus Söder war auf derselben Veranstaltung bei seiner Hetztirade gegen die Ampel, nur zweiter Sieger geworden. Als Aiwanger wegen früherer Nazi-Sympathien scheinbar in eine Affäre geriet, ging er aus dem Medienwirbel gestärkt hervor. Offenbar goutierten es die Anhänger, dass der junge Hubsi nie zum Joint gegriffen und einen Hang zum Humanismus oder Pazifismus gezeigt, sondern sich der braunen Traditionspflege mit bemerkenswertem Humor  gewidmet hatte. Zum Dank machten die Wähler seine FW nun zur Nummer 2 in Bayern. Die AfD lässt sich punktuell also doch noch rechts überholen.


Hoffnung auf die nächste Generation?


In Hessen gab jeder fünfte Wähler der AfD seine Stimme, in Bayern war es jeder siebte. Das sind nicht Ergebnisse aus dem Osten der Republik, wo wir in den Wahlen des nächstes Jahres (Thüringen, Sachsen, Brandenburg) möglicherweise jeweils ein Drittel brauner Sympathisanten an den Urnen begrüßen dürfen, falls sich die chronisch zerstrittene Partei bis dahin nicht wieder einmal selbst zerlegt.

Zusammen mit den FW und der von ihr weiter nach rechts getriebenen CSU bildet die AfD in Bayern einen mächtigen Rechtsblock, in Hessen nimmt sie bereits die Vize-Führungsposition ein, die bundesweit auch kein unrealistisches Ziel mehr zu sein scheint.


Wie kann eine Gruppierung, die keine praktikablen Vorschläge macht, deren Programme entweder instinktiven Unmut in der Bevölkerung aufgreifen oder – wie im Wirtschaftsteil – von der FDP abgeschrieben wurden, die trotz ihres Namens keinerlei Alternativen für die Deutschen oder die Welt an sich bietet (lässt man Chauvinismus und Geschichtsklitterung nicht als originäre Leistungen gelten) so erfolgreich sein?


Zumindest zwei Teilantworten auf diese Frage seien hier angeführt: Die AfD befreit einen großen Teil der Bundesbürger von den diesen lästigen Schatten der Geschichte, indem sie die nationale Vergangenheit banalisiert (Gaulands Einschätzung der Nazi-Herrschaft als „Vogelschiss in der Geschichte“) oder die Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen nonchalant verunglimpft (Höckes Bezeichnung „Denkmal der Schande“ für das Holocaust-Mahnmal). Die Forderung Irgendwann muss doch mal Schluss sein mit den ewigen Schuldzuweisungen! ist entgegen allen Politiker- und Edelmedien-Aussagen in der Mehrheit der Bevölkerung durchaus konsensfähig. Die Tatsache, dass 80 Prozent das Asylrecht ändern (etliche davon es sogar abschaffen) wollen und Flüchtlinge als Schmarotzer denunzieren, belegt die Geschichtsvergessenheit eines Landes, dessen Geisteselite sich einst zu großen Teilen nur noch durch Emigration retten konnte.


Und dann ist da noch die Klaviatur der Ängste, auf der die AfD trefflich klimpert: In Kleinstädten und auf dem Land legte sie besonders stark zu, fürchten doch die Kleinbauern den EU-Trend zur Agrarindustrie. Von der Union, in der die Besitzer großer Landwirtschaftsbetriebe organisiert sind, oder den Grünen, denen der rechte Block unisono das Prädikat der „Verbotspartei“ anhängte, glauben sie, nichts als Ungemach erwarten zu können. Dazu kommt die Angst vor „Überfremdung“, vor dunklen Gesichtern in den Straßen, vor Kriminalität, vor der Minderung von Löhnen und Renten, vor ausländischer Konkurrenz usw. Die AfD braucht dazu keine Konzepte zu entwickeln, sondern nur ihr mittelalterliches Weltbild zu propagieren, in dem multikulturelle Beziehungen nicht vorkommen, internationale Beziehungen an der Burgmauer enden und der deutsche Schrebergärtner ganz allein mit eiserner Harke Ordnung in seinem Gau hält.


Angesichts der jüngsten Wahlergebnisse könnte man über die geistige Verfassung der eigenen Zeitgenossen verzweifeln, glatt zwei bis drei Generationen hinsichtlich eines humaneren Gesellschaftswandels abschreiben und auf den Nachwuchs hoffen. Doch eine weitere Hiobsbotschaft kommt wiederum aus dem südlichen Freistaat.


Der Bayerische Jugendring organisierte eine U18-Landtagswahl im Freistaat. Etwa 60.000 Kinder und Jugendliche gaben ihre Stimme ab und bestätigten im Großen und Ganzen die Binsenweisheit, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Die CSU wurde mit 26 Prozent stärkste Partei vor der AfD (15 %). Immerhin schaffte es die bei den Großen so kläglich abgestürzte SPD auf Rang drei, knapp vor den Grünen (beide über 13 %). Dann kam schon der unvermeidliche Hubert Aiwanger mit 9 %. Die Zukunft war auch schon einmal besser.
10/2023
Dazu auch:
Posse mit Nancy, Alternative Merz und Depp oder Brandstifter in der Rubrik Helden unserer Zeit
Land der AfD in der Rubrik Medien







Wutbürgers 10 Gebote


Dass sich die AfD trotz unzähliger Skandale, schwerer Fehltritte ihrer Funktionäre, unappetitlicher Fehden zwischen den Parteioberen, Blamagen bei Faktenchecks und offensichtlicher Inkompetenz anschickt, zur zweiten politischen Kraft in der Republik aufzusteigen, grenzt an ein Wunder. Und tatsächlich hat sie weder mit Argumenten noch Inhalten oder sinnvollen Initiativen die potentiellen Wähler auf ihre Seite gebracht, sondern mit Hasstiraden, kruden Glaubenssätzen und bräunlicher Heilspropaganda. Handelt es sich bei diesem „auserwählten“ Haufen womöglich gar nicht um eine klassische Partei, sondern originär um eine Schar religiöser Fanatiker, eine Sekte somit?


Rational sind weder die inhaltlichen Maximen der Neuen Deutschen Rechten noch der Zuwachs an deren Gefolgschaft erklären, doch irgendetwas muss dem Erfolg zugrundeliegen. Existieren vielleicht Parallelen zu Religionsgründungen in grauer Vorzeit, kam Hilfe vom Höchsten Wesen, weil der irdische Intellekt der braunen Eiferer nicht ganz ausreichte? Doch in diesem Fall war es nicht Moses, der mit steinernen Gesetzestafeln, die ihm Gott höchstpersönlich ausgehändigt hatte, vom Berge Sinai herab schritt. Vielleicht aber wurden die neuen ehernen Gebote den Führern von Identitären, Reichsbürgern und AfD-Horden auf den nebligen Gipfeln Walhalls, das irgendwo in der Sächsischen Schweiz zu suchen ist, offenbart.


Dem Vernehmen nach lauten die göttlichen Dekrete, die irriges Nachdenken, lächerliche Empathie, lauwarme Toleranz, feigen Friedenswillen und dergleichen sündig-dekadente Regungen aus den Köpfen der Anhänger fernhalten sollen, folgendermaßen:


1. Du sollst Deutschland über alles in der Welt stellen

Alle anderen Länder müssen erst am deutschen Wesen genesen – sofern sie von weißhäutigen Menschen bewohnt sind. Den Rest in Afrika, Asien oder sonstwo brauchen wir ohnehin nicht.


2. Du sollst Flüchtlingen jegliches Asyl verweigern
In unserem Land ist kein Platz für Fremde, die behaupten, in ihrer Heimat verfolgt zu werden. Menschen andersfarbiger Rasse oder heidnischer Religion passen nicht in unsere Volksgemeinschaft. Wer hat denn unseren engagierten Spitzenkräften in Wehrmacht, SS und NSDAP nach dem vorzeitigen Ende des Tausendjährigen Reichs Hilfe und Aufnahme geboten – außer ein paar Bundesministerien, südamerikanischen Diktatoren und dem Vatikan? Andererseits liefert die bloße Anwesenheit von Flüchtlingen ein prima Thema für elaborierte Totschlagsargumentation. Ist dadurch doch die Hälfte der Volksgemeinschaft auf unserer Seite, auch wenn sie es noch nicht laut zu äußern wagt.


3. Du sollst nicht mit der Nationalität spielen
Als Deutscher geboren zu sein, ist ein Gottesgeschenk. Die rechte Volkszugehörigkeit lässt sich weder durch scheinheilige Integration oder doppelte Staatsbürgerschaft noch durch eifriges Spiel für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erwerben. Wer schwarz ist oder Moslem, Boateng oder Gündoğan heißt, kann nicht deutsch sein.


4. Du sollst Gedenktage heiligen, aber nur die richtigen
Schmach und Verrat, wie sie die Weltkriegsabpfiffe 1918 und 1945 prägten, sollen übergangen werden. Der Kapitulationen der Franzosen in Sedan (1870) und Compiègne (1940) ist hingegen unbedingt zu gedenken. Die „Befreiung“ sogenannter Konzentrationslager durch irgendwelche Alliierte muss ignoriert werden, schließlich sollte dort nur Weltverschwörungen vorgebeugt werden. Dafür darf man den Einzug von Nazis in den Bundestag (2017) nachhaltig würdigen, auch wenn es sich nicht im eigentlichen Sinn um eine Premiere handelte, da vor allem Christunion und FDP ihre parlamentarischen Reihen nach 1948 kräftig mit ziemlich unverbesserlichen Gefolgsleuten des Führers aufgestockt hatten.


5. Du sollst Vater und Mutter ehren
…soweit sie dich in bestem Wissen und Gewissen zu einem völlig intoleranten Seelenkrüppel erzogen haben, so dass du nie auch bloß einen Zoll vom rechten Weg abweichen mögest. Nur dann nämlich hast du den Kadavergehorsam und die Untergangssehnsucht von Urdeutschen wie Hagen von Tronje, Lettow-Vorbeck oder Uwe Mundlos wirklich verinnerlicht.


6. Du sollst niemanden abmurksen
Es sei denn, es handelte sich um linke Zecken, dunkle Nichtarier und türkische Schneider oder Blumenhändler, Angehörige falscher Religionen oder minderwertiger Ethnien sowie Queere. Das deutsche Volk muss Notwehr begehen dürfen.


7. Du sollst keine Lügen verbreiten und stets die Wahrheit suchen
Dazu bedienst du dich am besten seriöser Medien, etwa Facebook, Tiktok, Russia Today und ab und zu BILD. Keinesfalls darfst du dich mit der Lügenpresse abgeben! Dieser fehlt weitgehend die Phantasie, eigene Verschwörungstheorien zu entwickeln, was sie durch die Wiedergabe politischer Allgemeinplätze aus den Mündern unbedarfter oder arglistiger Angehöriger der „Eliten“ kompensiert: Valium für Weicheier.


8. Du sollst Klima-Aktivisten und Umweltschützer verachten
Wetter hat es schon immer gegeben, mal war es ziemlich warm, mal klirrend kalt, oft aber wendisch. Zugegeben, im Augenblick steigen die Temperaturen schneller und höher als in den letzten hunderttausend Jahren, und so unangenehme Events wie Starkregen, Stürme oder Forstbrände suchen uns häufiger heim als früher. Aber das geht schon wieder vorbei. Nur Hysteriker fürchten um Wälder, Moore und Wiesen und vergessen dabei, dass durch die Erosionsarbeiten der Umwelt das Schlagen neuer Trassen für deutsche Autobahnen nicht unwesentlich beschleunigt wird. Und was das „Artensterben“ betrifft: Sollen sie doch verschwinden, die welschen Moskitos, asiatischen Tigermücken und afrikanischen Tsetse-Fliegen!


9. Du sollst wehrhaft sein wie ein Reichsbürger
Jedem reinrassigen Deutschen steht eine Schusswaffe zu, damit er Gut, Heim und Hof sowie die Ehre der Frauen schützen kann. Die Volksgenossen von der AfD haben das bereits in ihr Programm aufgenommen, die befreundeten Reichsbürger, Uniter und andere identitäre Rassisten haben schon aufgerüstet und praktizieren die bewaffnete Vorwärtsverteidigung von Zeit zu Zeit bereits mit durchschlagendem Erfolg.


10. Du sollst nicht nachdenken, sondern deinem Instinkt folgen
Grübeleien, Skepsis, Selbstzweifel und wissenschaftliche Belege überlässt der Deutsche den linken Sonntagsrednern. Er vertraut seinem tierisch guten Instinkt, der ihn schon einmal als Stecken und Stab auf die rechte Bahn geführt hat.


Dass die neue Glaubensgemeinschaft, die sich strikt an diese zehn Gebote hält, erfolgreich im Land missioniert und immer mehr Anhänger findet, lässt sich an den letzten Umfragen zu den anstehenden Landtagswahlen ablesen.
09/2023
Dazu auch:
Bürger zu den Waffen (2019) und „Reichsbürger“ (2017) im Archiv der Rubrik Medien








Sweet Dreams?


Den einen geht der Schritt nicht weit genug, die andern warnen vor hemmungslosem Rauschmittelkonsum, und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach verspricht vollmundig den „Wendepunkt einer leider gescheiterten Cannabis-Drogenpolitik“. Gegen Ende dieses Jahres sollen Freunde der sanften Trance unter gewissen Bedingungen und nach reglementiertem Erwerb ihr Haschisch-Pfeifchen und den Marihuana-Joint angstfrei genießen können. Ist diese bedingte Zulassung einer weiteren Droge sinnvoll oder leitet sie den Untergang des Abendlands ein? Der Argumente und Halbwahrheiten sind so viele, dass einem bei intensiverer Beschäftigung der Kopf schwurbelt, als habe man gerade ein wenig grass zu viel durchgezogen.


Inspiration oder Sucht und Gewalt?


Im Idealfall sollte der Mensch seine gesellschaftliche Umgebung ja ohne künstliche Aufheller, euphorisierende, besänftigende oder halluzinogene Substanzen bestreiten. Aber in einer Welt wie der gegenwärtigen fällt es angesichts immer neuer Krisenmeldungen, von Hungersnöten über Klimakatastrophen, Flüchtlingsströme bis hin zu Kriegen in der Ukraine, im Jemen und anderswo, immer schwerer, völlig klaren Kopf zu bewahren. Und wer angesichts eines verdächtigen Personals von Meinungsbildnern, dem u. a. Putin, Trump, AfD-Braune, Superreiche mit Mega-Energieverbrauch, Auto-Lobbyisten im Ministerrang und Markus Söder angehören, völlig nüchtern und psychisch unbeschwert durchs Leben geht, muss katholischer Schweigemönch oder buddhistischer Asket sein und Finger, Augen sowie Ohren von allen Medien lassen.


Es existieren also genügend Gründe, sich den Status quo schönzutrinken, die Nervosität mit Nikotin zu dämpfen – oder eben mittels Cannabis in wohligen Dunst einzutauchen. Überall auf der Erde kauen Menschen Kat, Bethelnuss oder Koka-Blätter, rauchen Tabak, Haschisch oder Opium, um die Realität ertragen zu können. Solche Flucht- und Ersatzhandlungen lassen sich nicht ausrotten, bleibt also die Frage: Braucht es in unserer Kultur neben Alkohol, Glimmstängeln, Tee, Kaffee und Beruhigungsmitteln noch eine weitere Droge? Davon abgesehen, dass nichts von alledem überlebensnotwendig (aber wohl begehrt) ist, kommt die Frage viel zu spät. Eine Untersuchung von 2021 ergab, dass knapp 9 Prozent der jungen Erwachsenen regelmäßig Haschisch oder Marihuana konsumierten. Cannabis hat sich also längst als Volksdroge etabliert.


Bis zu 30 Gramm im Monat sind statthaft, die Abgabe sowie der Gehalt des Wirkstoffs THC sollen kontrolliert werden, und ein User mit grünem Daumen darf sich drei Cannabis-Pflänzchen ziehen. Klingt gemäßigt, dennoch laufen konservative Politiker Sturm gegen das Gesetzesvorhaben. Vor allem Bayern, wo das Bier, mit dem sich Millionen regelmäßig high saufen, als Lebensmittel gilt, ist strikt gegen jede Form der Legalisierung. Immer wieder wird in rechten Kreisen kolportiert, der Konsum des indischen Hanfs werde exorbitant ansteigen, wenn das Strafgesetz erst nicht mehr greife. Dabei haben Experten im Cannabis 2002 Report, den die Gesundheitsminister von Belgien, Frankreich, Deutschland, Niederlande und der Schweiz in Auftrag gegeben hatten, längst Gegenteiliges ermittelt: “Die meisten Studien zeigen, dass der Cannabiskonsum nicht durch entspannte Cannabisbesitz-Gesetze steigt.”


Seit jeher werden Haschisch und Marihuana bestimmte Eigenschaften und Wirkweisen zugeschrieben, die auf einer Positiv-Negativ-Skala von „Beflügelung der Kreativität und Phantasie“ bis zu „Auslösung von Gewaltexzessen“ reichte. Entmystifiziert man diese Zuschreibungen, ergibt sich immer noch ein widersprüchliches Bild.


Zu spät für den Kampf gegen Kartelle


Unbestritten ist, dass viele Rock- und Jazzmusiker, aber auch Maler und Literaten ausgiebig kifften. Das mag sie angespornt haben, war jedoch nicht die ursächliche Quelle ihres Talents. In den Zirkeln, die in den 1960er und 70er Jahren gegen die erzreaktionäre Geisteswelt in Deutschland und in den USA gegen den Vietnamkrieg protestierten, kreisten die Joints wie selbstverständlich. Das macht Cannabis aber nicht zu einer „progressiven Droge“, denn die kriminellen und oft rechtsradikalen Hell’s Angels griffen ebenfalls zu Dope. Dass Haschischraucher oft Friedensphilosophien entwickelten, wird durch die Tatsache gekontert, dass sich auch die GIs, die das Massaker von My Lai begingen, zuvor mit Lady Mary Jane (Umschreibung für Marihuana) antörnten. Die Droge per se vermittelt weder Werte noch Weltanschauung oder böse Triebe, das alles muss der Konsument schon selbst beisteuern.


Cannabis hat im Gegensatz zu Nikotin kaum Suchtpotential, und die Folgen bei übermäßigem „Missbrauch“ fallen meist glimpflicher aus als bei einem mutwilligen Vollrausch nach Konsum von hochgeistigen Getränken. Allerdings scheint erwiesen, dass der exzessive grass-Genuss bei Jugendlichen zu häufigerem Auftreten von Psychosen führen kann. Der Jugendschutz wird daher im Gesetzesentwurf auch großgeschrieben. Wie er gewährleistet werden soll, steht auf einem anderen Blatt.


Dass früher immer wieder Cannabis-Raucher zu härteren Rauschgiften griffen, ist kein Beleg für eine Funktion als „Einstiegsdroge“, sondern auf den Umstand zurückzuführen, dass Haschisch, das übrigens selten rein war, im selben kriminellen Milieu wie Heroin oder Kokain gekauft werden musste. Dies entfiele künftig, ob sich aber der Schwarzmarkt gänzlich austrocknen lässt, muss die Zukunft zeigen.


Für die hehre Absicht aber hat sich die teilweise Legalisierung arg verspätet: Kaum eine Regierung, die auf sich hält, versäumte es, einen erbitterten Krieg gegen das organisierte Verbrechen, in diesem Fall gegen die großen Drogen-Kartelle, anzukündigen. Für diese aber ist das Geschäft mit Cannabis längst zum marginalen Beifang geworden, die Legalisierung tangiert sie kaum mehr. Zunächst stiegen sie auf den ungleich lukrativeren Kokain-Handel um, dann ließen sie ihre Milliarden von westlichen Banken waschen, monopolisierten den Schmuggel von Raubkopien aller Art, übernahmen IT-Firmen oder sicherten sich altehrwürdige Wirtschaftszweige. Ob das Sinaloa-Kartell oder La Familia in Michoacan – an den mexikanischen oder guatemaltekischen Früchten in unseren Supermärkten, von Ananas bis Avocado, verdienen meist Gangster mit.


Die Kleinen müssen nicht mehr hängen


Ein großer Wurf ist Lauterbachs Gesetz, so es denn im Parlament reüssiert und der Bundesrat es nicht stoppen kann, sicherlich nicht. Aber es trägt einer sich – auch im Freizeitverhalten – verändernden Gesellschaft Rechnung. Wer einen Joint raucht, muss nicht zwangsläufig als Rechtsbrecher oder „asozialer Rauschgiftsüchtiger“ diffamiert werden.


Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte zwei Gramm Haschisch, die bei ihm gefunden wurden, für einen jungen Menschen das Ende der akademischen Laufbahn oder der beruflichen Karriere bedeuten. Bei zehn Gramm lag die Vermutung nah, es handle sich um einen hochkriminellen Dealer, Haftstrafen und Einträge ins Vorstrafenregister waren an der Tagesordnung. Später mäßigten sich die Staatsanwälte und werteten den Besitz geringer Mengen gewöhnlich als Bagatelldelikte. Doch dies entsprang informellen Übereinkünften, nicht den Buchstaben des Gesetzbuchs. Sollte Lauterbachs Entwurf nach der Sommerpause des Bundestags angenommen werden, hat der gelegentliche Cannabis-Konsument erstmals Rechtssicherheit.


Die gleiche Rechtssicherheit, die auch der Besucher des Münchner Oktoberfests oder des Politischen Aschermittwochs in Passau hat, wenn er sich fünf Maß Bier hinter die Binde kippt…

08/2023

Dazu auch:

Rauch der Unschuld im Archiv der Rubrik Medien (2015)





Belagerung von Brüssel


Eine wilde Horde wütet gegen die Europäische Union, fordert deren Degradierung zum bloßen Wirtschaftsclub, erwägt sogar den Austritt Deutschlands aus dem Staatenverbund. Seltsamerweise wollen sich diese Berserker nächstes Jahr aber dennoch ins EU-Parlament wählen lassen, wo gut gefüllte Fleischtöpfe und gleichgesinnte Rassisten auf sie warten. Dass dieses schizophrene Verhalten hierzulande mehr und mehr Anhänger bzw. Befürworter an der Urne findet, belegt, dass es der AfD gelungen ist, die politische Auseinandersetzung auf ein inferiores Debattenniveau, geprägt von gärendem Hass und chauvinistischer Hybris, durch die kritischer Intellekt abgewürgt wird, zu drücken.


Reingehen und/oder abschaffen?


Sich Woche für Woche mit der AfD beschäftigen zu müssen, gehört angesichts des unterirdischen geistigen Potentials dieser Partei nicht gerade zu den publizistischen Lieblingsbeschäftigungen. Es ist aber absolut notwendig angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs des extremen Nationalismus und des Versagens des bürgerlichen Lagers, vor allem aber auch in Kenntnis der deutschen Geschichte. Wenn die AfD in den östlichen Teilen der Republik die Meinungsanfragen anführt, obwohl sie sich Pannen und Skandale am laufenden Band leistet, wenn landesweit jeder fünfte Wähler für die Rechtsradikalen votieren will, gewinnt der historische Appell an Aktualität: „Wehret den Anfängen!“


Wie absurd sich die widersprüchlichen Forderungen und Meinungen der Rechtsaußen-Partei zur EU darstellen, wurde auf einer „Europawahlversammlung“ anlässlich des Bundesparteitags der Ultranationalisten in Magdeburg deutlich. Nachdem mittlerweile die Anhänger Höckes und Weidels weitgehend unter sich sind, weil ihre zwar auch stramm rechten, aber noch bürgerliche Formen wahrenden Kontrahenten wie Meuthen oder Pauly desertiert sind, wabern Verschwörungstheorien und fremdenfeindliche Phantasien durch die Hallen. Dass von Alice im Wunderland der restaurativen Euphorie ein „Rückbau der EU-Kompetenzen“ und ein „Europa der Vaterländer“ propagiert wird, gehört noch zur abgestandenen Folklore, dass aber das Märchen vom „Großen Austausch“ der Bevölkerungsgruppen (kinderreiche Muselmanen rein, blonde Arier raus), den die „Eliten“ von Brüssel angeblich planen, sein Publikum findet, zeugt vom fortschreitenden Abbau geistiger Kompetenz im AfD-Spektrum.


Es lässt sich tatsächlich einiges gegen die EU vorbringen, der oft eher ein Europa der Konzerne als eins der Menschen vorzuschweben scheint, die zu lasch gegen Korruption in den eigenen Reihen vorgeht und nun auch noch den Anspruch erhebt, eine globale Militärmacht zu werden. Aber es gibt auch die EU des internationalen Jugend- und Bildungsaustausches, der kulturellen und infrastrukturellen Investitionen in sozial schwachen Regionen des Kontinents (auch in den Glasscherbenvierteln des Ruhrpotts oder des deutschen Ostens) und der friedlichen Begegnung einst verfeindeter Staaten. Dass Brüssel bei wichtigen Vorhaben, etwa der Implementierung strengerer Schadstoffnormen sowie den Verboten von Glyphosat und Verbennermotoren, teilweise oder total scheiterte, hatte es den Berliner Regierungen zu verdanken, die Deutschland als Klassenprimus im Umweltschutz präsentierten, aber tatsächlich als industriehörige Bremser auftraten.


Ganz ausbremsen möchte wiederum die AfD EU-Kommission und Europaparlament. Sie stritt sich nur, ob dies von außerhalb oder doch von den Abgeordnetenstühlen des Hohen Hauses aus geschehen sollte. Viele Parteimitglieder forderten den Dexit (Austritt Deutschlands aus der Union analog dem Brexit), konnten sich aber nicht durchsetzen. Vor allem Alice Weidel focht für den Verbleib, denn in Brüssel kommt die AfD an Ausschusssitze, Posten sowie Gelder, und sie kann zusammen mit anderen rechtsradikalen Parteien jedes humanitäre oder klimaschützende Vorhaben torpedieren. Bereits jetzt bilden die deutschen Extremisten eine Fraktionsgemeinschaft mit der österreichischen FPÖ, der italienischen Lega und Marie le Pens Rassemblement  National. Nun wollen sie der europäischen Xenophoben-Partei Identität und Demokratie beitreten.


Erst die Köpfe, dann die Inhalte


Dafür, dass sie aus tiefster Überzeugung Europa ablehnen, wollten erstaunlich viele AfD-Delegierte auf dem Parteitag das Ticket für 2024 nach Europa. Mehr als hundert bewarben sich für die Kandidatenliste der Wahlen zum EU-Parlament. Ein Kuriosum stellt dabei die Prioritätensetzung der Rechtspopulisten dar: Bevor überhaupt über das Wahlprogramm debattiert wurde, wählte man bereits die Bewerber um einen Sitz in Brüssel.


Wollte man sicher gehen, dass sich die skurrile Riege der Kandidaten nicht durch Unkenntnis der eigenen Schwerpunkte lächerlich machen konnte? Oder ließ man so  durchblicken, dass der AfD Inhalte und Projekte ziemlich egal sind, solange nur der brachiale Ton stimmt und man gemeinsam mit den Kumpels aus anderen Ländern die Arbeit des EU-Parlaments möglichst effektiv behindert.


Und tatsächlich schicken sich in etlichen Staaten des Kontinents Parteien an, unter dem Ruf „Festung Europa“ ihre Truppen nach Brüssel zu entsenden, um den Belagerungsring um die Mehrheitsfraktionen dort enger zu ziehen, auf dass diese ihre todbringende Flüchtlingspolitik noch weiter verschärfen. Ob in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien oder Skandinavien – allerorten sind die Propagandisten eines rein weißen Europas der Vaterländer auf dem Vormarsch. Und als Verbündete bieten sich auch noch die Regierungsparteien Polens und Ungarns an.


Keine sinnfreie Metapher und kein schiefer Vergleich sind den Rechtsradikalen zu abwegig, um Angst und Ressentiments zu schüren. Ein besonders putziges Beispiel für wirre AfD-Phantasien lieferte die erneut kandidierende EU-Abgeordnete Christine Andersson, als sie forderte, den Jahrestag der Schlacht am Kahlenberg von 1683 zum europäischen Gedenktag zu machen. Damals wurden die türkischen Truppen vor Wien entscheidend geschlagen. Die Identität der Völker des Kontinents sei heute ähnlich bedroht, argumentierte die arische Historieninterpretin und vergaß dabei, noch ein paar weitere  Jubiläen, die an die entscheidenden Niederlagen Hitler-Deutschlands erinnern würden, vorzuschlagen. Schließlich war die NS-Bedrohung für ganz Europa wesentlich gravierender gewesen als die durch den osmanischen Feldzug.


Personal des Grauens


Was das Gerangel um die vorderen Listenplätze anging, zeigte sich, dass  ohne das Plazet des Thüringer Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke (den man als Nazi bezeichnen darf, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen) nichts ging. Sowohl der letztendlich erneut zum Spitzenkandidaten gewählte Maximilian Krah als auch dessen potentieller Konkurrent René Aust genießen das Wohlwollen des ungekrönten AfD-Führers.


Dabei ist Krah auch in der eigenen Partei und in der rechten EU-Fraktion Identität und Demokratie nicht unumstritten. Kritiker werfen ihm vor,  Vergabeverfahren manipuliert zu haben. Von seiner Fraktion wurde er deshalb zweimal suspendiert. Seine Nähe zu dem extremistischen Publizisten Götz Kubitschek, Chef des völkischen Antaios Verlags und Vertrauter von Björn Höcke, wird mit Sorge gesehen, bietet sie den Medien und politischen Gegnern doch ein veritables Angriffsziel.


Aber man findet in der AfD ohnehin kaum unbelastete, integer scheinende Repräsentanten. Also lautet die Devise der Partei auch vor den EU-Wahlen: Augen zu und durch zu den Sitzen und Pfründen von Brüssel! Armes Europa…
08/2023
Dazu auch:
Bräunliches Europa im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022) Verblödungstheorien im Archiv der Rubrik Medien (2019)






Nachhaltige Killer


Die „Mutterbombe“ explodiert in der Luft und verstreut Hunderte kleiner ball- oder keulenähnlicher Sprengkörper über ein ziemlich weites Terrain. Von diesen detoniert ein Teil beim Aufprall auf dem Erdboden sofort, die anderen graben sich ins Erdreich und verharren dort als „Blindgänger“, bis ein Mensch oder ein Tier auf sie tritt. Dann zerfetzen feine Splitter Haut oder Fell und Gewebe. Streumunition zählt zu den perfidesten und folgenschwersten Kampfmitteln der konventionellen Kriegsführung. Und sie kann noch Jahrzehnte nach einem Konflikt töten.


Bombis für die Ukraine


US-Präsident Joe Biden hatte eine – zumindest aus seiner Sicht – frohe Botschaft für die Ukraine parat: Zwar werde langsam auch in den Vereinigten Staaten die Munition knapp, doch man könne dem osteuropäischen Land Streubomben liefern – eine Nachricht, die in Kiew begrüßt wurde, während sie in anderen Teilen der Welt Entsetzen auslöste und bittere Erinnerungen weckte.


Im Oslo-Übereinkommen von 2008 war Streumunition von 123 Staaten geächtet worden, von denen bislang 111 das Verbot ratifiziert haben. Mehr als 30 weitere Länder unterstützten 2020 im Rahmen einer UN-Deklaration die Inhalte der Vereinbarung im Grundsatz. Nicht zu den Unterzeichnern zählen die USA, Russland und die Ukraine. Die beiden letzteren Staaten haben gemäß Berichten von Journalisten und NGOs im gegenwärtigen Krieg bereits Streumunition eingesetzt, jetzt soll die Büchse der Pandora mit Hilfe Washingtons ganz weit geöffnet werden.


Warum aber setzt man eine Waffe ein, die nicht auf gezielte Liquidation des Feindes geeicht ist, sondern mittels Sprengkörpern, von denen jeder bis zu hundert Unterbomben, von den GIs in Indochina einst verniedlichend bomblets oder bombis („Bömbchen“) getauft, enthält, die ein Stück Land unterschiedslos für Tiere und Menschen, Militärs und Zivilisten unpassierbar machen sollen? Es sind vor allem die Blindgänger, durch die ein Areal zur Todesfalle wird, nicht nur während des Krieges, sondern noch für Jahrzehnte danach. Die Organisation Handicap International erklärte, 98 Prozent der von den Auswirkungen der Streubomben betroffenen Menschen seien Zivilisten, darunter 27 Prozent Kinder.


Washington beschwichtigt mit einer Notlüge, und die Ukrainer kommen der US-Administration mit einer Zusage, die unmöglich einzuhalten ist, zu Hilfe: So soll nur Streumunition geliefert werden, die eine Blindgängerrate von weniger als 2,35 Prozent aufweise. Kiew wiederum versprach, die Waffe nur dort zu nutzen, wo keinerlei Gefahr für Zivilisten bestehe. Um das zu garantieren, müsste man die Bomben auf dem Meeresgrund oder in tiefen Bergwerkschächten explodieren lassen oder das Betreten von Wegen, Weiden und Feldern im Großteil des umkämpften Gebiets für immer verbieten. Die Mär von den ziemlich „sicheren“ Streubomben widerlegte indes John Ismay in den New York Times: Die tatsächliche Blindgängerrate bei der an die Ukraine gelieferten Munition liegt demnach bei über 14 Prozent.


Eine Warnung aus Kambodscha


Als der große Scheinheilige auf dem Bundespräsidentensessel erweist sich auch diesmal Frank-Walter Steinmeier. Noch in seiner Funktion als Außenminister der Merkel-Regierung hatte er 2008 das Abkommen von Oslo zur Ächtung von Streumunition für Deutschland unterzeichnet. Jetzt windet sich der seltsam wählerische Moralist aus eigenen Gnaden um eine klare Ablehnung des üblen Deals herum. Man könne „in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen“, erklärte er, was Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung zu einem eindeutigen Kommentar veranlasste: „Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußert sich vertragsbrüchig und feige.“


Ein Bundespräsident im Erklärungsnotstand: "Was schert mich eine Unterschrift von 2008? Unsere amerikanischen und ukrainischen Freunde werden schon wissen, was sie tun - vielleicht aber auch nicht. Und die Russen erst recht nicht!"


Aus dem Chor der vielen internationalen Stimmen, die Bidens fatale Entscheidung offen kritisierten, klang die Stimme eines Mannes, für den Streubombeneinsätze nicht infernalische Theorie, sondern gelebte Realität sind, heraus. Kambodschas Regierungschef Hun Sen, der sich einst von Pol Pot losgesagt und an der Seite der Vietnamesen die Terrorherrschaft der Roten Khmer beendet hatte, veröffentlichte einen Appell an die „Handelspartner“ in Washington und Kiew:


„Aus Mitgefühl mit dem ukrainischen Volk rufe ich den US-Präsidenten als Lieferanten und den ukrainischen Präsidenten (Wolodymyr Selenskyj) als den Empfänger auf, Streubomben in dem Krieg nicht zu verwenden, weil die wahren Opfer die Ukrainer sein werden.“


Hun Sen hatte miterleben müssen, wie sein Land während des Vietnamkriegs von den USA regelrecht mit Streubomben vermint wurde. Zehntausende von Menschen wurden getötet oder verstümmelt. Mehr als ein halbes Jahrhundert später lägen immer noch Sprengkörper im kambodschanischen Boden, schrieb er.


Noch wesentlich schlimmer traf es damals den Nachbarstaat Laos. Ohne den Krieg offiziell erklärt zu haben, überzogen die Vereinigten Staaten das nur 240.000 Quadratkilometer große Land mit dem dichtesten Bombenhagel der Geschichte. Zwischen 1964 und 1973 warf die US-Luftwaffe über zwei Millionen Tonnen Sprengsätze auf Laos ab – mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg auf alle Feindstaaten zusammen. Als ich Ende 2012 dort war, also vier Dekaden nach dem Ende des Krieges, starben immer noch Jahr für Jahr mehr als hundert Menschen durch explodierende bombis, die im Ackerboden oder im Gebüsch unentdeckt geblieben waren.


In der kleinen Provinzhauptstadt Phonsavanh am Rande der Ebene der Tonkrüge, Schlachtfeld und Kulturerbe zugleich, das aus der Luft flächendeckend vermint worden war wie keine andere Gegend der Welt, sprach ich im Hauptquartier der Mines Assesory Group (MAG) mit dem dortigen Leiter. Die britische Organisation, die auch schon für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, räumt auf den Kriegsschauplätzen der Erde Sprengkörper und kümmert sich um die medizinische sowie berufliche Rehabilitation überlebender Bombenopfer. Auf meine Frage, wann Laos wohl minenfrei sein werde, antwortete der Mann von MAG: „Vielleicht in zweihundert Jahren.“


Das perverse Kalkül


Warum also wird von einer kriegführenden Partei eine Waffe eingesetzt, deren Wirkung in erster Linie Zivilisten, möglicherweise auch die eigenen Leute schädigt und die noch Jahrzehnte nach dem Krieg eine Gefahr für Leib und Leben darstellt? Warum sollten die russischen Streitkräfte Cherson und Teile der Ostukraine verminen, nur weil der Feind sie nach der Invasion zurückerobert hat? Laut Putin handelt es sich doch um russische Heimat? Warum sollte wiederum die ukrainische Armee eigenes Land für unabsehbare Zeit in einen Todesstreifen verwandeln, nur um einen russischen Vorstoß zu stoppen?


Das Faible für Streumunition entspringt perverser militärisch-strategischer Logik: Die Bombensplitter töten viele Menschen, aber sie verstümmeln noch mehr. Verkrüppelte Opfer aber bedeuten für ein Land im Notstand eine größere Belastung als Tote; sie müssen medizinisch versorgt und möglicherweise lebenslang betreut werden. Auf die Bevölkerung wirkt ihr Anblick im Straßenbild deprimierend, während die Gefallenen nur in Verlustlisten aufscheinen, quasi lediglich die Ruhe der Angehörigen stören. Zudem leben die Menschen, ob sie nun als Bauern auf dem Feld arbeiten, oder ihre Autos über abgelegene Straßen steuern, in einem Gefühl permanenter Bedrohung und existenzieller Verunsicherung.


Um den Feind zu demoralisieren, wird ohne Rücksicht (auch auf eigene) Verluste Menschen- und Kriegsrecht gebrochen. Dass die durch den Einsatz von Streumunition entfesselte Gefahr auch nach einem Waffenstillstand oder Friedensschluss nicht vorbei ist, wird dabei billigend in Kauf genommen. Die ukrainische (aber auch die russische) Führung sollte Hun Sens Appell sehr genau lesen. Ich fürchte jedoch, genau das wird nicht passieren.
07/2023
Dazu auch:
Dossier Tatort Indochina - Laos: Die Verminung der Zukunft in der Rubrik Politik und Abgrund







Mindestalmosen


Bislang fiel Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, nicht so unangenehm wie etliche Kabinettskollegen auf, etwa durch Tölpelhaftigkeit (Habeck), Naivität und Penetranz (Baerbock) oder Lobbyismus im Amt (Lindner, Wissing). Doch jetzt hat auch der SPD-Politiker im Rahmen der Mindestlohnsteigerung für 2024 eindrucksvoll bewiesen, dass in der Berliner Regierung starken Worten selten entsprechende Taten, sondern meist Torheiten folgen.


Eine Erhöhung, die noch ärmer macht


Was Bundeskanzler Scholz in seinem Faible für Infantil-Sprache als „Doppelwumms“ bezeichnet hätte, kündigte Heil vor wenigen Wochen gegenüber dem Leib- und Magenblatt führender Sozialdemokraten, der Bild am Sonntag, in wohlgesetzten Worten an: Die „ordentlichen Tariferhöhungen“ der letzten Zeit sowie die Inflation sollten sich in einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns niederschlagen. „Arbeit muss sich wieder lohnen!“ forderte der Minister kämpferisch.


Na ja, in erster Linie wird sie sich weiter für die Arbeitgeber rentieren, denn trotz der Forderungen von Sozialverbänden, das niedrigste noch statthafte Entgelt wenigstens von 12 auf 14 Euro anzuheben, gibt es ab 1. Januar 2024 lächerliche 41 Cent mehr für die Ärmsten unter den sozialpflichtig Beschäftigten. Ein Jahr später soll es noch einmal derselbe Betrag obendrauf sein, damit sich Malocher mit einem Stundenlohn von 12,82 brutto auch 2025 wieder gesundes Bio-Essen, erholsame Urlaubsreisen und ambitionierte Bildungsausgaben leisten können…


Eingebrockt hat uns diese soziale Unverschämtheit, die von der Bundesregierung zügig umgesetzt wird, eine im Gesetz vorgesehene fünfköpfige Mindestlohnkommission, der je zwei Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter angehören. Können diese sich nicht auf eine gemeinsame Empfehlung in puncto Höhe der Anhebung einigen (wie im aktuellen Fall geschehen), entscheidet der oder die Vorsitzende des Gremiums, derzeit die Juristin Christiane Schönfeld.


Obwohl 2004 von der SPD in die Bundesversammlung zur Wahl des Präsidenten unseres Landes entsandt, scheint sie doch eher den nationalen Kapitaleignern zuzuneigen. Jedenfalls wurde sie vor vier Jahren auf Vorschlag der Arbeitgebergruppe vom Verwaltungsrat in den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit gewählt. So erscheint es logisch, dass sie sich in der Frage der künftigen Kleinverdiensthöhe auf die Seite der Bosse schlug, deren bloße Anwesenheit in der Kommission ohnehin so manchen Laien verwundert: Gäbe es doch nach deren Gusto überhaupt keinen Mindestlohn – und damit auch keine Steigerung desselbigen.


Hubertus Heil zeigte sich enttäuscht über die Knausrigkeit, berief sich aber auf das Mindestlohngesetz, dem zufolge die Bundesregierung nur den Vorschlag der Kommission umsetzen könne, wenn nicht jegliche Erhöhung ausfallen solle. Wie wir später sehen werden, entsprang diese Behauptung entweder einem partiellen Gedächtnisverlust oder dem latenten Hang zur politischen Notlüge.


Simple Rechnungen


Dass 82 Cent mehr pro Stunde über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg nur eine nummerische Erhöhung des Lohns, de facto aber eine spürbare Verschlechterung der Lebenssituation für Geringverdiener darstellen, lässt sich leicht ausrechnen.


Ab 1. Januar 2024 sollen nun die Mindestlöhne für die Dauer eines Jahres um 41 Cent aufgestockt werden. Dies entspricht einer Erhöhung um etwa 3,4 Prozent. Für dieses Jahr wird aber eine durchschnittliche Inflationsrate von sechs Prozent erwartet, die auch 2024 kaum nennenswert zurückgehen wird. Dies bedeutet, dass sich für gut sechs Millionen Wenigverdiener die Situation weiter verschlechtern wird.


Noch deprimierender gestaltet sich die Perspektive für 2025: Dann steigen nach den jetzigen Plänen die Mindestlöhne von 12,41 auf 12,82 Euro. Das sind nur noch 3,3 Prozent mehr, während allenfalls die leichtsinnigsten Marktoptimisten für das übernächste Jahr eine Inflation von unter 4 Prozent erwarten. Statt langsam Anschluss an den unteren Mittelstand  zu finden, wird sich für die Bezieher prekärer Löhne die Lücke vergrößern, sie verlieren an Kaufkraft, und ihre Renten werden dereinst immer dürftiger ausfallen.


Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Nach Abzug von Miete oder Energiekosten bleibt ärmeren Arbeitnehmern ein bescheidener Betrag, den sie zum großen Teil für Lebensmittel ausgeben müssen. Genau aber hier liegt die Inflationsrate locker im zweistelligen Prozentbereich. Zwar trifft die Teuerung alle Bürger, aber für Menschen, die sich nur das Nötigste leisten können, fällt sie doppelt hart aus.


Den Heil in Ausflüchten suchen…


Er hätte gern einen höheren Mindestlohn gesehen, doch die böse Kommission habe nicht mitgezogen, und so seien ihm die Hände gebunden, lamentiert Hubertus Heil und wäscht damit seine Zunge in einer Unschuldsbehauptung, die sich als schlicht falsch erweist. Im § 11 des einschlägigen Gesetzes ist nämlich lediglich vom Vorschlagsrecht des Gremiums die Rede: „Die Bundesregierung kann die von der Mindestlohnkommission vorgeschlagene Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates für alle Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbindlich machen.“


Die Regierung kann der Empfehlung der Kommission folgen, aber sie muss nicht. Die Ampelkoalition hat schon einmal bewiesen, dass sie das seltsam zusammengesetzte Quintett einfach ignorieren kann, wenn sie denn will: Zum 1. Oktober 2022 erhöhten SPD, Grüne und FDP den Mindestlohn von 10,45 auf 12 Euro, und zwar ohne das Votum der Kommission einzuholen. Geht doch!


Angesichts des Unmuts der Betroffenen und Sozialverbände und des Umstands, dass die Sozialdemokraten in den Meinungsumfragen mittlerweile nur noch die Schlusslichter des AfD-Express sehen, fordert der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil nun eine deutlichere Anhebung des Mindestlohns im nächsten Jahr. Jetzt fällt den Genossen plötzlich ein, dass die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung die Europäische Mindestlohnrichtlinie reißt, und sie reden unversehens von 13,50 bis 14 Euro pro Stunde. Es steht aber zu befürchten, dass für die Partei angesichts  ihrer falschen und fahrlässigen Weichenstellungen der Zug schon abgefahren ist.
07/2023
Dazu auch:
Ein Traum von Heil im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)






Armselige Moralisten


Die InnenministerInnen der EU-Staaten haben nach schier endlosem Gezerre einen Kompromiss zum Umgang mit Flüchtlingen vereinbart. Um es vorwegzunehmen: Humaner wird die Behandlung von Asylsuchenden keineswegs, eher schreitet der Ausbau der „Festung Europa“ ohne Rücksicht auf Verluste (menschlichen Lebens) voran. Die zuständige deutsche Ressortleiterin Nancy Faeser nennt die Einigung trotzdem „historisch“. Das ist in gewissem Sinne nicht ganz falsch, erreicht doch die Raffinesse, mit der internationales Recht gebeugt wurde, eine beinahe geschichtliche Dimension.


Gefängnisse am Rande unserer Welt


Für einen faulen Kompromiss hebelten die EU-InnenministerInnen in Luxemburg die völkerrechtlich verbindliche Genfer UN-Konvention von 1951 aus – vorgeblich, um Verfahren zu vereinfachen und Asylsuchende gerechter auf die Länder der Union verteilen zu können; tatsächlich aber, um sie noch effektiver vom Gebiet der EU fernzuhalten.


Die Konvention schreibt vor, dass Menschen als Flüchtlinge anzuerkennen sind, wenn sie in ihrer Heimat wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Da werden doch einige Gründe für erzwungene Emigration angeführt, die von den Behörden der EU-Länder Fall für Fall geprüft werden müssten. Doch stattdessen hat man sich in Luxemburg darauf verständigt, ziemlich willkürlich den Katalog sicherer Herkunftsländer zu erweitern und dadurch eine „Vorauswahl“ zu treffen, welche Ankömmlinge denn überhaupt auf Asyl hoffen können.


Das Bundesamt für Migration führt außerhalb des EU-Bereichs namentlich nur fünf Länder des Balkan sowie Ghana und den Senegal in Afrika als „sichere Herkunftsstaaten“ auf, doch mit einem Trick wurde die Liste nun de facto erweitert: Flüchtlinge aus Ländern mit einer Asyl-Anerkennungsquote von unter 20 Prozent dürfen jetzt auch nicht mehr offiziell in die EU einreisen. Vielmehr werden sie in bewachten Lagern an den Grenzen (also im „Niemandsland“) drei Monate lang interniert und dann meistenteils (nach sicherlich nicht sehr gründlichen) Schnellverfahren abgeschoben. Asylbewerber aus Indien oder der Türkei etwa haben so kaum mehr eine Chance. Die politischen Systeme in ihrer Heimat ähneln schließlich zumindest formal bürgerlichen Demokratien, und ihre Gerichtsbarkeit funktioniert einigermaßen.


Dass in der Türkei kurdische Politiker und NGO-Mitarbeiter nach fadenscheinigen Verleumdungen ins Gefängnis wandern und dass in Kaschmir und in Regionen von indigenen Bevölkerungsgruppen mit Billigung der indischen Justiz gefoltert wird, ficht die Grenzschützer in den EU-Regierungen nicht an.


Offenbarungseid der Grünen?


Da Deutschland keine EU-Außengrenzen und keine für Fluchtrouten relevante Meeresküsten aufzuweisen hat, profitiert es von dieser Regelung. Weniger Menschen werden sich nach München oder Berlin durchschlagen, wo sie dann – ungeachtet ihrer tragischen Vergangenheit oder ihres Integrationswillens – die zweiprozentige Anerkennungschance als Asylberechtigte wahrnehmen können. Nancy Faeser, die klaglos die Ablehnung der deutschen Alibi-Forderung, Familien mit Kindern sollten von der Schnelljustiz ausgenommen werden, durch die Ministermehrheit hinnahm, frohlockt derweil, dass nun die „Grenzen in Europa offen bleiben können“ für einen Reiseverkehr ohne Grenzkontrollen. Problemloser Tourismus scheint in unserem schönen neuen Europa menschliches Elend locker auszustechen.


Der SPD-Führungsspitze ist die Orientierung an Menschenrechtsgrundsätzen schon längst abhanden gekommen, die Grünen, die einst für globale Gerechtigkeit antraten, jetzt aber von bigotten Zeigefinger-Moralisten wie Baerbock und Habeck dirigiert werden, stehen allerdings vor einer Zerreißprobe. Und Amnesty International (AI) streute einen Tag nach der Einigung von Luxemburg Salz in die offene Wunde: „Gestern hat die deutsche Bundesregierung der vollständigen Aushöhlung des europäischen Flüchtlingsschutzes zugestimmt. Was bedeutet, dass zukünftig sogar Kinder an den europäischen Außengrenzen inhaftiert werden können!“ (Hervorhebungen von AI)


Damit nimmt die Menschenrechtsorganisation auch die Grünen als willige Koalitionspartner in die Verantwortung. Und deren Führung ist durchaus gespalten. Während Robert Habeck und Annalena Baerbock bereit sind, alle Zumutungen durch Scholz, die FDP und jetzt durch die reaktionäre EU-Ländermehrheit hinzunehmen und grüne Prinzipien ohne nennenswerten Widerstand im Rekordtempo aufzugeben, nur um weiter mit Herr und Frau Minister angesprochen zu werden, wenden sich die Co-Parteichefin Ricarda Lang und die Co-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge vehement gegen die inhumane „Reform“ des Asylrechts. Die Tandem-Partner der beiden Letztgenannten, Omid Nouripour und Britta Haßelmann, werben wiederum für das Mogelpaket. Widerstand haben dagegen Prominente auf dem Abstellgleis wie Jürgen Trittin und Anton Hofreiter angekündigt.


Am Ende wird es wohl wieder zu einem kleinen Sturm im Wasserglas kommen, der alsbald abebbt, ohne Spuren zu hinterlassen. Denn während die Hoffnung traumatisierter Menschen auf eine Zukunft in Sicherheit zwischen Stacheldrahtzäunen enden wird, haben sich die Grünen längst an das kuschelige Gefühl gewöhnt, noch ein wenig länger an der Macht teilhaben zu dürfen.


Unsägliche Angst vor der AfD


Dass die Abschottungspolitik der Bundesrepublik und der EU latente rassistische Merkmale aufweist, wurde erst letztes Jahr deutlich: Als Millionen Menschen aus der von Putins Truppen überfallenen Ukraine in den Westen flohen, wurden sie in Ländern, die sich sonst weigern, auch nur Hundertschaften von Flüchtlingen aufzunehmen, willkommen geheißen. Man bemühte sich, die Neuankömmlinge angemessen unterzubringen, stellte ihnen sofort Arbeitsgenehmigungen aus und beseitigte, wo immer möglich, die bürokratischen Hemmschwellen.
Davon konnten Millionen von Jemeniten, Sudanesen oder Afghanen, die zur gleichen Zeit einer noch wesentlich bedrohlicheren Situation in ihren Ländern entkommen wollten, nur träumen. Die Gründe für die Ungleichbehandlung? Falsche Heimat, falsche Hautfarbe, falsche Religion…


Bleibt die Frage, warum die Bundesregierung ohne erkennbare Not einer so offenkundig misanthropischen EU-Lösung der Asylrechtsfrage zugestimmt hat. Und es ist wieder Innenministerin Nancy Faeser, die – wohl eher unabsichtlich – den triftigsten Grund ausplappert:


„Dass Europa lange handlungsunfähig wirkte, hat nicht nur der AfD, sondern Rechtspopulisten in vielen Ländern genützt. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir den Rechten mit gemeinsamen europäischen Lösungen Wind aus den Segeln nehmen.“


Das also ist der schlaue Plan! Um den Ultra-Nationalisten, Neonazis und Ethno-Puristen künftig Wählerstimmen wegzunehmen und das Wasser der völkischen Denkungsart abzugraben, setzen die Regierungen einfach deren Forderungen um. Armes Europa…
06/2023
Dazu auch:
Sichere Herkunft im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2015)







Die UNO gegen Scholz


Endlich hat er wieder einen echten Scholz losgelassen: Unser oft so wortkarger und blasser Kanzler schaut dem Volk immer dann aufs Maul, wenn es gerade geifert, und biedert sich ihm dann geschickt an. Die Klimaschützer der Letzten Generation mit ihren unkonventionellen Protestmethoden seien „völlig bekloppt“, erklärte der Regierungschef apodiktisch und muss sich nun wundern, dass sogar die Vereinten Nationen das ein wenig anders sehen.


Wer sich Sorgen macht, ist doof


Schauen wir uns Form und Aussage der Scholz’schen Analyse näher an. Zunächst fällt auf, dass der Kanzler, der sonst nicht zu den feurigsten Rhetorikern des noch jungen Jahrtausends gezählt wird, bei den ihm wichtigen Feststellungen auf eine regressive, dem Milieu der Halbstarkenszene oder dem Comic-Universum entlehnte Sprache verfällt. Da wummst oder doppelwummst es, und da wird zur Bazooka gegriffen. Und wenn sich Umweltschützer angesichts einer schockierenden Gleichgültigkeit von Politik und Gesellschaft gegenüber der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu unorthodoxen Aktionen gezwungen sehen, die den heiligen Individualverkehr und unseren Dauerschlaf zu stören drohen, dann sind sie halt bekloppt.


Zum Glück ist Verblödung bzw. Dummheit hierzulande ziemlich selten anzutreffen – zumindest in der von Scholz definierten Form. Für die Verantwortlichen in der Bundesregierung können wir sie jedenfalls ausschließen. Wir wollen festhalten, dass deren gelegentliche Aussetzer eher dem Übereifer als ihrer geistigen Insuffizienz entspringen.


So war es keineswegs doof, sondern nur ein bisschen voreilig, dass die Außenministerin aus Versehen Russland zweimal den Krieg erklärte. Dass ihr Parteikollege im Wirtschaftsressort seine halbe Entourage mit Posten versorgte und diese auch noch Freunde sowie Verwandte mit alimentierte, kann nicht als Zeichen für Beklopptheit, sondern nur als Beleg einer symbiotischen Beziehung gedeutet werden. Und dass der Verkehrsminister alle Pflichten zur Energieeinsparung ignorierte und stattdessen die Versiegelung der Restlandschaft durch weitere Autobahntrassen durchsetzte, war natürlich kein umweltpolitischer Amoklauf eines Vollidioten, sondern wohldurchdachte Taktik. Er hat ja im Nachhinein vom Kabinett Recht bekommen.


Wäre da noch Kanzler Scholz selbst: Dass er sich nicht mehr an die Inhalte von gemütlichen Gesprächen mit hanseatischen Steuerbetrügern erinnern kann, hat nichts mit Debilität zu tun, sondern eher mit deutscher Schlagerweisheit. „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist…“


Nein, bekloppt sind die anderen, die partout den üblichen Gang der Dinge blockieren wollen, nur weil sie zusammen mit vielen Wissenschaftlern der Meinung sind, dieser Gang führe vor die Hunde.


Wie illoyal von der UN-Spitze!


Wie verdutzt muss der deutsche Regierungschef gewesen sein, als er realisierte, dass nicht alle Mächtigen der Welt seine Meinung teilen. Stephane Dujarric, Sprecher des umweltbewegten UN-Generalsekretärs Guterres, sagte in New York nach der Razzia gegen die Letzte Generation: „Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt, und wir brauchen sie jetzt mehr denn je.“


Zwar hatte er auch für die staatlichen Rächer der durch Demonstranten ausgebremsten SUV-Fahrer den kleinen Trost parat, dass Regierungen trotz des Grundrechts auf friedliche Demos die Verantwortung hätten, Gesetze durchzusetzen und die Sicherheit zu gewährleisten, doch in der Sache stellte sich der UN-Repräsentant hinter die Klimaschützer. Sie hätten in „entscheidenden Momenten maßgeblich dazu beigetragen, Regierungen und Wirtschaftsführer dazu zu bewegen, viel mehr zu tun“.


Das passt dem kühl berechnend und ein wenig populistisch polternden Scholz nun gar nicht in den Kram. Da hält er sich doch lieber an seine zornigen deutschen Volksgenossen (Gendern ist in solchen Kreisen verpönt).


Wie die Untertanen den Chef mögen…


Gemäß einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für das Medienhaus Table.Media halten 82 Prozent der Befragten die Aussage, die Aktionen der Letzten Generation seien „völlig bekloppt“, für richtig. Nur 15 Prozent finden sie falsch.


Im Klartext: Den Klimaschützern ist es tatsächlich gelungen, auf die existenziellen Probleme, die sich aus der Erderwärmung und dem Dilettantismus der zuständigen Politiker ergeben, aufmerksam zu machen. Zum Dank dafür werden sie kriminalisiert (Union) oder als Volltrottel diffamiert (Scholz).


Die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger stört eine kurzzeitige Verkehrsblockade mehr als der marode Zustand des Planeten. Und wie so oft in der Geschichte wird der Überbringer der schlechten Nachricht abgeurteilt. Scholz hat sich die Volksmeinung genau angehört und anschließend beifallheischend nachgeplappert. So mögen die Deutschen ihren Kanzler.
06/2023
Dazu auch:
Gas- und Waffenmakler im Archiv der Rubrik Medien (2023) 

Das empörte Volk im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)





Falsche Baustelle


Wie für eine bürgerliche Demokratie üblich, ist die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat. Das heißt nicht unbedingt, dass es allerorten gerecht zugeht, sondern dass es mehr oder minder klar formulierte Regeln und eine relativ unabhängige Rechtsprechung gibt. Von Zeit zu Zeit wird vom Justizministerium an den Gesetzen herumgedoktert, d. h. es werden Stellschrauben angezogen, Geltungsbereiche verändert oder Anwendungen entschärft. Solches hat sich nun FDP-Justizminister Marco Buschmann vorgenommen, und zwar beim Delikt der Fahrerflucht. Die Intention des Vorhabens, die Reaktionen sowie die Frage nach der Relevanz des Sujets lassen allerdings vermuten, dass an der falschen Baustelle gearbeitet wird.


Reparaturbedarf vorhanden


Im FDP-Regierungsteam sind die Rollen von Christian Lindner und Volker Wissing klar. Beide stehen im Blickpunkt der Öffentlichkeit, als Sparer, Bremser und Verhinderer, wobei der Verkehrsminister für viele die Rolle des Umweltfrevlers und für einige den Part des Freiheitshelden übernommen hat, während der Chef des Finanzressorts den staatstragenden Buchhalter gibt. Im Hintergrund und fern des Medieninteresses werkelte Marco Buschmann im Justizministerium, bis vor kurzem wusste allerdings niemand, woran.


Dabei gäbe es einiges zu reparieren, zu justieren und zu präzisieren in der deutschen Gesetzgebung. Wie kann die Steuergerechtigkeit verbessert und die Ahndung von Hinterziehung sowie Betrug im Finanzbereich verschärft werden (wohl ein frommer Wunsch bei einem Cum-Ex-Kanzler)? Wie ist darauf zu reagieren, dass die Bundesrepublik die von der WHO vorgeschriebenen Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft weiter missachtet, was – wie die Europäische Umweltagentur mahnt – den Tod von Kindern und Jugendlichen verursachen kann, vor allem aber auch deren Lebenserwartung senkt? Ein Justizminister könnte die zuständigen Ressorts, etwa für Umwelt oder Verkehr, zur Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen anhalten und ihnen fachliche Unterstützung anbieten.


Und er könnte die Strafgesetze für die notorischen Umweltsünder in der Automobilindustrie erheblich verschärfen, damit Konzernchefs, die, per Manipulation bei Emissionstests, die Gesundheit anderer Menschen vorsätzlich schädigen, nicht mit Bagatellstrafen davonkommen. Stattdessen aber ist der scheue Marco Buschmann jetzt mit einem Vorhaben ins Rampenlicht getreten, das eine Änderung der Rechtsprechung im Verkehrsbereich vorsieht. Nur wird man das Gefühl nicht los, der Justizminister hat eine seltsame Vorstellung von Prioritäten sowie Notwendigkeit, und er wird auf der falschen Baustelle aktiv.


Von der Straftat zum Kavaliersdelikt?


Wie sein Ministerium verlauten ließ, möchte Buschmann den Tatbestand der Fahrerflucht zumindest teilweise entkriminalisieren. Bislang musste der Verursacher einer Karambolage im Straßenverkehr „eine angemessene Zeit am Unfallort“ warten, bis der Geschädigte oder die Polizei eingetroffen war. Entfernte er sich und hinterließ nur eine Notiz oder auch gar nichts, drohten ihm Geldstrafen, ja sogar bis zu drei Jahren Haft. Jetzt soll es reichen, wenn der Übeltäter Meldung über eine noch zu standardisierende Online-Maske erstattet oder einfach einen Zettel (mit hoffentlich lesbaren Infos zum Unfall) am demolierten Fahrzeug anbringt. Dies gilt allerdings nur, wenn kein Personenschaden entstanden ist.


Der Gegenwind ist heftig. Die Versicherer erinnern daran, dass „Unfallursache und –hergang sich zweifelsfrei feststellen“ lassen müssen. Zudem lässt sich bei Abwesenheit des Verkehrssünders nicht klären, ob Alkohol oder Drogen im Spiel waren. Der Deutsche Richterbund sieht keinen Grund dafür, „das unerlaubte Entfernen vom Unfallort in Fällen ohne Personenschaden zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen“. Und die Grünen-Rechtspolitikerin Canan Bayram unterstellt Buschmann schlicht, eine „Nebelkerze“ gezündet zu haben.


Bleibt die Frage: Warum kündigt der Bundesjustizminister ein Reförmchen an, nach dem niemand gerufen hat? Eine möglicher Grund könnte in seiner politischen Heimat liegen: Die FDP ist eine Autofahrerpartei, und dazu besonders wählbar für die Halter teurer Vehikel. Für die wiederum ist es schwer erträglich, dass ein SUV-Fahrer, der einen dringenden Termin bei seinem Makler oder Banker hat, seine kostbare Zeit mit Warten auf die Polizei vergeuden muss, nur weil er beim Einparken ein Fahrrad plattgemacht oder vielleicht beim Abdrängen eines impertinenten Kleinwagens eine Karambolage verursacht hat – ein Vorgang, der, als Stoßstangen noch Stoßstangen und nicht Zierleisten waren, als normale Praxis durchgegangen wäre.


Arme Kriminelle und nachlässige Reiche


Marco Buschmann möchte also Nachlässigkeit bzw. Zeitnot der Wohlhabenden nicht länger als Straftatbestand bewerten. Zur gleichen Zeit werden Petitionen am alternativen Ende der Gesellschaft gestartet, ein anderes Vergehen zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen und damit zu entkriminalisieren, nämlich das Schwarzfahren. Doch dazu schweigt der Liberale, hier geht es schließlich nicht um die klassische FDP-Klientel.


Wenn jemand, der sich freie Beförderung im ÖPNV erschlichen hat, erwischt wird, erhält er eine Geldstrafe. Kann der Schwarzfahrer diese nicht bezahlen, ist ersatzweise eine Gefängnisstrafe möglich. Gerät ein Fahrgast mehrmals ohne Ticket in Kontrollen, droht ihm sogar bis zu einem Jahr Knast. „Ein Bußgeld ist ausreichend“, sagt u. a. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Heinemann von den Grünen.


Nun würden die Liberalen vielleicht argumentieren, dass in den meisten Fällen mit Vorsatz schwarzgefahren wird, während der Unfallflüchtige den Blechschaden ohne Absicht verursacht hat. Dem könnte man entgegenhalten, dass der Zahlungsunfähige oder –unwillige in Bus, Tram oder U-Bahn weder eine Gefahr für den Straßenverkehr darstellt, noch Schäden verursacht, der Kollisionsverursacher aber schon. Um noch weiter zu gehen: Fordern nicht Mittellose per Schwarzfahren das Recht auf öffentliche Mobilität im Sinne der Inklusion ein? Doch diese Sichtweise wird sich wohl erst dann durchsetzen, wenn keine SUVs mehr die Straßen beherrschen und die FDP Geschichte ist.
05/2023
Dazu auch:
Deutsche Autofahrer im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2017)






Milliardengrab Süd


Bau der S-Bahn-Stammstrecke 2 in München – klingt nicht unbedingt spektakulär, zumal die City lediglich zehn Kilometer lang unterquert werden soll. Doch die nüchterne Benennung steht für das derzeit größte Infrastrukturprojekt der Bundesrepublik, dessen Kosten sich vom ersten Voranschlag bis zur jüngsten Bestandsaufnahme mindestens verdreifacht haben; das aber möglicherweise noch so teuer wird, dass es am Ende den Berlin-Brandenburger Flughafen (BER) und das schwäbische Bahn-Desaster Stuttgart 21 in der Hitliste der Pannen und Fehlkalkulationen überflügeln könnte.


Die Vier von der Baustelle


Da hatten sich 2016 aber auch vier glorreiche Stümper zur Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung für den Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke zusammengefunden: die Deutsche Bahn, die schon bei jedem Wetter überfordert ist, als Bauherr; der Bund mit seinem federführenden Verkehrsministerium, das seit Generationen von Autolobbyisten mit mehr Benzindämpfen als grauen Zellen im Hirn befehligt wird; die vor Hybris schäumende bayerische  Staatsregierung und die Stadt München, deren SPD-Oberhäupter (anfangs Ude, später Reiter) nach dem urbanen Motto „A bisserl mehr geht immer“ gerne alle Fünfe gerade sein lassen.


Nach ersten bei zwei Milliarden Euro liegenden Schätzungen wurden  im Jahr darauf, als die Bauarbeiten begannen, die Gesamtkosten des von Experten als wirtschaftlich wenig relevanten Projekts auf 3,6 Milliarden Euro taxiert, die Inbetriebnahme sollte 2026 erfolgen. Bereits 2019 hieß es, erst 2028 würden die ersten S-Bahn-Züge durch den neuen Tunnel rollen. Und zwei weitere Jahre später waren die geschätzten Kosten auf 7,3 Milliarden gestiegen, und der Startschuss für den ÖPNV wurde nicht vor 2035 erwartet.


Nach einem Gespräch mit leitenden DB-Mitarbeitern zeigte sich der oberfränkische CSU-Landtagsabgeordnete Jürgen Baumgärtner erschüttert. Dem „Münchner Merkur“ sagte der Vorsitzende des parlamentarischen Unterausschusses zur Begleitung der Bauarbeiten, nun sei die Rede von 10,7 Milliarden Euro, die aber angesichts der Inflation wohl noch weiter steigen würden: „Ich schätze, dass die zweite Stammstrecke am Ende rund 14 Milliarden Euro kosten wird.“ Der FDP-Abgeordnete Albert Duin rechnet mit einer noch höheren Endsumme. Ob unser Lebensrest noch ausreicht, Erlebnisberichte von den ersten Passagieren genießen zu dürfen, steht in den fernen Sternen.


BER war ein beispielloses Desaster deutscher Logistik und Ingenieurskunst, Stuttgart 21 (wie München 2 mit der DB) schickt sich gerade an, es dem Pannenflughafen gleichzutun. Beide Unternehmungen galten aber von Anfang an als kompliziert und hatten internationale Weiterungen. Die Münchner Stammstrecke 2 ist jedoch ein regionales Projekt mit relativ einfacher Aufgabenstellung. Wie viel planerische Blindheit, politische Ignoranz und fachliche Inkompetenz mussten hier fusionieren, um eines der teuersten zeitfressenden Debakel der europäischen Technologie-Geschichte zu generieren?


Bayern, Bayern über alles!


München ist nicht nur „eine Großstadt mit Herz“ (Eigenwerbung), sondern auch eine ständig am Rande des Verkehrsinfarkts stehende Metropole. Oberirdisch stauen sich die KfZ-Ströme, die, von den Alpen kommend, in die Mitte und den Norden der Republik vorstoßen wollen, während von dort Touristen- und Frachtverkehr anrollt und sich nach Österreich oder über den Brenner durchschlagen möchte. Zugleich ist München mit seinen Unternehmen und Behörden eine Hauptstadt der Pendler, und die nutzen häufig den Untergrund, um zur Arbeit zu gelangen.


Täglich fahren 840.000 Menschen mit der S-Bahn, die im Jahr zwanzig Millionen Kilometer zurücklegt. Die meisten werden dabei durch einen 1972 gebauten Tunnel, die „Stammstrecke“,  transportiert, der die Knotenpunkte der Innenstadt wie Stachus, Marienplatz oder Hauptbahnhof miteinander verbindet. Dieses Nadelöhr leidet nicht selten unter Verstopfung, und dann geht in der City und in der Peripherie nichts mehr. Also musste Entlastung, eine Art Bypass, her, und wenn München schon mal handelt, dann generell unter der Devise „Think big!“


Also hörten Staatsregierung und Oberbürgermeister nicht auf Verbände wie den Bund Naturschutz oder Pro Bahn sowie die Grünen, die alle eine kostengünstige und pragmatische Lösung, nämlich den Ausbau des Südrings anstelle des zweiten Tunnels befürwortet hatten. Die Verantwortlichen in Land und Stadt wollten aber die neue riesige Röhre durch den ohnehin bereits intensiv genutzten Untergrund treiben. Beim Blick auf das übergroße Ganze verloren sie dabei die Details aus den Augen, und so traten nun die Defizite zutage, vor denen Experten zuvor gewarnt hatten.


So können zwar künftig mehr Menschen mit der subterrestrischen S-Bahn fahren, nur sind ihnen dann zahlreiche Umsteigemöglichkeiten verwehrt und andere nur nach langen Laufwegen erreichbar. An diesen wenigen aber, etwa am heute schon überfüllten Marienplatz, wird „das Gedränge noch dichter“, wie der Bund Naturschutz prognostiziert. Die Bauherren mussten tiefer buddeln lassen und ihre Pläne für einige S-Bahnhöfe umfassend ändern, was zu Kostensteigerungen und Verzögerungen führte (und führen wird).


In der Verantwortung für die gigantische Steuervergeudung sehen Kritiker die bayerischen Staatsregierungen unter Seehofer und Söder, die in der Münchner Stadtspitze eifrige Claqueure fanden. Vor allem die Untätigkeit des amtierenden Ministerpräsidenten angesichts der sich potenzierenden Verluste an Zeit und Geld soll im Parlament jetzt ein wenig aufgeklärt werden.


Probleme für das „System Söder“?


Ausgerechnet im bayerischen Landtagswahljahr hat Markus Söder zwei Untersuchungsausschüsse am Hals, er darf jedoch zuversichtlich sein, dass ihn die Sünden der Vergangenheit zwar verfolgen, aber nicht einholen werden. Er regiert schließlich in Bayern, wo sich jeder CSU-Häuptling Pannen und Skandale leisten darf, ohne in kleinlicher Manier dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.


Das System Söder, mit dem das Wahlvolk besänftigt wird, beruht auf drei Säulen, welche sind: Vollmundige Ankündigung; diskretes Schweigen zu dezentem Nichtstun, überraschender Kehrtwende oder desaströsem Scheitern; permanenter Themenwechsel. Der CSU-Chef redet einfach nicht mehr über Dinge, die gestern schiefgingen, als etwas anrüchig empfunden wurden oder einfach in der Versenkung verschwanden. Stattdessen macht er ein weiteres Fass auf, treibt eine neue Sau durchs Dorf und verlässt sich darauf, dass sich morgen auch daran keine/r mehr erinnern kann.


Wenn ein Volksbegehren gegen das Bienensterben trotz schwarzen Widerstands reüssiert, setzt Söder sich an die Spitze der Bewegung, kreiert ein unverbindliches Naturschutzgesetz und nimmt so den Kritikern viel Wind aus den Segeln. Er umarmt Bäume und sieht ungerührt dabei zu, wie der bayerische Boden im Rekordtempo versiegelt und das immer knapper werdende Grundwasser an Mineralsprudel-Konzerne verramscht wird.


Bis 2025 werde er 10.000 neue Wohnungen errichten lassen, tönte er 2018. Bis heute, zwei Jahre vor dem Stichtermin sind gerade mal 8 Prozent der Behausungen gebaut. Eine Stellungnahme werden Sie von Söder dazu nicht bekommen, er ist nämlich gerade damit beschäftigt, Bayern als künftige Nummer 1 in Sachen landgestützter Windkraft zu bewerben (nachdem er einst bei Anne Will erklärt hatte, im Freistaat gäbe zu wenig böige Luftbewegung). Dass gerade eine Studie einen bundesweiten Anstieg an Genehmigungen von Windrädern in der Republik ermittelt, Bayern dabei aber den letzten Platz zuweist, wird er ebenfalls unkommentiert lassen.


Einen Untersuchungsausschuss hat Markus Söder wegen des Zukunftsmuseums in Nürnberg an der Backe. Als damaliger Wirtschaftsminister hatte er den Standpunkt am eigentlich zuständigen Wissenschaftsministerium vorbei durchgesetzt und seinem Parteifreund, dem Baulöwen Gerd Schmelzer, der zufällig gerade eine hohe Spende für die CSU platziert hatte, beste Konditionen und eine wahre Luxus-Mieteinnahme garantiert. Von Söder, mittlerweile Ministerpräsident, ist dazu wieder kein Wort zu erfahren, und letztendlich wird der parlamentarische Untersuchungsausschuss unverrichteter Dinge auseinandergehen.


Ein wenig brisanter dürfte es beim zweiten Untersuchungsausschuss zugehen, der die Gründe für die Untätigkeit und das Schweigen der Staatsregierung angesichts der Kostenexplosion beim Bau der Stammstrecke 2 eruieren soll, da sich sogar CSU-Abgeordnete schockiert zeigen (s. o.). Der eher konservative Münchner Merkur zitiert einen Referatsleiter der Bayerischen Staatskanzlei, der im Dezember 2020 notierte, dass solche Nachrichten „kein Gewinnerthema“ seien, und stellt heikle Fragen: „…weswegen jetzt schwarz auf weiß nachzulesen ist, dass die Staatskanzlei von Markus Söder damals die dilatorische Behandlung  bis nach der Bundestagswahl 2021 empfahl. Es dauerte dann tatsächlich auch noch über zwei Jahre, bis die Öffentlichkeit von der Stammstrecken-Katastrophe erfuhr. Weil Söder sich schon als Bundeskanzler-Kandidaten sah und ihm das Thema unangenehm war?“


Mal schauen, mithilfe welcher spektakulären Ankündigungen und Tricks Söder das Loser-Thema Stammstrecke 2 während des Wahlkampfs in den Hintergrund drängen und schließlich ganz verschwinden lassen wird…
04/2023
Dazu auch:
Profis ohne Schimmer im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2023)
Stuttgart 25 plus im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)







Türsteher der NATO


Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich nach langem Zögern dazu entschlossen, einen angesagten Club aufzusuchen, um sich auf Ihre alten Tage mit Gleichgesinnten – je nach Temperament oder Lebensalter – in heiße Disco-Musik oder tiefschürfende Konversation zu stürzen. Doch am Eingangsportal erklärt Ihnen der etwas schmierig und brutal wirkende Türsteher, Sie hätten in diesen heiligen Hallen nichts zu suchen. Und jetzt endlich erkennen Sie den Zerberus: Das ist doch Recep Tayyip Erdoğan…


Ein wahrhaft würdiger Partner


So erging es Schweden und Finnland, als sich beide bis dato zumindest formal neutralen Länder gemeinsam unter die Fittiche der Allianz für die hehren Werte und – last not least – die wirtschaftlich-militärischen Interessen des Westens, der NATO also, begeben wollten. Ausgerechnet ein Außenseiter im 30 Staaten umfassenden Bündnis verhinderte die Aufnahme zunächst beider skandinavischer Aspiranten, was durch das Gebot der Einstimmigkeit bei solchen Entscheidungen möglich wurde. (Übrigens zickt auch noch ein anderes Sorgenkind der Militärgemeinschaft, nämlich Ungarn, weil dem Staatschef Viktor Orbán die Wahrnehmung seiner Politik in Stockholm und Helsinki zu negativ erscheint.)


Inzwischen stimmt Erdoğan dem Beitritt Finnlands zu und wird dies im Mai vom Parlament ratifizieren lassen, gegen Schweden aber, wo unlängst einige unappetitliche anti-islamische Kundgebungen stattgefunden hatten, besteht das türkische Off-Limits-Verdikt weiter. Bleiben die Fragen, was den autoritären Populisten in Ankara dazu bewegt, sich gegen den Rest der NATO zu stellen, was ihm überhaupt die Macht dazu verleiht und mit welchen Finten sowie windelweichen Zugeständnissen sein Zorn besänftigt werden soll.


Die Türkei hatte zuvor Bedingungen gestellt, darunter die Wiederaufnahme von Waffenlieferungen und die Auslieferung türkischer Exilanten, die das Regime in Ankara des Terrorismus verdächtigt. Finnland und Schweden haben ein Abkommen mit der Türkei unterzeichnet, um die Einwände Ankaras auszuräumen. Für die Gegner ungehemmter Rüstungsexporte und für Oppositionelle im Exil sind dies schlechte Nachrichten, doch im Falle Schwedens reichen die Zugeständnisse Edoğan immer noch nicht.


Im Grunde erpresst der türkische Staatschef den eigenen Club ebenso unverschämt wie erfolgreich. Da er sich auch mit seinem Bruder im Geiste, Wladimir Putin, gut versteht, erhält er nicht nur das russische Verteidigungssystem S400 (was die ihn ebenfalls umwerbenden USA provoziert), sondern auch das westliche Plazet für seine Feldzüge in den Irak und nach Syrien. Um ihren unsicheren Kantonisten nicht zu verlieren und gleichzeitig eine lange Ostfrontlinie unter Einbeziehung Finnlands und Schwedens zu ermöglichen, segnet die selbsternannte Menschenrechtsvereinigung NATO die völkerrechtswidrigen Überfälle Erdoğans auf andere Staaten ab und schweigt zu den türkischen Drohgebärden gegenüber dem Mitglied Griechenland sowie zur aggressiven Diskriminierung ethnischer Minderheiten in Anatolien.


Verbündete elegant fallen lassen


Seit dem Ende des osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg wurden Armenier, Kurden, assyrische Christen und die letzten verbliebenen Griechen in türkischer Diaspora häufig Opfer von Anfeindungen bis hin zu Pogromen seitens der in Ankara an die Macht gekommenen Militärs und Nationalisten. Den höchsten Blutzoll entrichteten einst die Armenier in zahllosen Massakern, heute zahlt ihn die kurdische Gemeinschaft, deren (gewählte) Bürgermeister entmachtet, deren Politiker ins Gefängnis geworfen und deren junge Aktivisten liquidiert werden.


Da der „Vater der modernen Türkei“, Kemal Atatürk, als Modernisierer im Sinne westlicher Zivilisation wahrgenommen wurde, regte sich gegen ihn und seine Nachfolger in Europa und den USA kaum Kritik (wenn nicht gerade mal wieder das Militär eine bürgerliche Regierung aus dem Amt geputscht hatte). Recep Erdoğan aber schuf ein klepto-kapitalistisches System mit islamisch-fundamentalistischem Überbau, in dem die Angehörigen anderer Völker und Religionen von vornherein unter Generalverdacht standen. Den Westen schien dies abermals nicht weiter zu stören.


Dass sich bereits Jahrzehnte zuvor bewaffneter kurdischer Widerstand formierte und dass die Truppe der PKK auch terroristische Methoden anwendete, ist die logische Konsequenz staatlicher Repression. Als aber die Kämpfer die Waffen niederlegen wollten, sich ein progressives ökologisches wie basisdemokratisches Programm verordneten und Verhandlungen über eine begrenzte Autonomie anboten, ging Erdoğan zum Schein darauf ein, nur um kurz danach umso brutaler zuschlagen zu können. Die meisten NATO-Länder hatten die PKK längst auf die Terror-Liste gesetzt (wie auch Schweden, wo sie verboten wurde) und revidierten diese Einschätzung weder, als sie das grausame Vorgehen Ankaras registrierten, noch als sie die Partisanen der kurdischen Arbeiterpartei und ihre syrischen Kollegen von der YPG benötigten, um die von der Ausrottung bedrohten Jesiden im nordirakischen Sindschar-Gebirge zu retten und um den IS niederzuringen.


Wenn Erdoğan Menschenleben und Infrastruktur in Nachbarländern vernichten lässt und seiner politischen Gegner auf der ganzen Welt habhaft werden will, kann er auf Waffenlieferungen seitens des Westens (wie auch aus Russland), auf stillschweigende Billigung und - im Falle der PKK-Einstufung - auf Entgegenkommen zählen. Der IS ist besiegt, also braucht man die einstigen Verbündeten nicht mehr, man paktiert lieber mit dem Beelzebub, um den Teufel in Moskau auszutreiben.


Die Morallüge


Um Putin zu bekämpfen, ist es aus Sicht der NATO offenbar legitim, einen Mann gewähren zu lassen, der sich wie der Russe als nationalistischer Eroberer geriert, der wie dieser erzreaktionäre, rassistische, homophobe und religiös-ultraorthodoxe Positionen vertritt. Und Erdoğan lässt sich seine „Neutralität“ wie ein Pate, der zwischen Mafia-Familien vermittelt, teuer bezahlen.


Damit die Finnen noch vor den Schweden unter den NATO-Schutzschirm kriechen dürfen, rüsten sie die Invasionsarmee der Türkei auf, beide skandinavischen Länder werden wohl die Meinungsfreiheit zumindest in Bezug auf Ankara beschränken müssen. Wir werden sehen, ob sie künftig auch noch die eine oder andere Auslieferung wohlwollend prüfen werden.


Natürlich sind Zweckbündnisse im globalen Machtkampf durchaus üblich, selbstredend verfolgen Länder und Staatengemeinschaften ihre Interessen oft skrupellos, doch sollten Grenzen dort respektiert werden, wo der Frieden einer Weltregion oder des ganzen Globus durch aggressives Vorpreschen bedroht wird. Die NATO ist ohne Rücksicht auf Verluste nach Osten expandiert, statt ein entmilitarisiertes Gebiet zwischen den Atommächten zu initiieren, und Putin diente diese Provokation zur Rechtfertigung eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs, der nun auch „großrussische“ Ansprüche durchsetzen soll. Ihn wegen des inhumanen Vorgehens in Den Haag anzuklagen, scheint legitim, löst aber nicht nur in der Dritten Welt Kopfschütteln aus. Wo blieben denn, so fragen sich viele Beobachter mit einem Rest von Geschichtsgedächtnis, die Prozesse gegen westliche Regierungschefs und Militärs nach den Kriegen in Vietnam, im Irak, in Jugoslawien oder in Libyen?


Und wieso hofiert der Westen den Putin-Klon Erdoğan und verbündet sich mit dem saudischen Mörder Mohammed bin Salman? Eine ehrliche Antwort fiele recht ernüchternd aus: Weil es uns nie um Menschenrechte oder politische Moral gegangen ist, sondern ausschließlich um die Durchsetzung unserer militärischen und ökonomischen Interessen.
03/2023
Dazu auch:
Wer darf? Wer nicht? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)








Braver Trotzkopf!


Eine typische Szene aus dem Familienalltag: Der kleine Sohn,  im Geiste noch nicht ausgereift, soll etwas tun oder unterlassen, in jedem Fall aber „Vernunft an den Tag legen“. Doch auf alle Vorhaltungen, Ermahnungen, gütlichen Zureden und Bitten antwortet das Leichtgewicht kategorisch: „Nein, ich will nicht!“ Aber es wäre doch gut für alle, die Eltern, Geschwister und Nachbarn, auch für ihn selbst, wird verzweifelt appelliert, doch der Knirps bleibt stur. Exakt so verhält sich derzeitig Verkehrsminister Volker Wissing im Angesicht der EU und des Klimawandels. Allerdings ist zweifelhaft, ob hinter der Verweigerungshaltung nur infantiler Eigensinn steckt, oder ob der FDP-Mann nicht von „höheren“ Interessen geleitet wird…


Bis zur letzten Tankfüllung!


Erst kürzlich hatte die FDP im Bundeskabinett die Genehmigung zum Verkauf rein synthetischer Kraftstoffe, sogenannter E-Fuels, an deutschen Tankstellen durchgesetzt. Für Verkehrsminister Wissing, der zuvor nie als Umweltexperte auffiel, war das ein „wesentlicher Schritt“ zur Vermeidung klimaschädlicher CO2-Emissionen im Autoverkehr und damit zur Erreichung der ambitionierten (jedoch angesichts der Berliner Trödelei obsoleten) Klimaziele der deutschen Bundesregierung. Andere sehen das anders.


E-Fuels werden mittels viel Strom aus Wasser sowie Kohlenstoff hergestellt, mit ihnen könnten Kraftfahrzeuge wie mit Diesel oder Benzin fahren, aber ohne den Ausstoß von Kohlendioxid. Der Energieaufwand zur Herstellung ist allerdings enorm, und der Bedarf an grünem Wasserstoff könnte nur durch (die Umwelt belastende) Importe von weit her gedeckt werden. Auf der Internetplattform heise online gibt der Kommentator Daniel AJ Sokolov weiter zu bedenken: „Offen ist, woher leistbarer synthetischer Treibstoff aus überflüssigem Ökostrom in namhafter Menge kommen soll.“  Greenpeace beurteilt die E-Fuels-Alternative, die übrigens extrem kostspielig wäre, als „eine Verschwendung sauberer Energie“, die man sich  nicht leisten könne, und der BUND rechnet vor, dass „hinsichtlich ihrer Energieeffizienz Elektrofahrzeuge klar im Vorteil gegenüber Fahrzeugen mit E-Fuels“ sind, die letztendlich das Mehrfache an Strom für dieselbe Fahrstrecke verbrauchten.


Also handelt es sich bei der liberalen Präferenz um ein Öko-Strohfeuer, das vor allem Aufmerksamkeit generieren soll? Nicht ganz, es geht schließlich um ein letztes Gefecht für den vom Aussterben bedrohten Verbrennungsmotor. Um die fossilen Treibstoffe aus dem Straßenverkehr zu nehmen, hat die EU nämlich beschlossen, die archaische Antriebsmaschine bis 2035 zu verbieten. Nicht mit uns! tönt jetzt aber Verkehrsminister Wissing, man müsse allen emissionsmindernden Technologien gegenüber offen sein. Und damit hat er zumindest die Verschiebung einer richtungsweisenden gesamteuropäischen Umweltmaßnahme bereits bewirkt – als hätte die Erdbevölkerung noch jede Menge Zeit.


His Master’s Voice


Mindestens 15 der 27 Mitgliedstaaten müssen nämlich der Gesetzesvorlage zustimmen, und diese wiederum haben mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung zu repräsentieren. Hatten bislang erst zwei große Länder, der Öko-Dinosaurier Polen und Italien als Nation der Fiat-Fans und Ferraristas, angekündigt, den Antrag abzulehnen, so könnte sich nun Deutschland als Heimat von Porsche und anderen Nobel-Protzkarossen dazu gesellen. Damit wäre die Sperrminorität von mehr als 35 Prozent locker erreicht.


Wissing möchte weiterhin nicht auf den satten SUV-Sound und das Aufheulen hochfrisierter Boliden verzichten, nur sollen diese künftig mit E-Fuels gefüttert werden. Dass eine solche Ausnahme, die den Verbrenner-Autos für Betuchte eine Überlebensnische sichern würde, umwelttechnisch wenig Sinn macht, ficht den Verkehrsminister nicht an – und wieder fühlen wir uns an das eingangs erwähnte kindische Querulantentum erinnert. Doch man sollte die FDP nicht unterschätzen, die Motive dieser zur Partei mutierten Wirtschaftslobby sind vielleicht nicht lauter, dafür aber von raffiniertem Vorteilsdenken geprägt.


Porsche-Chef Oliver Blume hatte es letztes Jahr vor Mitarbeitern ausgeplappert, und ZDF-Reportern war es zu Ohren gekommen: „Fast stündlich“ sei er von Wirtschaftsminister Lindner in Sachen Synthetische Kraftstoffe „auf dem Laufenden“ gehalten worden, und so sei es ihm gelungen, das Ding mit den E-Fuels quasi im Alleingang zu „wuppen“, will sagen: eine überflüssige Antriebsvariante vor dem endgültigen Aus zu retten. Selbst andere Autokonzerne, etwa Audi, lehnen diesen Anachronismus ab, aber die haben ja im Gegensatz zu Porsche auch kein Geld für eine Pilotanlage zur Produktion der Kraftstoffe in Chile gesteckt, das nun zu verbrennen droht. Der Konzern hatte von vornherein bei dieser Investition natürlich nie das Klima im Sinn, sondern stets die eigene Rendite.


Ob der passionierte Porschefahrer Christian Lindner aus freien Stücken dieser Aufweichung des Verbrennerverbots den Weg ebnete oder erst von Oliver Blume „überredet“ werden musste, können wir nicht mit Sicherheit sagen, weigern sich doch die beiden Beteiligten, ihre sicherlich interessante (und irgendwie doch dienstliche) Korrespondenz der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dagegen glauben wir recht zuversichtlich, dass Volker Wissing nicht in einem Anfall von Regression als renitenter Wicht, sondern im Auftrag seines Meisters und Parteichefs halb Europa lahmlegt.


Narrenlob


Der Aufschrei in der Bundesregierung fiel relativ kleinlaut aus, obwohl doch neben den EU-Maßnahmen auch die Koalitionsvereinbarungen blockiert wurden. Und wer sich ein wenig Richtlinienkompetenz von Olaf Scholz erwartet hätte, wurde eines Schlechteren belehrt.


Als die Kommissionspräsidentin von der Leyen den Bundeskanzler auf dem zweitägigen Kabinettstreffen im Meseberg auf den europaweiten Stau, den das am Verbrenner festklebende enfant terrible verursacht hatte, ansprach, fand der nur Lob für seinen Untergebenen: Volker Wissing sei „ein sehr, sehr guter Verkehrsminister“.


Olaf Scholz ist nicht der Schnellste, und so scheint ihm entgangen zu sein, dass der Karneval vorüber ist. In einer Kölner oder Mainzer Prunksitzung des Elferrats hätte er sich allerdings für diese brillante Büttenpointe einen donnernden dreifachen Tusch verdient gehabt. Applaus! Applaus!
03/2023
Dazu auch:
Saubere Regierung im Archiv der Rubrik Medien (2022)







Die Republik zockt

Wenn finanzielle Sicherheit, ein solider Daseinsentwurf oder befriedigende Arbeit in weiter Ferne liegen, halten etliche Menschen eine Gewinnverheißung, die sich zeitnah erfüllen könnte, für den letzten Ausweg aus der Misere, an den man nur glauben muss. In Glücksspielen, die suggerieren, per Geschick oder Wissen beherrschbar zu sein, wollen sie die
Chance wahrnehmen, die sie im richtigen Leben nie hatten. Realiter aber häuft sich Verlust auf Verlust, wird der nüchterne Verstand durch die Illusion, beim nächsten Versuch liefe alles besser, übertrumpft – bis Zocken zur Sucht ausufert. Im Gegensatz zu Drogen, die ähnlichem Effekte zeitigen, ist die Steuerung des Irrsinns durch bedenkenlose Anbieter legal, bringt sie dem Staat doch Geld. Und für Finanzminister Lindner ist solches Hasardspiel sogar eine Option für unser Rentensystem.


Der Weg nach unten


Von „Pathologischem Spielen“ oder „Glücksspielstörung“ reden die Experten, in der Alltagssprache ist schlicht von „Spielsucht“ die Rede. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das Phänomen als psychischen Defekt ein und klassifiziert es in diesem Kontext als „Impulskontrollstörung“ bzw. „Abhängigkeitserkrankung“. Die Betroffenen daddeln an Automaten, zocken mit Karten und Würfeln oder wetten auf die Verläufe und Resultate von Events, am häufigsten im Sportbereich. Der schnelle Gewinn verschafft dem Anfänger eine mühelos erlangte Lustbefriedigung, die erste Niete spornt nur dazu an, es künftig besser zu machen und die Einsätze so lang zu steigern, bis nicht nur der Verlust ausgeglichen, sondern sogar ein üppiges finanzielles Polster geschaffen wird.


Das gelingt fast nie, denn die Spiele sind allesamt zum Vorteil des Bankhalters bzw. Wettanbieters konzipiert. Doch das so gut wie nie eingelöste Versprechen, dass ein Lucky Punch das ganze Leben zum Positiven verändert, lässt die einmal „Angefixten“ weiterspielen, bis außerhalb des Kokons ihrer Sucht das soziale Umfeld in Trümmer fällt. Hierzulande weisen etwa 200.000 Menschen (mehr Männer als Frauen) dieses Syndrom auf, und ein Entzug gilt als mindestens so kompliziert wie eine Suchtdrogentherapie.


Zwiespältig (sehr milde ausgedrückt) wirkt der staatliche und öffentliche Umgang mit dieser durch enormen Werbeaufwand vorangetriebenen Verführung naiver und verunsicherter Gemüter. Um das Suchtpotential weiß man in der Politik, in den Behörden und ehrenwerten Vereinigungen, verbieten will man den „Stoff“ aber nicht, denn man verdient selber daran oder kennt einen Parteiensponsor, der es tut. Also verordnet man ein paar Vorsichtsmaßnahmen, die nicht greifen, lässt ansonsten aber hochgradig manipulative Reklame (vor allem im TV) zu und erleichtert den Dealern den effektiven Auftritt abseits der Schmuddelecke.


Saubere Regelung für üble Verführung


Nicht nur, dass Bund und Länder die Spiel- und Wettumsätze der privaten Anbieter besteuern, sie offerieren den Bürgern auch selbst Gelegenheiten, ihr Geld im Glauben an eine Minimalchance loszuwerden. Und damit auch alles seine Richtigkeit hat, gilt seit dem 1. Januar 2008 der Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV), der den Schutz der Spieler regeln soll. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies zur Verpflichtung gemacht und argumentiert, das staatliche Glückspielmonopol sei nur durch eine konsequente und glaubhafte Erfüllung der staatlichen Suchtprävention zu rechtfertigen. Die Bundesländer, die den GlüStV geschlossen hatten, akzeptierten die Vorgabe – mit der Umsetzung hapert es indes. Man fragt sich angesichts des Eifers, mit dem Lizenzen zum Abzocken ausgestellt werden, worin die Bemühungen, Menschen vor Abhängigkeit zu bewahren, eigentlich bestehen sollen.


Als direkter Entrepreneur tritt die öffentliche Hand bei 6 aus 49  oder diversen Klassenlotterien auf, die allerdings so dröge beworben und präsentiert werden, dass sie nur sehr bedingt zur gefährlichen Verführung taugen. Es sollte dennoch darauf hingewiesen werden, dass sich etliche KleinrentnerInnen den ausgefüllten Tippzettel, die vermeintliche Fahrkarte in den späten Wohlstand, vom Mund absparen müssen. Nur verschulden sie sich dafür meist nicht.


Beunruhigender ist die Tatsache, dass Sportwetten per Handy zu jeder Sekunde abgeschlossen werden können, dass den Aficionados ein Flair von Entschlossenheit, Sachkenntnis und Wagemut vorgegaukelt und in einer Intensität beworben wird, die sich nur mit dem einstigen Reklame-Hype um Klingeltöne vergleichen lässt.


Während die klassischen Automatenzocker in mechanischer Redundanz ihr Geld, ihre Hoffnung und zuletzt Haus, Hof und Familie an den Münzschlitz verlieren, passionierte Poker-Spieler wiederum mit tückischer Geduld auf die Möglichkeit zum entscheidenden Bluff oder auf das perfekte Blatt (das kaum jemals kommt) warten, brauchen die Wetter der Internet-Generation den ständigen Thrill, die sich überschlagenden Anreize, es nur Sekunden nach der letzten Pleite mit etwas Neuem zu versuchen: Man hat auf ein Null zu Null gesetzt, aber es ist ein Treffer gefallen – kein Problem. Tippt man halt auf die Mannschaft, die das nächste Tor schießt oder die nächste Ecke zugesprochen bekommt… Es werden einem in Echtzeit so viele Chancen eingeredet, den Verlust wieder auszugleichen.


Nur funktioniert die prompte Kompensation des „Pechs“ leider nicht, und im Gegensatz zum Süchtigen am Geldautomaten, der die Münzen noch händisch einwerfen muss, bemerkt man gar nicht, wie fortlaufend etwas vom Konto abgebucht wird. Und wer auf sein Fußball-Fachwissen vertraut, sollte einen Hinweis der IHK München für die Anbieter von Kicker-Hasard unter ihren Mitgliedsfirmen ernstnehmen: „Sportwetten sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Glücksspiele.“ Folglich unterliegen sie dem staatlichen Monopol, und so warnt die IHK auch pflichtschuldig: „Sportwetten dürfen daher nur mit der erforderlichen Erlaubnis der Landesregierung angeboten werden.“


Also könnten die zuständigen Ministerien eingreifen, zumal bereits mehr als ein Drittel aller deutschen Spielsüchtigen die Selbstkontrolle bei Sportwetten verliert, vor allem junge Menschen geködert werden und das Selbstmordrisiko dreifach höher als in der Normalbevölkerung liegt.


Zumindest könnte – in Entsprechung zu den Werbe-Einschränkungen für Tabak – die Reklame in den Medien und im Straßenbild für den Zocker-Wahnsinn reglementiert oder ganz untersagt werden. Lediglich der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer von der SPD fordert ein solches Verbot, die FDP neigt wie gewohnt dazu, dem Markt freies Spiel zu lassen, wie immer das ausgehen mag.


Das Bayerische Ministerium für Finanzen erklärte auf Anfrage sinngemäß, es sehe keinen Anlass einzugreifen, schließlich sei es besser, das Glücksspiel finde unter staatlicher Aufsicht statt, und nicht in der Unterwelt. Muss deshalb der Weg zur Selbstaufgabe medial so prächtig illuminiert und ins Bewusstsein gerückt werden? Überhaupt liebäugelt die Christenunion nicht nur mit zusätzlichen Steuereinnahmen, sondern auch mit Lobbyisten des Branchenführers Tipico.


Lindners Rentencasino


Was ein SPIEGEL-Team im Vorjahr über den deutschen Konzern, der seinen Sitz auf der Steuervermeidungsinsel Malta hat, recherchierte, hätte früher gereicht, dessen Manager aus dem Kreis der sich honorig gebenden Unternehmer auszuschließen: Vorständler mit wegen Wettbetrugs schmutziger Weste, Verstrickungen in den Kokainhandel und in die Geldwäsche; Ungereimtheiten in 20 Prozent der teilweise von Kriminellen geleiteten Filialen, die stets in ärmeren Stadtvierteln angesiedelt sind, wo das Glücksspiel als letzter Strohhalm, als einzige Aufstiegsoption wahrgenommen wird.


Heutzutage geniert das niemanden mehr, nicht einen Werbe-Promi wie Oliver Kahn, Vorsitzender des FC Bayern, der einst von einem Steuerbetrüger und einem Uhrenschmuggler geführt wurde, nicht die seriöse ARD, die den Traum-Dealern für viel Geld Spots in der Prime-Time zwischen Sport- und Tagesschau einräumt. Und natürlich nicht den Springer-Verlag, dessen Flaggschiff BILD sogar mit Tipps und Einführungen zu Fußballwetten Tipico latent unterstützt.


Vielleicht glaubt auch Christian Lindner, der vor seiner Politikerkarriere als „freier“ Unternehmer eher unterirdisch performte, dass ihm im Zockermilieu der große Coup gelingt. Schließlich ist auch auf den von ihm so geschätzten Kapitalmärkten der riskante Einsatz das probate Mittel, ganz gleich, ob man auf steigende oder fallende Kurse, gegen die Währungen von Staaten oder auf Ernteausfälle wettet. Also plant der Bundesfinanzminister, zehn Milliarden Euro im Jahr einzusammeln und in Aktien sowie Wertpapieren anzulegen. Ein solcher Fonds soll vom Ende der 2030er Jahre an das schwächelnde Rentensystem stabilisieren. Experten haben ausgerechnet, dass gut 212 Milliarden Kapital bei einer optimistischen Renditeschätzung von 8 Prozent nötig wären, um den Anstieg des Rentenbeitrags um nur 1 Prozent (!) zu verhindern. Den dreistelligen Milliardenbetrag würde Lindner gern aus den Versicherungsrücklagen für die Altersvorsorge nehmen…


Um die Einzahler in die Rentenkasse homöopathisch zu entlasten, möchte der smarte Christian also ein riesiges Vermögen auf den häufig verrücktspielenden Kapitalmärkten riskieren. Es ist ja nicht seines, und die Investmentbanker sowie Spekulanten werden ihm applaudieren, denn er führt ihrem Roulettetisch frische Einsätze zu.


In Chile führte ein ähnliches Experiment zum Abschmelzen aller Rücklagen und zu gravierender Altersarmut. „Verzockt meine Rente nicht!“ titelte denn auch die Ver.di-Zeitung publik besorgt. Aber keine Bange! Wenn alles schiefgeht, können die Ruheständler ihre Altersversorgung immer noch mit Fußballwetten aufbessern.
02/2023
Dazu auch:
Bürger zu den Waffen im Archiv der Rubrik Medien (2019)







Kritik erlaubt?


Wenn ein Gegenüber chauvinistische Reden führt, ankündigt, gegen geltendes Recht verstoßen zu wollen, und vollends ins kriminelle Milieu abzurutschen droht, ist man gut beraten, ihm sein Fehlverhalten deutlich vor Augen zu führen. Was für private Belange wie eine Binsenweisheit klingt, kann höchst problematisch werden, wenn es sich bei dem potentiellen Übeltäter um einen Staat handelt. Heißt der auch noch Israel, wird man möglicherweise von allen Seiten des Antisemitismus verdächtigt, selbst wenn man die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Landes zu schätzen weiß und sein Existenzrecht gegen alle Angriffe verteidigen würde.


Netanjahus Horrorkabinett


Welch krude Truppe wurde vom israelischen Parlament, der Knesset, mit 63 zu 54 Stimmen zur neuen Regierung bestellt! Der stramm rechte Likud koaliert dazu mit den ultra-orthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum sowie den drei rechtsradikalen Fraktionen Religiöse Zionisten, Jüdische Stärke und Noam. Glaubensfundamentalismus paart sich mit Rassismus, Homophobie und krimineller Energie, um Benjamin Netanjahu seine sechste Amtszeit als Premierminister und die Erlösung vom anhängigen Korruptionsprozess zu ermöglichen.


Unter den 31 Kabinettsmitgliedern, zu denen gerade einmal fünf Frauen zählen, haben noch andere schlechte Erfahrungen mit der Strafjustiz gemacht. Etwa der neue Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, der wegen Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde, was ausgemachte Zyniker als Beispiel für gelungene Resozialisierung interpretieren könnten – vom fanatischen Zündler zum obersten Ordnungshüter. Schas-Parteichef Arye Deri wiederum wurde des Steuerbetrugs überführt und hätte eigentlich keinen Chefposten antreten dürfen. Mit einer eiligen Gesetzesänderung öffnete man ihm das Innenressort, später soll er Finanzminister (ausgerechnet!) werden.


Überhaupt will Benjamin Netanjahu das Justizwesen nach seinem Gusto umgestalten, schon um der vom Generalstaatsanwalt gegen ihn erhobenen Anklage wegen Bestechung, Betrugs und Vertrauensbruchs zu entgehen. So soll der Einfluss des Obersten Gerichts zurückgedrängt werden, und für die Ernennung der (nur noch nominell) unabhängigen Richter würde dann die Politik zuständig sein. Polen und Ungarn lassen grüßen…


Rechtsextremismus im Namen Gottes


Der knallharte Landokkupant Bezalel Smotrich, der einstweilen das Finanzministerium leitet und zusätzlich für die zivile Verwaltung des Westjordanlands, also auch den Siedlungsbau, zuständig ist, wird permanent gegen internationales Recht und UNO-Resolutionen verstoßen. Ein Leitsatz der Koalition lautet nämlich:
„Das jüdische Volk hat ein alleiniges und unumstößliches Recht auf alle Teile des Landes Israel.“ Von den arabischen Mitbürgern (rund 20 Prozent der Bevölkerung) und den Palästinensern ist keine Rede mehr. Der Begriff „Westjordanland“ wird im Sprachgebrauch der neuen Regierung durch Judäa und Samaria ersetzt. Einen Palästinenserstaat kann es so de facto auch nicht geben, weil der Anspruch nicht aus dem Tanach, der hebräischen Bibel, herauszulesen ist.


Und die neuen, aber sich recht archaisch gebärdenden Machtinhaber legen auch gleich tüchtig los: Polizeiminister Ben Gvir spaziert über den Tempelberg, ein multi-religiöses Heiligtum, und brüskiert damit die Moslems, denen die Verwaltung obliegt. Obwohl selbst Ex-Premier Lapid  von einer „Provokation, die zu Gewalt führen wird“ spricht und die Botschaft der verbündeten USA die Wahrung des Status quo der heiligen Stätten anmahnt, setzt der ultra-rechte Zelot noch eins drauf und droht den Palästinensern mit der „eisernen Faust“. Derweil stellt die Noam-Partei Schwarze Listen mit den Namen von schwulen Journalisten, Feministinnen und angeblich linken Mitarbeitern im Justizministerium auf. Offenbar soll kaltgestellt werden, wer nicht dem sektiererischen „Reinheitsbegriff“ entspricht.


Im Koalitionsvertrag haben der eigentlich bis zur Skrupellosigkeit pragmatische Netanjahu und die eher irrational fabulierenden Fundamentalisten, die ihn vor den Schatten seiner Vergangenheit beschirmen sollen, sich darauf geeinigt, künftig Händlern, Hoteliers und Ärzten (!) zu erlauben, bestimmten Bevölkerungsgruppen aus Gründen der religiösen Überzeugung ihre Dienste zu verweigern. Dies ist nicht nur eine Aussetzung des Hippokrates-Eids, es bedeutet staatlich geduldete Diskriminierung und riecht sogar ein wenig nach Rassismus.


„Sensibles“ Schweigen oder ehrliche Kritik?


Während in Israel selbst viele Repräsentanten jener knappen Bevölkerungshälfte, die nicht für Netanjahu und Konsorten gestimmt hat, gegen eine Regierung demonstrieren, die eilends daran geht, alles, was zu einer Versöhnung der Glaubens- und Volksgruppen führen könnte, endgültig zu eliminieren, verharrt der befreundete Westen in Schockstarre. Und während die international angesehenste Tageszeitung des Landes, Haaretz, und etliche der prominentesten Kulturschaffenden für die Politik der neuen Führung Termini wie „Apartheid“ oder „faschistoid“ finden, Juristen sowie Hightech-Manager davor warnen, „den Rechtsstaat zu beschädigen“, und mehr als tausend Veteranen der Luftwaffe in einem offenen Brief bereits „den demokratischen Staat in Gefahr“ sehen, kochen die Diskussion über die brisante Situation und Positionierung dazu in der Bundesrepublik auf Sparflamme.


Das hat sowohl nachvollziehbare als auch pseudo-moralische und bigotte Gründe: Dass sich Deutsche angesichts der eigenen Geschichte und der Urheberschaft an Holocaust und den daraus resultierenden tragischen Ereignissen im Nahen Osten vorsichtig äußern sollten, versteht sich per se – zumal Netanjahus Feinde, die korrupte Palästinenserbehörde auf den West Banks und die fanatische Hamas im Gaza-Streifen, auch nicht gerade zur Identifikation einladen. (Wie hätten auch in einem zerstückelten, von zahllosen Militärgrenzen durchzogenen Land, bedroht von Wasserknappheit, Zwangsenteignung und willkürlichem Siedlungsbau auch vernünftige Strukturen und Haltungen entstehen sollen?)


Dass andererseits hierzulande jeder kritische Gedanke zur israelischen Siedlungspolitik oder einem orthodoxen, Intoleranz gegenüber Andersgläubigen beinhaltenden Absolutheitsanspruch mit dem Verdikt „antisemitisch“ belegt wird, entbehrt jeglicher Logik. Natürlich gibt es eine furchterregende Anzahl von Rassisten in unserer Republik, und eine Menge von ihnen, ewig gestrige Spießbürger, Verschwörungstheoretiker oder Neonazis, neigt dazu, Israel für alles Böse in der Welt verantwortlich zu machen. Denn Israel – das ist für sie: die Juden.


Die Kritik am neuen Kabinett (und an einigen Vorgängerregierungen) richtet sich aber nicht gegen die Juden, auch nicht gegen den Staat Israel und das Staatsvolk, sie richtet sich gegen Politiker mit düsterer Vergangenheit, die aus dubiosem Eigeninteresse alle Versuche sabotieren, doch noch zu einer friedlichen Koexistenz (wenn schon nicht zur Partnerschaft) in einigermaßen gerechten Verhältnissen mit den arabischen Nachbarn und Mitbürgern zu kommen. Schweigen schadet hier nur, denn: wen man nicht kritisieren darf, den nimmt man auch nicht ernst.


Es fühlt sich für die Wenigen, die noch für die Zweistaatenlösung eintreten, derzeit wie ein bitteres Déjà-vu an: als würde Jitzchak Rabin, kein Freund der Palästinenser, aber ein Mann, der den Frieden ehrlich anstrebte, ein zweites Mal erschossen.
01/2023
Dazu auch:
Amnesty am Pranger? Im Archiv der Rubrik Medien (2022)




2022



Gefahr? Welche Gefahr?


Die Meldung hätte einen Schock, zumindest aber einen Aufschrei auslösen müssen, erregte aber beim durchschnittlichen Bundesbürger, der festklebende Umweltschützer am liebsten dauerhaft im Knast sehen und Geflüchtete gern jenseits deutscher Grenzen internieren würde, nur ungläubiges oder desinteressiertes Kopfschütteln: Tausende von Sicherheitsbeamten sicherten in einer flächendeckenden Razzia Beweismittel und nahmen massiver Putschvorbereitungen Verdächtige aus der rechtsradikalen Szene fest. Ein Umsturz in Deutschland? Für die Volksmehrheit war das unvorstellbar – ungefähr so wie ein Halbfinaleinzug Marokkos bei der WM in Qatar.


Untergrundarmee von Einzelkämpfern?


Dass erst jetzt in größerem Ausmaß gegen das gruselige Panoptikum aus Reichsbürgern, ehemaligen (und aktiven) Elitesoldaten und Polizisten sowie militanten Verschwörungstheoretikern und QAnon-Anhängern ermittelt wird, ist das eigentlich Unfassbare. Seit den Umtrieben ehemaliger Nazi-Parteigänger in Publizistik, Justiz und Politik der noch jungen Bundesrepublik, die es bis zum Bundeskanzler (Kiesinger) oder Chef des Bundesnachrichtendienstes (Gehlen)

bringen konnten, weiß man, dass rechtsradikale Schuld verschwiegen oder eher

milde beurteilt wurde. So verwundert es nicht, dass etwa beim braunen Treiben der Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann in Franken beide Augen zugedrückt

wurden, ganz so, als gehörten revanchistische Verbrechen zur deutschen Folklore.


Bis es 1980 zum Oktoberfestattentat kam, bei dem 13 Menschen starben und 211 weitere (zum Teil schwer) verletzt wurden. Als Einzeltäter wurde Gunnar Köhler, Mitglied der WSG Hoffmann, identifiziert, obwohl Zeugenaussagen und Recherchen auf weitere Beteiligte schließen ließen. Drei Monate später erschoss der Theologiestudent und Burschenschaftler Uwe Behrendt in Erlangen den jüdischen Verleger Shlomo Levin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke. Behrendt war Vizechef von Hoffmanns Truppe gewesen, hatte die Tatwaffe und später Geld für die Flucht in den Libanon von diesem erhalten. Dennoch wurde der WSG-Führer Jahre später lediglich wegen mehrerer minderschwerer Delikte zu neuneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, von den Vorwürfen der Mittäterschaft und der Gründung einer terroristischen Vereinigung aber freigesprochen. So konnte man auch Behrendt als Einzeltäter klassifizieren.


Die NSU-Mordserie wiederum schrieben die erstaunlich aufklärungsunwilligen Kriminalbeamten, Verfassungsschützer und auch Juristen letztendlich den drei Einzeltätern Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zu, die sich offenbar zu einem Trio zusammengefunden hatten. Dass die Killer sich in mehreren Großstädten wie Fische im Wasser bewegen konnten, logistisch unterstützt von etlichen Gesinnungsgenossen, ließ bei den ermittelnden Behörden, die sich lieber in der Aktenvernichtung und Türken-Diffamierung übten, keinerlei Verdacht bezüglich neonazistischer Strukturen aufkommen.


Für das passende Klima sorgten in Hoyerswerda, Rostock, Mölln oder später in Hanau auch unorganisierte Rassisten, die sich - aufgeputscht durch rechtsextreme Vordenker – zu Gewalttaten im Alleingang oder im Mob berufen fühlten. Zugleich aber stahlen Soldaten des Kommandos Einsatzkräfte (KSK), der Elitetruppe mit der Lizenz zum Töten, Munition und Waffen in rauen Mengen, fanden im deutschen Forst zuhauf Schießübungen statt, horteten die sogenannten Prepper und Uniter (darunter auch etliche Polizisten aus Sondereinsatzkommandos - SEKs) Kriegsmaterial und Überlebensmittel in etlichen, über das ganze Land verstreuten Verstecken, um sich für den Endkampf gegen die Republik zu  wappnen. Obwohl beispielsweise die taz ausführlich über die Bedrohung aus dem braunen Untergrund berichtete, schliefen die Sicherheitsbeauftragten von Bund und Ländern wohlig in ihren Ämtern. Oder sie hielten zumindest die Augen fest geschlossen.


Viele peinliche Fragen


Aufgeschreckt durch die NSU-Morde untersuchten Kriminalisten nochmals 3.300 in den Asservatenkammern abgelegte Fälle aus den Jahren 1990 bis 2011 auf mögliche Neonazi-Täterschaft. Allein für diesen Zeitraum hatten nämlich Journalisten über 152 Todesopfer rechter Gewalt berichtet. Die Hüter unserer Ordnung jedoch ruhten weiter in sich und verschliefen so auch die Morgenröte der wohl skurrilsten Truppe unter den gewaltbereiten Chauvinisten: Die Reichsbürger schickten sich an, das Rad der Geschichte in ein von Monarchie, Adel und preußischem Militarismus geprägtes Zeitalter zurückzudrehen, da unser heutiger Staat ihren Konstitutionsregeln nicht entspricht.


Laut Innenministerin Nancy Faeser soll es 23.000 dieser Historienzauberer im Land geben, viele davon bewaffnet. So ist es auch nicht verwunderlich, dass beim kriegslüsternen Zusammenschluss der rechtsradikalen Phantasten mit Heinrich XIII., Prinz Reuß, ein Hochadliger, der in ungerechten bürgerlichen Zeiten sein Leben als Immobilienmakler fristen muss, zum Reichsverweser bestellt wurde. Ihm zur Seite steht u. a. die Richterin und ehemalige AFD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, inzwischen sitzt sie allerdings in Haft.


Wie kam es so plötzlich zur Großrazzia und zum Freiheitsentzug für eine Reihe von mutmaßlichen Putschisten, nachdem die Verantwortlichen eine gefühlte Ewigkeit lang das rechte Gefahrenpotenzial weitgehend ignoriert hatten? Nun, es waren Pläne zur Erstürmung des Bundestags sowie zur Bildung von 280 „Heimatschutzkompanien“, deren Aufgaben auch die systematische Liquidierung politischer Gegner beinhalten sollte, ruchbar geworden. Offenbar fürchteten jetzt auch Regierende und Volksvertreter die bunte Truppe, die ein wenig an die Erstürmer des Kapitols in Washington erinnert, mehr aber noch an die frustrierten Kriegsoffiziere, mittellosen Nationalisten, preußischen Krautjunker, um ihre Privilegien fürchtenden Adligen und Restaurationspolitiker, die sich nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zum Putsch gegen die Weimarer Republik zusammenschlossen.


Es fällt schwer, an den Erfolg eines derart bizarren Aufstands zu glauben, doch Attentate, Massaker, Fememorde und Überfälle, die Generierung einer Atmosphäre aus Chaos und Angst also, wären angesichts des Personals und seiner Feuerkraft durchaus denkbar. Und die zuständigen Politiker der letzten Jahre und früherer Dekaden müssen sich einigen peinlichen Fragen stellen:


Die Berliner Koalition und die betroffenen Länderregierungen erklären unisono, die überwältigende Mehrheit der Polizisten und Bundeswehrsoldaten sei loyal. Woher wissen die aufgeschreckten Politiker überhaupt, wie Sicherheitsbehörden und Landesverteidigung mehrheitlich ticken, vor allem in den kampfgeschulten Spezialeinheiten? Bislang haben sie sich jedenfalls nicht um strukturellen Rassismus sowie rechtsextreme Gesinnung auf Polizeirevieren oder kleptomanische Waffenbeschaffung aus den Bundeswehrarsenalen gekümmert.


Könnten nicht V-Leute des Verfassungsschutzes zu den treibenden Kräften bei der Vorbereitung des Aufstands zählen? Wir erinnern uns, dass, als Spitzel in die NPD eingeschleust wurden, um belastendes Material für das Verbot der Partei zu liefern, sie deren Programm mit gestalteten und sich wie Chefideologen gerierten. Das Bundesverfassungsgericht konnte am Ende eine Partei nicht verbieten, deren Richtung maßgeblich von Verfassungsschützern formuliert worden war. Und wie viele Sympathisanten und Zuträger der potentiellen Putschisten waren wohl unter den 3000 Beamten, die ausgesandt wurden um ‚Beweismaterial zu sichern und Straftaten zu vereiteln?


Warum erst jetzt? Wie lange haben die Verantwortlichen den Anfängen zugesehen, denen sie bereits vor Jahrzehnten hätten wehren sollen. Warum wurde eine Bevölkerung, die mehrheitlich rechts, aber nicht unbedingt rechtsradikal und umstürzlerisch denkt, so lange im Unwissen gehalten, dass sie sich jetzt einen Aufruhr von Revanchisten gar nicht mehr vorstellen kann? Und wie glaubwürdig sind die Quellen, aus denen die Informationen über die Putschvorbereitungen stammen?


Der Spott der Rechtspopulisten


Da kein Schuss gefallen ist und kein MdB angegriffen, entführt oder liquidiert wurde, macht sich die publizistische Rechte, die „Phalanx der Verharmloser“ (SPIEGEL), über den vorgeblichen Alarmismus von Nancy Faeser lustig. So verlässt Alexander Marguier, Chefredakteur vom neoliberalen Zentralorgan Cicero den Bereich der Faktenabwägung und spottet ein wenig voreilig:


„Der aufgeregten Medienberichterstattung und den Statements von Politikern und Sicherheitsbehörden zufolge konnte ein bevorstehender Staatsstreich gerade noch verhindert werden. Bei Lichte besehen wirkt der Hype um das Umfeld zweier spinnerter Reichsbürger-Revolutionäre und ihrer Umsturzpläne allerdings reichlich grotesk.“


Herr Marguier sei daran erinnert, dass 2016 in Georgensgmünd bei Nürnberg ein „spinnerter Reichbürger-Revolutionär“ einen Polizeibeamten erschoss und drei weitere verletzte, die seine Waffen beschlagnahmen wollten. Als „grotesk“ wurde der Vorfall damals nicht empfunden.


Auch der frühere Verfassungsschutzchef Maaßen, dem ein gewisses Faible für AfD-Inhalte nachgesagt wird, hält die Razzia natürlich für Unsinn, auf den Punkt bringt es aber Roland Tichy, der Doyen der Rechtsaußen-Kommentatoren, in seinem Einblick:


„Die kindische Inszenierung der Razzia, mit der ein ´Staatsstreich` gerade noch mal verhindert werden konnte, ist eigentlich eher zum Lachen. Dass Beamte, Behörden und Medien mitspielen, ist beschämend – und es zeigt, wie gefährdet unsere Demokratie wirklich ist.“


Doch, die Gefahr ist vorhanden, kommt aber aus einer anderen Richtung, als Tichy denkt, obwohl er doch mit ihr vertraut sein müsste. Wer ist heute noch so fehlsichtig, rechtsextreme Strukturen in Teilen der Polizei, der Bundeswehr oder der Geheimdienste zu leugnen? Und wozu liegt Kriegsgerät tonnenweise in Untergrundverstecken, wird der Kampf mit Schusswaffen im Verborgenen geübt?
Bleibt angesichts der bisherigen Ignoranz oder Ahnungslosigkeit der Berliner (und einst Bonner) Politiker nur zu hoffen, dass die Innenministerin an der richtigen Stelle nachgeforscht hat. Ein Fehlschlag würde in einer Farce wie beim Versuch, die NPD zu verbieten, enden und hätte fatale Auswirkungen für den Schutz vor braunem Geländegewinn.
12/2022
Dazu auch:
Die rechte Haltung (2019) und Braundeutscher Eisberg (2018) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2019)
„Reichsbürger“ (2017) sowie Nazi und Gendarm (2016) im Archiv der Rubrik Medien







Exportschlager Bahn


Um ein uraltes Kulturvolk nicht zu beleidigen, versagen wir uns angesichts einer aktuellen Wirtschaftsnachricht die eigentlich gebotene Abwandlung eines aus gallischen Comics stammenden Kommentars: Die spinnen, die Ägypter! In Kairo  hat die Regierung nämlich den Auftrag vergeben, 15 Jahre lang das künftige Hochgeschwindigkeitsnetz der Staatsbahn auf 2000 km Schienenlänge zu betreiben. Und der glückliche Gewinner ist – bundesrepublikanische Zugreisende werden sich ungläubig an die Stirn fassen – die Deutsche Bahn AG (DB).


Die Siemens-Regimespezis sind schon da


Die DB muss sich nicht allein fühlen in der nordafrikanischen Wüste. Siemens, ein Konzern, der in der Vergangenheit beste Erfahrungen mit lateinamerikanischen Diktatoren und Putschisten gemacht hat, ist schon vor Ort. Für das deutsche Aushängeschild in Sachen Anlagenbau traf es sich ausgezeichnet, dass nach der 2011 durch den Arabischen Frühling inspirierten Revolution vorwiegend junger Menschen und einem kurzen, aber durch Urnengang legitimierten Intermezzo der Moslembrüder der General as-Sisi sich gewaltsam die Macht aneignete, die Medien gleichschaltete, Hunderte von Oppositionellen hinrichten und Abertausende in Gefängnissen verschwinden ließ. In solcher Grabesstille lässt es sich trefflich bauen und Geld verdienen.


Und Siemens nahm die Vorlage dankend an, zumal am Nil die jeweiligen Bundesregierungen den potenten Wirtschaftspartnern in Uniform ihre obligatorische (und folgenlose) Menschenrechtslitanei weitgehend ersparten – auch im Interesse der Rüstungsindustrie, die schließlich Waffen an das Regime in Kairo verkauft, das seit geraumer Zeit einen Vernichtungskrieg im Jemen führt. Die Siemensianer (wie sich die Identitären des Unternehmens stolz nennen), hatten bereits 2015 mit der Errichtung von Gas- und Dampfturbinenkraftwerke sowie von Windkraftanlagen einen Umsatz von acht Milliarden Euro erzielt, diesmal geht es beim Bau von Gleiskörpern und acht Bahnhöfen, der Lieferung von 135 Zügen und zusätzlich 41 Speziallokomotiven noch um ein paar Millionen mehr, schlicht: um den größten Auftrag der Firmengeschichte.


Der Münchner Konzern funktioniert in der Regel und liefert – falls die DB nicht in die Planung eingreifen darf – womöglich auch diesmal nach Begehr. Doch nach Fertigstellung übernimmt die Bundesbahn, und ganz Deutschland fragt sich, was die Ägypter bei deren Beauftragung wohl geritten haben mag.


Kairo 2050 oder erst 2100?


Wir können nur vermuten, dass bislang sehr wenige Menschen aus der drittgrößten Volkswirtschaft Afrikas (und schon gar keine Entscheidungsträger) in den Genuss einer längeren Bahnreise mit der DB gekommen sind. So haben sie nicht miterlebt, dass die Züge unpünktlich sind, weil es im Winter zu kalt ist, im Herbst hingegen das glitschige Laub auf den Schienen für Verzögerungen sorgt (soweit noch kein Problem für das subtropische Ägypten), dass im Sommer sich die Stränge oder Weichen in der Hitze verbiegen, dass ganzjährig Verbindungen wegen Stellwerkschadens völlig ausfallen, weil die Gleiskörper, oft auch die Waggons, manchmal auch beide nicht gewartet wurden, weil es an Personal fehlt, weil entscheidende Reparaturen kostengünstig an Dilettanten outgesourct wurden und weil ungezählte andere Gründe mehr existieren.



Was internationale Strecken angeht, lässt die DB im Osten der Bundesrepublik noch immer Diesel-Dreckschleudern über die Bahndämme keuchen, weil sie die Elektrifizierung verschlafen hat, die erst ab der tschechischen oder polnischen Grenze beginnt. Und das derzeit größte Baudesaster in der BRD, Stuttgart 21, macht Angst für den Fall, dass der Bahnkonzern plant, im Niltal einen unterirdischen Knotenpunkt zu errichten, durch den sich die Fahrtdauer von Kairo über Paris nach Ulm um 20 Minuten verkürzt. Zeitpunkt der Fertigstellung? Unabsehbar. Endkosten? Die Summen des Voranschlags quadriert. Dieses Pannenunternehmen mit abgehalfterten, aber hochdotierten Politikern im Vorstand kann wohl kaum als Exportschlager für aufstrebende Schwellenländer gelten, die deutsche Pünktlichkeit und Qualitätsarbeit einkaufen wollen. Sollte man meinen.


Was aber sind dann die Gründe, ein selbst in seinem Herkunftsland übel beleumundetes Unternehmen mit der Durchführung eines zukunftsweisenden Vorhabens von enormer Tragweite zu betrauen? Möglicherweise setzen Kunden wie Ägypten, Indien oder Kanada auf die DB-Tochter Schenker, die das internationale Geschäft betreibt und Gewinne erzielt, während zu Hause die Steuerzahler die einheimischen Flops finanzieren. Die Infrastruktur der Bahn in Deutschland verrottet, Know-how und Expertise steckt der klamme und gleichzeitig geldgierige halbstaatliche Konzern offenbar lieber in ferne Quellen, die reich sprudeln sollen. Der Bundesrechnungshof formulierte diese Erkenntnis im März 2022 so: „Die Deutsche Bahn hat ihr Kerngeschäft der Eisenbahn in Deutschland zunehmend aus den Augen verloren.“


Oder hat bei der Vergabe des Auftrags die an einen gemächlicheren Orient erinnernde Bakschisch-Mentalität der ägyptischen Armee gespielt, die an allen Großprojekten als stille Teilhaberin mitwirkt? Da wäre dann Partner Siemens ein routinierter Ratgeber der DB gewesen, hat sich dieser Konzern doch schon häufig die Gewogenheit von Militärregimes durch opulente Gefälligkeiten gesichert.


Dennoch würde das lukrative Fremdgehen der DB in Ägypten und anderswo wohl kaum so reibungslos vonstattengehen, hätte nicht ein begabter Klinkenputzer in höchster Funktion allerorten bereits die Türen geöffnet…


Handlungsreisender der Nation


Olaf Scholz hatte früh das ärmliche, vage nach Sozialismus muffelnde  Mäntelchen aus Juso-Tagen abgelegt und das repräsentative Gewand eines Botschafters des hanseatischen Handels- und Geldadels angelegt. Als Bundesfinanzminister wollte er dann die gesamtdeutsche Wirtschaft beglücken, auch die im Schatten. So legte er gemeinsam mit Kanzlerin Merkel bei einem Besuch in Peking der chinesischen Staatsführung den aufstrebenden Wirecard-Konzern dringlich ans Herz, noch ganz kurz vor dessen Implosion. Zudem war er erklärter Fan der Erdgas-Sackgasse Nord Stream 2. Auch als Bundeskanzler mischte er sich als entschlossene Krämerseele in strittige Geschäfte um den Hamburger Hafen ein und sah sich zuallererst als Haustürvertreter der Nation.


Ob China, Indonesien oder Vietnam – stets umgibt sich der Kanzler auf seinen Verkaufstourneen durch die Welt mit den Granden der BRD-Wirtschaft, während allenfalls ein paar Menschenrechtler oder Umweltschützer auf den billigen Plätzen mitfliegen dürfen. Es geht schließlich um Aufträge für deutsche Konzerne, nicht um den Hunger oder die Ungerechtigkeit auf Erden, wie einige skrupulöse Einfaltspinsel immer noch glauben. Als Scholz den Delegierten auf der Weltklimakonferenz in Scharm El-Scheich haarsträubenden Blödsinn über Deutschlands angebliche Erfolge beim Abschied von den fossilen Energieträgern erzählte, weilten seine Gedanken vermutlich ganz woanders: Bereits im Juli hatte er in Berlin den befreundeten Militärdiktator as-Sisi empfangen. Dort wurde wohl der Milliardendeal der DB mit dem ägyptischen Staat festgeklopft, am Rande der Umweltkonferenz verkündeten die Partner ihn jetzt.


Wollen wir nicht hoffen, dass des Bundeskanzlers strahlendes Opportunisten-Image Eintrübungen abbekommt, weil die tumbe DB-Führungsriege stümpert wie daheim, das Mammutprojekt in den ägyptischen Wüstensand setzt und so den stets vollmundig verkündeten deutschen Qualitätsanspruch dem globalen Spott aussetzt.
11/2022
Dazu auch:
Railway to Hell (2022), Stuttgart 25 plus (2021) und Honorige Komplizen (2020) in der Rubrik Politik und Abgrund







Artenschutz à la FDP


In den 1960er und 1970er galt es hierzulande als heilige Pflicht, vor dem Fernseher den Ausführungen und Bildsequenzen eines älteren Herrn mit schütterem Haar und monotoner Stimme zu folgen. Dr. Bernhard Grzimek, oberster Tierschützer der Nation und langjähriger Zoo-Direktor in Frankfurt, referierte über die Not der Fauna in Afrikas Savannen, gewann mit dem Doku-Film „Serengeti darf nicht sterben“ sogar einen Oscar und machte nie ein Hehl daraus, dass ihm der Schutz vor allem der großen Tiere mehr am Herzen lag als das Wohl der indigenen Bevölkerung. In seine Fußstapfen tritt nun Verkehrsminister Volker Wissing, nur sorgt der sich um den Bestand einer ganz anderen Spezies.


Die Liebe der Liberalen zu Porsche


Seit geraumer Zeit ist die innige Zuneigung von FDP-Größen zum Nobelkarossen-Bauer Porsche bekannt. So erfuhr man, dass Finanzminister Christian Lindner nicht nur gern selbst in den windschnittigen Protzmobilen herumkutschiert, sondern auch mal Gefälligkeiten erweist, wenn der

Konzern die Politik ein wenig zu seinen Gunsten ändern will. So prahlte Porsche-Chef Oliver Blume halböffentlich damit, „einen sehr großen Anteil“ an der Aufweichung des Verbots von Verbrenner-Autos ab 2035 gehabt zu haben. Für die höchst umstrittenen E-Fuel-Vehikel, in die das

Unternehmen bereits investiert hat, wurde nämlich eine Ausnahme erwirkt. Blume: „Da sind wir Haupttreiber gewesen, mit ganz engem Kontakt an die Koalitionsparteien. Der Christian Lindner hat mich in den letzten Tagen fast stündlich auf dem Laufenden gehalten.“


Abgesehen davon, dass es sich bei der FDP eher um einen Dienstleistungsbetrieb für Großkonzerne als um eine gesellschaftspolitisch wirkende Organisation handelt, ist eine derart unverblümte Absprache zwischen den Spitzen eines Unternehmens und einer Partei ziemlich selten. Meist schaltet man hartnäckige Interessenvertreter ein, die in den Ministerien durch die Vorzimmer der Spitzenbeamten huschen, selten mit leeren Händen, stets mit der Überzeugungskraft des versierten Klinkenputzers: die Lobbyisten.


Da aber mit der Zeit immer häufiger unterstellt wurde, dass gewichtige  Entscheidungen nicht nach Abwägung des Nutzens für das Gemeinwohl oder fachlicher Expertise, sondern nach Einflüsterungen der Firmenentsandten getroffen werden, sah sich die Bundesregierung genötigt, das „Informationsfreiheitsgesetz“ (IFG) zu verabschieden, das Journalisten und NGOs gnädig Nachfragen gestattet. Das Bundesverkehrsministerium (BMDV), das wohl mehrmals von Porsche-Vertretern heimgesucht wurde, befürchtet nun, dass durch die Information der Öffentlichkeit über Willensbildungen, an deren Ende Steuergeld verprasst und die Umwelt geschädigt werden könnte, die sensible Gattung der Lobbyisten bedroht wird.


Ein Ministerium mauert


Obwohl das IFG etliche Lücken aufweist, vor allem, wenn es um die Regierung und ihre direkten Lobby-Kontakte geht, ermöglichte es der Recherche-Plattform abgeordnetenwatch die Aufdeckung anrüchiger Kontakte. So wurde etwa publik, dass Sigmar Gabriel für Anliegen der Deutschen Bank bei Angela Merkel antichambriert hatte, das Kanzleramt seinerzeit ein Treffen des Wirecard-Drückers Karl-Theodor zu Guttenberg mit der Regierungschefin geheim hielt oder wie der CDU-Parvenü Philipp Amthor einen Parteifreund, den damaligen Wirtschaftsminister Altmaier, für die Zwecke seiner Auftraggeber einspannte.


Nachdem der Deal zwischen Lindner und Porsche ruchbar geworden war, wollte abgeordnetenwatch in Erfahrung bringen, ob der Autokonzern nicht vielleicht auch im von FDP-Mann Volker Wissing geführten Verkehrsministerium antichambriert hatte. Man muss kein fanatischer Naturschützer sein, um zu argwöhnen, dass es bei diesen Begegnungen oft um Vorteilsgewährung für den Petenten aus der Industrie oder Lockerung von Umweltauflagen geht. Somit handelt es sich bei solchen Kontakten um Vorgänge von hohem öffentlichem Interesse – ein Paradebeispiel für die Anwendung des IFG also.


Das Verkehrsministerium sah das anders. Als die NGO im Juli mit Verweis auf das Gesetz sämtliche Unterlagen zu Kontakten des Ressorts mit Porsche anforderte, lehnte das BMDV dies mit einer kuriosen Begründung ab: Diese Dokumente unterlägen dem "Schutzbereich des Kernbereichs der exekutiven Eigenverantwortung" und seien deswegen nicht herausgabepflichtig. Unfreiwillig räumt das Ministerium anschließend den immensen Stellenwert der Lobby-Arbeit für Kabinettsbeschlüsse ein: "Zu diesem Bereich gehört die Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen." Wo wir windige Haustürgeschäfte gemutmaßt hatten, ging es also um inhaltliche Konsultationen zum künftigen Kurs der Koalition!


Lobbyisten brauchen Reservate


In der Begründung des IFG hieß es 2004 allerdings: „Der Zugang zur Information und die Transparenz behördlicher Entscheidungen ist eine wichtige Voraussetzung für die effektive Wahrnehmung von Bürgerrechten.” Doch wo kämen wir hin, wenn Krethi und Plethi alle Entscheidungsprozesse der von ihnen Gewählten nachvollziehen könnten? Ein gewisser Freiraum, in dem die Regierenden und die Unterhändler der Konzerne die Maßnahmen zum Wohle des Volkes ungestört auswürfeln können, sollte schon sein. Und der Mann auf der Straße will ja auch nicht wissen, wie und womit der Metzger die ihm vorgesetzte Wurst hergestellt hat…


Zumindest argumentiert das BMDV so. Die Lobbyakteure würden seiner Ansicht nach von einer Kontaktaufnahme zur Regierung abgeschreckt, wenn ihre Kontakte zum Ministerium bekannt würden. Bei dem Lobbyisten handelt es sich halt um ein (licht)scheues Wesen, das durch Reservate vor dem Aussterben bewahrt werden sollte. Solche Schutzzonen müssen gegen Übergriffe durch neugierige Bürger oder aufdringliche NGOs hermetisch abgeriegelt werden.


In Grzimeks Serengeti-Reservat durften die wilden Tiere unbedrängt von der Außenwelt leben, in den Lobbyisten-Reservaten, wie sie offenbar Minister Wissing vorschweben, können die Insassen hingegen ungestört Pläne, Tricks und Beutezüge aushecken, mit denen das ganze Land außerhalb der Einfriedung zukunftsweisend beackert wird.


Aber vielleicht sehen wir nur zu schwarz. Auf eine schriftliche Anfrage des Linken-Abgeordneten Victor Perli bezüglich der Porsche-Kontakte zum BMDV, antwortete das Ressort mit schonungsloser Offenheit: "Am 2. Mai 2022, 17.15 - 18 Uhr, traf sich der Leiter der Abteilung L mit Daniela Rathe, Leiterin Politik und Gesellschaft der Porsche AG. Gegenstand des Gespräches war ein allgemeiner Austausch."


Ach so, man/frau hat sich nur über Gott und die Welt unterhalten. Als Abteilungsleiter eines Ministeriums, das für die Umweltverschmutzung durch ungezügelten Individualverkehr, das Desaster der Bundesbahn, den maroden Zustand von Straßenbrücken und manches mehr verantwortlich zeichnet, scheint man viel Zeit für gepflegte Plauderstunden zu haben.
10/2022
Dazu auch:
Saubere Regierung im Archiv der Rubrik Medien (2022)







Bräunliches Europa


Heulen und Zähneklappern in der EU – oder zumindest in den Mitgliedsländern, die sich für vorbildliche bürgerliche Demokratien halten: Ein karnevaleskes Parteientrio aus Neofaschisten, Ultranationalisten und korrupten Rechtskonservativen wird demnächst die Regierungsmacht in Italien übernehmen. Warum aber so überrascht? Ein Siegeszug von Gruppierungen mit rechtsradikalem Hintergrund lässt sich in der Union schon seit geraumer Zeit beobachten.

Gefährlich und absurd


Dass Giorgia Meloni, die ihre politische Sozialisation bei den Neofaschisten durchlief und auch heute noch nett vom verblichenen Duce Mussolini denkt, die italienischen Parlamentswahlen haushoch gewinnen würde, hatte sich schon seit Monaten herauskristallisiert. Die Oberschwester der Brüder Italiens (Fratelli d’Italia) wird nun wohl eine Koalition mit zwei kongenialen Polit-Kumpanen eingehen, deren fragwürdiges Auftreten einigen Spott provoziert, die aber gleichzeitig aufgrund ihrer materiellen Ressourcen bzw. ihres menschenverachtenden Eifers als gefährlich für eine bürgerliche Demokratie einzustufen sind.


Matteo Salvini, Führer der Lega, einer Partei, die bei ihrer Gründung noch Norditalien vom Süden abspalten wollte und die sizilianischen oder kalabrischen Landsleute als faule Untermenschen diffamierte, ging als Innenminister in seinem Fremdenhass so weit, dass er überfüllten Rettungsbooten mit schwerkranken und hungernden Flüchtlingen an Bord das Anlegen in den Häfen des Stiefels verweigerte. Deshalb muss er sich bis heute wegen Verstoßes gegen das Seerecht und unterlassener Hilfeleistung vor Gericht verantworten.


Silvio Berlusconi, Il Cavaliere (Der Ritter), wie er sich selbst gern titulieren lässt, und Chef der notorisch korrupten Partei Forza Italia, könnte wegen seiner sagenhaften Eitelkeit, seiner Bunga-Bunga-Partys mit verfügbaren Minderjährigen und der Winkelzüge, durch die er stets der Justiz entkam, vielleicht als illustrer Schelm durchgehen, würde er nicht ein immenses Manipulationspotenzial sein Eigen nennen: Der siebenfache Milliardär orchestriert über ein Imperium von Print- und Funkmedien, das einem Monopol nahekommt, die öffentliche Meinung nach Belieben. Wir sollten uns allerdings davor hüten, Politiker mit Mut zur Lächerlichkeit als Witzfiguren abzutun. Regiert nicht in einem uns sehr gut bekannten Land  ein Bundeskanzler, der zukunftsweisende  Kabinettsentscheidungen im Jargon von Comic- und Landserheftchen kommuniziert („Wumms“, „Bums“, „Bazooka“) und der sich immer dann temporäre Anfälle von Demenz erlaubt, wenn er danach gefragt wird, was er bei Kaffeekränzchen mit des Steuerbetrugs verdächtigen Bankiers zu besprechen hatte.


„Na ja, es ist halt Italien!“ wird mancher überhebliche Resteuropäer den Rückfall der mediterranen Republik in chauvinistische Restauration relativieren wollen. Doch ein Blick in die Mitte, den Osten, den Westen und den Norden der EU wird ihn eines Besseren belehren: Der oberflächliche Liberalismus der Wohlstandsbürger (der sich und seine Schicht als Wahrer der Toleranz deklariert) befindet sich auf dem Rückzug, die nationalistischen Hardliner, gerade noch als exotische Ausnahmen wahrgenommen, könnten demnächst für die Regel stehen.


Rechte Internationale auf Kurs


Nur ein paar Tage vor dem italienischen Sündenfall wählten die Schweden eine Partei zur zweitstärksten Kraft, die einst von Neonazis und Skinheads gegründet wurde. Da zugleich die bislang regierende Koalition aus Sozialdemokraten, Linken und Grünen abgestraft wurde, können nun die Schwedendemokraten die Bedingungen für das nächste Kabinett diktieren, das die konservativen Parteien ohne eigene Mehrheit im Parlament sind. Ob die Rechtsradikalen sich die Duldung einer Minderheitsregierung teuer bezahlen lassen oder auf eigene Ministerämter pochen, ist noch nicht ausgemacht. Undenkbar ist letzteres nicht, hatten doch auch schon im benachbarten Suomi ihre Brüder im Geiste, die Wahren Finnen, in Helsinki bis zur Spaltung 2017 einige Ressorts inne.


Natürlich lässt sich aus Sicht des bürgerlichen Lagers den Radikalnationalisten der Wind aus den Segeln nehmen – indem man sie rhetorisch imitiert und möglicherweise sogar überbietet. Die sozialdemokratische dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen hat das im letzten Wahlkampf erfolgreich demonstriert, als sie dermaßen überzeugend gegen Flüchtlinge hetzte, dass ihre Gegner auf der äußersten Rechten ihre Themen davon schwimmen sahen. So übernehmen peu à peu die arrivierten Parteien die Inhalte der Nationalisten, aus taktischen Gründen, vielleicht aber auch ein bisschen aus klammheimlicher Überzeugung und womöglich dauerhaft.


In Österreich brachte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der den extrem populistischen Pep in die Koalition mit der ÖVP eingebracht hatte, durch sein Faible für Korruption und Mediengleichschaltung, seine selten vulgäre Machtgier und die Tölpelhaftigkeit, mit der in jede von Investigativ-Journalisten gestellte Falle tappte, seine Partei um ihre Regierungsbeteiligung. In Polen ist der Unterschied zwischen der am rechten Rand angesiedelten autoritären PiS-Regierung und einer handfesten nationalistischen Autokratie haarfein. Ministerpräsident Viktor Orban hat in Ungarn diese Demarkationslinie bereits überschritten.


Zieht man noch in Betracht, dass in Frankreich die Chauvinistin Marine Le Pen bei der Präsidentenstichwahl nur wenige Prozentpunkte hinter Emanuel Macron lag, in den Niederlanden der Rechtspopulist Geert Wilders den konservativen Ministerpräsidenten Mark Rutte zu einer immer flüchtlingsfeindlicheren Politik treibt und in Kroatien die nationalkonservative Regierungspartei HDZ im Parlament die stärkste Fraktion stellt und sich zur Mehrheitsbeschaffung auf die an dritter Stelle liegende faschistoide Heimatlandbewegung stützen kann, wird man kaum zu einer positiven Beurteilung der politischen Situation in der EU gelangen können.


Nationalismus von Staats wegen

Überhaupt geht es gerade auf dem Balkan höchst unübersichtlich zu: In Bulgarien und Rumänien kämpfen alte Seilschaften, neue Gangster und Ultra-Nationalisten um ökonomische Macht und politischen Einfluss. Wie auch im Rest der Union fällt auf, dass sich viele der besonders exponierten Rechtsradikalen zum „lupenreinen Demokraten“ (G. Schröder) und Warlord Putin in Moskau hingezogen fühlen. Eine seltsame Erfahrung musste indes EU-Beitrittskandidat Nordmazedonien machen: In manchen Ländern nistet der Nationalismus nicht nur in den Köpfen von Fanatikern, sondern anscheinend auch in Hirnen der obersten Staatsdiener.



Zunächst musste sich der Bittsteller Mazedonien die Vorsilbe „Nord“ selbst verpassen, weil Griechenland damit gedroht hatte, andernfalls den EU-Beitritt per Veto zu blockieren. Die Regierung in Athen wollte sozusagen den Weltenherrscher Alexander, genannt der Große, für sich vereinnahmen, und der war bekanntlich Mazedonier. Beim Versuch, den Weltenherrscher dem griechischen Kulturerbe zuzuschlagen, vergaßen die Helenen allerdings, dass laut gängiger Geschichtsschreibung dessen Vater, König Philipp von Makedonien, der ihre Vorväter unterwarf, von diesen als Barbar angesehen wurde. Kaum war das Problem mittels Nachgiebigkeit der Regierung in Skopje gelöst, musste das frischgebackene Nordmazedonien den östlichen Nachbarn in Sofia besänftigen, der plötzlich die Anerkennung einer bulgarischen Minderheit als eigenständiges Volk forderte, die mazedonische Sprache zum bulgarischen Dialekt herabwürdigte und sich wie eine Zentralmacht, die eine aufmüpfige Provinz schurigelt, aufführte. Immerhin hatten die Bulgaren das mazedonische Gebiet ja schon einmal besetzt – mit Hitlers Hilfe.


Die Marschroute innerhalb der EU tendiert nach rechts, es geht klar in Richtung Nationalismus und Intoleranz. Dass sich die (plötzlich wieder zukunftsfähigen) Ewiggestrigen in der Offensive befinden, ist auch ein „Verdienst“ von konservativen und rechtsliberalen Parteien, die sich selbst durch windige Bündnisse an der Macht halten wollen und damit die Chauvinisten salonfähig machen. Zudem bedienen sich „staatstragende“ Politiker, von Söder bis Macron, gern des nationalistischen Vokabulars. Übrigens gehört die Forza Italia der EVP an, der länderübergreifenden Fraktion der Christdemokraten im EU-Parlament. Ihr Chef, Il Cavaliere Silvio Berlusconi, wird demnächst zusammen mit Rassisten und Neofaschisten Italien regieren.


Und hierzulande darf die AfD angesichts des hilf- und prinzipienlosen Gewurstels der Ampelkoalition und einer latenten Annäherung der Christen-Union (vor allem im Osten) an nationalistische Inhalte auch wieder auf bessere Zeiten hoffen.

10/2022
Dazu auch:

Europa wird braun in der Rubrik Politik und Abgrund (2016)



Hochsaison für Heuchler


Nirgends wird so beredt geschwindelt, Gefühl vorgetäuscht und Anteilnahme geheuchelt wie auf Beerdigungen. Schon im Vorfeld heben alle möglichen Bekannten und Gesprächspartner die Verdienste von verstorbenen Prominenten in den Himmel, auch wenn sie diesen das kühle Grab gönnen und sie in die Hölle wünschen. Vor wenigen Tagen ließen sich solche Stereotypien wieder einmal trefflich beobachten, als kurz hintereinander Hans-Christian Ströbele und Michail Gorbatschow das Zeitliche segneten.


Der letzte Grüne mit Gedächtnis


Es mag an der grünen Basis noch alte Kämpen geben, die den Tod Ströbeles ehrlich bedauern, nicht nur menschlich, sondern auch aus politischen Gründen, war der Berliner Rechtsanwalt doch der Letzte in seiner Partei, der ihre ursprünglichen Inhalte und Anliegen noch bis zum Ende hochhielt. Den Alphatieren seiner Öko-Fraktion im Bundestag war er stets lästig gewesen, löckte er doch hartnäckig gegen den sich immer mehr neoliberal zuspitzenden Stachel der Kollegen.


Der unkonventionelle Linke hatte einst die „Übernahme“ der DDR-Wirtschaft durch die BRD als „größte Landnahme der deutschen Industrie seit den Kolonialkriegen, sieht man mal von der Nazi-Zeit ab“ bezeichnet. Nachdem Ströbele 1998 in den Bundestag eingezogen war, kritisierte er die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens durch die Bundeswehr, die sein Parteifreund Joschka Fischer mit verantwortet hatte, und distanzierte sich von der unsozialen Hartz-IV-Einführung. Das Grünen-Imperium schlug zurück, und Ströbele verlor seinen sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl 2002. Daraufhin trat der renitente Sponti als scheinbar aussichtsloser Direktkandidat für den Wahlkreis Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg an, errang das Mandat und verteidigte es noch dreimal, ehe er 2017 seine Parlamentskarriere beendete.


Während sich andere, vermeintlich linke, Prominente der Öko-Partei, etwa Jürgen Trittin, von machtaffinen internationalen Think Tanks wie der Atlantik-Brücke oder der Bilderberg-Konferenz vereinnahmen ließen, blieb Ströbele ein standhafter Kritiker der deutschen Sozial- und Militärpolitik und ein unerbittlicher Aufklärer in zahllosen Untersuchungsausschüssen. Er besuchte den Whistleblower Edward Snowden in Moskau und unterstützte Julian Assange, dessen inhumane Behandlung für die zur Ministerin gereifte Frau Baerbock plötzlich kein Thema mehr war. Zuletzt wandte sich der streitbare Jurist gegen das Bekenntnis der Grünenspitze zu uneingeschränkten Waffenlieferungen in die Ukraine.


Nun mussten also die führenden Öko-Profis ein paar Krokodilstränen verdrücken und salbungsvolle Worte über den Mann absondern, den sie doch im Bundestag gar nicht haben wollten, obwohl er ihnen als Mitgründer der taz ein publizistisches Forum geschaffen hatte. Ein Freud’scher Versprecher unterlief dabei dem Bundesvorsitzenden der Grünen, Omis Nouripour, der Ströbele als „Ikone des Kampfes für Demokratie und Frieden“ bezeichnete. Was macht man mit einem verstaubten Götzenbild der Orthodoxie, wenn man selbst längst nicht mehr für eine soziale Umgestaltung oder pazifistische Ziele kämpfen will? Man stellt es in die Rumpelkammer (was in diesem Fall ebenso wie die Metapher misslang). Vizekanzler Robert Habeck, der gerade „versehentlich“ Krisengewinnlern in der Energiebranche Extraprofite bescheren wollte, nannte den „Parteifreund“ einen Politiker, „der vielen Menschen imponiert hat - mir auch - wegen seiner Geradlinigkeit, seinem unverrücklichen Einsatz für Bürgerrechte, für soziale Politik". Da sich aber die maßgeblichen Kräfte der Grünen eben nicht „unverrücklich“ für sozialen Wandel und Bürgerrechte einsetzen, kann man die Partei nach dem Tod des letzten Aufrechten, der sich noch an den Aufbruch vor über vierzig  Jahren erinnern konnte, getrost vergessen.


Die Trauer der Lügner


Die historische Bedeutung des Michail Gorbatschow ist sicherlich immens, dennoch fällt die Beurteilung zwiespältig aus: Als er ein verknöchertes bürokratisches, teilweise inhumanes System, das eher staatsdirigistisch als sozialistisch zu nennen war, reformieren wollte, beseitigte er es stattdessen, doch schaffte er es nicht, eine gerechtere gesellschaftliche Utopie zu entwickeln und wenigstens ansatzweise durchzusetzen. Er brachte der Welt einen Augenblick des Aufatmens, der militärischen Deeskalation, doch ließ er sich sowohl von den chauvinistischen Kräften im eigenen Land als auch von den Versprechungen der NATO, die Selbstbescheidung vorgab, aber Expansion plante, täuschen.


Was als Perestroika begann, ist mittlerweile zur auf Oligarchie, Religion und Nationalismus setzenden Autokratie Putins verkommen. Doch auch der jetzige Herr im Kreml, der noch unlängst Gorbatschow als Totengräber Großrusslands diffamierte, hat in einem seltenen Anfall von Pietät angesichts des Ablebens seines Vorgängers offenbar Kreide eingenommen. Der habe ein tiefes Verständnis für die Notwendigkeit von Reformen gezeigt und versucht, eigene Lösungen für drängende Probleme der Zeit zu finden. Klingt wie die Floskel „Hat sich stets nach Kräften bemüht, den Anforderungen gerecht zu werden“ (war aber heillos überfordert) in einem miserablen Arbeitszeugnis. Immerhin trieb Putin, der seine Form des rigiden Staatskapitalismus als „Lösung“ gefunden hat, die Hypokrisie nicht so weit, am offenen Grab zu erscheinen und hemmungslos zu schluchzen.


Kaum an Scheinheiligkeit zu übertreffen ist wieder einmal der deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, der über Gorbatschow psalmodierte: „Deutschland bleibt ihm verbunden, in Dankbarkeit für seinen entscheidenden Beitrag zur deutschen Einheit, in Respekt für seinen Mut zur demokratischen Öffnung und zum Brückenschlag zwischen Ost und West, und in Erinnerung an seine große Vision von einem gemeinsamen und friedlichen Haus Europa." Nachdem die BRD-Regierungen ihre Dankbarkeit sattsam durch aktive Teilnahme an der militärischen Umzinglung der Russischen Föderation bewiesen und damit Putins Chauvinismus Vorschub geleistet haben, säuselt nun der deutsche Häuptling dem betrogenen Verstorbenen hinterher. Der verbitterte Gorbatschow hatte für die Brückenzerstörer im Westen zuletzt nur noch eine Bezeichnung übrig: „Lügner!“


Gäbe es ein  kurzes Leben nach dem Tod - Michail Gorbatschow würde  den  Lobrednern seine Dankbarkeit erweisen.


Rotation in Gräbern


Die Verbreitung von Unwahrheiten, Euphemismen und Geschichtsklitterungen gehört zum politischen Handwerk, so wie Beschönigung, Bigotterie und – heimlich – üble Nachrede zu den Gepflogenheiten bei der Beisetzung auf dem Dorffriedhof zählen. Was aber die Verklärung ihres ungeliebten Parteifreundes durch die grünen Granden, die Steinmeier’schen Halbwahrheiten und Putins vergiftetes Lob für Gorbatschow so penetrant und unerträglich macht, ist die mediale Verbreitung, der man nicht entkommen kann.


Die verstorbenen Opfer können sich ohnehin nicht gegen verlogene Darstellungen ihres Wirkens und ihrer Person wehren. Sie würden sich allenfalls im Grab umdrehen, gäbe es so etwas wie ein Leben nach dem Tod. Ohne Widerspruch und bei entsprechender Präsenz in Presse und Internet verwandelt sich aber der Nachruf-Schwulst in „gefühlte“ Realität.
Man denkt unwillkürlich an den impressionistischen Maler Max Liebermann (dessen Ausspruch zum Fackelzug der Nazis 1933 oft fälschlicherweise Kurt Tucholsky zugeschrieben wird), auch wenn die rhetorische Störung der Totenruhe ein vergleichsweise belangloser Anlass ist: "Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte."

09/2022
Dazu auch:
Grünes Atomfaible im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)






Das ewige Übel
Cartoon: Rainer Hachfeld


Noch wissen wir wenig über den Mordanschlag auf den Schriftsteller Salman Rushdie, doch es dürfte nicht voreilig sein anzunehmen, dass er aus religiösen Motiven begangen wurde. In einer von materieller Gier und imperialem Machtanspruch, also von primitivster Sachlichkeit, geprägten modernen Welt erleben wir wieder einmal, dass die alten, überkommenen Kulte immer noch als Brandbeschleuniger funktionieren. Man könnte fast vermuten, sie seien auf dem Vormarsch: in Amerika, Asien und Afrika vor allem.


Erste Sinnstiftung, letzter Aberglaube


Mag sein, dass der Steinzeitmensch, der sich Naturphänomene sowie Umweltkatastrophen nicht erklären und in seinem ständigen Existenzkampf keinen höheren Lebenssinn erkennen konnte, den Glauben an unsichtbare Mächte benötigte, um nicht zu verzweifeln, aber um abstrakt kreativ zu werden. Vielleicht erschuf er deshalb einen Parallel-Kosmos, der von Dämonen und Göttern bevölkert war, denen er menschliche Züge, Gefühle und Eigenschaften zusprach, wie es einst der Philosoph Ludwig Feuerbach beschrieben hatte.
Spätestens seit der Aufklärung und dem Beginn des technischen Fortschritts hätte man die maßgebliche Verantwortung für das weltweite Geschehen und die geschichtlichen Entwicklungen aber als genuin menschliche erkennen müssen. Dennoch halten sich die Religionen, die Sekten und Propheten, die einen mit geringer werdendem Erfolg, die anderen sogar auf originär säkularen Gebieten wie Politik und Staat expandierend.


Ein Opfer der mit immer größerer Brutalität und mit kriminellen Methoden operierenden Zeloten wurde nun Salman Rushdie, der während einer Lesung in den USA von einem offenbar durch geistliche Propaganda angestifteten Täter niedergestochen und lebensgefährlich verletzt wurde. Der in Bombay (heute Mumbai) geborene Schriftsteller hatte 1988 in seinem Roman „Die satanischen Verse“ die  skrupellosen Rankünen des Religionsstifters Mohammed (Pseudonym: Mahound) beschrieben und zugleich den göttlichen Ursprung des Koran in Frage gestellt. Das Buch reichte in der Qualität bei weitem nicht an die genialen „Mitternachtskinder“ heran, die Rushdie sieben Jahre zuvor verfasst hatte. Für Ajatollah Chomeini, Staatschef in Teheran, war jedoch die Blasphemie Anlass genug, die Fatwa zu verkünden, also zur Tötung des Autors aufzurufen und ein Kopfgeld von einer Million Dollar aussetzen zu lassen.


Auch wenn der Iran inzwischen jede Verbindung zu dem Messerstecher leugnet, bleibt doch der Fakt, dass die Hetze gegen Rushdie vom Mullah-Regime in Teheran ausging, das die Fatwa übrigens nie zurückgenommen hat. Andernorts wird die militante Intoleranz Atheisten, missliebigen Wissenschaftlern oder Menschen mit „abweichenden“ Vorstellungen von Sexualität gegenüber meist von Fundamentalisten an den Rändern der großen Glaubensgemeinschaften gepflegt. Im Iran indes handelt es sich um einen schiitischen „Gottesstaat“, in Radikalität und tödlicher Konsequenz der sunnitischen Wahhabiten-Diktatur in Saudi-Arabien ähnlich.


Weltreligionen mit Dreck am Stecken


Religiöser Fanatismus, der den Frieden zwischen Völkern und das Zusammenleben in einer Gesellschaft bedroht (oder wie in Afghanistan unmöglich macht) ist beileibe nicht nur im Islam zu finden. Die christlichen Kirchen haben in der Vergangenheit systemisch Andersdenkende verfolgt, grausame Machthaber unterstützt – und sie tun es zum Teil heute noch.
Als im Jahr 1099 das multinationale, von Papst Urban II. zum „Heiligen Krieg“ entsandte Kreuzfahrerheer Jerusalem erobert, lässt es die gesamte Einwohnerschaft – egal, ob Moslems, Juden oder Christen – über die Klinge springen. Zur religiösen Hysterie gesellte sich die Habgier der frommen Ritter. Nach der Reconquista in Spanien errichtete die „Heilige Inquisition“ ein Terror-Regime, das Andersgläubige einkerkerte, folterte, hinrichtete und so die Gräuel der Gestapo vorwegnahm. Noch im vorigen Jahrhundert verbündete sich dort der hohe Klerus mit Francos Faschisten, und über den klandestinen Laienorden Opus Dei half die Römisch-Katholische Kirche bei der blutigen Stabilisierung der Diktatur kräftig mit. Gegenwärtig segnet der Patriarch der russisch-orthodoxen Fraktion die Waffen für Putins Angriffskrieg.


Auf protestantischer Seite sieht es nicht besser aus: Der erklärte Antisemit Martin Luther forderte seine Mitmenschen dazu auf, jeden aufsässigen Bauern zu erwürgen. Die Puritaner in New England wiederum wussten, nachdem sie den Indigenen das Land geraubt hatten, nichts Besseres, als Hexen zu verbrennen und die Angehörigen der friedliebenden Quäker-Sekte zu verfolgen, sodass letztere laut Nathaniel Hawthorne in die Wälder zu den „Wilden“ flohen, weil sie von denen nicht umgebracht wurden. Fast könnte man mutmaßen, dass die Wurzeln der rechtsradikalen Gemeinschaft von US-Evangelikalen, allesamt Trump-Unterstützer und Evolutionsleugner, in dieser fernen Vergangenheit zu orten sind.


Wer in die vermeintlich gewaltlose Mythologie der polytheistischen Religionen Asiens eintauchen möchte, ist ebenfalls schlecht beraten.

Indiens Präsident Modi diskriminiert und schikaniert Moslems und Naturvölker derart konsequent, dass nicht wenige Experten ihm unterstellen, er wolle einen rassistischen Hindu-Faschismus etablieren. Auch der als pazifistisch missverstandene Buddhismus, dessen Mönche in Myanmar zu Massakern an den islamischen Rohingya aufriefen, dessen politische Repräsentanten auf Sri Lanka die Unterdrückung von tamilischen Hindus und Moslems forcierten, bildet leider keine rühmliche Ausnahme.
Die vier apokalyptischen Reiter? Nein, nur ein katholischer Kreuzzügler-Kardinal, Hindu-Präsident Modi, Schiiten-Ajatollah Khamenei und der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill auf der Jagd nach Ungläubigen. Der Bauernwürger Luther trabt hinterher.


Das Comeback der Fundamentalisten


Glaube und Religionszugehörigkeit sollten jedermanns/frau Privatangelegenheit sein, politische Einflussnahme auf Seiten der Macht und staatliche Alimentierung sakraler Institutionen sprengen allerdings den gesellschaftlichen Konsensrahmen. Es sei nicht verschwiegen, dass von den großen Religionen bisweilen positive Initiativen ausgehen, etwa wenn die Jesuiten in Kolumbien Slums sanieren (und dabei selbst ins Fadenkreuz rechter Paramilitärs oder der Kokainkartelle geraten), wenn sich Bischöfe für die Rechte der Indigenen engagieren – oder wenn der Hindu Gandhi sich für die Unabhängigkeit seines Landes und die Aussöhnung seiner Glaubensbrüder mit den Moslems einsetzte (weswegen er prompt von einem Hindu-Nationalisten ermordet wurde).


Doch derzeit mehren sich die Anzeichen, dass die religiösen Fundamentalisten überall an Boden gewinnen: Der Anschlag auf Salman Rushdie ist nur die Spitze eines aus Kälte gegenüber Andersdenkenden und tödlichem Eifer im Dienste irgendwelcher Götzen-Stellvertreter auf Erden geformten Eisbergs. Im Jemen stehen die Verbündeten der iranischen Theokratie den Söldnern des wohl rigidesten und mächtigsten Gottesstaates auf Erden, Saudi-Arabien, gegenüber. In Somalia, Nigeria und der Sahelzone marodieren islamistische Terrormilizen, die in Al Qaida und dem Islamischen Staat ihre Vorbilder sehen.


In den USA werden die Evangelikalen des Bible-Belts, die fest glauben, die Welt sei vor ziemlich genau 6000 Jahren erschaffen worden, mit ziemlicher Sicherheit die Aufstellung des republikanischen Kandidaten für 2024 und dann möglicherweise die Wahl des nächsten Präsidenten entscheidend beeinflussen. Ihre Einpeitscher, die geistig schlicht gestrickt sind, aber allerhand von digitaler Meinungsmanipulation verstehen, haben bereits in Lateinamerika erfolgreich missioniert: in Guatemala zum Beispiel oder in El Salvador, wo sie Abtreibungsverbote selbst bei Lebensgefahr für die Schwangere und nach Vergewaltigungen durchsetzten, vor allem aber in Brasilien, wo ihr Glaubensbruder Bolsonaro derzeit in Amazonien die „Schöpfung“ zum Vorteil befreundeter Konzernchefs abfackeln lässt.
In Europa driftet derweil Polen in einen extremen Klerikal-Rechtskonservatismus, als Pressure-Group dient  hierfür die reaktionäre katholische Geistlichkeit. Voltaire hätte sich vor 250 Jahren wohl ebenso wenig wie Tucholsky vor 100 und Simone de Beauvoir vor 40 Jahren vorstellen können, welche eminente Rolle die religiöse Restauration im 21. Jahrhundert noch spielen könnte.


Angesichts solcher Szenarien ist man versucht, in kindliche Muster zurückzufallen und inniglich zu seufzen: „Himmel, hilf!“
08/2022
Dazu auch:
Die Christuskrieger im Archiv von Politik und Abgrund (2015)








Railway to Hell
Wenn viele Bürger unter exponentiell gestiegenen Lebenshaltungskosten oder Abgaben leiden, neigen Bundesregierungen bisweilen dazu, sie irgendwie zu entlasten: häufig durch ungeeignete Boni, etwa Tankrabatte oder Steuererleichterungen, die vor allem Besserverdienenden nützen. Das 9-Euro-Ticket aber stellt ein per se sinnvolles und sogar zukunftsweisendes Angebot dar, nur offenbaren sich gerade dadurch die Versäumnisse der Vergangenheit und es steht zu befürchten, dass im September wieder alles so mies wird wie vor den drei hoffnungsvollen Monaten Juni, Juli und August.


Huch! Passagiere!


Auf so vieles hatte sich die Deutsche Bahn in den letzten Jahrzehnten einstellen müssen: auf die Stilllegung von Nebenstrecken, das Outsourcen von Reparaturarbeiten, die Verknappung des Personals, die (zögerliche und häufig unterlassene) Ankündigung von Verspätungen sowie Zugausfällen, die Überbelegung von Gleisen – und das alles, weil profitabel (oder weniger defizitär) gewirtschaftet werden, ja – in träumerischen Zeiten – sogar der Gang an die Börse vorbereitet werden sollte. Mit einem aber konnten die Eisenbahn-Dirigenten der Nation nun wirklich nicht rechnen, mit einem drastischen Anstieg der Fahrgastzahlen nämlich.


Die Idee, die durch unkontrollierte Energiekostensteigerungen verursachten Nöte der Bevölkerung mithilfe eines preiswerten ÖPNV-Abos zu mildern und dabei gleichzeitig den umweltfreundlichen Wechsel von der Straße auf die Schiene schmackhaft zu machen, war eigentlich gut, wie rund 30 Millionen Nutzer belegen, die Umsetzung aber legt den maroden Zustand des deutschen Bahnsystems bloß.


„Ticket ins Chaos“ hatte der SPIEGEL bereits Anfang Juni getitelt und damit weitgehend Recht behalten. Überfüllte Züge in Corona-Zeiten, Umwege oder lahmgelegte Verbindungen für Berufspendler und Warnungen vor einer Überlastung der Waggons prägen das Geschehen auf und zwischen den Bahnhöfen. Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft, macht die Politik dafür verantwortlich, die den Schienenverkehr kaputtgespart habe. Und tatsächlich investiert die Bundesrepublik pro Bürger nur 88 Euro im Jahr für die Schieneninfrastruktur, in Österreich sind es fast dreimal so viel, der Schweiz ist das für eine ökologisch gestaltete Zukunft unabdingbare Wegenetz der Bahn genau das Fünffache wert. Dementsprechend verkehren in beiden Ländern die Züge bedeutend pünktlicher und störungsfreier als hierzulande.


Deutschland hat sich selbst zum europäischen Primus bei der Bekämpfung der Erderwärmung gekürt und doch bislang alle Klimaziele krachend verfehlt. Spanien und Portugal sind wesentlich weiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien, etliche Staaten haben ein viel dichteres Netz von Fahrradwegen gesponnen als die BRD, und die direkten Nachbarländer zeigen den (vorsätzlichen?) Schläfern in Berlin, wie attraktiver Bahnverkehr funktioniert. In Polen und Tschechien fahren Elektro-Loks westwärts – bis zur deutschen Grenze, dort übernehmen dann schmutzige Diesel-Triebfahrzeuge. Beim internationalen Großprojekt des Brenner-Basistunnels, durch den weite Regionen in den Alpen vom oberirdischen Güterverkehr entlastet würden, haben Italien und Österreich ihre Hausaufgaben erledigt. Es könnte also losgehen, aber in Bayern streitet man sich immer noch um die Trassenführung. Manchmal beschleicht einen naiven Beobachter der Verdacht, die Verlagerung der Frachtgüter von der Straße auf die Schiene und die Reduzierung der Umweltbelastung durch den motorisierten Individualverkehr seien in unserem Autoland gar nicht gewollt.


Bleibt eine humanere Option?


Jahrzehntelang zahlte die Deutsche Bahn ihre Mitarbeiter schlecht, baute Personal ab, vergab die ursächlichen Arbeiten an Fremdfirmen und machte sich selbst mit den LKWs der eigenen Speditionstochter Schenker im Güterverkehr Konkurrenz. Berüchtigte Gestalten wie Hartmut Mehdorn an der Spitze wollten aus dem halbstaatlichen Unternehmen einen strikt kapitalistischen Konzern, einen Augapfel für Spekulanten und Finanzinvestoren, machen. Die Risiken trug der Steuerzahler, die Bahn verlor ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der ÖPNV zum Hoffnungsträger des Umweltschutzes avancierte, rasant an Vertrauen und Bedeutung.


Besonders katastrophal wirkte sich aus, dass die Netz-Infrastruktur völlig vernachlässigt worden war. Nirgends sonst fahren Intercity-Sprinter, Regionalbahnen und Güterzüge auf ein und derselben Schiene, was ständig zu gegenseitigen Behinderungen und zwangsläufigen Verspätungen führt. Der jetzige DB-Chef Richard Lutz rückte bereits 2017 an die Konzernspitze auf, nutzte seine ersten fünf Jahre, um zu der frappierenden Erkenntnis zu gelangen, dass es eben an der Infrastruktur hapere, und kündigt jetzt für 2024 den Start von Überholung und Ausbau des Schienennetzes an. Was etliche Jahrzehnte versäumt wurde, konnte anscheinend auch noch läppische sieben Jahre länger warten.


Dem neuen FDP-Verkehrsminister Volker Wissing, wie seine drei Vorgänger von der CSU eher der Automobil-Lobby zuneigend, versicherte der Netzvorstand der DB, Ronald Pofalla, einstiger CDU-Generalsekretär und Kanzleramtsminister, der sich durch Skandälchen und Entgleisungen selbst demontiert hatte, dass es bestens um die Infrastruktur der Bahn bestellt sei. Dann trat er im April dieses Jahres zurück.


Wie mies es bei der DB tatsächlich um das Schienennetz, die Ausstattung und die Planung bestellt ist, durften Millionen von Berufspendlern, die den Umstieg von der Straße riskiert hatten, gleich zu Beginn der 9-Euro-Kampagne erfahren. Da sie pünktlich an ihrem Arbeitsplatz erscheinen müssen, sind sie wohl dauerhaft für den klimafreundlichen Wechsel zum ÖPNV verloren. Dass Minister Wissing – nicht ganz zu Unrecht - dennoch von einem „großen Erfolg“ sprechen konnte, verdankt sich jenen Ausflüglern und Städtereisenden, die ihr eigenes Land preisgünstig erkundeten und dabei ihre Autos in der Garage ließen.


Doch nun sind die neuen Bahnkunden auf den Geschmack gekommen und wollen mehr, am liebsten die Verlängerung des Spartickets. Wissing stellte freihändig ein neues Angebot – allerdings erst im nächsten Jahr und mit 69 Euro im Monat deutlich zu teuer – in Aussicht. Andere Politiker schlugen 29 Euro als Preis vor, und der unvermeidliche Markus Söder setzte sich mit einem 365-Euro-Jahresticket verbal an die Spitze der Bewegung. Dem bayerischen Ministerpräsidenten war offenbar entfallen, dass soeben seine eigene Partei in Nürnberg ein von der Linken initiiertes Bürgerbegehren mit genau gleichlautender Abo-Forderung für den nordbayerischen Verkehrsverbund VGN aus vorgeblich rechtlichen Gründen abgeschmettert hatte.


Möglich wäre ein solches preisgünstiges Kommunalticket allemal, andere Städte in anderen Ländern (etwa Wien) haben das vorgemacht. Leider hat aber die Umwelt in der deutschen Verkehrspolitik, deren Dirigat SPD und Grüne grob fahrlässig einem Marktliberalen überlassen haben, keine Lobby.


Geld ist da, der Wille womöglich nicht


Straßenbau und Erweiterung von Autobahnen haben bezüglich des  finanziellen Aufwands noch immer Vorrang vor ausreichender Instandhaltung und einem ökologisch notwendigen Ausbau des ÖPNV – obwohl sich doch mittlerweile herumgesprochen hat, dass die Investitionen für den Individualverkehr die Umwelt schwer schädigen und den Klimawandel beschleunigen, während Maßnahmen zur Optimierung der öffentlich-kommunalen Mobilität die Natur und auch die Schadstoffsituation in den Städten entlasten (würden).


Die deutsche Verkehrspolitik scheint sich aber als verlängerter Arm der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer zu verstehen. Das Faible für SUV und „freie“ Fahrt ist nicht nur eine Marotte der FDP, auch die Union und Teile der SPD machen es sich zu Eigen. Selbst in den Gedanken exponierter Grüner, etwa denen des Südwest-Ministerpräsidenten Kretschmann spielen die Bedürfnisse von Daimler & Co eine prominente Rolle. Wenn Geld für die Bahn in die Handgenommen wird, dann für unsinnige Mammutprojekte wie „Stuttgart 21“, nicht aber für umweltverträgliche Verkehrsangebote, die den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen.


Gesetzt den Fall, mittels Einsatzes eines Sondervermögens (das wesentlich sinnvoller wäre als die hundert Milliarden zur Ertüchtigung der Bundeswehr) würde die Bundesbahn in die Lage versetzt, steigende Passagierzahlen zu bewältigen, spräche nichts gegen eine großzügig subventionierte Personenbeförderung. Zum einen blieben uns Schäden an der Umwelt und der Gesundheit, die den Bund später viel teurer zu stehen kommen, erspart, zum andern sind humane Infrastruktur und Daseinsvorsorge (etwa in den Bereichen Verkehr oder Pflege) Pflichten eines Staates, der dafür Steuern und Abgaben einnimmt.


Dass der Markt dies nicht leisten kann, dass Privatisierungen nur Profitinteressen dienen, nicht aber gesellschaftlichen Bedürfnissen, haben die Engpässe in Kliniken während der Corona-Höhepunkte oder das Versagen der Konzerne beim Bahn-Management in Großbritannien hinlänglich bewiesen. Dort musste nicht nur der Schienenverkehr wieder vom Staat übernommen werden, auch die Londoner Metro wurde re-kommunalisiert. Eigentlich könnte man sich künftig solche kostspieligen Irrwege sparen.


Es ist allerdings zu fürchten, dass in der sozialen Lebensvorsorge und der Gewährleistung kollektiver Mobilität der Holzweg in die Privatisierung und Kommerzialisierung auch weiterhin beschritten wird.

07/2022

Dazu auch:

Stuttgart 25 plus im Archiv von Politik und Abgrund (2021)
Deutsche Autofahrer (2017) und Wie tickt der Andi? (2020) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit









Wer darf, wer nicht?


Den russischen Überfall auf die Ukraine als so brutal wie völkerrechtswidrig zu kritisieren und Putin vorzuwerfen, er bugsiere damit die Welt an den Rand einer atomaren Auseinandersetzung, ist durchaus legitim. Die NATO-Regierungen sollten allerdings bei ihren Anschuldigungen auf den Brustton moralischer Überlegenheit verzichten, schweigen sie sich doch über die eigenen Verstöße gegen internationale Vereinbarungen sowie ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit diskret aus.


Krieg im Schatten


Starke Armeeverbände überschritten die Grenze zum Nachbarland und formierten sich in einem Gebiet, das zuvor schon quasi okkupiert worden war, um weiteres Terrain im Norden unter ihre Kontrolle zu bringen und „Terroristen zu bekämpfen“, wie der Präsident verlautbaren ließ.


Nein, das ist kein Frontbericht vom Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar dieses Jahres; der Anlass dieser Meldung vor drei Wochen ist ein Feldzug der türkischen Streitkräfte in Syrien, mit dem erklärten Ziel, die kurdisch-arabischen Selbstverwaltungsgebiete zu erobern und die Bevölkerung zumindest teilweise zu vertreiben, wie es bei früheren Interventionen schon in den Regionen um Afrin und Serekaniye geschehen ist.


Die westliche Staatengemeinschaft, die bei der Identifizierung von internationalen Übeltätern sehr wählerisch vorgeht, schweigt zu diesem Angriffskrieg, den Recep Erdoğan, der Autokrat in Ankara, nach Belieben intensiviert, mal mit der Entsendung von 10.000 Mann in den Nordirak 2011, dann wieder durch systematische Bombardierungen jenseits der eigenen Grenzen. Man braucht den Mann, er soll weiterhin die EU möglichst flüchtlingsfrei halten – und er darf nicht vollends ins Lager seines Kollegen Putin wechseln. Außerdem ist die Türkei Mitglied der NATO, und dieser edle Club begeht keine Kriegsverbrechen; jedenfalls nennt man sie nicht so.


Dass die kurdischen Verbände der YPG und PKK noch vor Kurzem als Verbündete im Kampf gegen den IS gebraucht wurden, dass man sie sogar weltweit feierte, weil sie die Jesiden vor Versklavung und Massenhinrichtung durch die Fundamentalisten gerettet hatten, ist ebenso vergessen wie die Tatsache, dass ihre hart erkämpften Autonomiegebiete so ziemlich die einzig funktionierenden Gemeinwesen auf syrischem Boden sind. Nicht einmal, dass sich viele Christen dorthin geflüchtet haben und jetzt die blutige Rache der im Gefolge der türkischen Armee einfallenden islamistischen Milizen fürchten, interessiert in Washington, Brüssel oder Berlin.


De facto hat Erdoğan angrenzende Gebiete im Nordirak und in Syrien annektieren lassen, in denen seine Truppen Stützpunkte errichtet und mit Straßen verbunden haben. Ein Unterschied zum russischen Vorgehen in der Ukraine ist nicht erkennbar, Sanktionen muss Ankara dennoch nicht fürchten.


Die Leichen im Keller


Etliche Länder haben Putins Invasion in der UN-Vollversammlung verurteilt, schließen sich aber den westlichen Embargo-Maßnahmen aber nicht an. Mag ihre Begründung für dieses zwiespältige Verhalten auch vorgeschoben wirken, sachlich richtig ist sie allemal: Die NATO-Alliierten, insbesondere die USA, hätten in der Vergangenheit Militärinterventionen ohne Mandat der Vereinten Nationen in mehreren Ländern durchgeführt, ohne dass sie dafür durch Sanktionen bestraft oder vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezerrt worden wären.


Tatsächlich haben die westlichen Verbündeten serbische Städte mittels Luftangriffen (auch auf zivile Ziele) in Schutt und Asche gelegt, den Irak nach einer Fake-Kampagne besetzt und entscheidend geholfen, Libyens Infrastruktur und Staatlichkeit nachhaltig zu zerstören. Die fast vier Millionen Toten des Vietnamkriegs und die flächendeckende Verminung des in diesem Konflikt neutralen Laos sind besonders gravierende Beweise für die Skrupellosigkeit, mit der die Interessen Washingtons durchgesetzt werden sollten.


Das Handeln der Westmächte blieb stets ohne Konsequenzen, da sie sich anmaßten, über internationales Recht und Unrecht nach Gusto zu entscheiden. Die Forderung, Putin müsse sich in Den Haag verantworten, ist nur dann glaubwürdig, wenn einige noch lebende US-Präsidenten gleichermaßen dorthin vorgeladen und in die Biographien verstorbener Vorgänger wie Kennedy, Johnson oder Nixon auch die von ihnen verantworteten Kriegsverbrechen aufgenommen würden.


Erstmals erlebt die NATO nun, dass ihr die eigene Doppelmoral wie ein Klumpen Blei auf die Füße fällt. Und wenn ihre bemühten Völkerrechtsexegeten nun beklagen, dass Russland die Zuständigkeit der Richter in Den Haag für seine Rechtsbrüche und eine mutmaßlich inhumane Kriegsführung nicht anerkennt, sollte man sie darauf hinweisen, dass auch die USA für ihre eigenen Bürger und Taten eine Strafverfolgung durch den Gerichtshof in den Niederlanden nicht akzeptieren.


Menschenrecht? Wie es euch gefällt...


Der vehemente Protest in der deutschen Öffentlichkeit gegen Putins Aggression bei gleichzeitigem Schweigen zu Erdoğans Attacken legt den Schluss nahe, ein NATO-Mitgliedsstaat dürfe nach hiesiger Ansicht ein anderes Land angreifen, einem NATO-Gegner hingegen sei dies strengstens verboten. Den Kurden helfen indes solche Spitzfindigkeiten nicht, offenbar auch nicht, wenn sie deutsche Staatsbürger geworden sind.


Auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut antwortete das Auswärtige Amt, dass derzeit 55 Bundesbürger in türkischer Haft säßen, weiteren 49 werde die Ausreise aus der Türkei verwehrt. Zum großen Teil handelt es sich dabei um Deutsche mit kurdischen Wurzeln, die im Internet oder auf Demos das Regime in Ankara kritisiert hatten und bei einem Besuch ihrer alten Heimat festgenommen wurden.


Dass unser NATO-Partner nicht nur in andere Länder einfällt, sondern auch das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit bricht und sich der  Verfolgung deutscher Staatsangehöriger schuldig macht, war dem Bundeskanzler Scholz die lapidare Bemerkung wert, bei diesem Thema gebe es Differenzen. Sofort aber schob Scholz nach, der Zustand der bilateralen Beziehungen sei gut.


So gut, dass Erdoğans Geheimdienst nicht immer die Chat-Gruppen in den sozialen Medien ausspähen muss, um der Regime-Gegner habhaft zu werden. „In einigen Fällen kann die türkische Justiz zudem auf offizielle Unterlagen aus Deutschland zurückgreifen“, wie Susanne Güsten, Korrespondentin für mehrere deutsche Zeitungen sowie die New York Times am Bosporus, unlängst berichtete. Man wird ja wohl noch einem verbündeten Schurkenstaat behilflich sein dürfen…

06/2022

Dazu auch:

Dossier Tatort Indochina in der Rubrik Politik und Abgrund







Ende der Allmacht


Wie waren die Verhältnisse doch schön geordnet in der Blütezeit des Kolonialismus! Europäische Nationen wie Großbritannien, Belgien, Frankreich oder das Deutsche Reich beuteten Länder, die um oft ein Vielfaches größer waren als sie selbst, nach Herzenslust aus. Später, nach den beiden Weltkriegen, schafften es die „zivilisierten“ Staaten, allen voran die USA, dem „unterentwickelten“ Gros der Erdbevölkerung die Regeln für den Warenaustausch, die politische Ausrichtung und das gebührende Wohlverhalten aufzuzwingen. Doch diese Epoche scheint vorbei, überall regt sich Widerstand gegen die westlichen Globalstrategen, begehren Drittweltländer gegen die Bevormundung auf. Diese Entwicklung führt wohl nicht immer gleich zu besseren Lebensverhältnissen, aber sie dürfte unumkehrbar sei.


Rohstoffe stechen die Produktion aus


Jahrhundertelang lief der internationale Handel so ab: Die europäischen Länder, die am weitesten in der Industrialisierung vorangekommen waren, besorgten sich die für ihre Produktion oder Landwirtschaft notwendigen Materialien, vom Salpeter über die Baumwolle bis zum Kautschuk, mit Gewalt oder durch Übervorteilung, auf jeden Fall aber billig. Die daraus gefertigten Erzeugnisse wiederum erzielten auf dem internationalen Markt ungleich höhere Preise, und so kehrten die Rohstoffe, verarbeitet und grotesk überteuert, in ihre Heimat zurück. In Argentinien etwa kauften die Briten zu Niedrigstpreisen Leder sowie Schaffelle ein und sorgten dafür, dass keine einheimische Textilindustrie entstand. Dann lieferten sie die Fertigwaren gegen stattliche Profite wieder nach Südamerika, so dass im 19. Jahrhundert die berühmte Gaucho-Tracht dort von den Stiefeln über die Gürtelschnalle bis hin zum Poncho vollständig aus den Fabriken in Leicester oder Leeds stammte.


Belgien plünderte eine Privatkolonie seines Königs Leopold II., den Kongo, so gründlich, dass der rabiaten Suche nach Kupfer, Elfenbein und Kautschuk rund zehn Millionen Indigene zum Opfer fielen. Das zweite Deutsche Reich wiederum brachte bei seiner kolonialistischen Landnahme in Südost- und Südwestafrika mindestens 500.000 Menschen um und rottete Völker wie die Hereros und Nama nahezu aus. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Abzug der Türken aus der Region zogen Frankreich und Großbritannien im Nahen Osten neue Grenzlinien, die ihre jeweiligen Einflusssphären markieren sollten, wobei es diesmal ums Öl ging. Währenddessen sorgten die USA durch militärische Interventionen oder verdeckte Operation dafür, dass fast überall in Lateinamerika ihnen genehme Diktaturen installiert wurden.


Die Zeiten ändern sich. Mittlerweile sind die industriellen und digitalen Produktionsmöglichkeiten auf einer Stufe angelangt, die der Hightech-Wirtschaft die schnelle und unkomplizierte Herstellung von fast allem, was man braucht oder wenigstens verkaufen kann, ermöglicht, mit Ausnahme des Futters, das Menschen, Maschinen und Roboter am Laufen hält. Und das findet sich meist nicht in den Stammlanden des Kapitalismus, sondern in (einst) eher peripheren Regionen. Ob es sich um Öl, Erdgas, Uran, Kobalt und Lithium handelt oder auch ganz schlicht um Weizen, Mais oder Reis – die Vorkommen und Ernten in der Ersten Welt reichen weder zur Beibehaltung des Fortschrittstempos, noch zur Ernährung der Erdbevölkerung.


Kein Problem, hätten unsere Wirtschaftslenker und ihre Politiker früher gesagt, die Ressourcen holen wir uns für ein Butterbrot. Doch inzwischen haben sich arabische Staaten, die vor noch nicht langer Zeit als willige „Scheichtümer“ galten, mit anderen Erdölländern zur OPEC zusammengeschlossen, einem mächtigen Kartell, das die Fördermengen nach Gusto festlegt und den Kunden seine Preise diktiert; Bolivien, das Land mit den weltweit größten Vorkommen an dem Leichtmetall Lithium, ohne das die E-Mobilität nicht möglich wäre, nimmt nach einem vergeblichen Putschversuch, der wohl in den USA orchestriert wurde, die Vermarktung wieder selbst in die Hand; Putins Überfall auf die Ukraine wird nicht nur für die Erdgasverknappung in Westeuropa, sondern, durch Wegfall von Weizen- und Maisexporten aus der Ukraine und Russland, auch für eine signifikante Verschlechterung der Welternährungslage sorgen. Überall entziehen sich Regierungen den Handelsdiktaten der USA und der EU und treten so selbstbewusst auf, als hätten sich bestimmte Verhältnisse umgekehrt.


Schüler übertreffen ihre Lehrmeister


In LEDs, Lasern oder Akkus stecken die Metalle der sogenannten Seltenen Erden. Die größten Vorkommen dieser für mehrere Industrien überlebenswichtigen Rohstoffe beherbergt die Volksrepublik China. Das bevölkerungsreichste Land der Erde musste ab dem 19. Jahrhundert die bittere Erfahrung machen, dass die westlichen Mächte seiner einheimischen Wirtschaft und einer souveränen Handelspolitik keine Luft zum Atmen ließen, wenn sie die eigenen Profitquellen durch nationale Maßnahmen gefährdet sahen. So zwangen die Briten das chinesische Kaiserreich im Opiumkrieg, das Verbot des Rauschgifts, an dessen Verbreitung sie verdienten, rückgängig zu machen. Später wüteten deutsche Soldaten und US-Marines während des Boxeraufstands in Peking wie Barbaren, um jeden Protest gegen die imperialistische Dominanz der Weißen im Blut zu ersticken.


China benötigt inzwischen zu Ausbeutung, Verarbeitung und Vertrieb seiner Bodenschätze kein westliches Know-how mehr. Wie zuvor Japan hat es sich von den einstigen Lehrmeistern vieles abgeschaut (hinsichtlich brutaler Produktionsmethoden vielleicht sogar zu viel) und sie dann in etlichen Technologiesparten überholt. Mittlerweile werden zahllose Patente von der Volksrepublik angemeldet. Den Ökonomie-Dominatoren der Ersten Welt entgleiten langsam ihre Objekte der Ausbeutung.


Die wachsende Bedeutung vor allem Chinas in der internationalen Wertschöpfung belegen Statistiken, denen zufolge der Anteil des Landes am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit der Jahrhundertwende um 3 Prozent auf 17 Prozent stieg, während die Beiträge der gesamten EU und der USA im gleichen Zeitraum von knapp 26 auf 18 Prozent bzw. von 31 auf 25 Prozent schrumpften. Kein Wunder, dass sich (bisweilen ohne Rücksicht auf ökologische oder kulturelle Verluste) aufstrebende Staaten der Dritten Welt nicht länger von den bröckelnden Industriegesellschaften der ersten Stunde gängeln lassen wollen.


Bemühungen von Entwicklungs- und Schwellenländern, sich aus der Abhängigkeit von den Machtzentren zu befreien, hatte es schon früher gegeben, sogar in konzertierter Form. So gründeten während des Kalten Krieges die Präsidenten von Indien, Indonesien, Jugoslawien, Ägypten und Ghana die „Bewegung der Blockfreien Staaten“, die eine Emanzipation jenseits der beiden damals dominierenden Militärallianzen anstrebten. Dass der Versuch eines dritten Weges scheiterte, war zu einem Teil den divergierenden Partikularinteressen der Mitgliedsländer, zum andern der erfolgreichen Einflussnahme der NATO und des Warschauer Paktes geschuldet.


„Regime Change“ funktioniert nicht mehr


Zu dieser Zeit war es noch leicht für den Westen, das Regime des linken Nationalisten Sukarno in einem blutigen Putsch durch eine mörderische Militärjunta zu ersetzen, in Ägypten die korrupten Nachfolger von Gamal Abdel Nasser auf seine Seite zu ziehen und in Afrika oder Lateinamerika genehme Despoten an die Macht zu bringen. Bereits der Vietnamkrieg markierte einen Wendepunkt, und spätestens nach den Interventionen in Afghanistan mussten sowohl der kollabierende Warschauer Pakt als auch wenig später die NATO erfahren, dass sich „Regime Changes“ mithilfe militärischer Gewalt kaum mehr durchsetzen lassen. Putin dürfte ebenfalls nicht unbeschadet aus „seinem“ Überfall auf die Ukraine hervorgehen.


Inzwischen lassen sich auch viele Menschen in den ärmeren Ländern nicht mehr vom Glamour des „American Way of Life“ blenden oder von Medienkampagnen, die in den USA erdacht wurden, manipulieren, wie die Wahlsiege von linken Kandidaten in Honduras, Chile, Bolivien oder Peru belegen. In Afrika – wie eigentlich fast überall in der Dritten Welt – gewinnt die VR China gegenüber den Europäern an Boden (und das ist angesichts von Pekings Bedarf an fruchtbarem Land durchaus wörtlich zu nehmen), gleichzeitig positionieren sich Schwergewichte wie Indien und Südafrika zunehmend konträr zu den einstigen „Gönnern“.


Nun ist diese Abkoppelung vom Diktat der westlichen Bündnisse nicht als koordinierter oder sogar solidarischer Aufbruch in eine ökologisch verträglichere und sozial gerechtere Zukunft zu verstehen, die Interessen sind zu verschieden, die politischen Intentionen ebenso. Die arabischen OPEC-Staaten als arrogante Ressourcen-Kontrolleure haben unterschiedliche Motive für ihre Widerspenstigkeit als etwa Indien, dessen hindufaschistischer Präsident Modi eine militärische und politische Großmachtrolle für sein Land anstrebt. Linke in Chile oder Mexiko haben ganz andere gesellschaftliche Vorstellungen als die Mullahs im Iran. Eine gemeinsame Vision wie bei den „Blockfreien“ existiert nicht, einig sind sie sich nur im Ungehorsam gegenüber den früheren Taktgebern.


Selbst der Ukraine-Krieg zeigt, dass der Westen seine früher als oft gottgleich empfundene Autorität, die Unterscheidung des Guten vom Bösen vorzunehmen, verloren hat, nur wird das in unseren Medien kaum thematisiert: Als in der UN-Vollversammlung auf Betreiben der NATO- und EU-Staaten Russlands Einmarsch in sein Nachbarland Thema war, verurteilte die große Mehrheit der 193 Mitgliedsstaaten die Aggression. Die deutschen Medien berichteten ausführlich darüber. Dass aber lediglich 48 Länder der vor allem von den USA lancierten Forderung nach umfassenden Sanktionen gegen Moskau nachkamen, wurde hierzulande eher peinlich berührt verschwiegen.


Ein wenig moralische Entrüstung für die Galerie war obligatorisch, doch für die arabischen Ölprinzen kam es ebenso wenig in Frage, ihre guten Wirtschaftsbeziehungen zum Aggressor aufs Spiel zu setzen, wie für Israel, die lateinamerikanischen Staaten, Schwellenländer wie Indien, Indonesien, Südafrika und natürlich China. Die Mehrheit der UN-Mitglieder wollte sich ihr Verhalten wohl auch nicht mehr von Akteuren vorschreiben lassen, deren frühere Übergriffe nie sanktioniert worden waren.

05/2022
Dazu auch:
Völkermord als Test (2018), FREIHEIT und DEMOCRACY und Die Herren des Landes (beides 2014) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund







Putins „Erfolge“


Ungeachtet der traurigen Tatsachen, dass der Krieg gegen die Ukraine immenses Leid über die Zivilbevölkerung gebracht und tausendfach Tod sowie die Flucht von Millionen verursacht hat, zeitigt Putins Überfall für seine russischen Landsleute, die Dritte Welt und auch die Politik hierzulande künftige Konsequenzen, deren Ausmaß noch gar nicht abzusehen ist.


Was wurde erreicht?


Über militärische Erfolge beider Seiten, strategische „Schachzüge“ oder russische Kriegsziele soll hier nicht spekuliert werden – das überlassen wir den Medien, von ARD bis FAZ, deren Korrespondenten und Militärexperten zwar meist fernab von der Front sitzen, aber dennoch pausenlos, vorwiegend auf ukrainische Meldungen vertrauend, das Geschehen so nüchtern kommentieren wie Ultras ein Bundesligaspiel. Mit aller Vorsicht können wir nur vermuten, dass die Invasoren etliche Zivilisten getötet haben, wobei weniger die Propaganda aus Kiew, als vielmehr Putins Taktik der verbrannten Erde in Syrien und der Einsatz der Gruppe Wagner, einer brutalen Söldnertruppe in der Ostukraine, hierfür mögliche Indizien hierfür sind.


Und wir wissen, dass die russische Armee bereits viele Soldaten in der „Spezialoperation“ (offizielle Moskauer Bezeichnung für den Überfall) verloren hat. Unverdächtiger Zeuge ist der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, der nicht nur vage von einer „großen Tragödie“ sprach, sondern in einem Interview mit dem Sender SKY auch „erhebliche Verluste“ der eigenen Truppen beklagte.


Und doch hat Wladimir Putin mit dem von ihm befohlenen Angriffskrieg mehr Wirkung erzielt als jeder andere Staatsmann seit einigen Jahrzehnten, und zwar fernab der Schlachtfelder und mit globalen Folgen. Von positiven Effekten, sowohl für seine mehrheitlich zu großrussischen Chauvinisten mutierten Landsleute als auch für den Rest der Welt, kann jedoch keine Rede sein.


Nicht ohne Grund hatte Putin all die Jahre die aggressive Expansionspolitik der NATO in Osteuropa angeprangert, durch die sein Land von Raketenringen und konventionell hochgerüsteten Nachbarn quasi umzingelt wurde. Doch ging von dieser Drohkulisse bislang keine unmittelbare Kriegsgefahr aus, die Lunte zündete der Kreml-Chef höchstselbst, wahrscheinlich auch in der anmaßenden Hoffnung, das zerfallene Russische Reich zu restaurieren.


Was er erreichte, konterkariert allerdings seine Intentionen und, schlimmer noch, macht die Erde zu einem noch gefährlicheren Ort als sie es ohnehin schon war. Frieden, ökologischer Umbau, gerechte Verteilung der Ressourcen und effektive Hungerbekämpfung scheinen in weite Ferne gerückt.


Optionen ins Gegenteil verkehrt


Putin wollte die zugegebenermaßen arrogante Osterweiterung der NATO stoppen, hat es mit seinem Einmarsch in die Ukraine aber geschafft, dass zwei zumindest formal neutrale Pufferstaaten im hohen Norden, Schweden und Finnland, nun den Beitritt zum westlichen Bündnis erwägen. Damit hätte Russland in Karelien die nächste direkte Grenze mit der NATO, und man darf vermuten, dass Helsinki bald in die Hochrüstung gegen das – wer könnte es jetzt bestreiten? – kriegslüsterne Moskauer Regime einsteigt.


Offenbar schätzten Putin und seine Berater (so er denn auf sie hört) die Stimmungslage in dem Land, das sie teilen oder okkupieren wollten, falsch ein. Die mehrheitlich Russisch sprechende Bevölkerung in ostukrainischen Städten wie Charkiw empfing die Invasionssoldaten keineswegs mit Blumen, sah nicht „Befreier“ in ihnen, sondern Feinde, vor denen sie floh oder gegen die sie sich wehrte. Gleichzeitig widerfuhr der in Kiew herrschenden Politikerkaste, die vorher wegen ihrer Abhängigkeit von unterschiedlichen Oligarchen geschmäht worden war, eine internationale Glorifizierung. Die ziemlich willkürlich agierenden Regierungen waren auch von der EU der Korruption bezichtigt worden, weshalb Brüssel den Beitritt der Ukraine stets abgelehnt hatte. Jetzt gelten deren Protagonisten im Westen als Widerstandshelden.


Die Welt unternimmt – nicht nur, aber vor allem – wegen Putins Krieg eine Rolle rückwärts, was eine umweltverträglichere Energieerzeugung und den Kampf gegen den Klimawandel betrifft: Als hätten einige altvordere Energiekonzerne die Ukraine-Tragödie für ihre Zwecke inszeniert, übertreffen sich Europas Regierungen in ihren Ankündigungen, fossile Brennstoffe wieder ungehemmt zu aufzukaufen, um sich unabhängig von Putins Gas, Öl und Kohle zu machen. Ob es sich um schmutziges Fracking, um Petroleum aus arabischen Diktaturen oder um die Wiederauferstehung deutscher AKW-Leichen handelt – nichts scheint so umweltschädlich oder politisch bigott, dass es nicht zur Versorgung der eigenen Wirtschaft gehamstert wird. Hand in Hand haben nun Putins Hybris und die Unfähigkeit der EU, den Ausbau erneuerbarer Energien in ausreichendem Tempo voranzutreiben, die ohnehin schon miesen Aussichten, den Klimawandel wenigstens zu verlangsamen, noch desparater gemacht.


In großen Teilen der Ukraine kann nicht ausgesät werden, und Mais- sowie Weizenexporte aus Russland werden blockiert oder sind durch Moskaus Ausschluss vom Zahlungssystem SWIFT nicht mehr verkäuflich. Bei uns wird das Brot ein wenig teurer, aber im von Dürre geplagten Afrika kommt das lebenswichtige Getreide überhaupt nicht mehr an. Brav kündigen die staatstragenden Politiker bis hin zu den Grünen an, dass jetzt renaturierte Ackerflächen wieder entrenaturiert werden müssen, Massentierhaltung und Monokulturen gelten plötzlich wieder als systemrelevant, und irgendwann wird Brasiliens Präsident Bolsonaro noch für die Abholzung der Regenwälder zugunsten von Soja-Anbau und riesigen Viehherden gelobt werden.


Auch hier ist Putin nicht allein schuld, aber er hat das Karussell der ökologischen Katastrophen so richtig in Fahrt gebracht. Vielleicht hätten wir auch ohne die osteuropäischen Kornkammern genug Lebensmittel für die Weltbevölkerung; doch was nützt es, wenn diese aufgrund von Terminwetten und anderen Formen der Spekulation mit  Nahrung nicht in die Länder mit Bedarf, sondern in die Hände von Spielern und Meistbietenden gelangen? Auch hier bilden Putins Nationalismus und westlicher Marktliberalismus eine unheilige Allianz des globalen Niedergangs.

Wer redet noch vom Frieden?


Noch in den Zeiten des Kalten Krieges gab es Vereinbarungen zwischen den Blöcken, die nicht perfekt oder per se friedensstiftend waren, aber doch die Erde, insbesondere auch Europa, ein wenig sicherer machten. So setzte das START-Abkommen 1991 zwischen der UDSSR und den USA die hemmungslose atomare Aufrüstung aus, und der INF-Vertrag, sah sogar die Vernichtung der landgestützten Mittelstreckenraketen auf unserem Kontinent vor, bis ihn Trump 2019 kündigte. Obwohl beide Seiten die Regeln ab und zu verletzten, handelte es sich im Großen und Ganzen doch um deeskalierende Maßnahmen.


Und heute? Wehe dem, der hierzulande derzeit von Entspannung oder Abrüstung zu reden wagt! Die Grünen sind ihrem Serbien-Feldherrn Fischer gefolgt und geben sich so militant wie Strauß in seinen besten Zeiten. Olaf Scholz verzieht nicht mal sein Gesicht, wenn er hundert Milliarden Euro für Dinge, die wir hoffentlich nie brauchen werden, ankündigt, dazu zwei Prozent plus X jährlich für eine Bundeswehr, die angesichts ihrer kläglichen Rolle in Somalia, Mali und Afghanistan beten sollte, dass sie sie sich nicht im Krieg und in fremden Ländern bewähren muss.


Keiner erinnert daran, dass es solche Aufrüstungsspiralen sind, die, wenn sie nicht gestoppt werden, Kriege auslösen, dass die NATO-Drohgebärden zumindest in den Augen vieler Russen Putins Aggression rechtfertigen – einen Vorwand dafür haben sie jedenfalls geliefert. Stattdessen gebärden sich Prominente, Publizisten und Moderatoren in unseren Talkshows und TV-Magazinen regelrecht kriegsbesoffen. Niemand weist darauf hin, dass die Bundesregierung ihr eigenes Kriegswaffenkontrollgesetz permanent bricht, indem sie Rüstungsgüter in ein umkämpftes Gebiet liefert; ginge es nach Frau Baerbock, dürfte es sich dabei sogar um ganz dicke Oschis handeln.


Ja, auch das hat Wladimir Putin erreicht: Weltweit verstummen die Mahner und Friedensaktivisten.
04/2022
Dazu auch:
Putin und das Chaos im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)








Tod durch Diebstahl

Durch den wahnwitzigen Überfall auf die Ukraine hat es Wladimir Putin nicht nur geschafft, die globale Aufmerksamkeit von den entscheidenden Problemkomplexen der Zukunft wie Klimawandel, Artensterben oder Ressourcenzugang abzulenken, sondern auch noch gegenwärtige Katastrophen, etwa den Krieg im Jemen und den Genozid an den Rohingya, aus dem humanitären Fokus verschwinden zu lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn: Wen interessiert derzeit schon, dass die Menschen in Afghanistan vom Hungertod bedroht sind – nicht zuletzt, weil die einstigen Verbündeten im Westen die Hilfen blockieren und sich die US-Verantwortlichen sogar als Bankräuber betätigen.


Kinder hungern, nicht Taliban


Zugegeben, in Afghanistan wird der Frieden (besser: das Überleben) der gesamten Welt derzeit nicht in solchem Maße bedroht wie in der Ukraine. Deshalb ist es verständlich, dass alle Augen auf Osteuropa gerichtet sind. Falls aber ein nuklearer Schlagabtausch vermieden werden kann, dürfte dort die Zahl der Opfer, die vor allem Putin zu verantworten hat, weit geringer ausfallen als die der Nachkriegskatastrophe am Hindukusch.


Nach UN-Schätzungen sind 8,7 Millionen Afghanen vom Hungertod bedroht, mehr als eine Million Kinder könnten gegen Ende dieses Winters bereits an Auszehrung gestorben sein. Vermutlich werden, wenn in Kiew oder Charkiw bereits die Trümmer weggeräumt sind und der Wiederaufbau begonnen hat, in Kabul, in Herat und in den entlegenen Regionen Afghanistans immer noch Kinder verhungern oder an den Folgen der Mangelernährung verblöden. Zwanzig Jahre lang hat der Westen das Land in wirtschaftlicher Unmündigkeit gehalten, mittels Einfuhren jede nennenswerte einheimische Produktion abgewürgt und die Bevölkerung derart von Nahrungsmittellieferungen abhängig gemacht, dass eigener Ackerbau (mit Ausnahme der Kultivierung von Schlafmohn) sinnlos schien. Nach ihrer Niederlage und Flucht verhängten die NATO-Alliierten strikte Sanktionen und schneiden so das Land von überlebenswichtigen Importen ab.


Während Corona und die anhaltende Dürre die Lage in Südasien noch prekärer machen, nimmt die internationale Spendenbereitschaft ab oder fokussiert sich auf andere Empfänger (etwa die Ukraine). Organisationen wie das UN World Food Programme oder die Welthungerhilfe beklagen, dass sie weder von staatlicher noch von privater Seite genügend ausgestattet werden, um das Elend erfolgreich bekämpfen zu können. Diese humanitäre „Enthaltsamkeit“ und die Sanktionen sind gegen die Taliban gerichtet, treffen aber die Armen, besonders die Kinder.
Dabei wären trotz bescheidener Spendenbereitschaft und des Kapitalabflusses durch die korrupte Ex-Elite Mittel vorhanden, um die Not zumindest zu mildern. Der afghanische Staat selbst könnte aktiv werden, wenn man ihm nicht Gelder vorenthielte, die ihm rechtlich zustehen.


Postkolonialer Rechtsbruch


Die internationale Kampagne United Against Inhumanity (UAI) hat unlängst in einem Offenen Brief Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert, den in Berliner Geldinstituten lagernden Anteil an den afghanischen Zentralbankreserven in Höhe von 2,1 Milliarden Dollar freizugeben. Die nationale Zentralbank DAB hatte aus Vorsicht die Rücklagen des Landes in Westeuropa und den USA auf Banken deponiert. Nun wurden die Gelder „eingefroren“ und stehen nicht zur Verfügung, um gegen die aktuelle Hungersnot  und für den Aufbau zumindest rudimentärer Wirtschaftsstrukturen eingesetzt zu werden.


In den zwei Jahrzehnten der westlichen Intervention waren Unsummen nach Kabul geflossen, und zwar vor allem in die Taschen der Kleptokraten, Warlords und Opiumhändler, die als NATO-Verbündete  galten und pflegeleichte Regierungen stellen durften. Die als zuverlässig geltende DAB dagegen darf jetzt nicht auf Mittel zurückgreifen, die nicht den Taliban, sondern dem Land und damit der Bevölkerung gehören und im Augenblick dringendst benötigt würden. Die Gefahr, dass sich die Islamisten einen Anteil des Geldes sichern würden, ist zwar nicht völlig auszuschließen, doch sei darauf hingewiesen, dass die sunnitischen Eiferer zwar für ihre Intoleranz, Frauen- und Kulturfeindlichkeit, nicht aber für maßlose Korruption berüchtigt sind – ganz im Gegensatz zu den früheren „Freunden“ des Westens.


In postkolonialer Gutsherrenmanier bescheiden aber die europäischen Staaten die Bitten um Freigabe der Reserven negativ, quasi als Retourkutsche für die Unbotmäßigkeit einer von ihnen gegängelten Bevölkerung. Als „Diebstahl“ bezeichnet die UAI-Kampagne folglich diese „Beschlagnahmung“ und Vorenthaltung legitimen Eigentums. Noch bedenkenloser als die EU und die BRD verfahren indes die USA mit den ihnen anvertrauten Devisen.


Biden als Milliardendieb


Einen Schritt weiter in Sachen Beschaffungskriminalität ging Präsident Joe Biden, der am 11. Februar dieses Jahres die in den USA hinterlegte Geldreserven der afghanischen Zentralbank (sieben Milliarden Dollar) konfiszieren ließ und nun die Hälfte davon als Entschädigung an die Angehörigen der Terroropfer vom 11. September 2001 auszahlen will. Für den Amoklauf von Al-Qaida soll also ein ganzes Volk haften, das mehrheitlich in keinerlei Kontakt zu den Tätern stand und auch keinen Anteil an dem Verbrechen hatte. Wenn Biden diesen beispiellosen „Opfer-Opfer-Ausgleich“ umsetzt, werden tatsächlich etliche Afghanen angesichts der grassierenden Hungersnot für die Zerstörung des World Trade Centers teuer bezahlen, nämlich mit ihrem Leben.


Das findet Biden äußerst undankbar: Hungernde Afghanen fordern ihre Ersparnisse von den Freunden und Helfern in den USA zurück.
Schah Merabi, DAB-Vorstandsmitglied und Professor für Wirtschaftswissenschaft am Montgomery College im  Ostküstenstaat  Maryland, beschreibt die durchaus zutreffende Sichtweise vieler Afghanen: Die USA würden wie eine „Kolonialmacht“ handeln, die Diktate aufzwingt und „die Rücklagen der Bevölkerung stiehlt“. In der Tat dürfte Bidens Vorhaben wohl in den meisten Ländern der Erde als strafrechtlich relevanter Tatbestand gewertet werden.


Der römische Sinnspruch „vae victis!“ („Wehe den Besiegten!“) erfährt hier eine absurde Umdeutung: Die in zwanzig Jahren Krieg geschlagenen Westmächte erklären den Taliban  „Wehe euch Siegern, wir hungern euch aus!“, schaffen es aber nur, den ohnehin schon verzweifelten „normalen“ Menschen in Afghanistan die letzte Hoffnung und zugleich die Existenz zu rauben. Sanktionen treffen fast nie die Machthaber, sondern meist die Untergebenen und Unbeteiligten, Diebstahl à la Biden aber versetzt dem Volk endgültig den Todesstoß.

03/2022
Dazu auch:
Die Lehren von Kabul und Dumm oder inhuman? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)







Putin und das Chaos


Viele haben in den letzten Jahren versucht, die Gedanken, Intentionen und Ziele von Wladimir Putin zu begreifen, zu analysieren oder sogar seine Handlungen vorherzusagen. So richtig gelungen ist es wohl niemandem, wie das gegenwärtige Entsetzen über das Geschehen in der Ukraine zeigt. Natürlich wird Geschichte nicht von Einzelnen gemacht, aber ohne bestimmte Personen und ihre (manchmal kriminelle) Energie würde sie anders verlaufen. Daher dieser Versuch einer (natürlich unvollständigen) Bestandsaufnahme der potentiellen Motive und nicht immer verständlichen Begründungen des russischen Präsidenten.


Vergangenheit im Nebel 


Im Nachhinein sei man immer klüger, heißt es gewöhnlich, wenn sich die Dinge in eine andere Richtung als prognostiziert bewegen. Nun, im Ukraine-Konflikt ist alles ziemlich unerwartet gelaufen und doch sind wir im Rückblick kaum weiser als zuvor. Der Kriegsausbruch wirft die Frage auf, warum Putin seine Nachbarschaft, seine Untertanen und – angesichts der nuklearen Overkill-Kapazitäten – die gesamte Welt einem solchen Vernichtungsrisiko aussetzt, doch werden wir eine allgemeingültige Antwort nicht finden, denn die Wahrheit verbirgt sich hinter den Nebeln der jüngeren Vergangenheit, hinter den widerstreitenden Intentionen verschiedener Akteure, von denen einer, eben Putin, nun offenbar durchgedreht ist.


Was niemand mit Sicherheit weiß: Waren Wladimir Putin und seine Polit-Entourage schon vor Jahren oder Jahrzehnten entschlossen, den Machtkampf mit der NATO auf dem Terrain der einstigen Sowjet-Republik Ukraine zu wagen? Manche hiesigen Publizisten haben das immer behauptet, aber viele von diesen waren vor dem letzten Irak-Krieg auch eifrige Multiplikatoren der Legende von den Vernichtungswaffen in Saddam Husseins Besitz, die George W. Bush in die Welt gesetzt hatte.


Oder ist der russische Präsident angesichts der faktischen Einkreisung seines Landes durch westliche Militäreinrichtungen paranoid geworden? Dafür spricht die wirre, völlig absurde Begründung des Angriffs auf die Ukraine durch Putin, dagegen die von etlichen Beobachtern (und auch mir) geteilte Wahrnehmung, dass der Autokrat im Kreml zwar skrupellos, aber stets rational und umsichtig handelte, die möglicherweise doch nicht zutrifft.


Nostalgiker und Realisten – alle daneben


Im Grunde tappen wir alle im Dunkeln bei dem Versuch, das Entsetzliche zu erklären. Selbsternannte Realisten schütteln entweder den Kopf, weil sie in Putin den intelligenten Machtpolitiker, der zur Durchsetzung nationaler Interessen viel riskiert, aber nie hasardiert, sahen, oder erklären, wenn sie eher nach rechts neigen, sie hätten „das alles immer schon gewusst“. Aber Letztere gehören zu denen, die auch stets gewusst haben, dass Deutschland und die NATO Stärke zeigen müssen, ob in Syrien, Libyen oder Mali, egal mit welcher Berechtigung und zu welchen Blutzoll (womit sie tatsächlich nahe bei Putin wären).


Und dann gibt es die Nostalgiker, die Russland in der Nachfolge der UDSSR sehen, die ja schließlich Hitlers Welteroberungspläne vereitelt hatte und während des Kalten Krieges als Widerpart zum kapitalistischen Westen die Neo-Kolonialisierung der Dritten Welt zum Teil aufhalten konnte (wenngleich weniger aus humanistischen als aus machtstrategischen Gründen). Diese Träumer – und es sind nicht wenige Linke darunter – vergessen, dass die sowjetische Staatsbürokratie, so verkrustet und reaktionär sie auch gewesen sein mag, wenigstens noch den Anspruch, eine sozialistische Gesellschaft für Beschäftigte und nicht für Produktionsmittelbesitzer zu sein, aufrechterhielt, während Putins Russland ein krypto-kapitalistisches System ist, das mit seinen rigiden Hierarchien selbst den chinesischen Staatsdirigismus übertrifft.


Stamokap anders herum


Die einst vom linken Rand der Jusos verbreitete Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap), der zufolge ein schwacher Staat als Reparaturbetrieb der Privatwirtschaft fungiert, der immer dann helfend eingreifen darf, wenn sich Investoren und Unternehmer in ihrer ungehemmten Profitsucht verzockt haben, feierte in Russland fröhliche Wiederauferstehung – allerdings mit umgekehrten Prämissen: Eine diktatorische Staatsspitze gewährt den Oligarchen die Lizenz zu gnadenloser Ausbeutung und Bereicherung, solange sie sich für Putins Ziele einspannen lassen.


Natürlich benötigte dieser politische Herrschaftsanspruch eine inhaltlich/ideologische Unterfütterung („Narrativ“ sagt man heute wohl), und Putin lieferte sie – indem er sich rhetorisch den weltweit fabulierenden Verschwörungstheoretikern annäherte. Er gab sich nationalistisch, rassistisch, homophob und entwickelte seine Bedrohungsphantasien wie die Querdenker häufig von einem Fetzen Wahrheit aus, die bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde.


So war es tatsächlich rücksichtslose Machtpolitik, die der Westen betrieb, als er Russland mit NATO-Bastionen umzingelte und ihm modernste Abwehrraketensysteme vor die Nase setzte, statt über weitere Abrüstungsschritte zu verhandeln. Wie man dieser Chuzpe aber sinnvoll begegnet, indem man einen riesigen Flächenstaat überfällt, ohne dass ein Ziel (Strafexpedition, Okkupation, Auslöschung?) begreifbar wird und damit einen globalen Krieg riskiert, bleibt Putins Geheimnis.


Es ist richtig, dass die russischstämmigen Ukrainer benachteiligt wurden. Während Kiew die europäische Metropole gab, malochte der Donbass in Gruben und der Schwerindustrie. Erst im Januar berichtete die FAZ: „In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll.“ Bereits 1991 war Ukrainisch zum einzigen Staatsidiom gemacht worden, sicherlich ein Indiz für kulturelle Diskriminierung. Daraus aber die Mär von einem unmittelbar bevorstehenden Pogrom am russischsprachigen Bevölkerungsteil zu konstruieren, war vielleicht Putins perfidester Coup (während doch sein Geistesfreund Solschenizyn noch die zaristischen Judenpogrome relativiert und bisweilen geleugnet hatte).


Putins Faible für rechtsradikale Politiker im Westen, von Marine Le Pen über die AfD-Knallchargen bis hin zu Donald Trump) und die über Russia Today oder ausgesuchte Social Media verbreiteten Horrorgeschichten aus seiner Propaganda-Küche gewinnen im Nachhinein tiefere Bedeutung. Glaubte der Mann am Ende gar selbst an die Fake News, den Odel, den er via Funk und Netz ausgießen ließ? Angesichts seiner letzten fahrigen TV-Rede an „sein“ Volk vor dem Einmarsch könnte man das vermuten.

Selbstverständlich gibt es vor allem in der Westukraine genügend bekennende Faschisten, die auch eine wesentliche Rolle beim Maidan-Aufruhr 2014 gespielt haben, doch die zugegebenermaßen ziemlich unfähigen Regierungsmitglieder und einen jüdischen Präsidenten an ihrer Spitze pauschal als „Neonazis“ (mit denen Putin international doch recht gut kann) zu verunglimpfen, zeugt von Realitätsverlust oder schlichter Gemeinheit.


Es ist auch richtig, dass die NATO Putin mit den völkerrechtswidrigen Luftangriffen auf Serbien zwecks Abtrennung des Kosovo eine Blaupause für die Annexion der Krim-Halbinsel geliefert hat. In beiden Fällen wurden europäische Grenzen verschoben, weil sich Nationalitäten unter der bisherigen Oberhoheit nicht wohlfühlten (wobei die russische Operation im Gegensatz zur westlichen weitgehend unblutig verlief). Doch ist generell Selbstermächtigung als Retourkutsche international nicht legitim, schon gar nicht, wenn es um die Besetzung eines riesigen Landes wie der Kern-Ukraine mit einer überwiegend widerstrebenden Bevölkerung geht.


Die fürchterlichen Folgen


Was Putin zu solchen beinahe hysterisch wirkenden Verbalinjurien und letztendlich zu einem fatalen Schritt, den offenbar auch seine russischstämmigen „Mitbürger“ in Charkiv, die er heim ins Reich holen will, aber stattdessen mit Tod und Zerstörung überzieht, nicht verstehen und billigen, getrieben hat, werden wir möglicherweise nie erfahren. Aber die desaströsen Folgen der Invasion und deren düstere Weiterungen für die Zukunft sind jetzt schon in Umrissen sichtbar.


Hunderte, demnächst vielleicht Tausende von Ukrainern und etliche russische Soldaten zahlen für Putins „Machtdemonstration“ mit dem Leben, das UN-Flüchtlingshilfswerk rechnet mit bis zu vier Millionen Flüchtlingen. Die Infrastruktur in den Städten wird zerbombt, die Wirtschaft ist weitgehend lahmgelegt. Selbst wenn Putins Armee zu einem bislang nicht erkennbaren Zweck siegen sollte, wird auch die russische Bevölkerung aufgrund von Sanktionen und Isolation zu leiden haben.


Im Westen, allen voran in Deutschland, schießen an den Börsen die Kurse der Rüstungsaktien durch die Decke, und Bundeskanzler Scholz jubiliert regelrecht wie ein Musterschüler, die Erhöhung des Wehretats werde mehr als die von den USA so lange vergeblich geforderten zwei Prozent betragen, und beschwört eine „Zeitenwende“, auf die wir durchaus verzichten könnten. FDP-Wirtschaftsminister Lindner, dem kritische Geister nicht einmal die Aufstellung eines Zinnsoldaten-Heeres zutrauen würden, schwadroniert von einer „der schlagkräftigsten Armeen in Europa“, die man sich jetzt mit hundert Milliarden Euro zusammenkaufen werde. Da geht der leise Einwand der Linken-Vorsitzenden Janine Wissler, dass aktuell eine besser ausgerüstete Bundeswehr in der Ukraine überhaupt keinen Unterschied gemacht hätte, im Kriegsgeschrei unter. Peace is out, Europa soll fit gemacht werden für den Showdown.


Die Bemühungen, den Hunger in der Welt, die Umweltzerstörung, den Klimawandel wirksam zu bekämpfen, treten dank Putin ins zweite Glied zurück. Friedensbewegung, Fridays for Future, Energiewende und viele andere Initiativen mehr bleiben auf der Strecke. Nur wofür? Mit Brecht könnte man räsonieren: „Alle zehn Jahre ein großer Mann/Wer bezahlte die Spesen?/So viele Berichte,/So viele Fragen.“

03/2022








Impfgegner züchten


Halbwahrheiten, Zahlentricksereien, windige Prognosen, voreilige, dann wieder verspätete Maßnahmen – was uns Politiker und auch einige Wissenschaftler in den letzten zwei Jahren zugemutet haben, siedelt zum großen Teil außerhalb der Grenzen von Logik und Sachverstand. Diese Mixtur trifft in Pandemie-Zeiten auf ein Gebräu aus Corona-Leugnung, Verschwörungstheorien und rechtsextremen Putschphantasien und wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Das operative und rhetorische Versagen der Verantwortlichen bereitet erst den Boden für die irrationale Totalverweigerung jeglicher gesellschaftlichen Rücksichtnahme, liefert fanatischen Impfgegnern jede Menge Scheinargumente.


Was halbwegs gesichert erscheint


Wohl jede/r von uns fühlte sich eine Zeit lang ziemlich umfassend über die Gefährlichkeit, die Verbreitungsdeterminanten und die Krankheitsfolgen von Covid-19 sowie über den Stand der Impfforschung oder die internationalen Strategien zur Seucheneindämmung informiert. Nach bestem Wissen und Gewissen diskutierten wir Verhaltensmaßregeln und entwarfen private Generalstabspläne für die weltweite Gesundung – bis uns Corona lehrte, dass wir in Wirklichkeit reichlich wenig wussten über das Virus und dass unser selbstgebasteltes Prinzip Hoffnung ein ums andere Mal trog.


Was wir nach zwei Jahren Stoffsammlung und Beobachtung als gesichert annehmen können, ist nicht gerade viel: Die wichtigsten Vakzine helfen, zwar nicht immer gegen eine Infektion, aber doch gegen einen schweren Krankheitsverlauf. Wo weniger geimpft wird, sind die Inzidenzzahlen höher und es sterben mehr Menschen. Während schwere Schäden nach der Immunisierung äußerst selten auftreten, leiden etliche Corona-Patienten ohne Schutz unter gefährlichen Krankheitsverläufen und gravierenden Spätfolgen.  Immer wenn das Virus erschöpfend erforscht zu sein scheint, bildet es neue Mutationen aus, denen unsere Forschung hinterher hecheln muss. Immerhin fällt die letzte Variante, die auf den Namen Omikron hört, harmloser aus als die Vorgänger-Viren, was bedeuten könnte (aber nicht muss), dass sich die Pandemie in einer Sackgasse erschöpft.


Aus diesen bescheidenen Erkenntnissen lässt sich eigentlich nur die Verpflichtung zur flächendeckenden Impfung, wo immer möglich, ableiten. Doch wie sieht es hierzulande aus? Zieht man Personen, die gemäß medizinischer Indikation zu hohe Risiken bei einer Immunisierung gegen Corona eingehen würden, und Menschen, die aufgrund von Behinderung, hohem Alter oder fehlendem Equipment Probleme mit Registrierung und Anmeldung haben, von der Gesamtzahl der jetzt noch Ungeimpften ab, bilden vielleicht fünfzehn Prozent der deutschen Bevölkerung den stattlichen Rest der Vakzin-Verweigerer aus Überzeugung. Deren fanatischen Wortführern fällt es leicht, ihre Gefolgsleute bei der Stange zu halten, denn die staatlichen und fachlichen Entscheidungsträger servieren ihnen mit ihren Euphemismen, Falschbehauptungen, Verdrehungen oder tollpatschigen Handlungen die toxischen Argumentationshilfen ja geradezu auf dem Silbertablett der Unzulänglichkeit.


Stoff für Verschwörungstheoretiker


Häufig beschleicht einen das Gefühl, bei Debatten oder Interviews ginge es gar nicht vorrangig um die Pandemie-Bekämpfung, sondern vielmehr um Eigen-, Parteien- oder Produktwerbung. Da wird vorlaut Vakzinen wie Biontech und Moderna eine 95-prozentige Immunisierung gegen Corona zugeschrieben und später leise eingestanden, dass der Schutz wohl eher gegen 60 Prozent tendiert. Zwar ist dies nach WHO-Kriterien immer noch ein guter Wert für einen Impfstoff, doch goss die vorherige Prahlerei Wasser auf die Mühlen der Impfgegner. Da soll Astrazeneca wegen seltener, aber schwerer Nebenwirkungen zunächst nicht an Senioren, sondern nur an junge Menschen – und wenig später nur an Senioren und keinesfalls an Jüngere verimpft werden. Da lobt der Gesundheitsminister (damals noch der berüchtigte Jens Spahn) das reichlich vorhandene Moderna über den grünen Klee, sichert aber den Abgeordneten und Mitarbeitern des Bundestags die raren Biontech-Dosen, ganz so, als wolle er sein Faible für selektierende Klassenmedizin demonstrieren.


Da werden in hohen Kreisen lukrative Geschäfte mit schadhaften Masken getätigt, während in Bayern Markus Söder kurzerhand Todesopfer mit ungeklärtem Immunisierungsstatus zu Ungeimpften erklärt und so locker auf übertriebene Sterbezahlen für die Vakzin-Abstinenten kommt (obwohl deren höhere Mortalität auch ohne Zahlenspielerei belegt werden kann).


Überhaupt wirkt der bayerische Ministerpräsident wie ein trojanisches Pferd zwischen den Mauern offizieller Pandemiebekämpfung, ein Gaul der sich menschenfreundlich und verantwortungsbewusst gibt (wenn es denn PR-Punkte bringt), dann aber plötzlich bockt und auskeilt, jäh die Richtung wechselt und schließlich im Kreis galoppiert. Söder ist da beileibe nicht der einzige Selbstdarsteller im Land, aber der lauteste und perfideste.


Erst das Ego, dann die Seuche


Als Österreich im Frühjahr 2020 Maskenpflicht und Abstandsregeln einführte, tönte Söder, in Bayern brauche es solche Regeln nicht. Vierzehn Tage später ordnete er genau diese Vorsichtsmaßnahmen für den Freistaat an. Einen Lockdown wie in Austria werde es in Bayern nicht geben, verkündete er wenig später, nur um, erneut nach zwei Wochen Schamfrist, ähnliche Kontaktbeschränkungen zu verhängen, und zwar so scharf und sinnfrei, dass am Anfang selbst Menschen, die, allein auf einer Parkbank sitzend, ein Buch lasen, mit Bußgeldern belegt wurden. In der Folge gab er sich als der konsequenteste Wegsperrer oder als der schnellste Lockerer in Deutschland, abhängig davon, wo er die Volksmeinung vermutete.


Söder, der kein Mikro und keine TV-Kamera links liegenließ, mahnte stets ein einheitliches Vorgehen aller Bundesländer an, um immer wieder als Erster auszuscheren. Er war zunächst gegen die Impfpflicht, wurde, durch Umfragen geläutert, zu deren radikalstem Befürworter – und will sie jetzt wiederum nicht einmal mehr für Pflegekräfte umsetzen. Das Publikum hat Probleme, seinen zahllosen Volten und Rollen rückwärts zu folgen, und mancher fragt sich, ob solch chronisch irritierendes Verhalten nicht einem geistigen oder psychischen Defekt entspringt.


Wäre Markus Söder noch Pennäler, würden Psychologen ihm vermutlich ADHS (Aufmerksamkeits-Defizitäts-Hyperaktivitäts-Störung), gepaart mit krankhaftem Narzissmus und galoppierendem Realitätsverlust attestieren. Aber er ist Ministerpräsident eines Freistaates, und Menschen, die den Impfkampagnen sowie den mal sinnvollen, mal unlogischen Kontaktvorschriften von vornherein verunsichert bis misstrauisch gegenüberstehen, halten ihn (und seine Kollegen) schlicht für wenig glaubwürdig.


Es mutet absurd an, aber viele Impfunwillige glauben eher an Räuberpistolen von per Impfstich unter die Haut verpflanzten Chips, von Bill Gates‘ geplanter Weltherrschaft dank Corona oder vom Great Reset, den die Reichen und Mächtigen mit Hilfe von Covid-19 zur kompletten globalen Umgestaltung nach ihrem Gusto vornehmen (als könnten sie nicht mit der jetzigen Weltordnung hochzufrieden sein), als an den Sermon, den Politik und Medien in den Zeiten der Pandemie verbreiten.


Die zahllosen Inkorrektheiten, Vorteilsnahmen, Falschbehauptungen, die diffusen Hypothesen oder opportunistischen Wendungen, die seit dem Corona-Ausbruch auf staatlicher Seite zu beobachten waren, haben dazu beigetragen, dass noch krudere Dystopien und Horrormärchen plötzlich plausibel erscheinen. Wer zu lange und zu oft Fakten filtert oder missdeutet und das eigene Interesse auf Kosten der Allgemeinheit pflegt, züchtet die Impfgegner und Verschwörungstheoretiker selbst heran.

02/2022
Dazu auch:
Verblödungstheorien und Zeit der Peinlichkeit im Archiv der Rubrik Medien (beide 2021)







Hilfe zum Untergang


Die Folgen der Intervention in Afghanistan, die vor einem halben Jahr mit der Flucht der West-Alliierten aus Kabul endete, werden noch Jahrzehnte spürbar bleiben. Die Zwischenbilanz von UN-Organisationen und NGOs fällt aber dermaßen düster aus, dass die internationale Öffentlichkeit sich jetzt mit der wohl hoffnungslosesten Lage, in der sich das Land seit Jahrhunderten befindet, beschäftigen müsste: Nicht die Verluste der NATO-Truppen und deren partieller Verrat an den einheimischen Helfern stehen dabei im Vordergrund, sondern die Situation beträchtlicher Bevölkerungsteile, die zu verhungern drohen, weil sie nichts weiter als vernachlässigbare Manövriermasse in strategischen Spielen um Macht und polit-ökonomischen Einfluss darstellen.


Es kommt nichts Besseres nach


In seiner jüngeren Geschichte musste das Land am Hindukusch zunächst die Invasion der sowjetischen Armee 1979, die den Staatsbürokratismus Moskauer Prägung in die Dritte Welt exportieren sollte, erdulden. Es folgten die vom Westen alimentierten Mudjahedin, islamistische Kriegsherren mit einem gewissen Hang zum Banditentum, welche ihrerseits von entschlosseneren Zeloten, den von Pakistan ausgebildeten Taliban, hinweggefegt wurden. Diese wiederum errichteten einen geist- und menschenfeindlichen Gottesstaat, in dem Frauen zu entpersönlichten Schattenwesen degradiert und Kunst, intellektuelle Auseinandersetzung oder gar Kritik als Blasphemie geächtet wurden.


Schlimmer könnte es nicht mehr kommen – dachte man/frau. Doch dann beriefen die USA eine Kriegsallianz ein, die sich für 9/11, die Mega-Attentate durch Al-Qaida-Terroristen, denen die Taliban Gastrecht gewährt hatten, rächen wollte. Dass es auch um die Sicherheit der westlichen Handelswege ging, wie Bundespräsident Köhler ausplauderte, ebenso um Bodenschätze und strategische Stützpunkte, sei nur am Rande vermerkt. Eine multi-nationale Streitmacht marschierte in Afghanistan ein, traf zunächst auf wenig Widerstand, beherrschte das Terrain (zumindest bei Tag und in befestigten Städten), zerschlug archaische, aber auf niedrigem Level einigermaßen funktionierende Wirtschafts- und Sozialstrukturen und oktroyierte dem  unterentwickelten Land das westliche System auf wie ein gesellschaftliches Puzzle, bei dem aber leider die meisten Teile fehlten.


Es sei nicht verschwiegen, dass es in einigen Regionen und Siedlungen den Menschen zunächst besser ging, bekamen dort doch Frauen und Mädchen einen Zugang zu rudimentärer Bildung, wie sie ihn seit den Tagen der sowjetischen Intervention nicht mehr erlebt hatten. Auch Künstler konnten sich aus dem Untergrund wagen, und Angehörige religiöser Minderheiten durften sich eine kurze Zeit lang sicherer fühlen. Diese positiven Änderungen wurden maßgeblich von unabhängigen Hilfsorganisationen angestoßen, waren aber nicht von Dauer. Die Besatzungsmacht war indessen damit beschäftigt, eine Regierungskoalition aus Warlords, Drogenhändlern und Kriegsgewinnlern zu schmieden sowie eine Schein- und Almosenwirtschaft aufzubauen, während die Taliban langsam, aber unaufhaltsam wiedererstarkten.


Als die Alliierten nach zwanzig Jahren Besatzung, nach Abertausenden durch Bombardierungen, Drohnenangriffe und Racheakte getöteten Zivilisten (Lesart: „Kollateralschäden“) ihr Scheitern durch einen fluchtartigen Blitzrückzug beendeten, kehrten die islamistischen Fanatiker zurück und übernahmen ein materiell wie ideell in Trümmern liegendes Land, dessen Elend weltweit allenfalls noch mit dem des Jemen, der das Schlachtfeld eines Vernichtungskriegs ist, verglichen werden kann. Weder nach dem Abzug der Sowjets 1988 noch nach der Entmachtung der Taliban 2001 waren die ökonomischen Grundlagen für das Überleben der Afghanen so gründlich zerstört gewesen wie nach der Niederlage der westlichen Invasionstruppen.


Zwei Prozent haben genug zu essen


In den zwanzig Besatzungsjahren ging es mit der Landwirtschaft in Afghanistan weiter bergab, natürlich abgesehen vom Opiumanbau. Hilfslieferungen aus dem Ausland wurden zur lebensrettenden Norm, die jetzt aufgrund von US-Sanktionen weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Das UN-Welternährungsprogramm gibt an, dass derzeit 98 Prozent der Bevölkerung nicht genug zu essen haben; eine Hungerkatastrophe – bleiben wir in der Diktion der christlichen Okkupanten – biblischen Ausmaßes (denn einen ähnlichen Mangel haben weltliche Chronisten noch nie gemeldet) steht unmittelbar bevor. Die Hilfsorganisation International Rescue Committee spricht von über 24 Millionen Menschen, die von extremer Unterernährung bedroht sind. Laut der NGO Save the Children benötigen 13 Millionen Kinder humanitäre Hilfe, fast vier Millionen davon könnten in Kürze dem Hungertod zum Opfer fallen.


Im Jahr 2007 galt ein Drittel der afghanischen Bevölkerung als arm. Nur elf Jahre später waren es bereits knapp 55 Prozent, ein Trend, der sich in den letzten Jahren der Besatzung fortgesetzt haben dürfte. Je länger die uniformierten „Helfer“ im Land waren, desto rascher verelendeten die Menschen dort. Für die amerikanischen, britischen, australischen oder deutschen Truppen und deren administrative Entourage wurde hingegen eine ordentliche Infrastruktur bereitgestellt, was vorübergehend Jobs im Dienstleistungssektor generierte. Gleichzeitig wurde im agrarisch geprägten Afghanistan die ohnehin schwach entwickelte Industrieproduktion ebenso vernachlässigt wie Ertragssteigerung und effektivere Versorgung durch die Landwirtschaft. Jetzt sind die Fremden weg, und niemand benötigt mehr Kellner, Köche, Friseure oder Gärtner.


Wie die Weltbank konstatierte, flossen so viele Hilfs- und Fördergelder nach Afghanistan, dass sie 43 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachten – Mittel, die dem wenig motivierten einheimischen Militär zugutekamen oder in den Taschen der hofierten Kleptokraten in Kabul verschwanden, während angesichts des Imports fast aller wichtigen Güter, an dem westliche Unternehmen prächtig verdienten, die einheimische Wirtschaft praktisch überflüssig wurde.


Die Gelder aus dem Ausland fließen nicht mehr. Die Äcker liegen brach, die Maschinen stehen still, Verwaltung und Gesundheitswesen sind quasi inexistent, und die Taliban erweisen sich als unfähig, die Korruption zu stoppen und ein einigermaßen funktionierendes Rechtswesen (wozu die Scharia nicht zu zählen ist) zu implementieren. Seit der Intervention 2001 hing Afghanistan am Tropf des Westens, jetzt wurden die Schläuche durchschnitten und die Bevölkerung siecht dahin. Um den Untergang zu beschleunigen, haben die USA umfassende Sanktionen verkündet – eine Strategie, die zwischen entwickelten Staaten zu Duellen um die ökonomischen Vormacht führt, die aber für bitterarme Länder tödliche Folgen zeitigt.


Die Rache der Verlierer


Der Weltsicherheitsrat hat deshalb im Dezember vorigen Jahres humanitäre Hilfe für Afghanistan von allen Sanktionen freigestellt, die USA haben also kein Veto gegen diesen Beschluss eingelegt. Dennoch gelten ihre umfangreichen Sanktionsgesetze – von wenigen Ausnahmen abgesehen – weiter. Dies bedeutet nicht nur, dass keine Waren, Ersatzteile oder Medikamente aus den Vereinigten Staaten mehr ins Land gelangen, es hält auch Unternehmen, Organisationen und Banken aus anderen Staaten davon ab, Afghanistan zu beliefern oder den Handel pekuniär abzusichern. Überhaupt ist das Land mittlerweile völlig vom internationalen Finanzverkehr abgeschnitten.  Niemand möchte sich im Labyrinth der US-Boykottpolitik verirren und als vermeintlicher Sanktionsbrecher selbst in Washingtons Bann geraten.


Die Konflikte der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass Wirtschaftssanktionen gegen autokratisch regierte Staaten nie die Machthaber trafen, sondern stets nur die Bevölkerung – und dass sie höchst selten zum intendierten regime change führten. Auch wenn die USA den Iran vom Nachschub für Wartungstechnik oder Venezuela von der Versorgung mit Lebensmitteln und Pharmazeutika abschnitten und die West-Alliierten zur Nachahmung nötigten, die Mullahs und auch Maderos Pseudo-Revolutionäre blieben an der Spitze. Saddam Hussein konnte ebenfalls erst durch einen per Fake vom Zaun gebrochenen Krieg beseitigt werden, mittels Aushungerung des irakischen Volkes gelang das nicht.


Auch jetzt werden die Sanktionen nicht die Taliban brechen, sondern einer ohnehin schon moribunden Bevölkerung den Rest geben. Der US-Administration aber ist das Festhalten an ihrem Racheprinzip wichtiger als das Überleben von Menschen irgendwo in Asien. Es war die Außenministerin Madeleine Albright, von der Joschka Fischer heute noch in höchsten Tönen schwärmt, die 1996 im TV auf die Frage, ob die US-Sanktionsziele den Tod einer halben Million irakischer Kinder rechtfertigen würden, lapidar antwortete: „Wir denken, sie sind diesen Preis wert.“


Nach uns das Chaos


Nach einem fünfwöchigen Aufenthalt am Hindukusch erklärte Paul Spiegel, Direktor des humanmedizinischen Instituts an der John-Hopkins-Universität, in der „Washington Post“: „Ich kann klar feststellen, dass, wenn die USA und die anderen westlichen Regierungen ihre Sanktionspolitik gegen Afghanistan nicht ändern, mehr Afghanen wegen der Sanktionen sterben werden als von Händen der Taliban.“


Das ist also das Ergebnis von zwanzig Jahren eines Krieges, der Besetzung eines Landes, eines Versuchs, ein Volk zu domestizieren, an dem auch die deutsche Bundeswehr teilgenommen hat - nicht erfolg- oder siegreich, aber immerhin der Widerlegung einer perversen Militärdoktrin dienlich. Doch es scheint, als wolle man nichts lernen, in Berlin und in London oder Paris nicht, und erst recht nicht in Washington. Die damalige Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer fasste nach dem panischen Rückzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan kurz und wirr zusammen, was außer ihr niemand erkennen konnte: Die Bundeswehr habe ihren vom Parlament erteilten Auftrag erfüllt. Bestand der etwa darin mitzuhelfen, ein Land ins Chaos zu stürzen? Noch konfuser äußerte sich ihr amerikanischer Amtskollege Anthony Blinken, der den US-Einsatz als „Erfolg“ bezeichnete, weil es gelungen sei, die Drahtzieher von 9/11 zur Strecke zu bringen. Auf Kosten Hunderttausender, langfristig vielleicht von Millionen, deren Leben oder zumindest Perspektiven zerstört wurden…


Weder das Scheitern in Afghanistan, noch das in Libyen, im Irak oder gegenwärtig in Mali kann die Interventionsfanatiker der NATO von ihren Beherrschungsphantasien abbringen. Manchmal erinnern die bewaffneten Ausflüge westlicher Truppen an einschlägige militaristische Brettspiele: Man besetzt ein Land, zerstört dort gewissenhaft die Lebensgrundlagen, zieht ab, wenn es brenzlig wird – und sucht sich dann den nächsten Fleck auf der Weltkarte.

01/2022
Dazu auch:
Die Lehren von Kabul und Dumm oder inhuman? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)





 
Der doppelte Olaf


Immer wieder ist in der Kunst, in der Psychiatrie oder der Forensik vom rätselhaften Aufeinandertreffen diametral entgegengesetzter Verhaltensweisen, Handlungen oder Phantasien, die sich in ein und derselben Person manifestieren, die Rede: Schwarz und Weiß wechseln jäh ab, das Gute gewinnt für einen Augenblick die Oberhand, nur um  gleich danach dem Bösen weichen zu müssen, und diese Phasen folgen rasend schnell aufeinander, treten beinahe gleichzeitig ein. Oft liegen einem solchen Zusammenprall widerstrebender Kräfte seelische Syndrome, etwa eine Persönlichkeitsspaltung, zugrunde, manchmal wird er aber auch von einem Beruf begünstigt, zum Beispiel dem des Politikers. So ist unser neuer Bundeskanzler Olaf Scholz geradezu ein Musterexemplar für extreme Bipolarität in einem ansonsten eher schlichten Menschenwesen.


Die Ampel und die gute Absicht


Gegen Ende des letzten Jahres bestimmte die unversöhnliche Rivalität zwischen friedensbewegter Abrüstung und lukrativem Waffenhandel die Agenda des Hanseaten. Diese Quadratur des Kreises hätte andere an den Rand des Wahnsinns getrieben, Scholz aber konnte sich auf sein bekannt schlechtes Gedächtnis verlassen und in aller Unschuld die beiden unversöhnlichen Seiten beinahe simultan bedienen, d. h. zusammen mit alten Regierungskumpels ein Gesetz brechen, das er kurz zuvor mit seinem neuen Kabinett energischer durchzusetzen, ja sogar neu etikettiert, zu verschärfen versprach. Und das ging so:


Meldungen, denen zufolge die hundert größten deutschen Waffenschmieden während der Corona-Krise ihre Exporte, zum Gutteil in dubiose Länder und Krisengebiete, enorm gesteigert hatten, lösten bei Teilen der Grünen und der SPD offenbar lange unterdrückte pazifistische Impulse aus. Sie ließen in den Koalitionsvertrag der drei Ampel-Parteien schreiben, dass künftig die Waffen-Ausfuhren erschwert würden, und fügten erstaunlicherweise hinzu: "Wir setzen uns für ein nationales Rüstungsexportkontrollgesetz ein."


Das gibt es aber eigentlich schon seit 1961, im Juni 2021 zuletzt modifiziert, es nennt sich nur ein wenig anders. Im Paragrafen 6 des Kriegswaffenkontrollgesetzes wird nämlich unmissverständlich festgelegt, dass Rüstungsexporte nicht genehmigt werden dürfen, wenn „die Gefahr besteht“, dass sie „bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere einem Angriffskrieg, verwendet werden“. Damit wäre auch das wohl konkreteste Verdikt im Koalitionsvertrag bereits abgedeckt: "Wir erteilen keine Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter an Staaten, solange diese nachweislich unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind."


Kann ja mal passieren, dass die Mitglieder des neuen Kabinetts mit der herrschenden Gesetzeslage nicht so vertraut sind (zumal die Vorgänger diese ebenfalls kontinuierlich ignorierten), aber einer der Ihren ist ein alter Fuchs und scheinbar mit allen toxischen Wassern der Umgehung geltenden Rechts gewaschen. Olaf Scholz gehört als einer von sieben Ministern dem Bundessicherheitsrat an, der letztendlich über den Handel mit Massenvernichtungsmitteln entscheidet, und er verhinderte nicht, dass die erklärten guten Absichten der Ampel-Koalition Anfang Dezember von dem erlesenen Gremium, in dem vornehmlich bereits Abgewählte saßen, brutal ad absurdum geführt wurden.


Deal auf den letzten Drücker


Erst durch die Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen kam ans Tageslicht, dass die Regierung Merkel in den letzten neun Tagen ihrer Amtszeit, somit in jener Periode, die dazu dienen sollte, die Ministerien besenrein zu übergeben, Rüstungsexporte für fast fünf Milliarden Euro genehmigt hatte. Der Löwenanteil daran geht nach Ägypten, also an eine Militärdiktatur, die im Jemen als Kriegspartei auftritt und in einer von Saudi-Arabien geführten Allianz die Infrastruktur eines bettelarmen Landes derart effektiv zusammenbombt, dass UN-Organisationen von der zurzeit schlimmsten humanitären Krise weltweit sprechen. Hauptnutznießer der großzügigen Lizenz zur Beihilfe zum Massenmord sind übrigens die einschlägig berüchtigten Konzerne Thyssenkrupp und Diehl.


Und nicht nur dabei, sondern mittendrin war Olaf Scholz, der sich soeben erst im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet hatte, solche Schweinereien zu verhindern. Er drängte nicht auf Verschiebung der Entscheidung, zumal das Kabinett nur noch geschäftsführend (somit ohne Richtlinienkompetenz) im Amt war, er wandte sich nicht mit der Bitte um Prüfung an die Justiz und er informierte schon gar nicht die Öffentlichkeit. Vielleicht wollte er der Rüstungsindustrie signalisieren, dass es für sie mit ihm als Kanzler schon nicht so schlimm und friedliebend kommen werde; womöglich ist das Verhalten in dieser Angelegenheit aber auch ein weiteres Symptom für eine rätselhafte Persönlichkeitsstörung.


Dr. Jekyll und Mr. Scholz


Schon immer standen Äußerungen und Handlungen des früheren deutschen Finanzministers, Hamburger Bürgermeisters und Juso-Funktionärs unter mittelschwerem Schizophrenie-Verdacht: Da fordert er mit Inbrunst die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro (was auch nicht zur Gründung einer Familie und für die Miete in einer soliden Wohnung reicht) und geriert sich als Bewahrer von Arbeitsplätzen – nicht lange nachdem er bei Steuerhinterziehern aus dem hanseatischen Geldadel zum Tee war und ihnen Rückzahlungen ersparen wollte. Da setzt er sich für eine sozialere Republik ein und lässt die Cum-Ex-Betrüger jahrelang ihr Unwesen treiben, auf dass Milliarden an Steuergeldern für soziale und medizinische Einrichtungen fehlen. Und wer hätte dem kecken Junglinken einst zugetraut, dass er später in Amt und Regierung einen Gangsterkonzern wie Wirecard protegieren würde?


Auf seine Verfehlungen angesprochen, führte Scholz gern seine umfassende Vergesslichkeit als Entschuldigungsgrund an, eine in Deutschland weitverbreitete Eintrübung des Langzeitgedächtnisses. Anderswo verhindert eine solche Einschränkung des Intellekts das Aufrücken in höchste Positionen, hierzulande prädestiniert sie geradezu dafür. Der letzte Fauxpas, nämlich Letal-Exporte zu erlauben, während man gleichzeitig nach ihrer Unterbindung schreit, legt allerdings nahe, dass wir es mit einem psychotischen Syndrom zu tun haben, bei Scholz scheint es sich um eine gespaltene Persönlichkeit zu handeln, wobei die beiden Hälften ohne innere Auseinandersetzung kontrovers agieren.


Was dieses Phänomen, bezeichnen wir es als Fall „Doppelter Olaf“, von Beispielen aus der psychiatrischen Praxis, aber auch von literarischen Vorbildern wie der biblischen Pauluswerdung des Saulus oder Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ unterscheidet, ist das Fehlen jeglichen emotionalen Konflikts, der seelischen Pein des Kranken. Bei Scholz lässt sich kein verzweifeltes Ringen von Gut und Böse beobachten, die beiden antagonistischen Pole scheinen eher eine gewisse Teamfähigkeit entwickelt zu haben. Der soziale Verantwortung propagierende Kanzler und sein skrupelloses Pendant geben einander die Klinke in die Hand, als vollzögen sie einen ganz normalen Schichtwechsel in der täglichen Arbeit.
01/2022
Dazu auch:
Üble Deals mit Kalkül im Archiv der Rubrik Medien (2018)





2021


 


Rostiges Werkzeug

 

Die neue Bundesregierung will offenbar ein uraltes Instrument der politischen Disziplinierung und Ächtung wiederbeleben, den Radikalenerlass. Die Überprüfung opportunen Bürgerverhaltens soll erneut dem schwer vorbelasteten Verfassungsschutz obliegen. Der wiederum wird von einem Bundestagsausschuss kontrolliert, dem ausgerechnet der AfD-Mann Martin Hess hätte vorsitzen sollen. Verantwortlich für diese absurde Konstellation wären die Grünen gewesen. Mit vereinten Kräften und ein wenig Trickserei wurde die Bestellung des Rechtsextremen zum Vorsitzenden doch noch verhindert.


Grüne Bescherung für die AfD?

Es gehört zu den Gepflogenheiten so ziemlich aller im Bundestag vertretenen Parteien, verdienten Mitgliedern wichtige Posten zuzuschanzen, und zwar ohne Rücksicht auf persönliche Eignung oder inhaltliche Schwerpunkte. Bei dieser schönen Übung ist den Grünen nun ein Lapsus unterlaufen, weswegen sich die AfD für kurze Zeit lang über ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk freuen durfte.

Anton Hofreiter, langjähriger Vorsitzender der Grünen-Fraktion, wollte Verkehrsminister werden, doch dieses Ressort überließen die Öko-Realos den SUV-Fetischisten von der FDP. Als gelernter Biologe hätte sich der Bayer auch mit dem Landwirtschaftsministerium zufriedengegeben, aber das schnappte ihm der fachfremde Parteifeind Cem Özdemir weg. Nun sollte es wenigstens der Vorsitz eines parlamentarischen Ausschusses für den leidgeprüften Hofreiter sein. Mithilfe eines solchen Gremiums, in dem alle Parlamentsparteien vertreten sind, kontrolliert der Bundestag die Arbeit der Regierung und der ausführenden Organe.

In der Hitliste rangiert der Haushaltsausschuss ganz oben, denn es geht ums Geld. Er steht traditionell der wichtigsten Oppositionspartei, diesmal also der Union, zu. Die SPD sicherte sich den Auswärtigen Ausschuss, dann hatten die Grünen als drittgrößte Fraktion die Wahl zwischen Innen-, Verteidigungs- oder Europaausschuss (in der Reihenfolge der Bedeutung). Hofreiter, die ehrliche Haut, dachte sich wohl, von Innenpolitik verstehe er zu wenig (ein Umstand, der den Kollegen Özdemir nicht vom Agrar-Ministerium abgehalten hatte), und entschied sich für das Europa-Gremium. Da sich die FDP schon frühzeitig auf den Verteidigungsausschuss festgelegt hatte, wäre die Leitung der Parlamentskommission, die der Regierung und den Sicherheitskräften auf die Finger schauen und die Verfassungsmäßigkeit von Entscheidungen sowie Praktiken prüfen soll, ausgerechnet an die fünftstärkste Fraktion, die AfD eben, gegangen, deren Grundgesetztreue in erheblichem Zweifel steht.

Rechter Leumund der Verfassungsschützer

Der Polizist Martin Hess, Spezialist der AfD für die Aushebelung des Asylrechts und für Verbotsanträge gegen linke Gruppen, hätte im Bundestag die Versuche, das kollektive Versagen der Sicherheitsdienste bei der Aufklärung der NSU-Morde zu erhellen, oder mit einer möglichen Untersuchung rassistischer wie neonazistischer Umtriebe in seiner Polizei wie auch in Spezialkommandos der Bundeswehr zu durchleuchten, orchestrieren sollen. Zudem wäre er wortführend für die Ausländer- und Asylpolitik zuständig gewesen. Die neutrale und objektive Funktion des Ausschussvorsitzenden, die der Gesetzgeber vorschreibt, hätte Hess sicher auf eine ganz eigene Art interpretiert.

Nur wurde der erklärte Waffenfreund nicht gewählt, denn die Ampelparteien brachen gemeinsam mit der Union und der Linken mit dem alten Brauch, den Kandidaten der Fraktion, die das Vorschlagsrecht hat, durchzuwinken. Auch die AfD-Aspiranten für den Vorsitz von zwei weiteren Ausschüssen fielen durch. Bevor sich aber nun die rechten Ultras in der Rolle der von „Eliten“ und Linken verfolgten Märtyrer einrichten, sollten sie erst einmal die Statements der Koalitionspartner zur inneren Sicherheit und zu deren Wächtern prüfen. Die deuten nämlich die Renaissance eines Kontrollinstruments an, das in der Vergangenheit stets gegen Rote, Anarchisten, Spontis oder Aufrüstungsgegner angewandt wurde, nicht gegen militante Nationalisten und Neonazis.

Im Koalitionspapier sprachen die neuen Regierenden den bundesdeutschen Nachrichtendiensten ihr „vollstes Vertrauen“ aus: also dem BND, der andere Regierungen bespitzelte und im Irak Bombenziele für die US-Streitkräfte ausspähte, obwohl die BRD (offiziell) gar nicht am Krieg teilnahm; dem MAD, der erst von französischen Militärs erfuhr, dass ein Elite-Soldat in Verkleidung als arabischer Flüchtling Terrorakte plante, und der heute noch nicht weiß, wo Rechtsradikale die ganzen der Bundeswehr geklauten Waffen und Geschosse verstecken.

Und natürlich dem  Verfassungsschutz im Bund und in den Ländern: Einst von Hans-Georg Maaßen, einem veritablen Rechtsaußen in Nadelstreifen, geführt, investierte das Bundesamt fast seine gesamte Energie in den Kampf gegen die linke und autonome Gefahr. Zuvor schon waren in der Behörde NSU-Akten geschreddert worden, was eine lückenlose Aufklärung der Neonazi-Mordserie beinahe unmöglich machte. Und noch früher, sozusagen in der Jugend dieser Republik, sorgten frühere Hitler-Gefolgsleute dafür, dass der neue Dienst auf strikt rechten Kurs einschwenkte (und wenig deutet bis heute darauf hin, dass von der Richtung abgewichen wurde).

Das aktuelle Koalitionspapier macht mit einem weiteren Paukenschlag deutlich, dass die politische Amnesie hierzulande beinahe epidemische Ausmaße erreicht hat: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“  Nur, wer soll die erwähnte Aversion gegen das Grundgesetz definieren und feststellen? Die Befürchtungen, dass es jene schwer vorbelasteten Verfassungsschützer sein werden, von denen einer einem NSU-Mord beiwohnte, ohne die Schüsse zu hören und das Opfer zu bemerken, während andere als V-Leute das Parteiprogramm der NPD mit entwarfen, werden durch einen Passus zur „inneren Sicherheit“ in den Ampel-Absichtserklärungen bestätigt: „Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.“

Da wird er wieder beschworen, der Geist des guten alten „Radikalenerlasses“, der einst eine Ära der Gesinnungsschnüffelei, der Ächtung linker und pazifistischer Gedanken sowie der Vernichtung beruflicher Karrieren einleitete und einen Hauch von McCarthy-Nationalismus aus Hollywood über den großen Teich nach Deutschland brachte.

Wieder mit der SPD gegen links?

Der „Radikalenerlass“ war 1972 von der SPD/FDP-Regierung unter dem Sozialdemokraten Willy Brandt verabschiedet worden. Sollte er nun fünfzig Jahre später neu implementiert werden, würde das auch wieder unter einem SPD-Kanzler, dem nachgewiesenermaßen sehr vergesslichen Olaf Scholz, geschehen. Nur weltfremde Lämmer können annehmen, der Überwachungsmechanismus diene dazu, die Umsturzvorbereitungen der militanten Rechten zu stoppen – sind doch die zuständigen Controller in den Sicherheitsbehörden allzu oft deren Sympathisanten.

Der „Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote“ charakterisiert völlig zurecht den Erlass des Brandt-Kabinetts und seine fatalen Auswirkungen folgendermaßen: „Er hat nicht nur Tausende von Linken diffamiert, ausgegrenzt und ihre Lebensperspektiven zerstört, sondern vor allem die gerade erst im Wachsen begriffene demokratische Kultur dieses Landes schwer beschädigt. Rechte blieben von der damaligen Hexenjagd so gut wie vollständig verschont.“

„Ausgerechnet der tief in die rechte Szene verstrickte Inlandsgeheimdienst“ (Anm.: der Verfassungsschutz) würde vorschlagen, wer als „Verfassungsfeind“ anzusehen und zu behandeln sei. Grundgesetz und Strafrecht reichten nach Ansicht der Ausschuss-Sprecher völlig aus, um rechte Netzwerke in Polizei, Militär und Justiz zu bekämpfen. Dies ist insofern richtig, als Neonazis, sogenannte Reichsbürger und militante Nationalisten zwangsläufig auf kriminelle Methoden zurückgreifen und so die Polizei zur Ahndung ausreicht, ohne dass auf großflächige Überwachung und Gesinnungskontrolle, die ohnehin vorrangig linke Kritiker treffen würden, rekurriert werden müsste.

Wie kurz muss das Gedächtnis der einst als links geltenden Grünen sein, wenn sie mit den verrosteten Werkzeugen der konservativen Polit-Inquisition liebäugeln, ohne daran zu denken, dass vor einigen Jahrzehnten ihre Gründer selbst zu Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes wurden und der eine oder andere friedensbewegte Pädagoge unter ihnen seine Stelle als Referendar nicht antreten durfte. Vielleicht trösten sie sich jetzt damit, dass bei einer Neuauflage der anti-sozialistischen Hexenjagd wenigstens nicht der AfD-Experte für Law, Order and Arms, Martin Hess, die Richtung der Debatte vorgibt. Nein, um die Rechtfertigung der neuen alten Maßnahmen werden sich die Ampel-Demokraten schon selbst bemühen müssen…
12/2021
Dazu auch:
Doofe Spione? (2014) und Im Zweifel rechts (2018) im Archiv der Rubrik Medien




 



Abgang der Nieten


Nach der Bundestagswahl und den ersten Verhandlungen der drei Koalitionspartner in spe schwante manchem Übles: Christian Lindner, das nette Gesicht des bedenkenlosen Neoliberalismus, als künftiger Minister? Kinderbuchautor Robert Habeck darf dem Volk vom Kabinettstisch aus Märchen erzählen? Gemach, ihr furchtsamen Seelen. Frohlockt doch erst einmal darüber, dass eine stattliche Anzahl ausgewiesener Nullen die Berliner Komödienbühne verlassen muss. Nicht, dass uns diese Clowns mit ihren Fehlleistungen keinen Anlass zu herzlichem Gelächter geliefert hätten, doch fielen die Rechnungen, die uns für diese Vorstellung präsentiert wurden, doch etwas zu hoch aus.


Der Hüter des Anstands


Damit sich die Abgeordneten im deutschen Parlament nicht wie ungezogene Gören verhalten, hat der Gesetzgeber einen Posten geschaffen, der in der nationalen Rangliste gleich nach dem des Bundespräsidenten kommt. Nun sollte man meinen, dass die Nummer 2 im Lande, der Bundestagspräsident als Hüter des parlamentarischen Anstands sozusagen, eine Person von untadeligem Ruf sei. Warum dann aber gerade das CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble zum Zuchtmeister berufen wurde, bleibt ein Geheimnis schwarzer Politik.


Schließlich war Schäuble dick in den Spendenskandal um Kanzler Helmut Kohl verwickelt, und hat wohl auch hunderttausend Deutschmark an illegaler Zuwendung persönlich empfangen. Viel teurer kam die Republik seine Zeit als Bundesfinanzminister zu stehen. Sieben Jahre lang sah er untätig zu, wie Finanzhaie und Pseudo-Investoren mittels Cum-Ex-Tricks den deutschen Fiskus um bis zu 42 Milliarden Euro erleichterten, ehe er sich 2016 dazu herbeiließ, nach mehreren lange unbeachteten Warnungen untergebener Beamter die betrügerischen (Schein)Geschäfte zu stoppen.


Transparenz blieb Schäuble auch als Parlamentspräsident suspekt, weshalb er in Sachen Lobby-Kontrolle und Ahndung finanziellen Fehlverhaltens von MdBs stets die Bremsen betätigte. Da die Christen-Union nun ein wenig dezimiert in den neuen Bundestag einzog und immer die stärkste Fraktion den Abgeordneten-Chef stellen darf, wurde Schäuble aus dem hohen Amt gespült.


Der sich gern diktieren ließ...


Wenn sich einer in der letzten Legislaturperiode mit Wirtschaftslobbyismus und dessen segensreichem Wirken auskannte, dann Peter Altmaier. Der übernahm eins zu eins den Vorschlag für eine neue Einfuhrregelung im Medikamentenhandel, den ihm Mitarbeiter eines Branchenriesen diktiert hatten. Die „Experten“ der Importfirma Kohlpharma verkomplizierten die Berechnungen so geschickt, dass weder Bundestag noch Bundesrat bemerkten, dass sie bei ihrer Zustimmung vor allem ein Unternehmen begünstigten: Das Unternehmen hieß „Kohlpharma“ und war im Wahlkreis von Peter Altmaier angesiedelt.


Dass der Noch-Wirtschaftsminister trotz solcher Heimatpflege sein Direktmandat in Saarlouis verlor, werden die Pharma-Lobbyisten als schreiende Ungerechtigkeit empfinden. Was uns aber nachdenklich stimmt: Der gemütliche Peter unterlag ausgerechnet dem bisherigen ewigen Verlierer und unerträglichen Außenminister-Parodisten Heiko Maas. Und den müssen wir jetzt weiter in der einen oder anderen Funktion ertragen.


Ein Mann des Wortes, nicht der Tat


Neben Markus Söder wird Jens Spahn als großer Mahner und Ankündiger in die Annalen der Corona-Ära eingehen. Immer ein bisschen spät, immer aktionistisch, auf mangelhafte Logistik gestützt, geleitete er uns durch die Seuchenjahre. Dabei vergaß er Freunde und potentielle Wähler nie: Seinen alten Freund Markus Leyck machte er ganz ohne Ausschreibung zum Chef-Digitalisierer des nationalen Gesundheitswesens. Wie der Zufall so spielt, hatte Spahn dem Kumpel zuvor eine luxuriöse Wohnung in Berlin-Schöneberg zu günstigen Konditionen abgekauft.


Über einen wahren Geldsegen durften sich die deutschen Apotheker freuen: Deren Verband wurde vom Gesundheitsminister (trotz Vorbehalten der eigenen Beamten) eine halbe Milliarde Euro pauschal zum Vertrieb von FFP2-Masken zur Verfügung gestellt. So musste der Steuerzahler für 6 € pro Larve aufkommen, während nur 1,50 € fällig geworden wären, hätten die Apotheker den FFP2-Schutz selbst bestellt.


Sein Meisterstück aber lieferte Spahn ab, als er vor der vierten Pandemie-Welle warnte und flehentlich flächendeckendes 3G anmahnte, aber beinahe zeitgleich die Impfzentren schließen ließ und das kostenlose Testen abschaffte. Nun muss auch ein Mann von solcher Effektivität gehen, aber Jens ist mit 41 Jahren noch jung und enorm ehrgeizig. Die noblen Gefälligkeiten und die großen Worte in den Zeiten der Corona müssen ihn doch irgendwann die Karriereleiter ganz nach oben stolpern lassen.


Die Schutzpatronin des Status quo


Ein Herz für ihre bevorzugte Klientel bewies auch die einstige Weinkönigin und immer noch geschäftsführende Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Das sonnige Gemüt aus der Pfalz gönnte den geplagten Großbauern weiterhin ihr Glyphosat und ihre Subventionen, flirtete öffentlich mit dem aggressiven Nahrungsmittel-Multi Nestlé, wollte dem Öko-Landbau Pestizid-Einsätze genehmigen, wohl um ihn zu desavouieren, verhinderte die Ampel-Kennzeichnung von Produkten, durch die Verbraucher vor zu viel Salz, Fett und Zucker gewarnt werden sollten, und bekämpfte die Massenviehhaltung ebenso tapfer wie unmerklich durch ein unklares und unverbindliches Etikett namens Tierwohl.


Vier Jahre lang wurde ein klimafreundlicher Umbau der Landwirtschaft gewissenhaft verschlafen. Wo der Boden in der Republik nicht schon zubetoniert oder asphaltiert war, durften ihn die agrarischen Großgrundbesitzer mittels Monokulturen auslaugen und gleichzeitig das Grundwasser durch Überdüngung versauen. Sie werden der fröhlichen Julia doch die eine oder andere Träne nachweinen.


Das Trio Infernale aus dem Süden


Ein bayerisches Dreigestirn sollte den Ruhm der CSU in die weite Welt hinaus bis nach Berlin tragen, nun wird es unverrichteter Dinge am politischen Firmament verblassen. Da präsentierte sich Dorothee Bär, Staatsministerin für grundlosen Frohsinn und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung, in bester Dauerlaune. In Erinnerung werden von ihr ein paar Show-Auftritte bleiben sowie in puncto Netztechnologie und Modernisierung … ähem, eigentlich nichts.


Horst Seehofer, abgesägter Ministerpräsident des Freistaats, wurde von Markus Söder - wie rostiges Eisen auf den Schrottplatz – als Polit-Opa ins Berliner Kabinett entsorgt. Er bewies beträchtlichen Altersstarrsinn, etwa als er sich über die Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen in einen Krieg, den die Bundeswehr gerade verlor, freute oder als er eine Untersuchung rassistischer Strukturen in der Polizei kategorisch ablehnte, weil es für ihn nichts gab, was nicht sein durfte.


Über den Dritten im Bunde ist so viel gesagt und geschrieben worden, dass hier des Sängers Höflichkeit zu seinen zahllosen Fehlleistungen schweigt und stattdessen bang fragt: Was wird der Scheuers Andi machen, wenn er nicht mehr Automobil-Minister dieses Landes sein darf? Werden sich seine Vorgesetzten bei VW, Daimler und BMW dankbar zeigen und ihm einen Job samt SUV-Dienstwagen anbieten? Oder glauben sie, dass sich Scheuers Pannenserie in ihren Unternehmen dann fortsetzen würde? Es muss ja nicht gleich der Aufsichtsrat sein, als Pförtner oder Hausmeister kann man doch nicht so viel falsch machen.


Die Nachfolger müssen sich ranhalten


Notorischen Pessimisten, die angesichts der bemerkenswert emotions- und substanzlosen Ampel-Koalitionsgespräche raunen, die nächste Gurkentruppe stünde schon in den Startlöchern, sei ans Herz gelegt, sich doch erst mal über das Scheiden der erwähnten Nieten (und die bildeten nur die Elite der Insuffizienz) zu freuen.


Wer allerdings glaubt, die Nachfolger des abtretenden Gaukler-Kabinetts könnten dessen Inkompetenz kaum toppen, sollte sich die künftigen Personalien näher ansehen. Einer der Versager aus dem verblichenen Bündnis hat sich nämlich in die neue Koalition herübergerettet: Cum-Ex-Olaf, der Freund und Gönner des Hamburger Geldadels, wird sogar an der Spitze der aktuellen Hoffnungsträger stehen. Und was der so über Corona oder die Klimakrise faselt, gibt Anlass zu den schönsten Befürchtungen…
11/2021
Dazu auch:
Leuchtturm im Sumpf (2021), Der Gnadenlose und Zwei trübe Tassen (2020), Guter Pharma-Onkel (2019) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit
Tierischer Todernst im Archiv der Rubrik Medien (2019)





Klassenprimus?


So viel Klimaschutz war nie: Erst diskutierten die G20-Regierungschefs in Rom, dann kamen die Verantwortlichen aus aller Welt nach Glasgow, um feierlich zu beschwören, am auf der Pariser Vorläuferkonferenz 2015 beschlossenen Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, festzuhalten. Während viel elaborierter Lärm um wenig Greifbares gemacht wird, scheint der Globus eher einem 3-Grad-Fieber entgegen zu taumeln. Die Schuld trifft viele Verantwortliche überall, aber nirgendwo lügen diese sich so eloquent in die eigene Tasche wie hierzulande.   


Die G20-Versager


Kurz vor dem Weltklimagipfel in Glasgow teilte die scheidende Umweltministerin Svenja Schulze der staunenden Erdbevölkerung mit, dass die Bundesrepublik bis 2045 klimaneutral sein wolle (ohne zu erklären, wie das gehen soll), dass sie solche Zusagen auch von anderen Staaten wünsche und dass diese sich das deutsche Modell zum Vorbild nehmen könnten. Am Wesen eines Landes, das Dörfer und Wälder dem auslaufenden Braunkohle-Tagebau opfert, das Monokulturen, Überdüngung sowie Massentierhaltung subventioniert, das jeden Tag einen Streifen Natur vernichtet, den ÖPNV vernachlässigt, aber seiner Automobilindustrie den Bau rasend schneller Dreckschleudern gestattet, soll also die Welt genesen? Da sei der Himmel vor!


Nehmen wir allein die weltweiten CO2-Emissionen: Die Deutschen pusten zwei Prozent des globalen Ausstoßes in die Luft, obwohl sie nur ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Das bedeutet, dass ein Bundesbürger doppelt so viel heile Atmosphäre kontaminiert wie ein durchschnittlicher Erdling. Und tatsächlich übertreffen nur sehr wenige Staaten in Relation zu ihrer Bevölkerungszahl die deutschen Emissionen, energieverprassende Fossil-Fans wie die USA, Kanada oder Australien etwa, das rücksichtslos produzierende Japan oder das industriell rückständige Russland. Doch selbst das oft gescholtene China oder das Brasilien des Öko-Feindes Bolsonaro liegen unter den Schadzahlen des „Umweltschutz-Vorbilds“ Deutschland. Das Argument, es werde hierzulande ja auch sehr viel produziert, gefahren und geliefert, zählt nicht, denn gerade als wirtschaftlich und technologisch hochentwickeltes Land hätte die BRD längst das Know-how zur Emissionsverminderung entwickeln und einsetzen müssen - wenn es denn gewollt gewesen wäre.


In Rom kamen kurz vor Glasgow die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) zusammen, um über die geeigneten Maßnahmen zum Klimaschutz zu streiten und unverrichteter Dinge auseinanderzugehen. Eine Studie, die Daten der Weltbank, der OECD und der Internationalen Energieagentur auswertete, kam zu dem Ergebnis, dass die G20-Bemühungen völlig unzureichend seien, zumal die Emissionen von Treibhausgasen in allen Mitgliedsländern entgegen der Beteuerungen von Paris 2015 weiter gestiegen waren.


Deutschland wird ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: Die BRD müsste ihren Ausstoß bis 2030 um 72 und nicht, wie angepeilt, um 65 Prozent reduzieren – schon diese Vorgabe wird sie wohl ohnehin verfehlen. Andere Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder Italien hätten sich weitaus ambitioniertere Klimaziele gesetzt als der angebliche Vorreiter, kommentierte die NGO Germanwatch.   


Deutschland nicht gerade vorn


Wie „toll“ Deutschland im internationalen Vergleich beim Klimaschutz performt, sollte man nicht den sehr selektiven Verlautbarungen der Bundesregierung bzw. des Umweltschutzministeriums entnehmen, sondern der weltweit umfassendsten Untersuchung der gegenwärtigen Situation in 57 Ländern der Erde. Den Climate Transparency Report 2021 haben Experten von 16 NGOs aus den G20-Staaten (darunter auch Germanwatch) soeben veröffentlicht, und er räumt der Bundesrepublik einen mäßigen 19. Rang im Effektivitätsranking ein, für das als die vier essentiellen Kriterien der Ausstoß von Treibhausgasen, der Stand beim Ausbau der erneuerbaren Energien, der Energieverbrauch insgesamt sowie die nationale Klimapolitik untersucht wurden.


Die ersten drei Plätze in der Rangliste von 1 bis 61 ließen die Fachleute frei, weil kein sich kein Land eine durchgehend positive Note verdient hatte. Angeführt wird danach die Liste von Schweden, dem u. a. drei weitere skandinavische und zwei baltische Staaten sowie relative Habenichtse wie Marokko und Chile folgen. Von den G20-Mitgliedern liegen Großbritannien und Indien (!) vor dem selbsternannten Klima-Weltmeister Deutschland als Neunzehntem, vor dem noch insgesamt acht Staaten der EU und die Gemeinschaft als Ganzes rangieren. Auf allen vier Untersuchungsgebieten scheidet die BRD nur durchschnittlich ab.


Diese Ergebnisse sollte man in Erinnerung behalten, um die vollmundigen Erfolgsmeldungen sowie die an den Rest der Welt gerichteten Belehrungen durch deutsche Politiker relativieren zu können. Offenbar wird in Berlin gern Mittelmaß mit Spitzenposition verwechselt. Und die sogenannten Sondierungen der drei potentiellen Koalitionspartner unter Führung des Wirtschaftslobbyisten Christian Lindner lassen vermuten, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird.


Weltspitze in Absichtserklärungen


Es kommt nicht viel Besseres nach. Diese pessimistische Prognose drängt sich nach den ersten Sondierungsgesprächen der in der mutmaßlich nächsten Regierungskoalition vertretenen Parteien auf. Richtig konkret wurde es eigentlich nur, wenn sich die FDP erfolgreich gegen die für die Realisierung der Umweltziele notwendige Finanzierung oder die Einschränkung von Yuppie-Fun stemmte: keine Wiedereinführung der Vermögenssteuer für Reiche, keine Aussetzung der Schuldenbremse (was in der Zeit des billigen Geldes durchaus sinnvoll gewesen wäre) und schon gar kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen!


Wo sich die Grünen durchsetzten (oder eher durchschlängelten?), sind die Ergebnisse sinngemäß meist im Optativ, dem Konjunktiv des Wünschens, festgehalten: „Zur Einhaltung der Klimaschutzziele ist auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung nötig. Idealerweise gelingt das schon bis 2030." Leider sind Ideale nicht von dieser Welt. Auf neuen Privathäusern sollen Solardächer „die Regel werden“. Leider gibt es dazu keine Verpflichtung. Den CO2-Preis auf Kraft- und Brennstoffe, den schon die große Koalition eingeführt hatte, will das neue Trio an die europäischen Klimaziele anpassen. Leider bleibt der Passus ohne weitere Konkretisierung. Der Sprit muss also teurer werden, nur drücken sich FDP und SPD vor einer klaren Aussage, statt nach einem sozialen Ausgleich für wirtschaftlich Schwächere, die auf den PKW angewiesen sind, zu fahnden.

Auch von der dringend gebotenen Intensivierung des ÖPNV liest man nichts.


Kritik kam von den Umweltverbänden und von Luisa Neubauer, der deutschen Frontfrau von Fridays for Future, die twitterte: "Wenn man das Papier an dem misst, was wir in den letzten 16 Jahren an Klimapolitik erlebt haben, dann ist das ein Schritt nach vorne. Aber das ist nicht der Maßstab. Der Maßstab ist das, was getan werden muss, um Lebensgrundlagen zu erhalten und 1,5-Grad-Zusagen einzuhalten."

Mit anderen Worten: Was von vier Regierungen verschlafen worden ist, lässt sich nicht mit Trippelschrittchen aufholen, vor allem dann nicht, wenn die Klimakatastrophe in Sieben-Meilen-Stiefeln voranschreitet und uns kaum mehr Zeit bleibt, sie auch nur zu verlangsamen. Es steht zu erwarten, dass die Bundesrepublik auch unter der nächsten Regierungskoalition im jetzigen Status quo verharrt, hilflos gegenüber dem Klimawandel, aber Weltspitze in Ankündigungen und Belehrungen.

11/2021

Dazu auch:

Krieg gegen die Natur in der Rubrik Politik und Abgrund sowie Freie Fahrt für niemand im Archiv derselben Rubrik (2021)



 


Befleckt ins Amt


Wir hatten uns daran gewöhnt, dass die Inhaber politischer Spitzenpositionen in Deutschland irgendwann von den Sünden ihrer Vergangenheit, ob es sich nun um Vorteilnahme, Täuschung oder andere Kellerleichen handelte, eingeholt wurden – und zwar während oder kurz nach ihrer Amtszeit. Dass aber der künftige Regierungschef in einer überaus schmuddeligen Weste seinen Posten antritt und dies in der Öffentlichkeit höchstens erwähnt, aber kaum beanstandet wird, ist neu. Ein Zeichen für eine lauere Moral, die den höchsten Volksvertretern eine gewisse Fehlbarkeit im Umgang mit fremden Geldern zugesteht?


Altnazis und Lügner in hohen Ämtern


Schon Kurt Georg Kiesinger, von 1966 bis 1969 Bundeskanzler, konnte bei seinem Amtsantritt keineswegs auf eine unbelastete Vergangenheit zurückblicken. Bereits 1933 war er der NSDAP beigetreten und hatte der Partei bis Kriegsende aufopferungsvoll gedient, mal als Blockwart, dann wieder im NS-Kraftfahrkorps, vor allem aber ab 1940 als stellvertretender Leiter der Rundfunkabteilung, also des wichtigsten Propagandamediums der Nazis. Über seine Schutzbehauptung, er sei in die Hitler-Partei eingetreten, um Exzesse zu verhüten und ihre Ideologie zu verändern, schütteln Historiker heute noch die Köpfe. Solche haarsträubenden Euphemismen waren in der BRD-Frühgeschichte an der Tagesordnung gewesen, weswegen die Information zu Beginn seiner Kanzlerschaft weitgehend unbeachtet blieb. Kiesingers Pech war nur, dass während seiner Regierungszeit die 68er Bewegung aufkam und das braune „Narrativ“ entlarvte, so dass er die Folgen bösen Tuns spüren musste, als ihm Beate Klarsfeld eine Ohrfeige verabreichte.


Dass der laut Dramatiker Rolf Hochhuth  „furchtbare Jurist“ Hans Filbinger, im zweiten Leben baden-württembergischer Ministerpräsident wie zuvor auch Kiesinger, als Marinestabsrichter vier Männer an den Galgen gebracht hatte, wobei er sich sogar die Mühe machte, mildere Urteile der Vorinstanz in Todesstrafen umzuwandeln, wurde erst Ende der 1970er Jahre ruchbar. Die öffentliche Diskussion danach führte – zumindest einmal ein Hauch von Konsequenz! – zum Rücktritt des reuelosen braunen Landesvaters.


Honorige Herren wie Bundeskanzler Helmut Kohl, der ehemalige Multi-Minister Wolfgang Schäuble oder Roland Koch, seinerzeit hessischer Ministerpräsident, sorgten zwischen 1980 und der Jahrtausendwende auf krummen Wegen dafür, dass der CDU das Geld nie ausging, doch ihre Verstrickungen in Skandale wegen illegaler Spenden, schwarzer Kassen oder erfundener Erbschaften wurden erst während ihres Dienstes am Volk bekannt, nicht davor.


Nur in Bayern war es immer schon wurscht, ob und wann ein Spezi sündigte. Wo die CSU mehr als ein halbes Jahrhundert die Uhren anders stellte, konnten schräge Vögel wie Friedrich Zimmermann oder Otto Wiesheu auch nach ihren Fehltritten noch auf weitere Karriere hoffen. Old Schwurhand (bajuwarischer Spott) wachte später als Innenminister über die Sicherheit der BRD und der schwer alkoholisierte Todesfahrer Wiesheu durfte nach einer gewissen Karenzzeit Verkehrsminister im Münchner Kabinett werden – kein Wunder bei einem Übervater wie Franz Josef Strauß, dessen ununterbrochene Affärenserie im Freistaat gefeiert wurden wie einst die Taten des Wildschützen Jennerwein. Mittlerweile aber scheint die Bundesrepublik zu verbayern – würde sonst ein Olaf Scholz, dessen Versäumnisse, Fehler und ehrenrührige Kontakte hinlänglich dokumentiert sind, von den öffentlichen Moralrichtern ohne großes Aufheben ins Kanzleramt durchgewinkt werden?        


Ein Platz für Betrüger und Geldwäscher


Da war zum einen der Wirecard-Skandal. Zwar hatte sich das halbe Bundeskabinett, allen voran Kanzlerin Merkel, vom Freiherrn K. T. zu Guttenberg (dessen Titel-Erschleichung übrigens auch erst aufgedeckt wurde, als er bereits das zweite Ministeramt innehatte) vor den Lobbyisten-Karren der Betrugsfirma spannen lassen, doch die Fachaufsicht oblag dem Finanzminister Scholz und seiner Bankenkontrolle BaFin. Zwei Milliarden Euro verschwanden aus den Bilanzen von Wirecard, und obwohl es zahlreiche Hinweise auf gigantische Unregelmäßigkeiten gegeben hatte, griff der kühle Hanseat nicht ein.


Obwohl Olaf Scholz die von Vorgänger Schäuble geerbte Financial Intelligence Unit des deutschen Zolls personell ausbaute, wie er sich selbst ohne Unterlass zugutehält, verzichtete sein Ministerium meist darauf, die strafrechtliche Verfolgung der von dieser Task Force für Geldwäsche gemeldeten Verdachtsfälle in Gang zu bringen. Der SPIEGEL forderte „eine lückenlose Aufklärung“ dieser Ungereimtheiten „im Verantwortungsbereich von Finanzminister Scholz“. Das Magazin verlieh der Bundesrepublik, die gerne mit dem tadelnden Finger auf die Cayman-Inseln oder Panama zeigt, den Ehrentitel „Paradies für Geldwäscher“.


Apropos Panama: Die „Pandora Papers“ brachten unlängst an den Tag, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) über ihre Tochter, die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) im Rahmen der Hilfe für ärmere Länder in den letzten sieben Jahren Kredite von insgesamt 250 Millionen Euro an elf Banken der mittelamerikanischen Steueroase vergeben hatte. Die Geldinstitute hätten das Geld an kleine und mittelständische Betriebe weitergeleitet, verteidigte sich die DEG, konnte aber kein einziges Kleinunternehmen, das bedacht worden wäre, konkret benennen. Regelrecht heiter klingt die zweite Erklärung: Mit den Mitteln seien „Tausende von Arbeitsplätze im Bankensektor von Panama“ geschaffen worden. Wir Unbedarften hatten stets geglaubt, der dortige Devisenumlauf brauche allenfalls flinke Briefkasten-Leerer, doch nun wissen wir dank DEG, dass solide Geldwäsche ausreichend Fachkräfte benötigt. Die KfW und damit auch die DEG unterstehen der Rechtsaufsicht des Bundesfinanzministeriums, Olaf Scholz hätte also im eigenen Haus aufräumen müssen.   


Wie beim Wirecard-Desaster konnte Scholz auch bei der Cum-Ex-Langzeitkatastrophe argumentieren, er sei nicht der einzige Finanzminister gewesen, der den grenzüberschreitenden Steuerbetrug trotz klarer Erkenntnisse hatte weiterlaufen lassen. Es ist richtig, dass auch die Vorgänger Steinbrück und Schäuble tatenlos zusahen, wie dem deutschen Fiskus etliche Milliarden regelrecht abgenommen wurden, nur hatten sich beide in ihrer Funktion nicht persönlich kompromittiert. Als Hamburger Erster Bürgermeister aber traf sich Scholz mit den Inhabern der Warburg-Bank, worauf denen kurz danach die Rückzahlung von 47 Millionen durch Cum-Ex erbeuteter Euro von den Finanzbehörden erlassen wurde. Dumm nur, dass unser Regierungschef in spe sich bei Befragungen und vor Ausschüssen als Mann, der nichts sagt, nichts weiß und – vor allem – sich an nichts erinnert, präsentiert.


Politikerkrankheit Amnesie


Nun sind Scholzens Gedächtnislücken ja nichts besonders Originelles im Politikerreigen. Der Abwehrmechanismus der Verdrängung scheint bei unseren Mandatsträgern besonders rigoros zu greifen, wenn es um Unangenehmes, speziell: eigenes fragwürdiges Handeln, geht. Weder Kohl noch Schäuble konnten sich daran erinnern, warum sie hunderttausend Mark von einem Waffenhändler bekommen hatten und wohin das Geld verschwunden war. Schon Hans Filbinger waren die vier Todesurteile, die er als Militärrichter beantragt oder verhängt hatte, glatt entfallen. Und CSU-Größe Friedrich Zimmermann schwor in der „Spielbankenaffäre“ einen Meineid vor Gericht, weil sein Gedächtnis ihn im Stich gelassen hatte, worauf ihm die Medizin zur Seite sprang und den Fauxpas seinem erhöhten Blutzuckerspiegel zuschrieb. Der Mann hat also nicht gelogen, er war nur krank, nicht krank genug allerdings, als dass er nicht später als Bundesinnenminister erste Wahl gewesen wäre.


Nun also Olaf Scholz. Ein Pläuschchen, das er als Hamburger Bürgermeister mit den Eigentümern der „kriminellen Privatbank“ (German-Foreign-Policy) M. M. Warburg gehalten und das mutmaßlich dazu geführt hatte, dass diese ihre Cum-Ex-Beute zunächst nicht zurückzahlen mussten, war ihm, gezielt darauf angesprochen, schlicht nicht mehr präsent. Da aber die Union sich selbst zerlegte und ihr kleinere, aber spektakulärere Missgriffe, etwa die Masken-Skandale oder Spahns dubiose Immobilienkäufe angelastet wurden, darf sich der Mann mit dem kurzen Gedächtnis jetzt berechtige Hoffnungen auf den Einzug ins Kanzleramt machen. „Dreck am Stecken haben sie ja alle“, meint der Volksmund, in diesem Falle nicht ganz danebenliegend.


Und prompt offenbarte Olaf Scholz frische Erinnerungslücken. Bei den Sondierungsgesprächen mit FDP und Grünen vergaß er die Kernforderungen der SPD-Basis, nämlich die Wiedereinsetzung der Vermögenssteuer und die weitere Aussetzung der Schuldenbremse, um den Ausbau der sozialen Infrastruktur und den Kampf gegen den Klimawandel in einer Zeit, in der Kredite niedrigst verzinst werden, zu finanzieren. Vielleicht war ihm die Besteuerung der Reichen wegen der guten Beziehungen zum Hamburger Geldadel peinlich, womöglich wollte er aber auch nur seinen neuen Taktgeber Christian Lindner nicht verärgern. Oder er hat seinen Auftrag wirklich vergessen…

10/2021

Dazu auch:

Der Fisch darf stinken (2021) und Rettet Panama! (2020) im Archiv von Politik und Abgrund

Peers teures Erbe im Archiv von  Helden unserer Zeit (2020)







Stuttgart 25 plus


Bis ins letzte Jahr hinein löste die bloße Erwähnung des Flughafens Berlin Brandenburg (BER) in Kabarettprogrammen und Nachrichtensendungen bereits Lachsalven im Publikum aus. Schier endlose Verzögerungen und Pannen beim Bau, Sicherheitslücken und exorbitante Kostensteigerungen erheiterten kopfschüttelnde Bürger. Immerhin ging der Airport nach „nur“ vierzehn Jahren Fertigstellung in Betrieb. Ein anderes Mega-Projekt aber müsste schon dem Namen nach heuer noch schlüsselfertig übergeben werden, doch wann in den Bahnhof Stuttgart 21 Züge einfahren, wie viele Milliarden sein Bau dann verschlungen haben wird und ob er überhaupt sicher ist, steht in den Sternen – und scheint zurzeit auch niemanden zu interessieren.


Die Bahn und der Umweltschutz


Als 1994 erstmals das Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Neuordnung des „Eisenbahnknotens Stuttgart“ (volkstümlich: Stuttgart 21) vorgestellt wurde, staunten die Bürger über das gigantische Vorhaben, das anstelle der dringend notwendigen Renovierung des alt-ehrwürdigen  Kopfbahnhofs in Szene gesetzt werden sollte: Vier neue Stationen für den Personenverkehr, elf neue weitgehend unterirdisch verlegte Strecken von insgesamt 57 km und ein komplett neuer Hauptbahnhof für den Durchgangsverkehr. So viele Novitäten riefen bald ein heterogen zusammengesetztes Kritikerheer auf den Plan.    


Geologen hielten die örtliche Bodenbeschaffenheit für nicht stabil genug und fürchteten um Mineralwasservorkommen in der Tiefe, Verkehrsplaner warnten, dass ein Prestigeprojekt, das vor allem für Fernzüge angelegt schien, um reiselustige Schwaben ein paar Minuten schneller nach Paris zu bringen, den Schienennahverkehr beeinträchtigen würde und forderten stattdessen einen „Kopfbahnhof 21“. Tatsächlich bietet der Untergrund so wenig Platz zum Rangieren, dass es nicht nur für S-Bahnen eng werden dürfte, sondern auch der ambitionierte Zeittakt für Züge nach Zürich oder in relativ nahe Großstädte wie Mannheim oder Nürnberg nicht einzuhalten sein wird.


Besonders enttäuschend aber waren für den DB-Vorstand die Reaktionen der Umweltschützer, hatte er doch damit argumentiert, mehr Menschen von der Straße auf die Schiene bringen zu wollen. Die Ökologen aber bemängelten die Bedrohung gefährdeter Tierarten und geplante Fällung von fast 11.300 größeren Bäumen, darunter rund 300 uralte Stämme allein im Mittleren Schlossgarten. Dort kam es zu den erbittertsten Massenprotesten gegen Stuttgart 21, worauf quasi als symbolischer Akt wenigstens einige der Riesen umgepflanzt wurden.


Zeit, Sicherheit, Geld? Lappalien!


Nun beginnen die Ähnlichkeiten mit dem Berlin-Brandenburger Schildbürgerstreich: Bei Baubeginn 2010 wurde die Fertigstellung von Stuttgart 21 für 2019 prognostiziert, bereits drei Jahre später rechnete der Lenkungskreis der Bahn mit einer Verschiebung auf 2022, kommunizierte in der Öffentlichkeit aber ein fristgerechtes Bauende bis 2021. Jenes Jahr schreiben wir gerade, von einem neuen Stuttgarter Hauptbahnhof ist aber nichts zu bemerken, denn inzwischen wird die Eröffnung für 2025 erwartet, ohne dass die sechsjährige Verspätung bundesweit größeres Aufsehen erregen würde. Für Running Gags und Comedy-Sketches eignen sich die Irrungen und Wirrungen biederer Württemberger anscheinend nicht so gut wie die großschnäuziger Berliner.


Bereits 2009 schied der Architekt Frei Paul Otto, der bis 2006 an der Planung von Stuttgart 21 beteiligt gewesen war, ganz aus dem Projekt aus. Er wolle die weitere Mitarbeit nicht mehr verantworten, da der der Bahnhof überschwemmt werden könnte. Es bestehe „Gefahr für Leib und Leben“. Drei Jahre später kritisierte die Stuttgarter Branddirektion, dass 14 von 16 Punkten eines Forderungskatalogs noch offen seien. So würden etwa 45 Minuten vergehen, ehe bei einem Feuer Löschwasser im Tunnel zur Verfügung stünde. Auch fehle es an Entlüftungsmöglichkeiten bei starker Rauchentwicklung.


Die Planer gingen noch 2003 im Katastrophenfall von 10.000 zu rettenden Menschen aus, das Eisenbahn-Bundesamt rechnet inzwischen mit über 16.000 Menschen bei einem Unglück, allein bis zu 6000 auf einem der vier Bahnsteige. Wenn die Sicherheitsvorkehrungen nicht ausreichen, kann man immer noch die Zahlen anpassen, sagten sich die Bahnverantwortlichen daraufhin wohl. Der DB-Brandschutzbeauftragte Klaus-Jürgen Bieger kalkuliert infolgedessen mit höchstens 6500 zu evakuierenden Personen insgesamt und der Projektsprecher Wolfgang Dietrich im „worst case“ mit 2530 Menschen auf einem Bahnsteig. Wie schon das BER-Debakel zeigte, scheint die Sicherheit der Passagiere und Mitarbeiter angesichts der erhofften glamourösen Eröffnung vernachlässigbar zu sein.


Was natürlich für die Finanzen weniger gilt. Im März 2009 schätzte die Deutsche Bahn die Gesamtkosten für Stuttgart 21 auf drei Milliarden Euro, im Dezember desselben Jahres waren es schon vier Mrd. Bis 2019 stiegen die Kalkulationen auf über acht Milliarden Euro, der Bundesrechnungshof indes geht bis 2025 von zehn Mrd. aus. Selbst wenig Phantasiebegabte können sich durchaus vorstellen, dass auch dies nicht reichen wird.

Doch nicht nur die Steuerzahler mussten ein Opfer für Stuttgart 21 erbringen (und müssen es noch): Bei Massenprotesten gegen Baumfällungen im Schlossgarten griff die Polizei 2010 derart brutal ein, dass 400 Demonstranten verletzt wurden, darunter der Ingenieur Dietrich Wagner, der sein Augenlicht fast vollständig verlor.


Das diskrete Milliardengrab


Trotz zahlloser Planungs- und Baufehler, der Zweifel am Projektnutzen, der Verschwendung öffentlicher Gelder, einer bizarren Zeitüberschreitung und einer dubiosen Sicherheitspolitik geriet Stuttgart 21 nach den anfänglichen Widerständen nie mehr zum Objekt bundesweiter Erregung. Man/frau schien sich eben seit dem Flughafen-Desaster damit abgefunden zu haben, dass auf höchster technischer Ebene hierzulande nichts verlässlich ist und dass Geld wie Zeit als volatile Werte bei vollem Bewusstsein vergeudet werden können – irgendwelchen Baukonzernen und Zulieferern werden diese Freigebigkeit und Duldsamkeit ja sicher nutzen. In der Öffentlichkeit wird Stuttgart 21 als müdes Remake der BER-Show „Pleiten, Pech und Pannen“ rezipiert.


Umso erstaunlicher ist der fast kindliche Glaube des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner an die Allmacht deutscher Planungs- und Ingenieurskunst. Der würde er nämlich gern den Kampf gegen den Klimawandel übertragen, wie er im Wahlkampf äußerte. Er ist also nicht nur ein Fundamentalist des freien Marktes, er hegt auch die Überzeugung, dass nur mit Konzerninteressen innig verwobenes technologisches Know-how made in Germany die Umwelt retten kann, obwohl in diesem Fall wohl nicht nur um flache Südsee-Atolle, sondern mittelfristig auch um die Niederlande und Hamburg gebangt werden müsste.


Tatsächlich könnten sich zu den teuren Marathon-Konstrukteuren von Berlin und Stuttgart noch die findigen Experten von VW, Daimler oder BMW vom Fachgebiet „Emissionsmanipulation“ gesellen, die vielleicht die Resultate nicht beschleunigen, verbessern oder verbilligen werden, sie aber so zurecht frisieren können, dass die Erderwärmung glaubhaft zur Generierung einer Wohlfühloase umgedeutet wird.


Aber im Ernst: Der Umstieg reisender oder pendelnder Menschen von PKW und Flugzeug auf die Bahn und die Verlagerung von Gütern auf die Schiene und – damit verbunden – die Entlastung der Anwohner und der Umwelt sollte nicht Polit-Technokraten, Konzernchefs und neoliberalen Dogmatikern anvertraut werden. Dies ist die einzige Lehre, die sich aus BER und Stuttgart 21 ziehen lässt.

10/2021

Dazu auch:

Vorname: Bahnchef (2017) und Scheitern als Weg (2014) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit 





Freie Fahrt für niemand


Der Bundestagswahlkampf war geprägt vom Schaulaufen der KanzlerkandidatInnen sowie von Schlagworten, etwa Afghanistan, Corona-Krise oder Klimawandel. Dass sich solche Mega-Begriffe komplexe Probleme, unzählige Sichtweisen und diverse Lösungsansätze beinhalten, dass beispielsweise nach der gescheiterten Mission am Hindukusch die Falken „bigger“ und die Pazifisten kleiner denken wollen oder dass die Pandemie viele Fragen zu den Themen Gesundheitsversorgung, Pflegenotstand bzw. gewinnorientiertes Betreiben von Kliniken aufwirft, geht im propagandistischen Gedöns unter. So spielte zuletzt auch die Umgestaltung des Verkehrs als wichtiger Teil einer neuen Öko-Strategie kaum eine Rolle.


Entwicklungsland Bundesrepublik


Die Bemühungen, den Personenverkehr umwelt- und damit menschenschonender zu organisieren, erschöpfen sich hierzulande im Bau einiger Fahrradwege, der Einführung von E-Scootern, mit denen Betrunkene oft zu dritt auf einem Roller Unfällen entgegensteuern, und die, quer über dem Gehsteig liegend, im Dunkeln schon so manches Mütterchen zum Straucheln gebracht haben, und im Umstieg auf Kfz-Elektromotoren, zu der die zaudernden Autokonzerne mit goldenem Handschlag überredet wurden.


Gerade aber das letzte Beispiel zeigt, dass kein grundlegendes Umdenken in der Politik stattgefunden hat, dass der Bevölkerung statt Konzepten planerische Flickschusterei vorgesetzt wird: E-Autos verstopfen die Städte genauso wie Dieselschleudern oder Benziner, benötigen die gleiche Anzahl an Parkplätzen, somit an öffentlichem Raum, und sind ebenso unfallträchtig, zumal auch diese sanften Vehikel oft hochtourig konstruiert sind und wie Rammpanzer daherkommen. Nicht „Andere Autos!“ müsste die Devise lauten, sondern „Weniger Autos!“


Kopenhagen und Wien machen vor, wie man durch Verkehrsberuhigung, systematische Planung von Fahrradrouten und kostengünstigen ÖPNV eine City zu einem freundlichen Ort, in dem nicht der SUV, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht, machen kann.  Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, hat nun Tempo 30 in der ganzen Seine-Metropole durchgesetzt. Für Unfallopfer macht es oft einen lebenswichtigen Unterschied, ob sie mit 30 km/h oder mit 50 km/h angefahren werden, Kinder leben sicherer, laut Gutachten des Umweltbundesamtes von 2016 sinkt die Schadstoff- und Lärmbelastung der Umgebung beträchtlich. Auch ist zu erwarten, dass „ausgebremste“ PKW-Fahrer eher auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen oder sich aufs Fahrrad schwingen.


Schauen nun die Verantwortlichen in Berlin auf Paris, sollten deutsche Städte (und nicht nur ein paar Nordseeinseln) diesem Beispiel folgen? Mitnichten, gilt doch hierzulande die Forderung „Freie Fahrt für freie Bürger!“, die vor allem das Recht „gefühlter“ Formel-I-Piloten auf höchstmögliche Geschwindigkeit verteidigt. Die Bundesrepublik ist, von zehn untermotorisierten Staaten, etwa Nordkorea, Haiti oder Mauretanien, abgesehen, das weltweit einzige Land, das kein generelles Tempolimit auf Autobahnen kennt. Man darf also mit Fug und Recht behaupten, dass Deutschland in Sachen urbaner Mobilität sowie des Schutzes von Bürgern und Umwelt ein Entwicklungsland ist.  


Jenseits zivilisatorischer Infrastruktur


Welche Freiheit aber genießt ein Bürger, der auf dem Dorf in einer strukturschwachen und dünn besiedelten Gegend lebt und aus Altersgründen bzw. aus Überzeugung keinen Führerschein oder aus finanziellen Gründen kein Auto besitzt? Vielleicht kommt der Schulbus zweimal am Tag vorbei, häufig nicht einmal das. Der Weg zum Einkaufen, zum Arzt oder zur Sparkasse wird zum Abenteuer, wichtige Besorgungen können nicht getätigt werden. Der Mensch wird zum Gefangenen seines Wohnorts, statt frei zu planen, ist er auf Gefälligkeiten der Nachbarn angewiesen.


Es geht auch anders: In Südtirol (ähnlich auch in einigen betuchten oberbayerischen Touristengemeinden) fährt der Verkehrsverbund tagsüber jede Stunde jedes Dorf an, bei geringerem Bedarf mit Kleinbussen. Für alte Bergbäuerinnen dort ist es kein Problem, in den Städten Bozen oder Brixen shoppen zu gehen, eine Option, von der die Bewohner der deutschen Provinz nur träumen können.


In den Großstädten wiederum ist es für viele ein regelrechter Luxus, den ÖPNV zu nutzen, weil die Fahrpreise viel zu hoch sind. Die Nürnberger Verkehrsbetriebe werden nun ein 365-Euro-Jahresticket für Azubis, Schüler und Studenten einführen – weil der Stadtrat einem von der Linken initiierten Bürgerbegehren nachgeben musste. Andere kommunale Betreiber in Bayern folgen. Prompt setzte sich Ankündigungsweltmeister Markus Söder an die Spitze der Bewegung und stellte ein solches Jahresticket für alle in Aussicht. Großzügig genehmigte er den städtischen Verkehrsverbünden, das Billig-Abo auf den Weg zu bringen, nur wird von seiner Landesregierung kein müder Euro an die klammen Kommunen fließen, um die Einnahmeeinbußen zu kompensieren, woran letztendlich alles scheitern kann.


Der Fehler liegt im System. SPD, Grüne und Linke haben in ihre Wahlprogramme eine „Mobilitätsgarantie“ für alle Bürger geschrieben. Klingt gut, ist auch richtig, nur leider nicht durchsetzbar, wenn nicht die Verwendung des Steueraufkommens von Bund, Ländern und Kommunen beinahe revolutionär umgekrempelt wird. Weniger (teils verdeckte) Subventionen an die Industrie und die agrarischen Großbetriebe, nur noch 0,2 statt der nach der Blamage von Kabul stillschweigend anvisierten 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Rüstung und eine Wiedereinsetzung der Vermögenssteuer – und schon wäre Geld für eine nachhaltige und menschenfreundliche Verkehrspolitik vorhanden, und für noch vieles andere mehr.


Privatisierung und andere Idiotien


Während das eine oder andere mit der SPD und den Grünen zu machen wäre – allerdings bei weitem nicht alles (Stichwort Verteidigungshaushalt) - , blocken die besonders rechten Parteien jede substanzielle Veränderung zugunsten des Klima- und Naturschutzes kategorisch ab. Die AFD „unterstützt und fördert den motorisierten Individualverkehr als beliebteste Möglichkeit der Fortbewegung“. Um die Städte noch konsequenter zu autogerechten Stein- und Asphaltwüsten mit permanentem Durchgangsverkehr aufzurüsten, fordert die Partei den „Erhalt und Ausbau von innerstädtischen Fahrspuren und Parkraum“. Und natürlich sind die Rechtsextremen gegen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen.

Vom Bleifuß auf dem Gaspedal scheint das giftige Schwermetall auch bei den Liberalen und Unionspolitkern ins Hirn gelangt zu sein, denn auch sie wollen trotz aller Studien, die den Wert der Geschwindigkeitsbegrenzung für Leib, Leben und Atmosphäre belegen, auf dem Recht zu hemmungsloser Raserei bestehen.


Besonders toxisch wirkt dabei das Wahlprogramm der FDP. Die würde vieles zulassen, Diesel-Dreckschleudern und überhaupt Verbrennungsmotoren bis in alle Ewigkeit, das menschliche Wohl und den Schutz der Umwelt hingegen würde sie dem Markt anvertrauen. Der sollte per Emissionshandel die Sache schon schaukeln. Und tatsächlich handelt er munter mit Zertifikaten, so dass „Verschmutzungsrechte“ von Firmen, die weniger Dreck als zugeteilt ausstoßen, gewinnbringend verkauft werden können. Kommen diese Lizenzen die Erwerber recht teuer, können sie ja die Produktpreise erhöhen. Der Profit wird dabei schon nicht weniger, die CO2-Belastung der Luft allerdings auch nicht.


Und natürlich möchte die FDP den Betrieb der Bundesbahn privatisieren, während das Streckennetz im Besitz des Bundes verbleiben soll, damit die teure Wartung nur den Steuerzahlern, nicht aber künftigen Aktionären aufgebürdet wird. Wie sich die Überführung öffentlichen Verkehrseigentums in Konzernmanager- und Investorenhände gestaltet, hat sich in Großbritannien gezeigt. Die auf schnellen Profit und positive vierteljährliche Börsenberichte erpichten neuen Besitzer ruinierten die Eisenbahn und die Londoner Subway, auf perspektivische Planung angewiesene Verkehrsbetriebe, so gründlich, dass beide re-verstaatlicht werden mussten.   


Die Union hingegen setzt bei der Bundesbahn auf Hochgeschwindigkeitszüge und schnelle Verbindungen in europäische Metropolen. Was den langsameren ÖPNV betrifft, für den die DB ja auch eine wichtige Rolle spielt, fallen ihr im Wahlprogramm nur vage Verbesserungen für Fußgänger und Radfahrer ein. Ansonsten outen sich CDU und CSU als unerschütterliche Fans des motorisierten Individualverkehrs: „Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin die besten Autos der Welt produziert werden – und zwar mit allen Antriebsformen.“  Und in allen SUV-Varianten und ohne Rücksicht auf die Umwelt!


Zählt die gute Absicht?   


Einzig die Linke hat die auch von SPD und Grünen propagierte Mobilitätsgarantie präzisiert: So sollen alle Gemeinden untereinander und das jeweils nächste städtische Zentrum im Stundentakt von 6.00 bis 22.00 Uhr angebunden werden. Ein guter Plan, dem auch die Sozialdemokraten und die Öko-Partei zustimmen könnten. Doch vermutlich wird es nach der Wahl nicht zu einer Koalition dieser drei Parteien kommen.


Es wäre ohnehin ein fundamentaler Paradigmenwechsel nötig, durch den der überbordende individuellen Autoverkehr nicht nur als ein Problem für die Luftreinhaltung gesehen wird, sondern auch als Faktor, der die Städte unwirtlich macht, der nach einem Netz aus neuen oder erweiterten Autobahnen, Bundes-, Land- und Umgehungsstraßen verlangt, das unsere Wälder sowie Moore zerschneidet und das spärlich vorhandene grüne Land versiegelt und parzelliert.


Nur ein Nahverkehr mit hoher Frequenz, der die Geduld der Bürger nicht auf allzu harte Proben stellt, könnte Verkehrsteilnehmer von der Straße zur Bahn oder aus dem eigenen Auto in den Bus locken. Dass dies möglich ist, haben andere Länder vorgemacht. Aber es ist zu bezweifeln, dass mit der SPD, die den Banken- und Industriekumpel Scholz an die Spitze gehievt hat, ja selbst mit den Grünen, die in Kretschmann einen zum Freund von Daimler und Konsorten gewandelten Saulus in ihren Reihen haben, eine solch radikale, aber notwendige Umverteilung der Steueraufkommen möglich wäre. Mit ihren mutmaßlichen Partnern nach dem Urnengang sowieso nicht…

09/2021

Dazu auch:

Deutsche Autofahrer im Archiv von Helden unserer Zeit (2017) 





Die Lehren von Kabul


Der Zwanzigjährige Krieg endete im Chaos auf dem Flughafen von Kabul. Als besonders unfähig und verantwortungslos zeigten sich dabei die Verantwortlichen in der Bundesregierung. Welche Lehren aber zieht die Politik aus der Niederlage, wie wird ein sinnloser, aber folgenschwerer Auslandseinsatz der Bundeswehr analysiert und welche Schlüsse werden für die Zukunft daraus gezogen? Bereits jetzt zeichnet sich ein realitätsfernes Weiter so! ab.


Das Resümee eines Menschenfeindes


Die letzten Bundeswehrmaschinen flogen noch deutsche NGO-Mitarbeiter und „Ortskräfte“ aus, da traten Außenminister Heiko Maas, Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Horst Seehofer als Chef des Innenressorts vor die Mikrofone und gaben sich tief zerknirscht. Sie hätten den schnellen Zusammenbruch der afghanischen Armee und die blitzartige Machtübernahme der Taliban nicht vorhersagen können, jammerten sie und ließen so ihr Publikum über die sich in dieser Situation aufdrängende Frage grübeln: „Wie kann es sein, dass wir von solchen Dumpfbacken regiert werden?“


Dass sich das Ende der bodenlos gescheiterten Intervention der westlichen Streitkräfte so oder so ähnlich abspielen würde, hätten alle Berliner Regierungspolitiker gut zehn Jahre lang aus den Berichten der Korrespondenten vor Ort, den Analysen von Beobachtern, den Warnungen des Botschaftspersonals in Kabul und sogar diversen Beiträgen auf dieser Homepage herauslesen können. Doch selbst, als die Provinzen wie reife Früchte in die Hände der Islamisten fielen, schob die Berliner Regierung noch munter afghanische Flüchtlinge in ihr erodierendes Heimatland ab. Halten wir uns nicht mit Kopfschütteln oder Empörung über diese Mischung aus Ignoranz und Menschenverachtung auf, fragen wir stattdessen, welche Schlüsse die deutsche Politik aus dem Desaster zieht.


Lassen wir zunächst die rechtsextreme Opposition zu Wort kommen. Die chauvinistische Hybris der AfD, die den Bundeswehreinsatz in Afghanistan aus ganz anderen Gründen als Linke und Pazifisten abgelehnt hatte, wurde durch Alexander Gauland glänzend offenbart: „Um Geschlechtergerechtigkeit in die muslimische Welt zu tragen, mussten deutsche Männer dort ihr Leben lassen. Wie viele afghanische Frauen in höchsten Ämtern oder Mädchen in Schulen wiegen eigentlich einen deutschen toten Soldaten auf?“


In ähnlicher Diktion wies Kaiser Wilhelm II. das Expeditionskorps, das 1900 Unabhängigkeitsbestrebungen im Reich der Mitte blutig unterdrücken sollte, in seiner berüchtigten Hunnenrede an, die grausamen Methoden des Nomaden-Königs Attila anzuwenden: „… so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“ Es gehörte zu den abstoßendsten rhetorischen Kennzeichen der Nazis, aber zuvor auch des preußischen Militarismus, die teutonische „Rasse“, ja selbst einzelne ihrer Recken, über den Rest der Welt zu erheben. Was zählen Völker, Ethnien oder die Bewegungsfreiheit und Unversehrtheit von Millionen afghanischer Frauen angesichts eines toten deutschen Kameraden?


Mehr Waffen, mehr Geld?


Während Außenminister Maas nach dem Fall von Kabul recht kleinlaut eigene, vor allem aber alliierte Fehleinschätzungen zugab, versuchte Annegret Kramp-Karrenbauer, auf der Veranstaltung „Neue Weltunordnung“ der Körber-Stiftung und des SPIEGEL die Scherben zusammenzukehren und einen noch größeren Elefanten in den Porzellanladen der westlichen Machtpolitik zu treiben.


Nach den üblichen Trauerbekundungen forderte sie, die militärische Handlungsfähigkeit der EU-Mitglieder zu stärken. Dies sei „ein langer und steiniger Weg. Auf diesem befinden wir uns gerade. Auf ihm gehen wir, ohne die NATO und den Westen klein zu reden.“ Dazu brauche man „ein Deutschland, ein Europa und eine atlantische Gemeinschaft, die sich selbst die Mittel geben, entschlossener, leistungsfähiger und auch langfristig durchhaltefähiger für den Westen einzutreten, für ihn zu streiten und ihn zu verteidigen“. Noch entschlossener als auf der Flucht aus Kabul? Aber vielleicht haben da auch noch ein paar Steuermittel gefehlt. Mit Hubschraubern, die fliegen, Panzern, die fahren und Gewehren, die nicht um die Ecke schießen, hätten die Europäer die Taliban nach Kramp-Karrenbauers exklusiver Meinung sicherlich ganz alleine in Schach gehalten.


Außerdem benötigen wir „eine tiefere Ehrlichkeit in unserer Sicherheitspolitik“ (was nahelegt, dass die Bürger bislang mit Halbwahrheiten abgespeist wurden) und über „die Mittel, die wir dafür brauchen“ (viel mehr Geld für die Rüstung also). Wenn man sich durch den verbalen Schwulst der Kriegsministerin nicht in den Schlaf wiegen lässt, erfährt man, welch großes Ziel sich die Loser von Kabul als nächstes vorgenommen haben:  „Deutschland steht ein für Demokratie und Menschenrechte, für Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft. Für individuelle Freiheit und individuelle Verantwortung. Für Multilateralismus und Völkerrecht. Sie haben ja eben die Fregatte Bayern erwähnt: Ihre Fahrt in den Indo-Pazifik ist ein Symbol genau dafür.“


Die Bundeswehr soll sich demzufolge mit der VR China anlegen, die sich mit ein paar Nachbarn aus durchaus fragwürdigen Gründen um unbewohnte Inseln streitet, sich aber vor allem gegen die von den USA orchestrierte Einkreisungspolitik wehrt. Und rein symbolisch schickt Deutschland schon mal ein erstes Kanonenboot vorbei. Nachdem es gegen die unfair, da asymmetrisch kämpfenden Taliban nicht geklappt hat, sucht Berlin offenbar nun nach einem würdigen Gegner in einer anderen Größenordnung.


Vom Sinn militärischer Exkursionen


Auch mit mehr Soldaten und besseren Waffen wären die westlichen Interventionstruppen in Afghanistan wohl nicht dauerhaft erfolgreich gewesen. Wer ein Land nicht kennt, seine Kultur nicht versteht und emanzipatorische Teilerfolge in ein paar Städten für den großen Durchbruch in einem Land ohne gewachsene staatliche Strukturen hält, muss scheitern. Auch schon während der Besetzung durch Sowjettruppen, die sich gegenüber der Realität im Land ebenfalls völlig verständnislos zeigten, gingen junge Frauen auf die Unis. Die vom Westen finanzierten Mudschahedin machten bald klar, was sie davon hielten. Sie wurden dann von den noch rigoroseren Taliban, die Pakistan und unsere Partner von der arabischen Halbinsel trainierten und alimentierten, verdrängt. Ihr Sieg kann niemanden, der auf sozialen Fortschritt und kulturelle Befreiung hofft, freuen. Doch archaische Bewegungen sind nicht von modern ausgerüsteten, aber ortsfremden Allianzen, für die der eigene strategische Vorteil, die Ausbeutung von Bodenschätzen und die Sicherung „ihrer“ Handelswege im Vordergrund stehen, zu bezwingen.


Derzeit scheint sich das deutsche Versagen in der aktuellen Außenpolitik mit militärischen Mitteln zu wiederholen, und zwar in Mali. Zu einer Partnerschaft mit den französischen Ex-Kolonialherren, denen es vor allem um die Uranvorkommen im Norden des Landes ging, aufgerufen und mit einem schwachen UN-Mandat ausgestattet, sehen nun knapp 1000 Bundeswehrsoldaten in der östlichen Provinz Gao bei ethnischen Säuberungen durch Regierungstruppen zu, während in der Hauptstadt Bamako korrupte Oligarchen und Putschmilitärs einander an der Staatsspitze abwechseln und in der Wüste Tuareg-Rebellen sowie Islamisten wieder an Boden gewinnen. Ein Ende wie in Afghanistan, wenn auch vielleicht nicht so spektakulär, scheint vorprogrammiert. So ist das eben, wenn man ohne einen Plan und ohne Vorkenntnisse der Geschichte und gesellschaftlichen Strukturen eine bewaffnete Exkursion in ein fremdes Land unternimmt.   


Sollte es ausnahmsweise eine gut vorbereitete Blauhelm-Mission mit valider Unterstützung geben, um einen Genozid oder ein regionales Massaker an einer Bevölkerungsgruppe zu verhindern (was bekanntlich in Ruanda, Srebrenica, in der Zentralafrikanischen Republik und anderswo nicht gelang), dann könnte man sich eine kleine deutsche Eingreiftruppe als Bestandteil des UN-Einsatzes vorstellen. Ansonsten haben Bundeswehrsoldaten, schon aufgrund der militärspezifischen Vergangenheit Deutschlands auf fernen Kriegsschauplätzen nichts zu suchen. Sie werden dort auch von niemandem sonderlich vermisst.

09/2021

Dazu auch:

Dumm oder inhuman? im Archiv von Politik und Abgrund (2021) 






Dumm oder inhuman?


Die vernichtende Niederlage der westlichen Militärallianz und ihrer einheimischen Verbündeten in Afghanistan lässt vor allem drei Folgerungen zu: Die neo-koloniale „Sicherheitspolitik“ der Großmächte ist gescheitert, die prognostischen Fähigkeiten von Militärs und Geheimdiensten tendieren gegen Null, und die deutschen Politiker reagieren auf humanitäre Krisen unverantwortlich bis skrupellos.


Regime Change missglückt


Zwanzig Jahre lang dauerte der Versuch des Westens, aus Afghanistan einen braven Staat mit ein paar Einsprengseln bürgerlicher Demokratie zu machen, zwei Dekaden, die zur Ära der falschen Propheten, unfähigen Planer und Fake-Spreader mit Regierungsposten wurden, und nun in die kopflose Massenflucht aus Kabul mündeten. Nach Tausenden Toten, darunter nicht wenige Soldaten der Interventionstruppen, aber viel mehr Zivilisten (deren Ableben teilweise als „Kollateralschäden“ verbucht wurden), nach einer vergeudeten Billion Dollar, die anderswo Hunger oder Corona-Leiden spürbar hätten lindern können, stehen die USA und ihre Verbündeten vor dem Nichts – oder, genau gesagt, wieder am Anfang, mit demselben Gottesstaat als Gegenüber, den sie hatten zermalmen wollen.

„Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt“, hatte 2007 der SPD-Verteidigungsminister Peter Struck kategorisch festgestellt. Der Mann ist 2012 gestorben, und so können wir ihn heute nicht mehr fragen, welche Bollwerke zum Schutz unseres Landes er mittlerweile bemannen würde. Mali vielleicht, oder gleich die umstrittenen Inseln im Chinesischen Meer?


Die Vereinigten Staaten aber hatten die Invasion Afghanistans von vornherein aggressiver interpretiert, sie wollten Rache für 9/11, die Al-Qaida als für die Attentate verantwortliches Netzwerk zerstören und in einem Aufwasch auch gleich einen Regime Change in Kabul bewerkstelligen. So hatten sie in Lateinamerika etliche unbotmäßige Regierungen gestürzt und – teils durch direktes Eingreifen – durch  ihnen gewogene Militärdiktaturen ersetzt. Doch die Strategie scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein: In Libyen und dem Irak scheiterte Washington damit, und in Afghanistan führte die einst erfolgreiche Vorgehensweise zu einem beispiellosem Desaster. Nur dort, wo sie nicht direkt intervenierten, in Ägypten nämlich, gelangte der befreundete Putsch-General as-Sisi an die Macht.


Irrtümer und andere Lügen


In der Bundesrepublik weigerten sich die Verteidigungsminister und Truppeninspekteure lange, überhaupt von einem Krieg am Hindukusch zu sprechen. Als Karl-Theodor zu Guttenberg endlich das böse K-Wort in den Mund nahm, hatte das Schlachtfest schon eine Halbzeit hinter sich, und es begann sich abzuzeichnen, dass es als erzwungene „friedliche Übergabe“ an die Taliban enden würde.


In der Rangliste der Fehleinschätzungen standen die Meinungen der beiden US-Präsidenten Trump und Biden ganz oben, die eigenen Truppen könnten sich vom Acker machen, ohne dass das ganze Land von den Islamisten überrannt würde. Auch die deutsche Bundeswehrführung ging (zumindest in der Öffentlichkeit) davon aus, ihre Ausbilder hätten einheimische Sicherheitskräfte so trefflich instruiert, dass die Gotteskrieger auf ihnen gewachsene Gegner treffen würden. Diszipliniert zeigten sich die mit Multi-Millionen Aufwand trainierten Verteidiger der Demokratie allerdings nur während der reibungslos ablaufenden Kapitulation.


US-Außenminister Antony Blinken, der aus dem Potpourri der hanebüchenen Analysen, Tatsachenverdrehungen und Euphemismen stets die absurdesten Einschätzungen fischte, gab den Afghanen selber die Schuld am Debakel: „Fakt ist, dass die afghanischen Streitkräfte nicht in der Lage waren, das Land zu verteidigen. Und das ging schneller, als wir erwartet haben." Die Interventionsstreitkräfte überließen es also ihren einheimischen Verbündeten, ganz allein gegen eine Guerilla zu kämpfen, mit der sie selbst nicht fertig geworden waren. Nun hat niemand den Afghanen jemals Feigheit vor dem Feind vorgeworfen, britische und russische Invasoren können ein Lied von ihrer Tapferkeit singen. Doch damals kämpften die Krieger für ihre Familien, ihre Clans, ihr Volk oder ihre Unabhängigkeit, für ein ihnen aufgezwungenes korruptes Regime in Kabul aber mochten ihre Enkel nicht sterben.


Zwei Tage vor den dramatischen Ereignissen auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt lobte Antony Blinken, wie umsichtig sein Präsident auf alle Eventualitäten vorbereitet sei, so dass es keine panische Flucht wie die im Jahre 1975 aus Vietnam geben werde. „Das ist nicht Saigon“, tönte dieser moderne Schmalspur-Nostradamus, und hatte damit sogar partiell recht: Seinerzeit hängten sich Verzweifelte an die Kufen des letzten abhebenden Army-Hubschraubers, in Kabul dagegen waren es Flugzeuge, an die sich die Menschen mit letzter Anstrengung klammerten.


Wie ein Comedy-Gag mutete Blinkens Versuch an, die Niederlage zum Triumph umzudeuten. Anders als einst in Vietnam sei diesmal der US-Einsatz ein Erfolg gewesen, weil das Ziel, die Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 zur Strecke zu bringen und dafür zu sorgen, dass aus Afghanistan keine weiteren Attentate mehr geplant würden, erreicht worden sei. Nun ja, die Al-Qaida-Terroristen wurden tatsächlich sehr schnell in die Berge vertrieben, wo sie sie sich in Ruhe reorganisieren konnten, um anschließend in etlichen Ländern wieder loszuschlagen. Doch hätte es danach quasi als Zugabe einer Intervention von zwanzig Jahren bedurft, die Zehntausende von Menschen das Leben kostete, ein Land ins Chaos stürzte und nun in wilder Flucht endete?


Unterlassene Hilfeleistung und Vorsatz


Was die deutsche Regierungspolitik während der letzten Tage der afghanischen Katastrophe anbelangt, so müsste sie eigentlich Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen sein. Dass Verteidigungsministerium und Innenministerium mehr als 7000 Ortskräften in den Einsatzprovinzen der Bundeswehr alle Möglichkeiten einer Registrierung für die Einreise nach Deutschland sowie des Transportes nach Kabul verweigerten, dass sie ihre Übersetzer, Köche, Wäscher und Wachdienstleute der Rache oder Gnade der Taliban überließen, dass sie sogar Helfer in Privatfirmen outsourcten, um ihnen das Anrecht auf Asyl verweigern zu können, dürfte den Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung erfüllen.


Als die US-Geheimdienste bereits unkten, Kabul werde in 30 bis 90 Tagen in die Hände der Taliban fallen (tatsächlich reichte eine gute Woche), wurden immer noch afghanische Flüchtlinge, darunter viele Azubis, Gesellen und anderweitig beruflich wie sozial Integrierte, in ihre todesgefährliche Heimat abgeschoben. Die Star-Politiker Seehofer, Maas, Laschet und Scholz bildeten eine Große Koalition der Unmenschlichen, die bis zehn Tage vor der Übergabe von Kabul an den Abschiebungen festhielt. Heute werden die Herren vermutlich auf Dummheit und Unwissenheit plädieren, damit man ihnen nicht mit Vorsatz, billigender Inkaufnahme von oder Beihilfe zu Freiheitsberaubung, Körperverletzung oder gar Tötung kommen kann.


Zum Thema „Menschenrechte“ sollte das scheidende Bundeskabinett in den ihm verbleibenden Wochen unisono das Maul halten. Seine Mitglieder haben den letzten Rest an Glaubwürdigkeit in dieser Sache verloren.

08/2021

Dazu auch:

Afghanisches Roulette in der Rubrik Medien

Chronik des Versagens (2020) Afghanische Orakel (2019) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Die Niederlage im Archiv der Rubrik Medien (2013)






Der Fisch darf stinken


Nehmen wir eine fiktive Behörde an: Die Beamten in den Abteilungen müssen alle Kontakte, die sie mit Kunden, Antragstellern oder Gönnern haben, genau dokumentieren. In der Amtsleitung indes geben sich Interessenvertreter die Klinke in die Hand, erhalten Privataudienzen und dürfen sogar an Verordnungen mitschreiben, die ihre Auftraggeber betreffen, ohne dass diese Vorgänge festgehalten werden und die Öffentlichkeit davon erfährt. Geht nicht und gibt’s auch nicht, werden manche sagen. Funktioniert aber genau so, und zwar im Umfeld von Parlament und Bundesregierung.


Transparenz in homöopathischer Dosis


Dass der gemeine MdB seine Kontakte zur Industrie und zu Interessenverbänden offenlegen solle, war nach der Amthor-Affäre noch weitgehender Konsens der Koalitionsparteien. Dass aber Parlamentarier nur als Türöffner dienen können und die eigentliche Lobbyarbeit in den Entscheidungsgremien, der Bundesregierung und ihren Ministerien also, stattfindet, wollte vor allem die Union nonchalant ignorieren. Und so wurde der Entwurf eines Lobbyregisters konsequent verwässert. Offenbar hatten vor allem die Minister Braun (Kanzleramt), Seehofer (Innenressort), Altmaier (Wirtschaft) sowie Kanzlerin Merkel selbst erkannt, welche Sprengkraft Fakten haben, wenn sie erst einmal ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. In einer Vorlage für Kanzleramtschef Helge Braun wird auf diese Gefahr hingewiesen:


Ursprünglich war im Entwurf der Formulierungshilfe ein sog. exekutiver Fußabdruck der BReg enthalten, der laut Entwurf insbesondere zu mehr Transparenz führen soll „betreffend die Art und Weise, in der hochrangige Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger innerhalb der Bundesregierung Kontakt mit Interessenvertreterinnen und Interessenvertretern und sonstigen Dritten haben, die die gesetzgeberischen Tätigkeiten der Regierung zu beeinflussen suchen“.


Aber „ursprünglich“ heißt ja nicht „endgültig“, und so entschärften die Unionschristen sorgsam den Entwurf, schränkten den Kreis der zu outenden Lobbyisten ein, und zwar auf jene, die Kontakt zu den obersten Entscheidern (Kanzlerin, Minister, Staatssekretäre) suchen. Ihre eigentliche Effizienz entfalten die Einflüsterer aus der Wirtschaft aber auf der Referatsebene, wo sie weiterhin anonym an Gesetzesentwürfen mitschreiben dürfen. Auch der „exekutive Fußabdruck“, der eine Nachverfolgung des externen Einflusses auf Regierungsmitglieder und -entscheidungen ermöglicht hätte, blieb außen vor. Die SPD setzte dem schwächlichen Widerstand entgegen und stimmte letztlich im März 2021 dem kastrierten Lobbyregister zu.


Mauscheleien an der Spitze


Wie ungeniert sich die Emissäre der Wirtschaft in den Büros des Bundeskabinetts einnisten, belegt das Beispiel des Chefasphaltierers der Republik und großen SUV-Freundes Andreas Scheuer: Seit seinem Amtsantritt im März 2018 gewährte der Bayer laut Abgeordnetenwatch den Interessenvertretern der Autokonzerne achtzig Audienzen, den wichtigsten Umweltverbänden aber nur eine.


Angela Merkel wiederum lud zu sich den Brachial-Lobbyisten und Kopier-Fachmann Karl-Theodor zu Guttenberg gar ins Kanzleramt ein, um von ihm für ihre Chinareise gebrieft zu werden. In Peking warb sie nämlich höchst engagiert für die damals schon auffällig gewordene Gangsterfirma Wirecard, eifrig sekundiert von Finanzminister Olaf Scholz, der sein versagendes Kontrollinstitut Bafin offenbar nicht im Griff hatte. Zuvor war er als Hamburger Bürgermeister schon dem Charme der Cum-Ex-Betrüger von der Warburg Bank erlegen.


Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der sich als oberster Gönner der Konzerne geriert, pfuschte wiederum seinem Kollegen Jens Spahn, der die Importförderklausel für Medikamente ändern wollte, ins Handwerk und setzte durch, dass ein von Lobbyisten der in seinem Wahlkreis ansässigen Firma Kohlpharma verfasster Gesetzesentwurf von A bis Z übernommen wurde.


Im Alibi-Lobbyregister werden zwar einzelne Kontakte von Bundestagsabgeordneten zu Wirtschaftsvertretern auftauchen, nicht aber solche klandestin in den Referaten vereinbarten Gunstbeweise der Politik auf höchster Ebene. Der Fisch müffelt vom Kopf her, und er soll auch weiter stinken dürfen.


Der Zufall bringt es an den Tag


Dass wir von den aufgeführten Beispielen und unzähligen anderen Durchstechereien, die unser bürgerlich-demokratisches System fortlaufend ad absurdum führen, überhaupt wissen, haben wir nicht dem Aufklärungseifer der Politik zu verdanken. Kritischen NGOs und investigativ arbeitenden Journalisten gelang es immer wieder, den schönen Schein zur Makulatur werden zu lassen. Abgeordnetenwatch macht des Weiteren eine höhere Macht für das Gros an Wahrheitsfindung verantwortlich: „An die Öffentlichkeit kommen die einseitigen Lobbykontakte meist nur durch Zufall.“


Gemäß einer von Transparency International in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage glauben zwei Drittel aller Menschen in Deutschland, die Bundesregierung werde durch die großen Lobbyakteure gesteuert. Ein gewisses Gefühl für die eklatanten Verwerfungen im politisch-wirtschaftlichen Komplex ist den Bürgern also nicht abzusprechen. Aber welche Schlüsse ziehen sie aus ihren durchaus plausiblen Wahrnehmungen?


Eine Minderheit wandert ins AfD-Lager mit seiner Verquickung von rigidem Kapitalismus und faschistoider wie rassistischer Ideologie ab, die meisten aber schütteln sich, verscheuchen den Eindruck von schmutzigen Händen und fleckigen Westen aus dem Bewusstsein und wählen am Ende genau die Politiker wieder, die diese Bilder überhaupt erst haben entstehen lassen.

08/2021

Dazu auch:

Er ist wieder da (2020) und Guter Pharma-Onkel (2019) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

Lobbykratie BRD im Archiv von Politik und Abgrund (2013)






Covid-Kolonialismus


Zum Wesen des Kolonialismus zählte es, dass die imperialen Mächte den „Eingeborenen“ diktierten, was diese produzieren und liefern sollten, und ihnen umgekehrt unnütze Waren verscherbelten. Diese im 19. Jahrhundert entwickelte Form des Welthandels lebt in den Zeiten der Pandemie wieder auf: Die Dritte Welt soll nicht eigenständig Vakzine produzieren. Tut sie es doch, werden diese Seren als minderwertig klassifiziert, aber dennoch „großzügig“ an die armen Länder verteilt, weil man die eigenen Edelprodukte hortet.


Entstehung von Varianten


Wieder einmal wurde Afrika im Stich gelassen, trotz vollmundiger Solidaritätsbekundungen aus Brüssel und Berlin, und obwohl Wissenschaftler warnen, dass sich auf dem unter der Covid-19-Krise besonders stark leidenden Kontinent die nächste verheerende Infektionswelle anbahnt, dass dort eine Epsilon- und dann eine Zeta-Variante entstehen könnte.


Zwar hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Organisation COVAX, die für die Versorgung aller Staaten mit Vakzinen sorgen soll und von den Industrienationen finanziert wird, mit initiiert, doch blieben die vermeintlichen Edel-Impfstoffe Biontech, Moderna oder Johnson & Johnson für die Dritte Welt außer Reichweite, denn die westlichen Industriestaaten reservierten sie für die eigenen Bürger. Die aber sind mittlerweile „impfmüde“ geworden, sodass die teuren Substanzen zu vergammeln drohen.


Während nun in den USA und der EU teils materielle Anreize geschaffen werden, um die Menschen an die Nadel zu bringen, per Gutscheine, Freibier oder - wie in New York - sogar Joints, warten die Afrikaner vergebens auf die versprochenen COVAX-Lieferungen. Gerade einmal 18 Millionen Dosen wurden bis Mai bereitgestellt – für 1,3 Milliarden Menschen! China, das bislang die Dritte Welt immerhin mit 400 Millionen Dosen eigener Impfstoffe unterstützt hat, muss sich dagegen von den Europäern vorwerfen lassen, es nütze die Pandemie aus, um die eigene geostrategische Position zu stärken. Als hätten die NATO-Staaten bei ihren „Hilfsaktionen“ je etwas anderes im Sinn gehabt.


Das Beispiel Indiens hätte Warnung genug sein können: Dort sahen die wirtschaftlich starken Staaten des Westens zu, wie sich Abermillionen infizierten, verhinderten aber zunächst, dass das Land sich selbst mit der Produktion von Vakzinen helfen konnte, indem sie die Patente nicht freigaben. Diese wirtschaftsfreundliche Politik begünstigte die Entstehung der Delta-Variante auf dem Subkontinent, eine verhängnisvolle Entwicklung, die – welch salomonische Gerechtigkeit! – nun auch uns erreicht hat.


Die wählerischen Experten


Die EU, die Pharma-Konzerne und anfangs auch die USA hatten sich bei der Weigerung, den Patentschutz für Vakzine aufzuheben, hinter der fadenscheinigen Behauptung verschanzt, in der Dritten Welt existierten kein Know-how und keine Kapazitäten für die diffizile Produktion – als hätten nicht die riesigen Arzneimittelfabriken in Indien seit geraumer Zeit die halbe Welt mit Generika versorgt.


Dann durfte das Serum Institute of India wenigstens AstraZeneca, dem aus Konkurrenzgründen unter den westlichen Impfstoffen die Rolle des Parias zugesprochen wird, herstellen. Ein Teil der Produktion wurde an COVAX geliefert, und die Organisation versorgte damit ärmere Länder. Dies sah nach gedeihlicher internationaler Kooperation aus, doch eine europäische Institution fand ein Haar in der Suppe menschlichen Wohlverhaltens.


Die EMA (European Medicines Agency) lässt chinesische und russische Vakzine für die Europäische Union aus unterschiedlichen Gründen nicht zu. Nun hat sie dieses Verdikt auch auf das in Indien hergestellte AstraZeneca ausgedehnt. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Kompatibilität internationaler Impfpässe. So kann Menschen, die zwar vollständig, aber nicht mit einem von der EMA anerkannten Vakzin, geimpft wurden, die Einreise in die EU verwehrt werden. Dies droht neben Afrikanern und Asiaten auch Serben oder Albanern, Bürgern aus Staaten also, in denen mit Seren aus chinesischer, russischer oder eben indischer Fabrikation immunisiert wurde.


Das scheinbar Absurde an dieser Situation ist, dass COVAX gerade von EU-Staaten mit Geldern ausgestattet wurde, um das indische AstraZeneca unter die bedürftigen Völker zu bringen, damit die Edel-Vakzine in der Ersten Welt verbleiben konnten. So schafft man Geimpfte zweiter Klasse, denen man bei Bedarf den Zutritt in den europäischen Salon untersagen kann. Gleich mehrere Gründe für dieses perfide Vorgehen sind denkbar, und einer ist inhumaner als der andere…


Impfschrott für die Armen?


Der Schutz der großen Konzerne ist den Politikern im Westen eine Herzensangelegenheit. Der russische Impfstoff Sputnik V hat nach Analysen der in Großbritannien erscheinenden Wissenschafts-magazine Nature und Lancet – die beiden gelten als die renommiertesten medizinischen Publikationen der Welt - eine mindestens ebenso hohe Wirksamkeit wie Biontech oder Moderna. In Serbien, Argentinien und den Vereinigten Emiraten, wo er eingesetzt wurde, konnten keine fatalen Nebenwirkungen, etwa Thrombosen, festgestellt werden. Sputnik V ist somit ein ernstzunehmendes Konkurrenzprodukt für die Vakzine des deutschen Top-Startups Biontech und seines US-Partners Pfizer oder von Johnson & Johnson. Selbst der MDR attestierte dem russischen Serum: „Die Impfung schützt offenbar gut.“ Menschen vor der Seuche zu bewahren, ist eine Sache; das profitable Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft zu pflegen, eine andere – und die scheint wichtiger zu sein.


Die chinesischen Vakzine sind wohl weniger wirksam als Sputnik V, gleichwohl lässt sich mit ihnen die Seuche in unterversorgten Ländern einigermaßen effizient bekämpfen. Dennoch trifft auch sie der Bannstrahl der EMA (und mit den Seren auch die mit ihnen geimpften Menschen). Vermutlich will die EU so den wachsenden Einfluss Chinas in vielen Weltregionen eindämmen.


Warum aber verweigert die Impfkommission der EU den in Indien produzierten Vakzinen und den mit ihnen vorgenommenen Immunisierungen die Anerkennung, obwohl sie diese doch über COVAX in die Dritte Welt geliefert hat? Alle mutmaßlichen Erwägungen zeugen von kalter Berechnung:


-     Die zur Einreise zwingend notwendige Anerkennung von

Impfpässen (im Verein mit dem Ausschluss bestimmter

Impfstoffe) könnte so ein effektives Werkzeug zur Unterbindung

von Migration und legaler Einreise Asylsuchender werden.

-     Die EU möchte suggerieren, dass Indien nicht in der Lage ist,

hochwertige Vakzine herzustellen und deshalb die von der Dritten

Welt und den NGOs geforderte Aufhebung des Patentschutzes

einen Irrweg darstellt.

-     Oder die EMA hat tatsächlich herausgefunden, dass AstraZeneca

aus Indien nicht den medizinischen Anforderungen entspricht.

Dann aber wäre es grob fahrlässig, Impfschrott in die armen

Länder zu liefern. Wer dieses Szenario für unmöglich hält, sei an

den deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn erinnert, der

minderwertige Schutzmasken an behinderte Menschen ausgeben

wollte. Übrigens ließen sich die mit dem indischen Vakzin

versorgten Länder auch trefflich als abgeriegelte Versuchslabore

nutzen.


Der European Council on Foreign Relations (ECFR) grämte sich bereits im Mai, die EU stehe wegen unterlassener Hilfeleistungen, was Masken oder Vakzine betrifft, gegenüber China in Sachen „Covid-Diplomatie“ ohnehin schlecht da, und warnte vor „diplomatischen Verwicklungen“, wenn etwa Bürgern aus den südöstlichen Nachbarstaaten die Einreise verweigert würde, weil sie mit dem „falschen“ Vakzin geimpft wurden. Solche Maßnahmen würden „das Ansehen der EU in diesen Ländern wohl kaum verbessern“.


Indessen wird vor allem auf dem schwarzen Kontinent die nach außen paternalistische, tatsächlich aber knallhart neoliberale Rolle der Europäischen Union immer heftiger kritisiert. Die Afrikanische Union erklärte, das Vorgehen der EU setze die „gleichberechtigte Behandlung“ geimpfter Afrikaner aufs Spiel. Die kritische Netzplattform German-Foreign-Policy zitierte Madagaskars Gesundheitsminister Rakotovao-Hanitrala mit den Worten „Wie kann es sein, dass sie uns jetzt erzählen, diese Impfstoffe seien nicht gültig“. Man frage sich jetzt, „ob es etwa einen Impfstoff für Afrikaner gibt und einen anderen für Europäer“. Die kenianische Wochenzeitung The East African indes fand die passende Einordnung für die Pandemie-Bekämpfung der EU: „Impfstoff-Apartheid“.

07/2021

Dazu auch:

Patent vor Leben unter Medien und Triple-Moral im Archiv derselben Rubrik (2020)







Ende des Regenbogens


Da schien Deutschland mal voranzugehen in Sachen Toleranz und Humanität: Der Münchner OB Reiter hatte vor dem EM-Spiel der DFB-Elf gegen Ungarn bei der UEFA beantragt, das überdimensionierte Schlauchboot namens Allianz-Arena in Regenbogenfarben beleuchten zu dürfen, als Zeichen der Sympathie für die Queer Community – und wohl auch, um Viktor Orbán, der gerade in Budapest ein homophobes Gesetz durchgepeitscht hatte, zu ärgern. Die Korruptionsspitze des europäischen Fußballs untersagte dies wegen des Gebots „politischer Neutralität“, worauf die Deutschen andere Stadien in buntes Licht tauchten und sich wieder einmal als die Guten fühlen durften. Nüchtern betrachtet, handelte es sich aber bei der Goodwill-Aktion um eine billige Geste, die kaum etwas mit der Realität im Lande zu tun hat.


Symbolpolitik und Arroganz


Ja, es wäre schön, in einer inklusiven Gesellschaft zu leben, in der jede/r unabhängig von der sexuellen Ausrichtung, ethnischen Zugehörigkeit oder seiner physischen und psychischen Tauglichkeit für unser Produktions- wie Marktsystem glücklich werden darf. Insofern müsste man es doch begrüßen, wenn Manuel Neuer, Spielführer der deutschen Nationalmannschaft, eine regenbogenfarbige Kapitänsbinde trägt. In einer Live-Diskussion des BR kritisierte ein Zuhörer allerdings, dass Neuer mit dem bunten Armbändchen vor dem Logo des Sponsors seines Vereins Bayern München posiert hätte, des Emirats Qatar also, in dem Homosexuelle unbarmherzig verfolgt, Frauen die Rechte verweigert und ausländische Arbeiter bis ins Grab ausgebeutet werden.


Der Mann hatte vollkommen recht: Ein bisschen visualisierte Symbolpolitik darf nicht davon ablenken, dass Toleranz nicht teilbar ist und auch nicht nur temporär geübt werden darf, dass also ein Söder, der sich bei dieser Gelegenheit (d. h. in der Nähe von Mikro und Kamera) als großer Versteher der queer people outete, sein Wohlwollen auch auf Flüchtlinge ausdehnen muss. Es ist jene fast obligatorische Scheinheiligkeit, die mit rhetorischem Schwulst die nationale Arroganz verbrämt, welche solchen (oberflächlichen) Gutmensch-Vorstößen gegenüber misstrauisch macht.


Nur am Rande sei gefragt, warum es hierzulande schwule Spitzen-Kicker noch immer nicht wagen, sich zu ihrer sexuellen Identität zu bekennen.

Die EM dauert ein paar Tage, danach herrscht wieder Normalität, geprägt von der üblichen Intoleranz und vor allem jener Ignoranz, die uns vergessen lässt, dass uns seit Jahren fürchterliche Nachrichten aus Nordafrika, von den griechischen Inseln und den süditalienischen Küsten erreichen, die noch nie einen Bürgermeister zu einem Farbspektakel angeregt haben. Dann wird sich auch wieder zeigen, dass in der EU Diskriminierung existiert, nicht nur Migranten gegenüber, sondern auch zwischen den einzelnen „Bruderstaaten“.


Zynische Fake-News aus Brüssel


Die Verträge von Dublin, die von Deutschland und Frankreich, zwei weitab von den Migrationsbrennpunkten liegenden Ländern, durchgesetzt wurden, regeln, dass Asylbewerbern praktisch kaum mehr legale Möglichkeiten offenstehen, in die Mitte Europas zu gelangen. Es sind die Staaten mit „prekären“ Küsten und Grenzen, also in erster Linie Italien, Spanien und Griechenland, die Flüchtlinge aufnehmen und ihre Anträge prüfen müssen. Die wohlhabenden Mittel- und Nordeuropäer sind außen vor, da ihre Territorien weit weg von der türkischen Grenze liegen, auch nicht am Mittelmeer, Afrika gegenüber. Und sie lassen die südeuropäischen „Partner“ mit maroden Sammellagern wie dem griechischen Moria, überfüllten Inseln wie dem italienischen Lampedusa oder Logistikproblemen wie auf den Kanaren allein.


So ganz stimmt das allerdings auch nicht. Zwar helfen die Wortführer in Berlin, Paris und Brüssel den Südeuropäern bei den gegenwärtigen Problemen höchstens mit solidarischen Lippenbekenntnissen, während den xenophoben Regierungen in Warschau oder Budapest der Schwarze Peter zugeschoben wird, doch unternehmen sie Anstrengungen, alle Migranten (die oft genug wegen der EU-Handelspolitik auf der Flucht vor dem Hunger sind) von ganz Europa fernzuhalten. Und sie suchen sich dazu merkwürdige Verbündete.


So werden mit dem Autokraten Erdoğan milliardenschwere Verträge geschlossen, damit er seine Grenze zu Griechenland schließt und abgewiesene Flüchtlinge von dort zurücknimmt. Zu den Mordmilizen von Darfur wird Kontakt aufgenommen, um den Transit Verzweifelter durch den Sudan nach Norden zu verhindern, doch die bizarrsten Helfershelfer der EU in Afrika sind jene schwerbewaffneten Banditen, die euphemistisch als „libysche Küstenwache“ firmieren.


Frontex, das berüchtigte Kommando zum Schutz der europäischen Außengrenzen, überwacht die Gewässer zwischen dem Wüstenland und Italien aus der Luft und meldet jedes Flüchtlingsboot der italienischen, maltesischen – und eben der libyschen Küstenwache. Während die erstgenannten Einsatzkräfte nicht eingreifen, verschleppt letztere die Migranten in ihre gefürchteten Internierungslager, mehr als 14.000 allein in diesem Jahr.


Jetzt schlugen die in den Camps arbeitenden französischen Ärzte ohne Grenzen (MSF) Alarm. In mehreren Lagern beobachteten sie, wie Insassen willkürlich misshandelt wurden. Die MSF erheben weitere schwere Vorwürfe: Angehörige der Küstenwache hätten mit Schnellfeuergewehren in die Menge geschossen, Massenvergewaltigungen seien an der Tagesordnung. Die Flüchtlinge hätten kaum Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung, würden unzureichend ernährt und lebten in qualvoller Enge. Ähnliches wurde auch schon in den letzten Jahren u. a. von den Vereinten Nationen aus den Internierungslagern, die vom Innenministerium in Tripolis betrieben werden, gemeldet, aber fortgesetzter Horror stumpft ab, wenn er einen nicht unmittelbar betrifft. Und was die EU angeht, wird sie doch nicht den Frontex-Alliierten, die Europa das Flüchtlingsproblem ein Stück weit vom Hals schaffen, in den Rücken fallen.


Der Europäische Auswärtige Dienst freute sich laut ARD-Tagesschau denn auch in einem internen Bericht über die zupackende Art: „Die Effektivität der libyschen Küstenwache konnte gesteigert werden und hervorragende Ergebnisse erzielen.“ Nach dieser Logik ist nur ein Flüchtling, der umkommt, weggesperrt oder – wie in Libyen üblich – versklavt wird, für Europa ein guter Flüchtling.


Mittäterschaft der EU


Die Völkerrechtlerin Nora Markand von der Uni Münster sieht die Sache anders. Sie hält die Mitwirkung von Frontex für „mit dem Völkerrecht unvereinbar“, es handle sich „im Grunde um Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen“. Die Grenzschutzagentur, die auch an der Ausbildung der libyschen Milizionäre zu „Küstenwächtern“ beteiligt war, steht wegen etlicher schwerer Anschuldigungen in der öffentlichen Kritik.


Vor dem Europäischen Gerichtshof haben drei NGOs Klage eingereicht, weil Frontex in der Ägäis im Rahmen eines Pushbacks hilflose Bootsflüchtlinge ohne Wasser und Nahrung ihrem Schicksal überlassen haben soll. Derweil ermittelt die EU-Antibetrugsbehörde Olaf gegen den Chef der Agentur, Fabrice Léggeri, weil der Treffen mit Lobbyisten der Rüstungsindustrie verschwiegen hat. Frontex beantwortet Fragen nach Verstrickung in Menschenrechtsverletzungen grundsätzlich nicht und scheint mittlerweile ähnlich selbstherrlich zu agieren wie seine dubiosen Verbündeten in Libyen. Europas Schutz ist in schmutzigen Händen…


Unterdessen lud Außenminister Heiko Maas die Bürgerkriegsparteien und ihre Unterstützer zur zweiten Libyen-Konferenz nach Berlin ein. Man einigte sich darauf, dass Söldner und fremde Truppen aus dem Land abgezogen werden und am 24. Dezember Wahlen stattfinden müssten. Maas feierte das Ergebnis als Erfolg, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass er auf der Konferenz nur den Frühstücksdirektor spielte. Das Sagen hatten Russland und die Türkei, der Westen war lediglich für die Zerstörung des Landes verantwortlich gewesen. Über die rund 900.000 Flüchtlinge in Libyen wurde kein Wort verloren.   


Um das Schicksal dieser Menschen nicht völlig in Vergessenheit geraten zu lassen, hätte man die Allianz-Arena schwarz färben lassen können – aber dafür würde Markus Söder wohl keine Sympathiepunkte gesammelt haben, und die UEFA hätte es ohnehin nicht erlaubt.

07/2021

Dazu auch:

Die Erpressung im Archiv dieser Rubrik (2015)

Die Welt ist sicher… im Archiv der Rubrik Medien (2016)





Wer darf? Wer nicht?


Alexander Lukaschenko zählt sicherlich zu den unangenehmsten Figuren in der europäischen Politik. Dass der belarussische Diktator ein Ryanair-Flugzeug zur Landung zwingen und einen Passagier festnehmen ließ, ist ein Verstoß gegen die internationalen Luftfahrtregeln. Dass der Westen unisono und scharf deswegen protestierte, war zu erwarten und per se nicht falsch. Doch das Gedächtnis in den Haupt-städten Wien, Paris oder Washington ist kurz, und so war den Verantwortlichen dort nicht mehr präsent, dass sie einst ganz ähnlich wie der Despot von Minsk gehandelt hatten.


Fadenscheinige Begründung


Dass der Jet der irischen Billiglinie vom belarussischen Militär aus purer Sorge um die Griechenland-Urlauber zur Landung in Minsk gezwungen wurde, bezweifelten nicht nur die neuen Kalten Krieger des Westens (wobei hierzulande der unvermeidliche Heiko Maas und die grüne NATO-Freundin Annalena Baerbock am lautesten in die Bütt stiegen). Zu unglaubwürdig klang die nachgeschobene Begründung, man habe Kenntnis von einer Bombendrohung der Hamas erhalten, zumal die Palästinenser umgehend dementierten. Es ist auch schwer, die Tatsache, dass in dem Urlaubsflieger auf dem Weg von Athen ins litauische Vilnius mit Roman Protasewitsch einer der führenden belarussischen Exil-Oppositionellen saß, als glücklichen Zufall zu deuten, durch den der treusorgende Landesvater Lukaschenko – quasi als Lohn für seine gute Tat – einen der schärfsten Gegner auf dem Tablett serviert bekam.


Nein, es spricht alles für einen Coup, durch den der Autokrat von Minsk den vor allem nach Litauen geflohenen Dissidenten signalisieren will, dass sie nirgendwo sicher vor seinem Zugriff sind. Dass der Westen lautstark protestiert und Sanktionen verhängt, ist allerdings nicht nur der Gefährdung der zivilen Luftfahrt geschuldet, sondern auch dem Umstand, dass er im belarussischen Machtkampf auf Seiten der Opposition mitmischt und mittels regime building strategisch noch näher an Putins Reich heranrücken will. Die im Brustton moralischer Entrüstung vorgetragenen Anschuldigungen gegen Lukaschenko erweisen sich aber zumindest teilweise als Heuchelei, wenn man ins Kalkül zieht, dass die Achse des Guten vor acht Jahren ähnliche Methoden anwandte, um eines gewissen Edward Snowden habhaft zu werden.


Der Coup von Wien


Der Whistleblower hatte den europäischen Regierungen das Ausmaß der Bespitzelung durch den US-Geheimdienst NSA enthüllt. Dankbar zeigten sie sich nicht, denn als Snowden vor den Rachegelüsten der amerikanischen Behörden floh, bot ihm keines der von ihm aufgeklärten Länder Asyl an, so dass er sich in Moskau bei Wladimir Putin in Sicherheit bringen musste. Im Juli 2013 nahm eben dort der bolivianische Präsident Evo Morales an einer Konferenz teil. Westliche Geheimdienste kolportierten fälschlicherweise, Morales habe Snowden an Bord seines Flugzeugs genommen und werde ihm Asyl in dem Andenstaat anbieten. Als die Präsidentenmaschine in Moskau abhob, sperrten auf Geheiß der USA die NATO-Staaten Frankreich, Italien, Spanien und Portugal den Luftraum. Morales musste in Wien, Hauptstadt des eigentlich neutralen Österreich, zwischenlanden. Der Jet wurde dort durchsucht – von Snowden fehlt jede Spur.


Dieser Akt staatlicher Luftpiraterie mochte in der Ausführung weniger gefährlich gewesen sein als sein Pendant in Minsk, was allerdings den Bruch internationalen Rechts betraf, wog er schwerer, weil die diplomatische Immunität eines Staatsoberhaupts und die Souveränität eines Landes missachtet wurden. In den deutschen Zeitungen wurde die Sache eher als Kavaliersdelikt abgehandelt: Die „Jagd auf Snowden“ treibe „seltsame Blüten“, wunderte sich die FAZ, während die SZ den Übergriff lediglich „taktlos, undiplomatisch, peinlich“ fand. Dass es Snowden, wäre er ergriffen worden, in einem der berüchtigten US-Gefängnisse kein bisschen besser ergangen wäre als jetzt Protasewitsch im belarussischen Knast, hätte wohl kaum markige Proteste seitens der Bundesregierung oder der EU-Kommission zur Folge gehabt.


Der Engel und des Teufels Taten


„Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe.“ Diese Erkenntnis des altrömischen Komödiendichters Terenz hat in der Außenpolitik ihre Gültigkeit behalten. Dass die weltumspannende Ökonomie und die globale Machtpolitik von Gleichberechtigung gekennzeichnet seien, wird allenfalls noch ein scheinheiliger Sonntagsredner behaupten. Doch auch das verbriefte internationale Recht wird nach Belieben ausgelegt, dem Belieben von Imperien, in unserem Fall dem der USA und der NATO.


Der in Minsk inhaftierte Oppositionelle Protasewitsch ist für die NATO ein As im Machtpoker um die Anrainerstaaten Russlands, der Whistleblower Snowden hingegen hat die Machenschaften der Geheimdienste im eigenen Lager aufgedeckt und gilt deshalb als Nestbeschmutzer. Der Luftraum über Belarus darf ebenso wenig verletzt werden wie die Flugrechte von Ryanair, das Flugzeug eines Drittwelt-Präsidenten indes lädt regelrecht zur Razzia ein. Nun handelte es sich bei Morales nicht nur um den ersten indigenen Staatschef eines südamerikanischen Landes, er hatte auch westlichen Konzernen die Übernahme der bolivianischen Wasserversorgung und die exklusive Ausbeutung der Bodenschätze verweigert. Angesichts solcher Impertinenz darf er sich nicht wundern…


Das Franklin D. Roosevelt zugeschriebene Schweinehund-Prinzip wird von den Vereinigten Staaten bis heute angewandt und ist längst auch Maßstab westeuropäischen Handelns. Assad ist Putins Schweinehund, Gaddafi war ein ziemlich autarker Köter – folglich mussten beide bis zur weitgehenden Zerstörung ihrer Länder bekämpft werden. Der Massenmörder Duterte auf den Philippinen und der brasilianische Faschist Bolsonaro sind unsere Schweinehunde (wie auch etliche afrikanische Putschisten, dazu früher noch Pinochet und die ganze glänzende Gilde lateinamerikanischer Militärdiktatoren), sie haben also allenfalls laue Ermahnungen, aber keine Sanktionen zu fürchten.


Wenn Russland das Völkerrecht ein wenig beugt und die Krim, zu der es allerdings stärkere historische Bindungen hat als die Ukraine, annektiert, treibt ein Pawlowscher Reflex den NATO-Sprechern den Wutschaum auf die Lippen. Wenn die nordatlantische Allianz aber ohne UNO-Mandat einen Angriffskrieg mit Bombardierungen ziviler Ziele gegen Serbien entfesselt, wird das euphemistisch als humanitäres Eingreifen bezeichnet.

Kein Zweifel, die Machtblöcke, handle es sich um die NATO, Russland oder die VR China, stehen einander in nichts nach, was Skrupellosigkeit und Erweiterung der Einflusszonen betrifft. Aber nur die Chefpropagandisten des Westens maßen sich im Stil bigotter Sektenprediger das Monopol auf Objektivität und Moral an. Und die eher untergeordneten Referenten wie Maas oder von der Leyen scheinen einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein, die sie nur noch den Balken im Auge des Anderen erkennen lässt, nach dem Motto: Macht euch die Erde untertan und beutet sie kräftig aus, aber redet dabei unaufhörlich von Nächstenliebe, Partnerschaft und Gerechtigkeit.


Ein paar Sanktionen gegen Lukaschenko könnten an sich nicht schaden, doch müssten sie von ähnlichen Maßnahmen gegen die USA, Brasilien, Saudi-Arabien, die EU etc. begleitet werden. Ansonsten wäre es im Namen der Wahrheit besser, den Mund zu halten – oder das eigene Handeln kritisch zu überprüfen.

06/2021

Dazu auch:

Schweinehund-Theorien (2016) und Dem Vieh verboten (2014) im Archiv der Rubrik Medien





Hilfe durch Landraub?

 

Wortreich beklagen deutsche Politiker die Vertreibung kleiner bäuerlicher Betriebe in der Dritten Welt durch internationale Agrarkonzerne. Doch wie verschiedene NGOs jetzt nach-weisen, investiert die BRD-Entwicklungshilfe selbst in die Aneignung fruchtbarer Böden durch die Multis und deren wenig nachhaltige Nutzung zur Bedienung des europäischen Marktes und zur Steigerung der Unternehmensgewinne. Die redundante Beschwörung einer Partnerschaft mit armen Ländern durch die Bundesregierung gerät so zu einer zynischen Phrase, mit der Gier beschönigt und Komplizenschaft verschleiert werden soll.

 

Kauft euch Afrika!

 

Beispiel Sambia: Das Aktionsnetzwerk FIAN wirft Deutschland vor, das sogenannte Land Grabbing (Landraub) in dem südafrikanischen Land zu fördern. Seit 2018 haben dort in drei Distrikten die großen Agrarkonzerne Zambeef und Agri in Kooperation mit Toyota etliche Kleinbauern von ihren fruchtbaren Böden vertrieben, um Soja und Mais in Monokulturen anzubauen und bevorzugt nach Europa zu exportieren. Zunehmend müssen die kleinen Felder der bäuerlichen Betriebe, die bislang 90 Prozent der Bevölkerung ernährten, den kurzzeitig profitablen Mega-Plantagen weichen, wobei die Einheimischen auf karge Ländereien umgesiedelt werden.

 

Während sich das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Berlin über Jahrzehnte hinweg offiziell gegen Landkonzentration aussprach, kofinanzierte es in allen drei sambischen Regionen eben diese Monopolisierung des Grundbesitzes. FIAN bezeichnete es als „makaber“, dass die deutsche Entwicklungshilfe „durch die Kredit-vergabe an Agrarinvestoren auch noch Kasse“ mache.

 

Beispiel Sierra Leone: In dem westafrikanischen Staat war wie in Sambia die Deutsche Entwicklungsgesellschaft (DEG) tätig geworden. Sie konnte auf einen Betrag von 1,5 Milliarden Euro zurückgreifen, um „unternehmerische Initiativen in Entwicklungs- und Schwellen-ländern“ zu fördern, die ein „nachhaltiges Wachstum und bessere Lebensbedingungen“ anstoßen sollten. Die DEG stellte in Sambia Zambeef 25 Millionen Dollar zur Verfügung, um 100.000 Hektar Ackerland aufzukaufen und subventionierte den Schweizer Konzern Addax Bioenergy, der in Sierra Leone auf 44.000 Hektar die traditionellen bäuerlichen Strukturen beseitigte und Monokulturen, vor allem das den Boden auslaugende Zuckerrohr, anbaute. Aus der Biomasse sollte Ethanol hergestellt werden, wohl vor allem für Billig-Sprit in Europa. Das Projekt scheiterte kläglich, die Folgen waren heruntergewirtschaftete Felder und weitere Verarmung in der Region. Die Hilfsorganisation Brot für die Welt benennt die Mitschuldigen: „Vor dem Hintergrund ihrer Standards müssten sich auch die Entwicklungsbanken dafür verantwortlich zeigen.“

    

Seltsame Bauern mit guten Freunden

 

Die Experten der UN-Welternährungsorganisation FAO weisen immer wieder darauf hin, dass es in der Dritten Welt die kleinen bäuerlichen Betriebe sind, von denen die Versorgung der Bevölkerung abhängt. Diese pflegen die traditionellen Anbaumethoden, die den Boden nicht veröden lassen, nutzen Mini-Kredite zu sinnvollen Verbesserungen, stärken die Stellung der Frauen und bieten den Familienmitgliedern sowie anderen Dorfbewohnern Arbeit. Die Agro-Giganten hingegen verwandeln nach wenigen Ernten riesige Humusflächen in Wüsten und benötigen daher immer mehr Land – um mit moderner Technik und wenigen Helfern die Produkte zu erzeugen, die in der Ersten Welt benötigt werden, und sei es als Wettobjekte an den Terminbörsen.

 

Die Regenwaldabholzung in Brasilien erregt allerorten die Gemüter, wer aber weiß schon, dass allein im benachbarten Paraguay jährlich 150.000 Hektar Land von Großfarmen okkupiert werden, dass die eigentlich von unserem Entwicklungshilfeministerium kontrollierte DEG fünfzehn Prozent der Anteile an der Investmentfirma PAYCO S.A. hält, die wiederum zweitgrößter Grundbesitzer in dem bettelarmen Land ist. Seltsame Großbauern sind aus Deutschland aufgebrochen, um sich große Teile der Erde im Tropengürtel untertan zu machen: Neben der DEG möchten auch der Versicherungskonzern Munich Re und die Ärztepensionskasse Westfalen ihre Schäflein ins Trockene bringen, indem sie Indigenen und Campesinos systematisch die Lebensgrundlage entziehen. Die Welthungerhilfe berichtet, dass Olam International, mit drei Millionen Hektar Nutzfläche einer der weltgrößten Grundherren, inzwischen als Partner des Berliner Ministeriums „umfangreich von der bundeseignen KfW-Bank finanziert“ werde.

    

Derzeit stehen den 2,5 Milliarden Kleinbauern global, die als das „Rückgrat“ der Ernährungsstrategien in der Dritten Welt gelten, nur noch drei Prozent des urbaren Landes zur Verfügung. Deutsche Entwicklungshilfe sorgt mit dafür, dass sie bald noch weniger zu bebauen haben…

 

Bevor es der Chinese tut…

 

Natürlich hat auch die VR China in das Rennen um Acker- und Weideböden eingegriffen, vor allem in Afrika und Lateinamerika. Die Regierung in Peking sichert sich die Nutzungsrechte riesiger Areale, auf denen sie ein chinesisches Verwaltungs- und Obrigkeitssystem installiert, fast so rigide, wie es die westlichen Champions United Fruit Company, Brands und dann Nestlé vorexerzierten. Und die Volksrepublik gewährt korrupten Politikern wie putschwilligen Militärs freigiebig Kredite ohne moralische Appelle, um Einfluss zu erlangen oder zu bewahren. Der Westen hingegen schmiert die Kleptokraten stillschweigend und ermahnt sie ebenso wohltönend wie folgenlos, irgendwelche Menschenrechte einzuhalten.

 

Anklagend zeigen nun die EU und die USA auf die Macht- und Einflussambitionen der chinesischen Staatskapitalisten und unterschlagen dabei, dass diese nur alten Spuren folgen. In der Blütezeit des Kolonialismus hatten die damaligen Weltmächte, allen voran das britische Empire, Rohstoffe zu Niedrigpreisen aus dem globalen Süden importiert, Fertigprodukte überteuert dorthin verkauft und mit Drohungen, Boykott oder Militäraktionen dafür gesorgt, dass sich keine nennenswerte Produktion in den armen Staaten entwickeln konnte. Zudem nahmen sich weiße Siedler Land, wo immer sie wollten.

 

Mittlerweile ist eine neue Stufe des technologischen Fortschritts erreicht, die industrielle Massenfabrikation ist old school (und kann wegen der erbärmlichen Arbeitslöhne ruhig der Dritten Welt überlassen werden), die Zukunft gehört der Cyber-Ökonomie, zu der die Habenichtse der Welt nur spärlichen Zugang haben. Da die Menschen, auch in der Ersten Welt, aber weiterhin ernährt werden müssen, übernehmen die Agrarindustrie, die Handelsriesen wie Nestlé und die Chemie-Giganten wie Bayer das Steuer und erwerben nicht ein Stück Land, sie kaufen und unterwerfen sich das ganze Land.

 

Dieses Vorgehen sichert die Versorgung der Bevölkerung – in der EU, in Japan oder den USA. Es zerstört gleichzeitig die traditionelle nachhaltige Landwirtschaft in den heimgesuchten Staaten, pulverisiert die Lebenskultur der Menschen, macht den Boden unfruchtbar. Bevor man aber die riesigen Überschüsse an Nahrungsmengen, die mit dieser Tabula-rasa-Methode erzeugt werden, Hungernden und Flüchtlingen zukommen lässt, feilscht  man um sie auf den Agrarrohstoffmärkten, jongliert mittels Futures und Terminkontrakten mit ihnen, macht lebensnotwendiges Getreide zu einem abstrakten Katalysator für noch größere Profite. „Börsenspekulation auf Nahrungsmittel tötet Menschen“, sagte der Schweizer Jean Ziegler, Mitglied des UNO-Menschenrechtsrats.

 

Unser (wenn auch ungerecht verteilter) Wohlstand basiert auf dem Elend einer Mehrheit der Weltbevölkerung. Unsere Entwicklungshilfe soll vorgeblich für mehr globale Gerechtigkeit sorgen, zementiert aber in Wirklichkeit mit vielen Maßnahmen und Subventionen den jetzigen Status quo. 

05/2021 

Dazu auch: 

Die Erpressung (2015), Die Herren des Landes (2014) und 

Vorsicht: Hilfe! (2014) im Archiv dieser Rubrik

 

 

 

  


Machiavellist Haseloff

 

Noch vor zwei Wochen fieberte die Republik mit beim großen Kandidatenduell der beiden Unionschristen aus NRW und Bayern. Dabei ging fast unter, dass ein Mann aus der Mitte Deutschlands in einer stringenten Entschlossenheit für Markus Söder Stellung bezog, wie sie seit den Zeiten der Renaissance von keinem politischen Taktiker oder Strategen mehr an den Tag gelegt wurde. Die frappierende Gradlinigkeit seiner Argumente stellt Reiner Haseloff, Landesfürst von Sachsen-Anhalt, in eine Reihe mit den großen Staatstheoretikern der Vergangenheit – und unter diesen besonders mit dem Florentiner Machiavelli.

 

Brüder über Raum und Zeit hinweg

 

Nun liegt Sachsen-Anhalt im internationalen Sympathie-Ranking nicht ganz auf der Höhe der Toskana, und Halle oder Magdeburg sind ein bisschen weniger berühmt als Florenz, doch verwandte Geister mögen über fünfhundert Jahre und gut tausend Kilometer hinweg miteinander korrespondieren können. In einem Gespräch mit dem SPIEGEL deutete Reiner Haseloff an, dass er voll und ganz in der Tradition des italienischen Staatsphilosophen Niccolò Machiavelli steht, dessen Anleitung zur berechnenden und skrupellosen Machtausübung, Il Principe („Der Fürst“) dem kleinen Markus Söder schon sehr früh statt der üblichen Gutenachtgeschichten vorgelesen worden sein könnte.

 

Pläne für die globale Zukunft, Gestaltung der Sozialsysteme oder Schutz von Klima und Umwelt – das sind alles olle Kamellen, die jeder schon mal im Mund gehabt hat. Nein, Haseloff erklärt, was wirklich Sache ist: „Leider geht es jetzt nur um die harte Machtfrage: Mit wem haben wir die besten Chancen?“  Dem stimmt Machiavelli, der sich mal als Berater, mal als Gegner mit den in Florenz herrschenden Medici, französischen Königen, dem bigotten Klerus und deutschen Söldnern auseinandersetzen musste, gerne zu. Sein Fürst darf quasi alles, auch lügen oder Grausamkeiten verüben, solange er seine Chancen intelligent nutzt und nicht über die Stränge schlägt. Letzteres ist beim gereiften Söder nicht zu erwarten, und wenn der ehemalige Nationalpark-Verhinderer heute Bäume umarmt, so nicht, weil er das Wahlvolk schnöde beschwindeln möchte, sondern weil er gerade wieder einmal seine Meinung höchst flexibel an den Zeitgeist angepasst hat. So einer hat halt die besten Chancen.

 

Haseloff zählt auch gewissenhaft auf, welche Wesensattribute seiner und des toskanischen Niccos Meinung nach eher hinderlich sind, um an die Spitze zu gelangen: „Es geht nicht um persönliche Sympathie, Vertrauen oder Charaktereigenschaften. Es hilft nichts, wenn jemand nach allgemeiner Überzeugung absolut kanzlerfähig ist, aber dieses Amt nicht erreicht, weil die Wählerinnen und Wähler ihn nicht lassen.“ Empathie, Verlässlichkeit oder Integrität kann man vergessen, vielmehr muss man das Ohr am Puls der WählerInnen haben, selbst wenn die vielleicht lieber zwischen Günther Jauch und Dieter Bohlen (oder Helene Fischer als Kanzlerin) entscheiden möchten.

 

Programme sind Krampf – im Wahlkampf

 

Haseloff schwimmt wacker in einem globalen Trend mit. Fachkenntnisse, Programme und perspektivisches Denken sind im Zeitalter von Social Media obsolet, auf den schrillen Auftritt, die Lautstärke der Plattitüden, die Performance also, kommt es an. Niccolò Machiavelli bewies beinahe seherische Begabung, als er betonte, dass bezüglich des moralischen Verhaltens des Fürsten zuallererst der Schein zähle und dass Wortbruch und Lüge unumgänglich für den Erfolg seien. Da hat jemand vor einem halben Jahrtausend bereits die Bedeutung von Fake-News und angewandtem Populismus begriffen.

 

Sich selbst hat Haseloff wohl eher als graue Maus der Bundespolitik gesehen, weshalb er sich einem Kandidaten mit brachialer Durchsetzungskraft, der nötigen Verschlagenheit und von einem alle Prinzipien zerstäubenden Opportunismus als Wahlhelfer andiente. Dabei hat der mitteldeutsche Ministerpräsident doch auch selbst einiges an rechtem Gedankengut zur im Osten besonders beliebten Überfremdungsdebatte beizutragen.

 

Haseloff wuchs in der DDR auf, einem Staat, der seine Bürger nicht aus dem Land ließ. Das gefiel dem Mann aus dem anhaltinischen Bülzig nicht. Dass aber Ostberlin seine Grenzen hermetisch abriegelte, um „Republikflucht“ zu verhindern, muss ihm imponiert haben. Nur sollte nach seinem Wunsch, niemand mehr in die Republik flüchten, da sein Bundesland unter einem Ausländeranteil von fünf Prozent ächzte. Folgerichtig formulierte er 2015 sein Schlagbaum-Credo: „Wenn ein nicht funktionierendes System wie Schengen dazu beiträgt, Europa zu spalten, müssen wir die nationale Grenzsicherung wieder einführen, um Europa zusammenzuhalten.“

 

Hier haben wir ein wahres Meisterstück rabulistischer Logik (Vereinigung durch Separation und Abschottung), doch reicht eine Schnapsidee noch nicht zum ganz großen Wurf, etwa zur Kanzlerkandidatur. Also erkor Haseloff das populistische Gesamtkunstwerk Markus Söder zu seinem Idol oder Principe.

 

Nicco Haseloffs Polit-Charts

 

Den ungehemmten Drang zur Macht, das Talent zur permanenten Tatsachenverdrehung und die Brutalität jeglicher Opposition gegenüber offenbaren gegenwärtig etliche Staatenlenker, von Trump über Bolsonaro bis Putin. Selbst Johnson in London, Macron in Paris und die Spitzen der AfD bei uns zu Hause erfüllen zumindest einige Verhaltenskriterien, die Machiavelli „geborenen Führern“ zuschrieb.

 

Allerdings wäre die Art und Weise, wie diese modernen Thronaspiranten  ihre Ansprüche anmelden, dem gebildeten Florentiner wohl zu laut, zu durchsichtig und zu ungehobelt gewesen.

Auch einem Markus Söder leuchtet bei jedem neuen Schwenk, bei jeder raschen Anpassung an die gerade vorherrschende Volksmeinung die Unglaubwürdigkeit aus den Augen und schwingt in den plötzlich so mitfühlenden Reden mit. Früher galt er allerorten tatsächlich als machtgieriger Polit-Rowdy – bis Corona kam. Inmitten einer aufgeregten Kakophonie verunsicherter Politiker, Mediziner und Journalisten verkaufte er seinen erratischen Kurs in der Krise als alternativlos. Zudem eiferte Söder in der Personalpolitik Machiavelli nach, der postuliert hatte, der Fürst solle nur solche Mitstreiter akzeptieren, die nach seinem Vorteil strebten und keinerlei eigene politischen Interessen verfolgten; eine Riege gehorsamer und wenig begabter Subalterner also – was einen spontan an unterbelichtete Gestalten wie Huml, Dobrindt oder Scheuer denken lässt. Das alles muss Reiner Haseloff so sehr imponiert haben, dass er in dem Franken das Modell für einen aktuellen Principe sah.

 

Markus Söder ist an der Zähigkeit eines unbeliebten, aber schlauen Aacheners gescheitert, aber er ist nicht von der Bildfläche verschwunden. Er lauert im Hintergrund, schwört Treue, sät gleichzeitig in Interviews Zweifel an der eigenen Union, und er ist jung genug für einen zweiten Angriff auf die Kanzlerschaft. Ob er aber gut damit beraten wäre, sich Reiner Haseloff als Wegbereiter und Ratgeber zu erwählen, ist nicht so sicher. Der Stadtstaat in der Toskana jedenfalls war es mit Machiavelli nicht immer: Mal setzte der auf die französische Karte und brüskierte damit die erwachende Weltmacht Spanien, mal machte er sich den Papst zum Feind, und als er sich kurz vor seinem Tod in der neu konstituierten Republik Florenz um eine Stelle als Sekretär bewarb, erhielt er nur 12 von 567 Stimmen, weil man in ihm einen Mann des alten Systems sah. 

05/2021 

Dazu auch:

Halt ein, Haseloff im Archiv von Helden unserer Zeit (2015)

  

 

 

   

 

In die Ferne schweifen

 

Wenn Amnesty International (AI) den Bericht über die Menschenrechtslage im vergangenen Jahr veröffentlicht, gehen deutsche Politiker gern die Resümees zur Situation in anderen Staaten durch und prangern deren Verletzungen internationaler Standards im Brustton moralischer Empörung an. Was AI am Status quo in Deutschland höchst bedenklich findet, ficht die Musterknaben des demokratischen Savoir-vivre (Selbstporträt) nicht weiter an und wird auch in den Medien hierzulande meist unterschlagen. Das ist schade, liegt das Böse doch allzu nah.

 

Eine ungesunde Atmosphäre

 

AI ist eine bürgerlich-humanistische NGO, die akribisch gesellschaftliche Verwerfungen in fast allen Staaten der Welt auflistet und so international bekannt macht. Sie untersucht nicht die systemischen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen an sich, etwa die Steuerung der globalen Lebensverhältnisse durch ungehemmte Marktmacht und die durch Politik abgesicherte Kapitalmehrung, aber sie prangert deren Folgen und Exzesse gewissenhaft an, liefert somit gesichertes Material für Kritik und potentielle Ansätze der Veränderung.

 

Auch im Jahresbericht 2020 kommt die Bundesrepublik gut weg, was direkte, von oben angeordnete Repression betrifft: Es gibt keine politischen Gefangenen, die systematisch gefoltert würden, und die Medienfreiheit wird eher von den Verlegern und Internet-Magnaten bedroht als von der Regierung. Dennoch konstatiert AI eine beunruhigende Atmosphäre, ein Klima wachsender Intoleranz in unserem Land. Als negativer Höhepunkt von Rassismus wird das Attentat von Hanau genannt, wo ein Rechtsradikaler neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss, als Beleg für eine „offizielle“ Geringschätzung des Lebens zitiert die Organisation auch den Beschluss der Landesinnenminister, Personen, die straffällig geworden waren, nach Syrien abzuschieben, „obwohl dort ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit bedroht war.“ Hier hätte man ergänzen können, dass dies ähnlich auch für Afghanen gilt, die sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen, sondern als Schüler, Azubis oder Gesellen ein „integriertes Dasein“ bestritten.

 

Unter der Kapitelüberschrift „Diskriminierung“ werden dann die konkreten Missgriffe einer die Grenzen, die Grundgesetz und Menschenrechtskonvention setzen, überschreitenden Obrigkeit aufgeführt: „ Zivilgesellschaftliche Organisationen berichteten weiterhin über diskriminierende Personenkontrollen von Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten durch die Polizei.“ Fügt man die in nüchternem Duktus zusammengetragenen Fakten zum Verhalten der von der Politik in Schutz genommenen Ordnungshüter zu einem Puzzle zusammen und komplettiert dieses mittels zusätzlicher, nur sporadisch ans Licht kommender Informationen, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass wir in einer labilen Gesellschaft leben, deren Exekutive gerade in beträchtlichen Teilen aus dem Ruder läuft.

 

Die Hüter rechter Ordnung

 

Berichte über rechtsextreme Aktivitäten in der Polizei und anderen Sicherheitskräften lösten 2020 Besorgnis aus, was den Schutz der Menschenrechte von Minderheiten betraf.“ So beginnt der AI-Bericht, und die prominente Platzierung des Sujets legt nahe, dass die internationalen Beobachter speziell der Situation von Migranten in der BRD viel Aufmerksamkeit widmen, mehr jedenfalls als deutsche Politiker. Tatsächlich fühlen sich Menschen mit dunkler Hautfarbe bei Begegnungen mit Ordnungshütern zunehmend verunsichert bis bedroht. Es wird auf die Forderung der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz an die hiesigen Behörden hingewiesen, diskriminierende Personenkontrollen (Racial Profiling) durch die Gendarmerie zu untersuchen. Innenminister Seehofer lehnte dieses Ansinnen im Einklang mit Konservativen und Polizeigewerkschaftern strikt ab; es gilt im rechten Mainstream als chic, sich ungeachtet aller Ungereimtheiten vor die Beamten zu stellen.

 

Die rechtsradikalen Auswüchse im Dienst kulminierten laut AI in den mehr als hundert Drohschreiben, die von 2018 bis zum Jahresende 2020 an engagierte Anwältinnen oder linke Politikerinnen versandt wurden. Die Adressen entstammten polizeilichen Datenbanken, unterzeichnet waren sie zumeist mit Nationalsozialistischer Untergrund 2.0. Eine schier unendliche Kette von Pannen bei Ermittlungen im rechtsradikalen Milieu, vom Oktoberfest-Attentat bis zur NSU-Mordserie, hatte schon früher den Verdacht reifen lassen, dass Neonazis, Rassisten und rechte Terroristen auf etliche Sympathisanten in Polizeiuniform rechnen konnten. Insofern bezieht sich AI lediglich auf ein aktuelleres Indiz für eine unheilvolle Entwicklung. Inzwischen wurde bekannt, dass Einsatzkommandos in Sachsen und Bayern heimliche Schießtrainings mit gestohlener Dienstmunition durchführten, nach dem Vorbild von Spezialisten in der Bundeswehr und mit der gleichen eindeutig rechtsradikalen Intention.

 

Denn auch an anderer Stelle brennt es auf dem Terrain der bundesdeutschen Sicherheitskräfte, wie AI meldet: „Zudem ermittelte der Militärische Abschirmdienst (MAD) gegen mehr als 500 Angehörige der Bundeswehr wegen der Verwendung verbotener nationalsozialistischer Symbole und Verbindungen zu gewaltbereiten rechtsextremen Netzwerken. Die Ermittlungen richteten sich insbesondere gegen die Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK).“ Die am intensivsten ausgebildeten Kämpfer der Bundeswehr klauen Munition und üben damit heimlich für den Bürgerkrieg (gegen Linke, Moslems und missliebige Politiker). Dann dürfen sie einen Teil des Diebesgutes wieder zurückgeben, bleiben straffrei, und die Verteidigungsministerin weiß angeblich nichts davon.

 

Die meisten deutschen Bürger schüttelten ungläubig den Kopf, als die Bilder von durchgeknallten Trump-Anhängern und weißen Verschwörungstheoretikern, die bewaffnet den US-Kongress stürmten, durch die Medien gingen. Wie überrascht wäre diese Bevölkerungsmehrheit, dränge in ihr Bewusstsein, dass es zu dem Milizen-Panoptikum in Washington ein besser trainiertes und getarntes Pendant aus Uniter-Paramilitärs, Preppern und anderen Apokalyptikern hierzulande gibt, das sich zum Großteil aus regulären Polizei- und Bundeswehreinheiten rekrutiert?

 

Besorgniserregend, aber folgenlos

 

Weiter moniert der AI-Bericht unter anderem, dass die Bundes-regierung zwar per Monitoring herausgefunden hatte, dass lediglich 13 bis 17 Prozent der deutschen Unternehmen im Ausland „ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in hinreichendem Maße nachkamen“, der Zugang zur Justiz aber blieb für die ausländischen Opfer des stattlichen Rests „weiterhin beschwerlich“. Was nützen ein Lieferkettengesetz oder Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, wenn ihre Zuwiderhandlungen während der Produktion zu Hungerlöhnen in der Dritten Welt folgenlos bleiben.

   

So wie dies auch bei den „unverantwortlichen Rüstungsexporten“ (AI) zutrifft. Trotz aller Lippenbekenntnisse, vornehmlich von SPD-Ministern, wurden – mit Ausnahme von Saudi-Arabien – die Länder der Kriegsallianz, die den Jemen derzeit in Schutt und Asche legt, mit Waffen made in Germany versorgt. Damit die deutsche Rüstungsindustrie in Riad nicht ganz in Ungnade fällt, darf sie weiterhin Bauteile für gemeinsame europäische Rüstungsprojekte an die Saudis liefern.

 

Neu ist das alles (zumindest für wache Bürger) nicht, pflichtschuldig besorgt zeigen sich viele Politiker, Konsequenzen zeitigt dies aber nicht. Der strukturelle Rassismus in der Polizei wird nicht untersucht, weil ihn der zuständige Innenminister einfach als nicht existent erklärt. Soldaten dürfen in ihrer Freizeit den blutigen Putsch gegen die bürgerliche Demokratie simulieren, weil Annegret Kramp-Karrenbauer nichts Beunruhigendes hören und sehen will. Und Politiker wie Heiko Maas schweifen lieber in die Ferne, wenn es um den Schutz der Menschenrechte geht. Nun, der Mann ist Außenminister, ihn scheint es also nichts anzugehen, wenn eine über jeden Zweifel erhabene Instanz wie Amnesty International auf die Bedrohung im Inneren aufmerksam macht. 

04/2021 

Dazu auch: 

Die rechte Haltung im Archiv von Politik und Abgrund (2019)

Nazi und Gendarm im Archiv der Rubrik Medien (2016)


 

  



Söderdämmerung?

 

Unaufhaltsam schien er an die Spitze der Republik zu stürmen, weder Mikrofone noch Kameras ließ er aus, um als omnipräsenter Oberlehrer sein Volk von seiner triumphalen Corona-Strategie zu überzeugen. Mal im getragenen Moll des besorgten Landesvaters, dann wieder mithilfe alberner Wortspielchen („Dauerwelle“) erklärte er bis zur Erschöpfung redundant, dass es in der Krise nur einen Weg geben könne: seinen; dass nur einer das Land mit eiserner Disziplin zu retten verstehe: er! Als aber Wähler und Journalisten sich bereits an die permanente Selfmade-Apotheose gewöhnt zu haben schienen, als der Griff zur Kanzlerschaft überall erwartet wurde, holten Markus Söder die mafiöse Vergangenheit und die zweifelhafte Gegenwart seiner Partei ein.

 

Das neue Image voller Löcher

 

Um schon zuvor eine gesunde Skepsis zu entwickeln, hätte man eigentlich nur die unzähligen Ankündigungen des Nürnberger Zampanos in der Covid-19-Ära mit den zahllosen Fehlern bei der Umsetzung abgleichen müssen. Immer etwas spät, dafür aber umso lauter hatte Söder auf die Bedrohung durch die Seuche reagiert, gestützt auf ein bayerisches Kabinett, dessen Unfähigkeit nicht einmal dadurch abgemildert werden konnte, dass die beiden profiliertesten Versager, Scheuer und Seehofer, vorsorglich nach Berlin weggelobt worden waren. Doch auch ohne sie häufte das Münchner Gesundheitsressort unter der unbedarften Melanie Huml Pannen, Pech und Pleiten an, fuhr das Kultusministerium einen Schlingerkurs, der Schulkinder wie Eltern verunsicherte und die Lehrkräfte ungeschützt, rat- und hilflos zurückließ.

 

Doch Söder präsentierte seinen Freistaat in der Krise als Muster-Bundesland, obwohl die Infektionszahlen bis heute über dem deutschen Durchschnitt liegen, und seine CSU als Elite-Truppe der Corona-Bekämpfung – bis plötzlich vermeintliche Helden über selbst gespannte Fallstricke stolperten und solide Grundmauern des vorgeblichen Anstands wie Dominosteine purzelten. Ausgerechnet Liechtenstein, der alpine Miniaturstaat, einst als Asylparadies für flüchtiges Geld bekannt, informierte in dem Bestreben, seine Reputation aufzuhellen, die deutschen Strafverfolgungsbehörden davon, dass mysteriöse Summen aus Bayern im Fürstentum marodierten.

 

Als sollte Söders Bild von der strahlenden Regierungspartei in einem perfekten Bundesland vorsätzlich in den Schmutz der Realität getunkt werden, stellte sich heraus, dass die CSU-Funktionsträger Nüßlein und Sauter den Maskendeal eines chinesischen Herstellers und einer hessischen Firma mit drei Ministerien, darunter dem bayerischen Gesundheitsressort, eingefädelt hatten – nicht aus Hilfsbereitschaft, sondern gegen Honorar, sogar sehr viel Honorar. Und während die mutmaßliche Korruptionsaffäre weitere Kreise und noch mehr schwarze Funktionäre in ihren Sog zog, wurde ruchbar, dass um ein Haar noch mehr Geld geflossen wäre.

 

Für Georg Nüßlein wurden erst einmal 660.000 Euro fällig, für den Rechtsanwalt Alfred Sauter und dessen im Familienbesitz befindliche Firma Pecom gar 1,2 Millionen. Der Jurist hatte einen Vertrag zwischen Händlern und Ministerien entworfen, der wohl trotz des einfachen Geschäftsvorgangs (Schutzmasken auf Rechnung) derart kompliziert gewesen sein muss, dass seine Fleißarbeit entsprechend üppig entlohnt wurde. Bei solchen Provisionen ist es auch nicht verwunderlich, dass allein der Freistaat 14 Millionen Euro für läppische 3,5 Millionen Larven aufwenden musste. Übrigens hatte die hessische Handelsfirma die Honorare für Pecom und Nüßlein über eine Adresse in der Karibik und ein misstrauisch werdendes Liechtensteiner Finanzinstitut laufen lassen.

 

Diese exotischen Überweisungswege machen Sauters Einlassung, er habe sein Honorar ohnehin spenden wollen, gelinde gesagt ein wenig unglaubwürdig. Um zu demonstrieren, dass er ein Mann von Ehre ist, ließ der schwäbische Ex-Minister der gemeinnützigen Bürgerstiftung Günzburg 470.000 Euro zukommen. Die Transaktion erledigte sein Adlatus Manfred Krautkrämer, Schatzmeister des dortigen CSU-Kreisvorstands und Pecom-Treuhänder. Vorsitzender des Stiftungs-rates der so großzügig bedachten caritativen Körperschaft ist übrigens: Manfred Krautkrämer.

 

Gleichzeitig geriet ein weiterer CSU-Bundestagsabgeordneter in Verruf und demissionierte: Tobias Zech soll für „Beratung“ und eine Wahlkampfrede zu Gunsten der nordmazedonischen Regierungspartei von ihr eine fünfstellige Summe erhalten haben. Engagiert setzte er sich für den ultra-rechten Ex-Regierungschef Nikola Gruevski ein, der wegen Bespitzelung der Opposition zurücktreten musste und zwei Jahre später wegen Korruption zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Angesichts dieser personellen Kahlschläge ging beinahe unter, dass die neuerdings so pingeligen Liechtensteiner Banker eine Restzahlung in Höhe von 540.000 Euro an Georg Nüßlein gestoppt hatten. Der hätte bei dem Maskengeschäft dann mit 1,2 Millionen dieselbe Summe eingestrichen wie sein Parteifreund Sauter.

 

Mein Name ist Markus, ich weiß von nichts

 

Söder wäre nicht Söder, würde er sich angesichts der bedrohlichen Schmutzlawine nicht sofort als Chef der Putzkolonne präsentieren, ähnlich dem messianischen Namensgeber seiner Partei, der bekanntlich die Händler und Profitgeier aus dem Tempel fegte. Mit jener Schläue, die in Bayern politischen Intellekt ersetzt, und dem untrüglichen Instinkt des Populisten wittert er, dass die Einschläge näherkommen und ein Absturz der CSU auch ihn selbst und seine Ambitionen in den Abgrund reißen könnte.

 

Zwei Umstände erschweren es ihm, sich wieder einmal nach eleganter Metamorphose als Lichtgestalt mit reinen Händen zu zeigen (so wie nach dem Artenschutz-Volksbegehren, als er eine radikale Kehrtwende vollzog, sich an die Spitze der Öko-Bewegung setzte und die Inhalte verwässerte): Es sind keine Hinterbänkler der bayerischen Staatspartei, die sich in der Masken-Affäre bekleckert haben, sondern ihm wohlbekannte Mandatsträger; und er muss sich fragen lassen, warum ihm bis vor Kurzem nicht aufgefallen war, dass Gefälligkeiten, Vorteilnahme und Bereicherung seit etlichen Jahrzehnten zu den Ur-Prinzipien der CSU-Machtausübung in Bayern gehören.

 

Bis zu seinem Austritt aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vor wenigen Tagen war Georg Nüßlein deren stellvertretender Vorsitzender, also neben Landesgruppenchef Dobrindt der wichtigste Parlamentarier der bayerischen Regierungspartei in Berlin. Alfred Sauter wiederum galt noch vor zwei Wochen als graue Eminenz des CSU-Bezirksverbands Schwaben, ein Mann mit reicher Posten-Vergangenheit: JU-Vorsitzender, Staatssekretär, bayerischer Justiz-minister, MdB, Landtagsabgeordneter, jüngst noch Mitglied des CSU-Präsidiums etc. Als ihn 1999 Edmund Stoiber für die Millionen-verluste der Wohnbaugesellschaft  LWS verantwortlich machte und als Justizminister entließ, griff Sauter den Landesherren offen an – und schaffte es trotz Insubordination, seinen Einfluss und wichtige Ämter in der Partei zu behalten.

 

Viele in der CSU kannten und fürchteten Sauters Talent zur Intrige und zur Bereicherung, auch Markus Söder, aber niemand mochte sich mit ihm anlegen oder ihn bloßstellen, wie die Süddeutsche Zeitung beschreibt: „Beim großen Strippenzieher Sauter wussten alle, dass genaues Hinschauen womöglich unschöne Eindrücke nach sich ziehen könnte. Also schaute man lieber nicht hin.“

 

Nun hat der Ehrenausschuss der CSU per Videoschaltung mit Söder, Landtagsfraktionschef Thomas Kreuzer, Alexander Dobrint und Angelika Niebler (EU-Parlament) zwei Mal getagt, um der Partei ein moralisches Korsett zu verpassen. Sieben Jahre lang war das Gremium kein einziges Mal zusammengekommen. Man könnte auch schlicht feststellen, dass die Partei sich 70 Jahre lang um solche Werte wie Unbestechlichkeit, Integrität oder Verantwortung keinen Deut geschert hat. Es war der an die Cosa Nostra gemahnende Wahlverein eines käuflichen Generalsekretärs Gerold Tandler, eines korrupten Amigo-Ministerpräsidenten Max Streibl und des in zahllose Skandale verstrickten Franz Josef Strauß. Dessen Bild hat nach eigenem Bekunden bereits im Kinderzimmer des kleinen Markus gehangen, aber von den systemischen Verfehlungen des Häuptlings wie des Clans will Fan Söder auf seinen einzelnen Sprossen seiner Karriereleiter nichts mitbekommen haben.

 

Und dieser vorgeblich Naive dekretiert nun, dass alle Abgeordneten und Kandidaten der CSU eine Integritätserklärung abzugeben hätten und keinerlei Nebentätigkeiten mehr ausüben dürften, wenn sie Führungsaufgaben im Parlament ausüben wollten. Sie müssten sich überlegen, „wem man mehr dient – dem Amt oder dem Geld“. Markus Söder spielt die Unschuld aus der fränkischen Provinz, der erstaunlicherweise entgangen war, dass seine Nürnberger Partei-freundInnen Dagmar Wöhrl und Sebastian Brehm zu den Spitzen(neben)verdienerInnen im Bundestag gehörten und laut Abgeordnetenwatch keine andere Partei prozentual so viele professionelle Geldscheffler als Hobby-Volksvertreter nach Berlin entsandte wie die CSU. Sauter, der binnen zwei Jahren als Land-tagsabgeordneter schon mal rund 800.000 Euro im Vorbeigehen mitgenommen hat, wird aber nun zur Gefahr für Söders Karriere. Kein Wunder, dass der große Wandelbare unter Deutschlands Spitzenpolitikern sich plötzlich alle jene Forderungen von NGOs wie Transparency International zu eigen macht, die er und seine Partei jahrelang abgeblockt hatten.

   

Glücklich ist, wer vergisst…

 

Die Nebeneinkünfte der Abgeordneten bilden das eine Einfallstor von Lobbyismus und Korruption in den hiesigen Parlamentarismus, das andere ist aus Parteispenden zusammengebaut. Und die klammert Söders Ehrenerklärung schlicht aus. Weiterhin werden also Konzerne verdeckt, auf Umwegen und penibel in 9999 Euro gestückelt (damit nichts veröffentlicht werden muss, wie Jens Spahn das auch den spendablen Teilnehmern seines Corona-Dinners nahelegte), dafür sorgen, dass bestimmte Wege der „Willensbildung“ in Regierung und Bundestag unauffällig bleiben, aber bequem gepflastert sind.

 

Was persönliche Bereicherung betrifft, wird man Söder nichts vorwerfen können, schon weil er nie ein Zubrot nötig hatte. Seine Familie betrieb ein kleines Handwerksunternehmen, und er heiratete in die steinreiche Industriedynastie Baumüller ein. So mag er sich jetzt als persönlich schuldlosen Patron eines etwas schmierigen Clans sehen – doch so ganz kann auch er nicht von den Praktiken und Arrangements der Strauß- und Amigo-Ära in der allmächtigen CSU lassen, wie die Affäre um das neue Zukunftsmuseum in Nürnberg belegt. Als in seiner Heimatstadt für die wahnwitzige Pacht von 100 Millionen Euro bei gut zwanzig Jahren Laufzeit ein Gebäude für diese Dependance des Münchner Deutschen Museums vom Besitzer, dem CSU-Mäzen Schmelzer, unter dubiosen Umständen angemietet wurde, drängte Söder den eigentlich zuständigen damaligen Kultusminister Spänle einfach beiseite und ließ sich als Gönner und väterlichen Freund der Wissenschaften und Schönen Künste feiern.

 

Eigentlich müsste die gesamte Führung der Partei nach dem Skandal um die Maskengeschäfte mit der Not der Bürger dauerhaft desavouiert sein. Doch Söder wird eine Ahnungslosigkeitsvermutung zugebilligt, die wiederum nicht für das Finanzgebaren vieler CSU-Spitzenkräfte gilt. Dabei aber hat er zugeschaut und geschwiegen – und auf die Vergesslichkeit der Menschen gesetzt. Wer will denn noch die ollen Kamellen über die schwarzen Stammtischpolitiker hören, die sich Land und Gut wie eine von Gott vergebene Pfründe untereinander aufteilten?

 

Weil das Erinnern und Nachdenken in der neuen Medienwelt nicht gerade Hochkonjunktur hat, darf sich Söder auch ungestraft auf seinen Vorgänger Edmund Stoiber berufen, der 1993 allen Kabinettsmitgliedern lukrative Nebengeschäfte untersagt hat. Die wurden dann einfach im Ministeramt angebahnt und in die Zeit nach der Demission verlegt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass der Unfallfahrer Otto Wiesheu in den Vorstand der Deutschen Bahn einrückte und der Ex-Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer als einfacher MdB zwischen 2017 und 2020 fast 900.000 Euro an Aufsichtsratstantiemen kassierte? Das war natürlich ein Klacks gegen die rund elf Millionen, die der Rechtsaußen in Bayerns schwarzer Familie, Peter Gauweiler, laut SZ während seiner sieben Jahre im Bundestag von dem Milliardär August Baron von Finck erhalten hat.

 

Mal sehen, wie geschickt Söders Parteifreunde künftig den neuen Ehrenkodex umgehen… 

03/2021 

Dazu auch:

Ein Museum für Markus im Archiv der Rubrik Medien (2021)

System Bayern I und II im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2013)

 

 

 

   

  

Krieg gegen die Natur

 

Rhetorisch ist Deutschland weltweit Spitze im Kampf gegen den Klimawandel und für die Natur. Das Verfahren, das die EU nun gegen Berlin anstrengt, die unzähligen Versäumnisse, Pannen und Sünden wider den Schutz der Umwelt aber legen eher nahe, dass die Bundesrepublik einen Krieg gegen die ökologische Vernunft sowie die lebenserhaltende Ressourcensicherung führt.

 

Die Wiederholungstäter

 

Es scheint in Brüssel doch einige Politiker und Beamte zu geben, die beim Thema Umwelt nicht zuallererst die Interessen der Wirtschaft gefährdet wähnen und sogleich deren omnipräsente Lobbyisten durch die Entschärfung von Vorschriften sowie laxe Handhabung von Kontrollen beruhigen wollen. Nur so ist zu erklären, dass es jetzt einem notorischen Schurkenstaat, der sich stets als ökologischen Musterknaben unter den Nationen ausgibt, an den Kragen gehen soll: Die EU-Kommission reichte jedenfalls Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen jahrelanger Verstöße gegen geltendes Naturschutzrecht ein.

 

Deutschland habe die Naturschutzvorgaben aus Brüssel und vor allem die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie zur Erhaltung natürlicher Lebensräume sowie zum Schutz wild lebender Tiere und Pflanzen nicht umgesetzt, lautet die Beschuldigung. Zudem habe die BRD „immer noch nicht eine bedeutende Anzahl von Gebieten als besondere Schutzgebiete ausgewiesen“, um den Artenbestand zu schützen oder wiederherzustellen.

 

Schon 2015 hatte die EU-Kommission ein „Vertragsverletzungs-verfahren“ gegen Berlin eingeleitet, weil die Bundesregierung und die Länder keine „hinreichend detaillierten und quantifizierbaren Erhaltungsziele“ für alle 4606 „Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung“ festgelegt hatten. Die Deutschland dafür eingeräumten Fristen waren teilweise schon seit über zehn Jahren abgelaufen. Die Bundesregierung hatte der EU offenbar einen Flickerlteppich aus ökologisch interessanten Landschaften als Alibi-Reservate präsentiert, ohne zu konkretisieren, was dort wie geschützt oder wiederangesiedelt werden sollte. Wer vage bleibt, hat später weniger Probleme damit, die Holzwirtschaft oder den Straßenbau ins „Biotop“ zu lassen.

 

Dass die Bundesrepublik wegen Umweltsünden und Versäumnissen auf der Anklagebank Platz nehmen muss, überrascht in Brüssel niemanden mehr, sind doch noch weitere vierzehn EU-Verfahren anhängig, weil Richtlinien zum Naturschutz nicht pünktlich bzw. ordnungsgemäß umgesetzt wurden, ob es nun den Verpackungsmüll oder die Überdüngung der Felder betraf. Seit etlichen Jahren loben sich die verschiedenen Merkel-Regierungen selbst als Vorreiter im Klimaschutz und ökologischen Wandel über den grünen Klee (zwischen den Betontrassen). Wissenschaftler und Experten von NGOs aber weisen nach, dass die BRD an allen neuralgischen Punkten die Intentionen von Industrie, Handel und Makro- Landwirtschaft über die Erfordernisse der Ökologie und somit der Erhaltung einer lebenswerten Umgebung gestellt hat.

 

Flora, Fauna, Wasser? Egal!

 

Warum sollte man eine Landschaft schützen und bewahren, wenn man ohnehin etwas anderes, Lukrativeres, mit ihr vorhat? Dies scheint die vorherrschende Meinung in deutschen Ministerien zu sein. Da werden in Hessen alte Wälder dem Straßenbau geopfert, der grüne Regierungsvize Al-Wazir aber wäscht seine Hände in Unschuld und macht den Bund dafür verantwortlich, statt sich (etwa nach EU-Recht) auf eine Notstandssituation zu berufen. Da weigert sich der bayerische Ministerpräsident Söder, die einzigartigen Buchenhabitate des Steigerwaldes zum Nationalpark zu erklären, obwohl selbst der ehemalige CSU-Landrat Günther Denzler diese Aufwertung durch Ausweisung des Schutzgebietes auf den Weg gebracht hatte. Ohne Unterlass beschwören Merkel und Söder eine „grüne Agenda“ der Zukunft, doch während die Kanzlerin ihrem Autobauer-Lobbyisten Scheuer freie Hand bei der Betonierung der Republik lässt, überantwortet Söder die für die Luftqualität wertvollsten Baumbestände der Holzindustrie und den großen Waldbesitzern, unter denen sich im Freistaat viele Adlige und noch mehr Mitglieder seiner eigenen Partei tummeln.

 

Während die Versiegelung der Böden durch die Ausweisung überflüssiger Gewerbegebiete oder die Ansiedlung von Amazon-Logistikzentren unaufhaltsam fortschreitet, stagniert die Renaturierung der trockengelegten Moore, die zu den wichtigsten natürlichen CO 2-Speichern gehören. Und die Landwirtschaft wandelt sich unaufhaltsam zur Domäne von Agro-Oligopolen mit Monokulturen und Massentierhaltung sowie Chemie-Riesen, wobei die zuständigen Bundesminister in den letzten Jahren als willige Vollstreckungsgehilfen dienten: Christian Schmidt von der CSU verhinderte (eine Übereinkunft des Berliner Kabinetts ignorierend) das EU-weite Verbot von Glyphosat, und seine CDU-Nachfolgerin Julia Klöckner kämpft beherzt für den weiteren Einsatz anderer Insektenkiller, wenn sie nicht gerade für den Lebensmittel-Multi Nestlé posiert oder ein ebenso herziges wie unzureichendes Tierwohl-Label propagiert.

 

Die aussterbenden Kerbtiere mögen sich damit trösten, dass es ihren größeren Vettern und Cousinen in der deutschen Fauna auch nicht besser ergeht: So gelten in der gesamten EU 53 Prozent der Wildvogelarten als mehr oder weniger gefährdet, in der BRD sind es 69 Prozent. Das Bundesamt für Naturschutz meldet in seinem jüngsten Bericht, dass ein knappes Drittel der heimischen Säugetiere im Bestand bedroht ist. Dieselbe Behörde rechnete 2017 vor, dass ganze 6,3 Prozent der Fläche Deutschlands als „Naturschutzgebietsfläche“ ausgewiesen seien (wobei stolze Flächenländer wie Bayern oder Baden-Württemberg unter dem Durchschnitt liegen). Im vorigen Jahr hatten die Umweltminister auf ihrer Tagung in Luxemburg verkündet, dass die Naturschutzflächen in der EU bis 2030 von 18 auf 30 Prozent gesteigert werden sollten. Wie soll der selbsternannte Primus BRD, der bereits jetzt weit nachhinkt, das schaffen? Weist Scheuer demnächst die Mittelstreifen aller Autobahnen als Biotope aus, oder braucht Deutschland nicht so viel Wildnis, weil ohnehin keine schützenswerten Tiere und Pflanzen mehr da sind?

 

Spaßbremse Emissionskontrolle

 

Nach langem Zögern und massivem Druck der EU hat sich Deutschland endlich bereitgefunden, zumindest eine Folge der intensiven und bedenkenlosen Landwirtschaft abzumildern: Es darf der Boden nicht mehr mit so viel Gülle vergiftet werden wie bisher. Doch die Großbauern-Lobby macht mobil. Statt das Grundwasser vor der permanenten Überdüngung zu schützen, möchte sie an Orten, die sie selbst aussucht, nochmals messen lassen.

 

Das hat sie wohl von den Rabulisten im Kabinett Söder gelernt: Als die Stadt München 2018 alte Diesel-Fahrzeuge wegen der durch sie verursachten hohen Feinstaubbelastung aus der Innenstadt verbannen wollte, zweifelte die bayerische Staatsregierung zunächst die Validität der Ergebnisse an und untersagte ihrerseits dann das Fahrverbot für die Dreckschleudern. Sie blieb auch dann noch bei diesem Verdikt, als das Münchner Verwaltungsgericht der Stadt Recht gab und zahlte lieber Zwangsgeld. Das stammte ja nicht aus den Taschen der Regierenden, sondern vom Steuerzahler. Wie der Freistaat intern, verhielt sich auch die ganze Republik in der Europapolitik, als sie in Brüssel die Einführung schärferer Emissionsbeschränkungen zum Wohle der drei Betrugsspezialisten VW, Daimler und BMW stoppte.

 

Der zivile Panzer namens SUV und der freie Speed für kranke Bürger auf Autobahnen gehören nun mal zum unverzichtbaren Kulturgut einer gewissen Gesellschaftsschicht, die bestimmten Parteien sehr nahesteht, wenn sie nicht sogar bei ihnen maßgeblich mitmischt. Und noch der winzigste Fingerzeig der Automobil-Lobby hat für einen bundesdeutschen Verkehrsminister mehr Gewicht als die Expertisen sämtlicher Umweltschutzverbände. Dass angesichts geschäftsschädigender Forderungen von vermeintlichen Öko-Fanatikern die Berliner Regierung die „systemrelevanten Konzerne“ wie eine Glucke ihre Küken schützt, können auch die großen Energieversorger bestätigen.

 

Damit sie sich nicht so abrupt von ihrem Geschäft der gut bezahlten Umweltverschmutzung mittels fossiler Energien verabschieden mussten, wurde ihnen erlaubt, für die letzte Tonne Braunkohle noch einmal Wälder und Dörfer plattzumachen. Und damit sich nicht alle Konsumenten in Richtung dezentraler Versorgung mit erneuerbaren Energien fortmachen konnten, vereinbarte man den Bau einer umweltschädlichen Pipeline in der Ostsee, damit das gute alte dreckige Erdgas profitabel aus dem sinistren Russland nach Deutschland flösse. Auftrat eine andere finstere Macht mit der Doppelbesetzung Trump/Biden an der Spitze und bedrohte nach Herzenslust die an Nord Stream 2 werkelnden Firmen mit Sanktionen, da sie ihr eigenes noch unsaubereres Fracking-Gas auf dem deutschen Markt verhökern wollte.

 

Bundesfinanzminister Olaf Scholz war es gleich, woher die Umweltverschmutzung importierte wurde. Um das Alterswerk seines Parteigenossen Gerd Schröder im Gazprom-Vorstand zu retten, bot er den USA in einem inoffiziellen Brief an, mit deutschen Steuergeldern in Höhe von einer Milliarde Dollar Terminals für amerikanisches Fracking-Gas an der Nordsee zu subventionieren, wenn im Gegenzug Nord Stream 2 toleriert würde. Die vielbeschworene Energiewende scheint gemäß dieser Enthüllung durch die Deutsche Umwelthilfe darin zu bestehen, dass man künftig Dreck aus allen Ländern nach Deutschland holt, solange er denn bestimmte Kassen füllt.

 

Verbrechen, keine Vergehen oder Fehler

 

Die dunkle Dystopie der Berliner Umweltbilanz wird allenfalls von zarten, aber medial aufgepeppten Lichtern durchbrochen. Dass wieder Maifischlein im Rhein schwimmen, hat aber die EU-Kommission nicht davon abgehalten, Deutschland dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass es verschwindend wenig für die Biodiversität und den Erhalt der Arten tut und dass es seinen freiwillig eingegangenen, aber bindenden Verpflichtungen nicht nachkommt. Dabei geht es nicht um ein paar Schutzzonen für seltene Tiere oder bedrohte Wälder, sondern um den globalen Abwehrkampf gegen eine systemische Plünderung von Ressourcen und eine raubgierige Zerstörung der Rahmenbedingungen, die vielen Menschen die bloße Existenz, anderen ein sinnerfülltes Leben sichern.

 

Es ist nicht nur eine sich am Horizont abzeichnende Gefährdung unserer Existenzgrundlagen, wie die EU-Kommission argumentiert, wenn sie von den Auswirkungen für künftige Generationen spricht, es ist eine reelle Bedrohung, die bereits jetzt unser Leben ärmer und uns selbst kränker macht. Insofern wünschte man sich, die Verantwortlichen könnten unmittelbar vor Gericht angeklagt werden und müssten selbst die Konsequenzen ihres verantwortungslosen Handelns tragen.

 

Das Verfahren gegen Deutschland wird sich lange hinziehen. Und  wenn es am Ende aller Logik nach zum Schuldspruch kommt, werden die politischen Versager gerügt und die Strafgelder vom deutschen Staat, also von den Bürgern, eingezogen werden. Da hätte der Gedanke, man könne die EuGH-Ebene verlassen und nach den Maßstäben einer nationalen Strafjustiz über die ertappten Politiker in persona urteilen, einen enormen Charme: „Im Namen der Völker ergeht … wegen fahrlässiger und vorsätzlicher Körperverletzung (in vielen Fällen mit Todesfolge), unterlassener Hilfeleistung, mehrfachen Betrugs, Tierquälerei, Veruntreuung, Meineids beim Amtsantritt, Vorteilsnahme, passiver Bestechung etc. kein mildes Urteil.“ 

02/2021 

Dazu auch: 

Verbieten verboten im Archiv dieser Rubrik (2020) 

Back dir ein Gesetz! im Archiv der Rubrik Medien (2020)

 

  



Grünes Atomfaible 

 

Analysiert man die Entwicklung der Parteien in der Bundesrepublik, fällt durchgängig die Abkehr von einstigen Prinzipien – man könnte von einer beinahe lustvollen Umwertung aller Werte sprechen – binnen relativ kurzer Zeit auf. Die Grünen aber haben den Sprung aus der friedensbewegten Basisdemokratie in die rüstungsaffine Avantgarde mit einer derart eleganten Kehrtwende geschafft, dass selbst die gewieftesten Opportunisten der anderen Wahlvereine ihren Neid kaum verbergen können.

 

So viel Paulus war nie

 

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. … Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“ Wer verstieß mit diesen verfänglichen Sätzen gegen das in Stein gemeißelte Erste Gebot unseres Gesellschaftssystems „Du sollst keine Alternative haben neben mir!“? Richtig, die CDU war es im Ahlener Programm 1947, doch taten die Unionschristen in der Folge kräftig Buße, sorgten dafür, dass der Staat die Wirtschaft, in Sonderheit die großen Konzerne, fürderhin schützte, förderte und im Notfall alimentierte.

 

Den Demokratischen Sozialismus wiederum propagierten die Genossen von der SPD in der Frühzeit unserer Republik, fanden aber bald heraus, dass sich im bequemen, eigens für sie hergerichteten Bett der Wirtschaftskapitäne mithilfe einiger kleiner Modifizierungen trefflich von der Macht träumen lässt. Zum Dank für die gastfreundliche Aufnahme im Kreis der Oberen setzte der lupenreine Sozialdemokrat Gerd die lästige Vermögenssteuer aus.

 

Eine kuriose Schlangenkurve nahm die FDP. Zunächst profilierte sie sich als Sammelbecken für Alt-Nazis sowie als wetterwendische Mehrheitsbeschafferin für Regierungskoalitionen, dann gerierte sie sich als Hüterin der bürgerlichen Freiheiten (vor allem der unternehmerischen), bis sie neoliberale Wirtschaftsprogramme entwarf, die bald der AfD mit Neonazis im Schlepptau als Vorlage dienen sollten.    

 

Gut, das waren bürgerliche Parteien, denen das Hemd der schnellen Vorteilsnahme immer näher war als die Hose der inhaltlichen Auseinandersetzung – aber die Grünen entstammten doch der Öko- und Friedensbewegung, verstanden sich als den der Basis verpflichteten Stachel im faulen Fleisch des Systems. Und nun scheint die mittlerweile arrivierte Partei plötzlich ihr Faible für militärische Stärke und sogar nukleares Vernichtungspotential entdeckt zu haben. Hatte nicht Petra Kelly, die zur ersten grünen Lichtgestalt werden sollte, 1979 ihren Austritt aus der SPD in einem Brief an Helmut Schmidt damit begründet, dass sie „eine neue Form der politischen Vertretung“ anstrebe, „wo der Lebensschutz und der Frieden endlich Priorität erhalten werden“. War sie 1981 nicht führend an der Friedensdemo im Bonner Hofgarten gegen atomare Aufrüstung beteiligt gewesen?

 

Und nun feiern maßgebliche Köpfe und Gremien der Grünen „nukleare Teilhabe“ als „Kernelement der strategischen Verbindung“ zwischen den USA und der Bundesrepublik, fordern eine substanzielle Erhöhung des Verteidigungshaushalts“ (beides in einem Aufruf der Heinrich-Böll-Stiftung) und propagieren eine Verschiebung von Gesprächen über atomare Abrüstung mit Moskau auf ein „window of opportunity“, das sich „2030 oder 2035“ ergeben könnte (Grünen-Obmann Tobias Lindner im Verteidigungsausschuss des Bundestags).

 

Aus dem friedensbewegten Saulus grüner Gründungszeiten scheint ein den Strategen rechter Militärdoktrin und den Managern deutscher Rüstungsunternehmen sehr genehmer Paulus geworden zu sein. Kelly hat zu ihrem Glück schon lange das Zeitliche gesegnet und muss das nicht miterleben.       

 

Atomenergie nein, Atomkrieg vielleicht

 

Jede Partei hat die Stiftung, die sie verdient. Die der Grünen wurde nach dem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll benannt, was dieser nicht mehr rückgängig machen kann, da auch er vor der geistigen Wende der Partei starb (1985). Es ist aber stark anzunehmen, dass sich der Pazifist Böll gegen die gefährlichen Überlegungen, die, nun mit seinem Namen verbunden, von den Vordenkern der Bonner Stiftung veröffentlicht werden, verwehrt hätte. Auch dürfte den Autor, der den Zweiten Weltkrieg als Soldat „miterleben“ musste, sicherlich verwundert haben, dass die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock forsch erklärt, zum Auftrag der Bundeswehr gehörten gegebenenfalls „robuste Militäreinsätze“. Nach dem Motto: Wird man doch wohl noch sagen dürfen, nachdem man 75 Jahre stillgehalten hat.

 

An ihrem lobenswerten Nein zur nicht beherrschbaren und hochgefährlichen Atomenergie haben die Grünen bis heute festgehalten. Aus irgendwelchen Gründen scheinen sie aber neuerdings das nukleare Vernichtungspotential in den Händen von Militärs für weniger brisant zu halten und offenbaren dabei einen zumindest partiellen Gedächtnisverlust.

 

Da ihnen die konventionelle Option für die präventive Friedenserzwingung offenbar nicht ausreicht, fordern die grünen Kriegsexperten im Papier der Böll-Stiftung zusätzlich, „dass Deutschland an der nuklearen Teilhabe festhalten und nötige Modernisierungsschritte umsetzen muss“. Dabei sehen sie sich vermutlich als knallharte Realpolitiker, outen sich aber tatsächlich als geltungsbedürftige Träumer. Die einzige Verantwortung, die das Pentagon der Bundeswehr rund um die Nuklearbasen auf deutschem Boden übertragen würde, betrifft Lieferdienste in mögliche Abwurfgebiete und Hausmeistertätigkeiten. Weder für die Bestückung noch die Einsatzkriterien oder die Zielauswahl sind Rat und Zustimmung Berlins notwendig oder auch nur erwünscht. Doch die Grünen, die einst alle Atomwaffen von deutschem Boden entfernen wollten, scheinen der Meinung zu sein, dass es sich ohne eigene Mitbestimmung laut und folgenlos für die Galerie schwadronieren lässt.

 

Dabei übersehen die wehrtüchtigen Grünen, dass es im Augenblick (auch Biden) darum geht, die Irritationen und Vertragsbrüche durch die Trump-Administration wieder zu korrigieren. Dass eine „Modernisierung“ der Nuklearwaffenarsenale eine Aufrüstung mit präziseren Systemen von eingeschränkter Reichweite bedeuten würde, um die Kapazität zum „chirurgischen“ Erstschlag zu erhöhen. Und sie scheinen zu vergessen, dass, wie minimalinvasiv ein erstes atomares Kräftemessen auch immer ausfallen würde, Deutschlands blühende Landschaften ziemlich am Anfang in strahlenden Müll verwandelt würden.

 

Auch wenn man dem Autokraten Putin alle möglichen Schweinereien und Winkelzüge, um die persönliche Macht, aber auch den Einfluss Russlands zu bewahren, unterstellen darf, sollte man ihm doch genügend gesunden Menschenverstand attestieren, nicht gegen zahlenmäßig überlegene und sowohl in konventioneller als auch atomarer Waffentechnik besser ausgerüstete Streitkräfte, die an etliche Grenzen seines Reiches vorgerückt sind, loszuschlagen.        

 

Neue Musterschüler des Systems

 

Als die Grünen im Laufe der Jahrzehnte an Mandaten und bürgerlicher Akzeptanz zulegten, blieben ihre Mitbegründer, die Spontis, unorthodoxen Linken, Öko-Anarchisten oder Ostermarsch-Pazifisten, auf der Strecke. Wer sich von den „Alten“ nicht anpasste wie ein Trittin oder eine Kühnast, wurde mitsamt aller latenten Skrupel entsorgt, spätestens als Außenminister Joschka Fischer 1999 einen völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz der Bundeswehr in Jugoslawien mitverantwortete. Inzwischen sind die Grünen angekommen – nein, nicht in der Mitte, sondern in den Villenvierteln der Gesellschaft. Neuere Statistiken belegen, dass ihre Wähler im Schnitt über ein höheres Einkommen verfügen als die der FDP.

 

Wer aus den subversiven Wohngemeinschaften in die Beletage aufgestiegen ist und sich zu den Säulen des Systems zählen darf, muss natürlich gewisse Abstriche machen, selbst wenn es um die ansonsten geheiligte Umwelt geht. Ministerpräsident Kretschmann in Baden-Württemberg und Verkehrsminister Al-Wazir in Hessen fügen sich – der eine als Daimler-Freund leichten Herzens, der andere als Kahlschlagdulder eher kleinlaut – den Bedürfnissen und Wünschen der Automobilindustrie. Einen entscheidenden Vorteil aber bringt die frische Zugehörigkeit zur politischen Elite dieses Staates mit sich: Grüne sind plötzlich als Gäste der halb-klandestinen Thinktanks, die das Schicksal der Welt nach ihrem Gusto gestalten wollen, hochwillkommen. Sie dürfen auf den Treffen der Atlantik-Brücke, der Bilderberg-Konferenz oder des Aspen Institute am Kamin mit Elder Statesmen, Großindustriellen oder milliardenschweren Spekulanten plauschen. Und mit emeritierten NATO-Generalen. Seltsamerweise färbte das Chlorophyll ihrer Öko-Vergangenheit weniger auf diese Gesprächspartner ab als deren Uniform-Khakibraun auf die eigene Naturwolle. Und siehe da, die Bewahrer der Umwelt beginnen plötzlich, in militaristischen Zungen zu reden.

 

Der Aufruf der Böll-Stiftung will die NATO „nicht nur als militärisches, sondern auch als politisches Bündnis stärken“. Und weil diese noble Organisation es so zielsicher geschafft hat, nach dem Ende der UDSSR durch Bruch verbindlicher Vereinbarungen und Ausdehnung gen europäischen Osten einen neuen Kalten Krieg in Europa loszutreten, soll sie das Gleiche nun auch im Fernen Osten versuchen, nämlich „in aller Welt strategische Partner enger an den Kern des Westens zu binden“, vor allem „Australien, Japan und Südkorea“. Die Grünen möchten also mit deutschem Furor auch gleich noch die Volksrepublik China das Fürchten lehren, nach der neuen Universaldevise NATO ante portas.

01/2021 

Dazu auch:        

Grünes Vergessen im Archiv dieser Rubrik (2018) 

  



Internationale der Irren

Militante Rechte in Deutschland und den USA

 

Sturm der Corona-Leugner auf den Berliner Reichstag, Invasion des Kapitols in Washington durch Trump-Fanatiker – ein wenig ähnelten sich Bilder und Schlagzeilen aus den beiden Hauptstädten, was deutsche Politiker von Präsident Steinmeier bis Außenminister Maas zu waghalsigen Vergleichen verführte. Doch abgesehen davon, dass vor dem Bundestag ein Stürmchen von drei Polizisten auf der Treppe abgefangen wurde, während es bei der Besetzung des US-Kongresses Tote gab, existieren trotz einiger Handlungsparallelen und etlicher inhaltlicher Übereinstimmungen auch erhebliche Unterschiede zwischen den rassistisch-nationalistischen Militanten beiderseits des Atlantiks. Eine griffige Etikettierung  mag medial ein paar Punkte bringen, ersetzt aber keine differenzierte Analyse eines Phänomens mit diversen Ausprägungen in verschiedenen Ländern. Einige Gedanken hierzu:

 

Rekruten fürs Gemetzel

 

Weitgehend scheinen sich Rechtsextremisten in den USA und Europa der gleichen Organisationsformen, Kommunikationsmittel und Aktionsmethoden zu bedienen. Sie gründen paramilitärische Vereine, halten untereinander über die sozialen Netzwerke Kontakt und nutzen diese auch zu systematischer Hetze, Verbreitung von Fake-News oder Drohungen, sie mobilisieren online Gleichgesinnte zu Kundgebungen, Blockaden und Angriffe auf politische Gegner. Vor allem die militanten Aktivisten unter ihnen wurden nicht selten in den nationalen Streitkräften oder Spezialeinheiten der Polizei ausgebildet. In den USA finden sich auffallend viele Ex-Marines unter den gewaltbereiten Chauvinisten, in Deutschland sind es ehemalige oder aktive Angehörige von Spezialeinheiten der Bundeswehr (KSK) und der Gendarmerie (SEK). Da die potentiellen rechtsradikalen Kombattanten wie auch ihre Unterstützer weltweit bestens vernetzt sind, könnte man von einer Internationale der Irren sprechen, allerdings unterscheiden sie sich in ihrem Auftreten und nationalen Eigenheiten.

 

Während in den Vereinigten Staaten die auf einen Bürgerkrieg spekulierende Szene, die in etliche Milizen mit insgesamt fast 200.000 Mitgliedern aufgesplittert ist, offen agieren, operieren in Deutschland und umliegenden Ländern die rechten Aufruhraspiranten, etwa die Prepper oder Uniter, eher klandestin, horten heimlich Kriegsgerät, tauchen nach gelegentlichen Verboten ihrer allzu deutlich auf Nazi-Spuren wandelnden Gruppierungen kurzfristig ab. Die rechten Paramilitärs in Übersee präsentieren hingegen ihre Schnellfeuergewehre aufgrund der überaus toleranten US-Waffengesetze ebenso stolz in der Öffentlichkeit wie ihre kruden Rassentheorien und Ausrottungspläne – Tatbestände, die in einem Land, dessen Justiz mehrmals erwischte (nichtweiße) Ladendiebe bisweilen ohne irgendeine Aussicht auf ein Haftende hinter Gitter schickt, vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt werden.

 

Der fürchterlichste Terroranschlag, den die Vereinigten Staaten außer 9/11 je erlitten, war vor 25 Jahren von dem rechten Milizionär Timothy McVeigh auf das Regierungsgebäude in Oklahoma City verübt worden und 168 Menschen das Leben. Doch die deutsche extremistische Rechte hinterließ ebenfalls eine Blutspur, die sich durchs ganze Land zog. Hanau und Halle sind noch in Erinnerung, die neun NSU-Opfer ebenso, doch es waren bis heute wohl über 200 Menschenleben, die der faschistische Terror insgesamt forderte, wenn man die Rechercheergebnisse von ZEIT und Tagesspiegel , die an der Verharmlosung von Tatmotiven durch Ermittlungsbeamte bei zahlreichen vor 2011 begangenen Tötungsdelikten zweifelten, in die Aufstellung mit einbezieht. Man erinnere sich etwa an das Jahr 1980, als beim Oktoberfestattentat dreizehn Menschen und im Dezember der jüdische Rabbiner Shlomo Lewin sowie seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in Erlangen ermordet wurden. Die (angeblichen) Einzeltäter kamen aus dem Dunstkreis der fränkischen Wehrsportgruppe Hoffmann – auch das eine "typische" rechte Miliz.

 

Nazi-Erbe und Wilder Westen

 

Das Fußvolk der braunen Organisationen ergeht sich in von Hass und Ressentiments geschürtem Allmachtswahn, der fremdes Leben als minderwertig oder belanglos erscheinen lässt, und das ohne rabulistische Rechtfertigung und raffinierte Ideologie, ja ohne längeres Nachdenken. Das lässt sich von ihren Anführern nicht immer behaupten. Deren Hybris gründet sich – wie einst bei Hitler – auf rückwärtsgewandte Selfmade-Mythologien, in Deutschland gerne mit dem Mittelalter oder dem Germanentum der Spätantike als pittoreskem Fundament.

 

Schon die romantischen Dichter schwärmten von der übersichtlichen Welt der Vorfahren, den klar hierarchisch geordneten gesellschaftlichen Zusammenhängen, die von der Aufklärung durcheinander gebracht worden waren: Menschen von edler Abstammung oder zumindest Gesinnung strebten nach hehrer, oft keuscher Liebe, opferten sich für die schlichte, aber schöne Heimat, übten Lehensgefolgschaft und blinden Gehorsam gegenüber dem gottgesalbten Adelsherrn. Das in Wirklichkeit finstere und geistfeindliche Mittelalter, diese Dystopie mit Recken, die tatsächlich Schlächter waren, oder einem Meuchelmörder namens Hagen von Tronje als Ideal eines treuen Vasallen, fungierte als Vorbild für eine Gesellschaft, in der die Ehre des Mannes noch auf dem Schlachtfeld erprobt wurde und nicht an der Börse.

 

Ein solcher Blick zurück in die archaische Vergangenheit gefiel den Nazis, allen voran Hitler, der in „Mein Kampf“ den ständigen Krieg aller gegen alle mit dem Endsieg des Stärksten (natürlich aus der nordischen Rasse) prophezeite, und lieferte ihnen die Symbole und Ornamente für ihre krude Mystik, jene altgermanischen Schriftzeichen, Retro-Kunstwerke und Kitschmonumente, die in gewissen Kreisen wieder en vogue sind. Die einfachen Geister ließen sich mit diesem Brimborium von der nüchternen Überlegung ablenken, dass weder der Führer, noch Goebbels oder Göhring dem idealisierten Ariertyp im Entferntesten ähnlich sahen. Die Faszination für die Armageddon-Verkünder hält an, wie gegenwärtig die Tätowierungen auf den Armen und Hakenkreuze auf den Jacken von Pegida-Aktivisten, rechten Rockern oder Verschwörungstheoretikern zeigen. Aber auch andere Außenseiter klammern sich an restaurative Schnapsideen, die Reichsbürger etwa, die sich zurück in ein von den Hohenzollern zusammengeraubtes deutsches Vaterland sehnen, damit zwar eher ein mitleidiges Lächeln hervorrufen, aber Waffen für die Realisierung ihres imperialen Traums sammeln und sie – wie bereits geschehen - auch mit tödlichem Ergebnis einsetzen.

  

Die Rechtsradikalen in den USA können sich die Versatzstücke ihrer Blut- und-Boden-Ideologie nicht aus den Zeiten von Ritterehre und Götterdämmerung klauben, es ist schließlich kaum vierhundert Jahre her, dass ihre puritanischen Vorfahren sich einigermaßen fest an der Ostküste Nordamerikas etablierten. Das hält einzelne Organisationen wie den Ku-Klux-Klan, dessen Mummenschanz-Rituale aus Druiden-Opern abgekupfert scheinen, aber bis heute letale Folgen für Afroamerikaner zeitigen, oder die White Aryan Resistance nicht davon ab, sich mit germanischen Runen zu schmücken. Und auch die US-Fantasy, als unerschöpfliche Quelle für sadistische Machtspiele von verklemmten Extremisten geschätzt, ist vorzugsweise in fiktiven Gegenden und Epochen angesiedelt, die an die blutrünstigsten Szenerien der älteren europäischen Geschichte erinnern. Doch für die meisten Anhänger des weißen Faustrechts dient der Wilde Westen, die gewaltsame Landnahme, als das Mittelalter der Neuen Welt, auf dessen leichtverständliche Moral man sich bezieht.

 

Im Gegensatz zu deutschen Militärs, Adligen und Nationalisten, die schon die Hereros auf dem Gebiet des heutigen Namibia ausrotten wollten und dies dann später während des Holocausts beinahe mit den europäischen Juden geschafft hätten, planten die britischen Invasoren nicht die Liquidierung der indigenen Völker in toto – solange diese vernünftig genug waren, betrügerische Verträge zu unterschreiben, in Reservaten dahinzusiechen oder sich zumindest von ihrem fruchtbaren Land in unzugängliche Wüsten oder Hochgebirge zu flüchten. Niemand sollte sich dem protestantischen Erwerbsstreben und Landhunger entgegenstellen. Damals wurden Menschen zu Legenden, gegen die Siegfried-Mörder Hagen wie ein Ehrenmann gewirkt hätte.

 

Zu dem noch heute gefeierten Trupp, der während der Eroberung von Texas (nach Vertragsbruch, versteht sich) einer zahlenmäßig überlegenen, aber miserabel bewaffneten mexikanischen Streitmacht in Alamo eine Zeit lang standhielt, gehörten Abenteurer, Sklavenhalter und flüchtige Mörder. Aber sie gelten denen als Helden, die einer Zeit nachtrauern, in der ein Mann sich mit der Waffe in der Hand seinen Weg bahnte, keine Rücksicht auf braunes, rotes oder schwarzes Gesindel nehmen musste und sich von der Obrigkeit wie von der Regierung, diesem Verein undurchsichtiger Geldsäcke und Lobbyisten, nichts verbieten ließ. Für die Leute, die das Kapitol besetzten, bedeutet auch heute noch Freiheit die Möglichkeit, sich ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verantwortung und Interessenabwägung den Weg freizuschießen. Auf beiden Seiten dieses schnurgeraden, mit Leichen gepflasterten Weges lauern üble Machenschaften, nehmen gruselige Verschwörungen Gestalt an.

        

Der strahlende Pate

 

Alle faschistischen oder nationalistischen Bewegungen haben das Führerprinzip gemeinsam. Die deutschen Rechtsextremen tun sich da schwer, denn sie verfügen mit der AfD zwar über eine parlamentarische Repräsentanz, aber deren Spitzenleute wie Gauland, Weidel oder Meuthen wirken altbacken, geradezu hilflos, und der dynamischer auftretende Höcke verzettelt sich ständig mit internen Intrigen und im Kleinkrieg gegen die mediale Öffentlichkeit. Kein Duce derzeit in Sicht…

 

Eigentlich dürfte es der Chauvinistenfront in den USA noch schwerer fallen, sich hinter einem Caudillo zu vereinen, allzu heterogen ist ihr Spektrum, das vom White Trash, wie etablierte Zyniker die hellhäutige Unterschicht nennen, über evangelikale Südstaatler bis hin zu smarten Thinktank-Vordenkern und News-Managern reicht, zu unübersichtlich das riesige Land und zu groß das Misstrauen gegenüber eloquenten Politikern. Donald Trump aber verstieß nicht nur gegen alle in Washington gepflegten Etikette, gegen die Regeln des guten Geschmacks und der staatsmännischen Vernunft, er verstand es auch, sich als Kämpfer gegen das Establishment, die Eliten darzustellen und er agierte ebenso wirr, willkürlich und wutgetrieben, wie die vaterlosen Extremisten das von sich selber kannten. Ein Paradoxon ward geboren: Weiße Hinterwäldler, die den Staat und die Reichen hassten, begannen, einen Multimillionen schweren Staatsmann zu verehren.

  

So wurde ein gieriger Immobilienhai zum Paten einer – vorsichtig ausgedrückt – faschistoiden Massenbewegung, ungeachtet der antikapitalistischen Stimmung, die rechtsradikale Organisationen von Beginn an immer so lange verbreiten, bis sie sich zum Zweck der Machtergreifung mit dem Kapital verbünden. Um den Schwenk sich selbst und anderen Armen im Geiste plausibel zu machen, bemühten sie die abstrusesten Verschwörungstheorien, von denen einige zu uns über den Atlantik schwappten und auch von den Erstürmern der Reichstagstreppe geteilt wurden. Dabei unterschlugen sie alle, dass Trump zu keinem anderen Club gehört als ihr Hauptschurke Gates.

Jeder Lapsus Trumps wurde in einen geschickten Schachzug des Präsidenten umgedeutet, der gegen einen Päderasten-Geheimbund der Demokraten, dem Obama, Clinton und natürlich Biden vorstanden, kämpfte. Die US-Post soll bei der Wahlfälschung ebenso mitgewirkt haben wie Gouverneure, Beobachter und Auszähler. Der mysteriöse Irre, der hinter QAnon steckt und auch unter deutschen Rechtsextremen Anhänger hat, erhob Trump gar in den Rang eines Messias. In den USA können Gerüchte schnell zu maßlosen Phantasmagorien mutieren; hierzulande arbeiten wir ebenfalls schon daran. 

 

Nun hat es immer schon Verschwörungstheorien gegeben. Die Mär von den irakischen Vernichtungswaffen, die George W Bush in die Welt setzen ließ, um einen Krieg zu rechtfertigen, gehörte dazu, der von den Nazis behauptete Angriff polnischer Streitkräfte auf die Wehrmacht 1939 ebenso. Die folgenschwersten dieser mit Kalkül konstruierten Tatsachenverdrehungen waren wohl die gegen die Juden gerichteten: Es hat nie ein von Herodes befohlenes Massaker an kleinen Kindern gegeben, doch so war es in der „heiligen“ Bibel nachzulesen, und das machte die Söhne Abrahams in der damals bekannten Welt zu Ausgestoßenen. Im Mittelalter hetzten interessierte Kreise den Pöbel mit Gerüchten, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und so die Pest auf die Menschheit losgelassen, zu furchtbaren Pogromen auf. Und die gefälschten Protokolle der Weisen von Zion, die das Streben der Juden nach der Weltherrschaft belegen sollten, schürten den Antisemitismus und halfen, den Boden für den Holocaust zu bereiten.

    

Hauptsache rassistisch

 

Verschwörungstheorien richten sich nicht nur gegen politische Gegner oder militärische Feinde, allzu oft heizen sie Ausländerfeindlichkeit bis hin zum Rassismus an. Standen nach den NSU-Morden nicht zunächst die Angehörigen und Landsleute der Opfer, denen kriminelle Machenschaften angedichtet worden waren, unter Verdacht? An die Öffentlichkeit gelangten diese Fakes nicht über durchgeknallte Querdenker oder fiese Neonazis, sondern durch Polizei-Sokos und Journalisten. Auf die Mühlen der xenophoben Nationalisten wirkte das wie Wasser, das auch nach Aufklärung der Morde und reuiger Rehabilitation der betroffenen Familien nicht mehr abfloss.

 

Mögen die gewaltbereiten Rechten in Deutschland und den USA sich bezüglich ihrer Erscheinungsformen bisweilen krass unterscheiden – hier dumpfer Kadaver-Gehorsam in Nazi-Manier, dort das anarchisch wirkende Gebaren der Milizen -, der größte gemeinsame Nenner für sie alle ist der Rassismus. Hier dienen die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten als Hassobjekte, dort die Latinos und Indigenen. Und beiderseits des Atlantiks spricht man jüdischen und dunkelhäutigen Bürgern das Menschsein ab.

 

Joe Biden hat nicht viel Gescheites gesagt in den letzten Wochen und Monaten, aber mit einer rhetorischen Frage nach dem Sturm aufs Kapitol traf er ins Schwarze: Wie hätten sich die recht lax wirkenden Sicherheitskräfte, die das Parlament schützen sollten, wohl verhalten, wenn statt der rechtsextremen Trump-Fans Mitglieder der Black-Lives-Matter-Bewegung in die heiligen Hallen eingedrungen wären? 

01/2021 

Dazu auch:

Nazi und Gendarm (2016) und Blind mit System (2014) im Archiv der Rubrik Medien 

  



2020


Berliner Gewissen

 

In Krisenzeiten wie dieser hoffen die Menschen auf die starke Hand. Sie beginnen plötzlich, einer Regierung zu vertrauen, die sie zuvor für unfähig oder böswillig gehalten haben, nur weil ein paar Maßnahmen in die Wege geleitet wurden. Mögen diese teilweise auch als widersprüchlich, verspätet oder fragwürdig empfunden werden, was zählt, ist der Eindruck, dass die da oben sich kümmern. Die unerwartete Kür zur moralischen Instanz nutzt die Bundesregierung offenbar, um sich ein paar Flecken von der weißen Weste zu wischen, etwa im Fall der Rüstungsexporte. Hat sie zuvor Todesgerät leichthändig in alle Welt ausführen lassen, brüstet sie sich jetzt damit, Saudi-Arabien von der Empfängerliste zu streichen – ein Selbstlob, das einem Fake recht nahekommt.

 

Wiederentdeckung eines Gesetzes

 

Kurz vor Weihnachten, Fest der Liebe und des Friedens, entschloss sich die Bundesregierung, die ihr ansonsten heiligen Profitinteressen der deutschen Waffenschmieden ein bisschen hintanzustellen und verlängerte den Rüstungsexportstopp für Saudi-Arabien um ein Jahr. Ja, sie setzte noch eins drauf und widerrief bereits erteilte Genehmigungen, „die auf Eis lagen“, wie eine Regierungssprecherin der dpa mitteilte. Ein kleines Hintertürchen ließ das Berliner Kabinett den brüskierten Konzernen allerdings offen: Gemeinschaftsproduktionen mit europäischen Partnern seien von dem Embargo nicht betroffen. Krauss-Maffei Wegmann, Thyssenkrupp oder Airbus Defence, die allesamt Kooperationen mit französischen oder britischen Unternehmen betreiben, können militärische Komponenten über diesen Umweg also weiter an die Saudis verdealen.

 

Es ist, als hätten Union und SPD das Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffG), das im Paragraphen 6 Ausfuhren untersagt, wenn „die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung … verwendet werden“, aus der hintersten Schublade des Aktenschrankes hervorgekramt und sogar gelesen. Unter den Wirtschaftsministern Gabriel und Altmaier war das Dokument zur lex non grata verkommen – es ging schließlich um deutsche Gewinne und die tiefempfundene Besorgnis um ein paar deutsche Arbeitsplätze.

 

Allerdings drängen sich ob der unerwarteten guten Tat zwei Fragen auf: Lag nicht das letale Business mit dem Wahhabiten-Regime in Riad, das mit der Ermordung des Kritikers Kashoggi und einer völkermörderischen Kriegsführung im Jemen selbst geneigte westliche Politiker schockiert hatte, ohnehin danieder, nachdem die Saudis erklärt hatten, keine Waffen aus Deutschland mehr beziehen zu wollen, waren doch eine von Trump eingefädelte 100-Milliarden-Dollar-Aufrüstung durch die USA und die wenig skrupulösen Lieferanten in Paris und London in der Hinterhand. So dürften die derzeit eingefrorenen Rüstungsgeschäfte im Wert von einer Milliarde Euro ohnehin die letzten (rein-deutschen) Aufträge gewesen sein. Die Industrie lamentiert indes und fordert bereits Kompensation. Ob sich da aus den Corona-Hilfsfonds nicht ein Scherflein abzweigen lässt?

 

Weit interessanter aber wäre eine plausible Antwort auf die zweite Frage, warum nur ein einziger Staat, nämlich Saudi-Arabien, mit einem vorübergehenden Waffenembargo belegt wird. Zwar führt Riad die Kriegskoalition an, die 2015 im jemenitischen Bürgerkrieg intervenierte und bis heute Kliniken, Schulen und Wohngebiete  in Schutt und Asche legte, Söldner ins Land schickt und die Bevölkerung vom Nahrungsmittel- und Medikamentennachschub abschneidet, doch in einer Koalition ist man nie allein…

 

Die „vergessenen“ Länder

 

Eine ganze Reihe von sunnitisch geprägten Ländern kämpft im Jemen gegen die schiitischen Huthi-Rebellen, die wiederum mit dem saudischen Erzfeind, dem Iran, kooperieren. Und wie der Zufall (oder besser: das Geschäftsgebaren der hiesigen Rüstungskonzerne) es will, können die meisten dabei auf die Wertarbeit deutscher Waffentechniker zurückgreifen. Auf jeden einzelnen dieser Invasionsstaaten wäre das KrWaffG ebenso anzuwenden wie auf Saudi-Arabien, doch scheinen der Bundesregierung bei ihrem moralischen Kraftakt die Namen der anderen Kriegsteilnehmer abhanden gekommen zu sein, und das, obwohl der eine oder andere Koalitionspartner auch noch aus anderen Gründen übel beleumundet ist.

 

So gelten Kuwait und Jordanien nicht gerade als Wiegen der Demokratie, in Bahrain konnte sich die Monarchie nur mithilfe saudischer Eingreiftruppen gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit an der Macht halten, und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) mischen, ähnlich dem Herrscherhaus in Riad, bei so ziemlich allen Konflikten im Nahen und Mittleren Osten mit, mal durch Entsendung von Söldnern, mal mittels Waffenlieferungen. Und all diese guten Geschäftspartner Deutschlands verwüsten derzeit den Jemen unter Zuhilfenahme modernster Rüstungstechnik made in Germany. Hinzu käme noch Qatar, das sich zwar 2017 nach Querelen mit den Saudis aus diesem Krieg zurückzog, aber in anderen Konflikten die vom Rhein und aus den Isargauen stammenden Vernichtungsinstrumente ausprobieren lässt, etwa in Libyern.

 

 

Überhaupt Libyen. Auch in der nordafrikanischen Wüste herrscht Krieg, und wir finden fast alle der oben aufgeführten Player auch dort wieder, dazu noch den mittlerweile wichtigsten Handelspartner der deutschen Todesindustrie, Ägypten. Dort regiert der Militärdiktator as-Sisi mit eiserner und auch blutiger Hand. Die Gefängnisse sind voll mit Kritikern und Journalisten – das verspricht stabile Verhältnisse und gute Geschäfte. Bereits 2019 erhielt die ägyptische Armee Gerät im Wert von über 800 Millionen Euro aus dem nach eigener Diktion friedliebenden Deutschland, in diesem Jahr dürfte es um einiges mehr sein. Und wenn die Marine des Landes am Nil demnächst mit drei von Stahlbau-Nord in Bremerhaven gebauten Hightech-Fregatten hochgerüstet wird, fließen allein dadurch weitere 1,5 Milliarden Euro in den hanseatischen Säckel.

 

Skrupel, die man sich leisten kann

 

Selbstredend gehört auch Ägypten der mörderischen Allianz im Jemen an und versucht, sich in Libyen als Widerpart zu Erdoğans osmanischem Expansionismus aufzubauen. Solche bellizistischen Aktivitäten qualifizieren das aggressive Regime in den Augen der Berliner Minister noch lange nicht für Sanktionen gemäß dem KrWaffG  - wer wird schon seinen besten Kunden verprellen?

 

Auch die Türkei hat keine Engpässe bei den deutschen Know-how-Transfers, die sie für ihre kriegerischen Abenteuer in Syrien und Libyen braucht, zu befürchten; schließlich ist der eurasische Staat ja NATO-Freund. Da er derzeit allerdings immer wieder in die Küstengewässer der beiden anderen NATO-Freunde und Abnehmer Zypern und Griechenland eindringt, könnte es bald zu friendly fire aus deutschen Rohren von allen Seiten kommen.

 

Was den Jemen betrifft, bleibt nach Meinung des Greenpeace-Abrüstungsexperten Alexander Lurz die Bundesregierung "auf halbem Weg stecken". Das Embargo dürfe sich nicht auf ein Land beschränken, sondern müsse auf alle Kriegsparteien ausgedehnt werden.

 

So sind die Saudis, die längst deutsche Waffensysteme in Lizenz nachbauen, die einzigen, die unter dem jäh erwachten Gewissen der Bundesregierung zu leiden haben. Das Gedächtnis der Minister und der Kanzlerin, die im Bundessicherheitsrat geheim über die fraglichen Exporte entscheiden, hält aber offensichtlich nicht Schritt mit den vorweihnachtlichen Skrupeln, sonst müssten ihm noch ein paar andere Schurkenstaaten bzw. Handelspartner geläufig sein. Man kann nicht umhin (will man keine böse Absicht unterstellen) dem Berliner Gewissen Demenz in fortgeschrittenem Stadium zu attestieren. 

12/2020 

Dazu auch:

Krieg geht immer im Archiv dieser Rubrik (2020) 

 

 

 

 

 

Chronik des Versagens

 

Noch-Präsident Trump will mit letzten Anordnungen die in Afghanistan stationierten US-Truppen bis Mitte Januar nächsten Jahres fast halbieren und die letzten GIs im Mai 2021 abziehen – viel schneller, als dies im Abkommen vom letzten Februar mit den Taliban vereinbart war. Dabei dürften weniger Sorgen um amerikanische Menschenleben eine Rolle gespielt haben als vielmehr die Einsicht des totalen Scheiterns der Militärintervention – und der Wunsch, dem Nachfolger Biden einen Scherbenhaufen in puncto Bündnistreue zu hinterlassen. Während sich also die US-Administration kriegsmüde zeigt, offenbaren deutsche Politiker, darunter auch die prominenteste Grüne, eine erstaunliche Abenteuerlust.

  

Truppenübungsplatz Afghanistan

 

Der australische Premier Scott Morrison bekundete „tiefste Trauer“ über das vorzeitige Ableben von 39 Zivilisten in Afghanistan. Was war geschehen, so weit weg vom fünften Kontinent? Eine Untersuchungskommission hatte herausgefunden, dass australische Elitesoldaten, die zusammen mit Truppen aus den USA, aus Deutschland und anderen europäischen Staaten die islamistischen Taliban bekämpften, zwischen 2005 und 2016 die unbewaffneten Zivilisten, darunter auch Frauen, ermordeten. Vor allem jüngeren Soldaten galt das von Offizieren befohlene Blooding als Mutprobe, als Bluttaufe, mit der die Befähigung zum professionellen Liquidieren ohne jede Frage zum Sinn und zur Schuld der Opfer unter Beweis gestellt werden konnte.

 

Von den deutschen Verbündeten sind solche handgemachten Schlächtereien nicht überliefert. Allerdings wies 2009 der Oberstleutnant der Bundeswehr, Georg Klein, nahe Kundus amerikanische Flugzeuge an, Bomben auf Dorfbewohner abzuwerfen, die Treibstoff von zwei gestohlenen Tanklastwagen abzweigten. Mindestens 91 der von Armut getriebenen Diebe, etliche von ihnen Frauen und Kinder, kamen um. Während die australischen Killer jetzt auf ihren Prozess warten, wurde Klein vier Jahre nach seinem fatalen Befehl zum Brigadegeneral befördert. Die US-Army wiederum schien darauf spezialisiert, große Hochzeitsgesellschaften aus der Luft zu liquidieren und Gefangene zu Tode zu quälen, offenbar mit dem Wissen und der stillschweigenden Billigung von Bundeswehrsoldaten, wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel in seinem Buch „Deutsche Krieger“ berichtete.

 

Für die Afghanen, speziell die Landbevölkerung, mochte es letztlich kaum einen Unterschied machen, ob sie von fanatisierten Taliban, westlichen, zu ihrer Rettung herbeigeeilten, aber recht willkürlich agierenden Truppen oder den mit letzteren verbündeten Warlords mit der Auslöschung bedroht wurden. Doch trotz aller „Kollateralschäden“ hielten die Politiker hierzulande an den hehren Zielen des Bundeswehreinsatzes fest, nämlich „die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch“ zu verteidigen (Ex-Verteidigungsminister Struck) oder – etwas ehrlicher – „um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege…“ (Ex-Bundespräsident Köhler).

 

Und nun machen sich die obersten Verteidiger einer reichlich amerikanisch definierten universalen Freiheit als Erste aus dem Staub, kappen quasi die Schnüre, an denen sie ihre Marionetten in Kabul führten mit einem raschen Schnitt und lassen selbst so versierte Dampfplauderer wie Bundesaußenminister Heiko Maas (fast) sprachlos zurück. Doch Donald Trump folgte nur den Erkenntnissen, zu denen vor den USA die Sowjetunion und bei seinen Kolonisierungsversuchen auch das britische Empire schmerzhaft gelangen mussten: Die Vielvölkerregion Afghanistan zerfällt in etliche Interessen- und Kultursphären, und die Bewohner scheinen nur darin übereinzustimmen, sich nicht von fremden Mächten und Invasoren ein bestimmtes Politik-, Wirtschafts- und Wertesystem überstülpen zu lassen.

 

Die Bundeswehr stets fehl am Platze

 

Was man Trump allenfalls vorwerfen kann, ist die Hast, mit der er die US-Truppen aus einem Krieg zurückpfeift, den Washington selbst begonnen hat, dass die notorischen Kollaborateure in Kabul ebenso wie gutwillige einheimische Medienleute, Wissenschaftler, Lehrer Sportlerinnen und Schülerinnen den Taliban zum Abschuss freigegeben werden und dass er seine NATO-Alliierten nicht einmal vorwarnt, sodass diese plötzlich fürchten müssen, ihre Soldaten hätten unter Verlusten das Licht im Land auszuknipsen. Heiko Maas nennt es „fatal“, „all das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben“, mit einem voreiligen Abzug zu gefährden.

 

Und was wurde nicht alles erreicht! In einer Untersuchung der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) ist von 220.000 Kriegstoten allein zwischen 2001 und 2015 die Rede. Hilfsorganisationen warnten laut Handelsblatt, dass der Anteil der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Afghanen bis 2017 auf 54,5 Prozent gestiegen sei, im Zuge der Covid-19-Pandemie drohe inzwischen 13 Millionen eine Hungerkatastrophe. Für all das war das Expeditionskorps der Bundeswehr, das jetzt noch 1200 Soldaten umfasst, nicht ursächlich verantwortlich, einen Sinn hat sein Einsatz allerdings nie gemacht.

 

Die Bundeswehr sicherte sich ihre Operationsbasen im angeblich befriedeten Norden des Landes, doch kaum waren die Posten bezogen, sickerten dort auch schon die Taliban ein. Die deutsche Truppe hatte die Instruktion einheimischer Soldaten und Polizisten übernommen, kam aber mit der „hohen Zahl an Fahnenflüchtigen“ und  der „massiven Korruption“ und der „Abneigung gegen die Ratschläge der Ausländer“ nicht zurecht, wie man in der FAZ nachlesen konnte. Wenn man schon nichts bewirkt, will man wenigstens selbst mit heiler Haut davonkommen, also wurden für jeden Bundeswehrausbilder drei bis vier Leibwächter eingestellt, um seine Ermordung durch die eigenen Schüler zu verhindern.

 

Das erinnert an den Bundeswehreinsatz 1993/1994 im Rahmen der internationalen Operation UNOSOM 2 in Somalia, die - vom Weltsicherheitsrat genehmigt - unter Führung der US-Streitkräfte für eine Waffenruhe und die Versorgung der Bevölkerung sorgen sollte. In einer relativ sicheren Region hatten die insgesamt etwa 3000 deutschen Soldaten u. a. die Aufgabe, den Nachschub eines  Kampfverbands indischer Blauhelme zu sichern. Dumm nur, dass die Inder nie nach Somalia kamen. Die logistische Vorbereitung der Stationierung von 4000 UN-Soldaten erwies sich ebenfalls als obsolet, weil wegen immer heftigerer Kämpfe die ganze Somalia-Operation wenig später abgeblasen wurde. Die deutschen Soldaten hatten im Laufe eines Jahres enorme Ressourcen, etwa an Treibstoff, Nahrungsmitteln und Wasser, verbraucht und zogen danach unverrichteter Dinge wieder ab. Immerhin waren sie in ihrem Camp auf der sicheren Seite: Vor möglichen Angriffen wurden sie von einer italienischen Kampftruppe geschützt.

 

Was die Bundeswehr derzeit in Mali treibt, ist auch höchst unklar. Im Grunde flankiert sie die von Paris entsandte Interventionsarmee, die vor allem den französischen Zugriff auf die Uranreserven des Landes sichern soll. Zwar gelang es zunächst, den frontalen Angriff der Islamisten und ihrer Tuareg-Verbündeten zurückzuschlagen, doch versinkt Mali derzeit erneut in ein Chaos aus Hunger, Bürgerkrieg und Willkür, und bei „ethnischen Säuberungen“, die immer häufiger stattfinden, greifen die europäischen Truppen erst gar nicht ein.

  

Sie lernen nicht

 

In Mali arrangierten sich die „Friedenstruppen“ zuerst mit einem korrupten Präsidenten, akzeptierten dann einen Militärputsch, ergreifen nun aus dubiosen Gründen Partei in ethnischen Konflikten und scheinen sogar Massaker an Minderheiten hinzunehmen. In Somalia wurden die lokalen Warlords nach dem Abzug der UN-Streitkräfte von den wesentlich gefährlicheren Shabaab-Milizen, mit dem IS verbündeten Islamisten, verdrängt. Das Land existiert de facto nicht mehr als staatliche Einheit. Afghanistan wird in absehbarer Zeit an die Taliban und die Drogenkartelle fallen. Bei den Interventionen in allen drei Ländern ging es nie um die Menschen, die dort leben, sondern um wirtschaftliche und strategische Interessen, im letzten Fall auch noch um Rache für 9/11. Überall in der Dritten Welt war die Bundeswehr dabei, nicht kostenlos, aber völlig umsonst.

 

 

Im Grunde müssten die Regierenden in Berlin Konsequenzen ziehen und der Bundeswehr Einsätze in Ländern, deren Kultur, Sprache und spezifische Krisenproblematik die Soldaten nicht verstehen, ersparen, um sie, aber auch die jeweilige Bevölkerung vor oft tölpelhaften, oft aber auch lebensgefährlichen Interaktionen zu bewahren. Doch die deutschen Politiker träumen wieder einmal von einer Teilhabe an der globalen Macht, die sich auch auf die Gewehrläufe und sogar auf Atomwaffenpotentiale erstreckt.

 

Dabei belegte erst jüngst ein Vorfall, wie hilflos die Bundeswehr angesichts von NATO-Verstrickungen im Ernstfall ist: Boote ihrer Kriegsmarine sollen vor Libyens Küste im UN-Auftrag verhindern, dass Waffen über das Meer in das Bürgerkriegsland gelangen. Als ein Boarding-Team einen türkischen Frachter kontrollierte, musste es die Durchsuchung auf Intervention Ankaras abbrechen. Einen Bündnispartner filzt man nicht – auch wenn er als Kriegspartei in Libyen aktiv ist. Vielleicht war die Bundesregierung aber auch klammheimlich froh, hätten die Fahnder doch durchaus deutsche Exportwaffen auf dem Weg ins Gemetzel finden können.

 

Früher hätte man die fixe Idee, Weltgeltung durch Präsenz eigener Truppen zu beanspruchen, rechten Granden der Union und SPD zugesprochen. Doch die Grünen haben seit Joschka Fischers Engagement für die von der UNO nicht genehmigten Bombenangriffe auf Serbien mächtig aufgeholt. Damit nicht wieder jemand behaupten kann, durch die Militärschläge wäre internationales Recht gebrochen worden, forderte die geteilte Fraktionsvorsitzende der Partei, Katrin Göring-Eckardt, laut dpa, dass die Frage, ob legal oder illegal, künftig mit scheißegal zu beantworten sei. 

 

Sie sprach sich für weitere „Kriegseinsätze der Bundeswehr“ aus, notfalls auch ohne völkerrechtliches Mandat. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ein Mandat der Vereinten Nationen blockiert werden kann und dann wichtige Hilfe in Kriegsregionen mitunter nicht möglich wäre.“ Im Klartext: Weg mit den Mehrheiten in der UN-Vollversammlung und mit dem Weltsicherheitsrat und seiner Veto-Option! Angesichts solch nationaler Hybris könnte die AfD grün vor Neid werden.

 

Mit Erstaunen nimmt man wahr, wie glatt eine Partei, die einst aus der Öko- und Friedensbewegung entstand, vom Pazifismus ohne Umweg über den Kalten Krieg in die heißen Konflikte unserer Zeit steuert. Hat Göring-Eckardt denn gar kein Mitleid mit unserer schon von vergleichsweise läppischen Missionen überforderten Bundeswehr?

11/2020

Dazu auch:

Tödlicher Sehfehler im Archiv dieser Rubrik (2017)

 

 

 

  



Vom Frieden reden…

 

Was hat Honduras der Bundesrepublik voraus? Das kleine mittelamerikanische Land ist zwar arm und hat außer Südfrüchten und Maya-Kultur wenig zu bieten, aber immerhin ist es der fünfzigste Staat, der den Atomwaffenverbotsvertrag (AWV) der Vereinten Nationen unterschrieben hat. Damit wurde das Quorum erreicht, durch das er ab 22. Januar 2021 völkerrechtlich verbindlich wird. Die Ratifizierung durch Deutschland, das sich sonst regelmäßig die Rolle des internationalen Musterknaben anmaßt, steht weiterhin aus.

 

Kein Verzicht auf die nukleare Option

 

Honduras war das Land, auf das erstmals in den 1930er Jahren der abschätzige Begriff „Bananenrepublik“ angewandt wurde. Bis heute hat es sich nicht aus dem Würgegriff global agierender Lebensmittelgiganten (früher United Fruit Company, heute u. a. Nestlé) und der allzu nahen USA befreien können. Honduras hätte weder die wirtschaftlichen noch die technologischen Kapazitäten, eine Atombombe zu bauen. Man könnte also die Unterzeichnung des UN-Verdikts als rein symbolischen Akt abtun, wäre da nicht jene Ambivalenz der nuklearen Bedrohung, die potentielle Täter, die neun Staaten im Besitz der Vernichtungswaffen, und die möglichen Opfer, den wehrlosen Rest der Welt sozusagen, gleichzeitig zum Handeln für eine Erde ohne Damoklesschwert zwingen sollte.

 

Die Idee, Massenvernichtung quasi per Gesetz zu ächten, stammte von NGOs wie der Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (ICAN), die 2017 den Friedensnobelpreis erhielt. Für die Unterzeichnerstaaten bedeutet der UN-Vertrag nicht nur den Verzicht auf Nuklear-Rüstung, sondern auch das Verbot von bestimmten Finanzgeschäften, darunter die Kreditvergabe durch einheimische Banken an Hersteller von Atomsprengköpfen oder Trägersystemen.

Bislang haben sich 122 Länder für den AWV ausgesprochen, darunter allerdings keins der neun Mitglieder im Club der A-Bomben-Besitzer und – mit Ausnahme der Niederlande – kein einziger NATO-Staat.

 

Stellt sich die Frage, warum die BRD, die ohne Unterlass mit ihrer Forderung nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat nervt, künftig internationale Normen unterlaufen wird, weil sie nicht daran denkt, einen Vertrag, der übrigens auch die Entschädigung der Opfer von Atomwaffentests in der Südsee, in den US-Wüstenstaaten oder in Kasachstan vorsieht, zu ratifizieren. Glaubt man in Berlin defätistisch, die Welt wanke mit oder ohne solche humanitären Initiativen dem nuklearen Untergang entgegen? Möchte man die NATO-Partner in Washington, London und Paris, die alle auf unterschiedlich große rote Knöpfe drücken können, nicht vergraulen? Oder will man sich die Option offenhalten, selbst ein atomares Drohpotenzial aufzubauen und im Notfall auch ein wenig an der Vernichtung der Menschheit mitwirken zu können?

 

Nichts ist unumkehrbar

 

Die Versuchung ist groß, die Zukunft unseres Globus für ziemlich kurz befristet zu halten. Nicht nur depressive Pessimisten und Fans globaler Dystopien weisen darauf hin, dass nach Donald Trumps Aufkündigung des Start-Abkommens zwischen den USA und Russland, das Anzahl und Reichweite von Atomwaffen in Mitteleuropa begrenzt, eine nukleare Auseinandersetzung wieder ein Stückchen wahrscheinlicher geworden ist. Und wenn in Indien die derzeit regierenden Hindu-Faschisten, in Pakistan korrupte Islamisten am Dücker sitzen und beide Länder wegen Kaschmir kurz vor einem weiteren Krieg stehen, muss es auch jedem friedensbewegten Beobachter bange werden.

 

Aber es gibt Beispiele dafür, dass sich solche Entwicklungen aufhalten oder sogar umkehren lassen – wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen. Als Argentinien (1983) und Brasilien (1985) ihre Militärdiktaturen überwanden, stoppten die zivilen Regierungen die in beiden Ländern laufenden Programme zum Bau von Atombomben, was zehn Jahre später auch Algerien tat. Gaddafis Libyen und das Mullah-Regime im Iran ließen unter internationalem Druck von der nuklearen Aufrüstung ab, was ihnen aber von den USA nicht gedankt wurde.

 

Als einziges Land, das – mit israelischer Hilfe – bereits zur Atommacht aufgestiegen war, zerstörte Südafrika 1991 seine sechs Kernwaffen, als sich das Ende der Apartheid bereits abzeichnete. Nicht immer gebärden sich selbst autokratische Regimes und skrupellose Machthaber so unvernünftig, wie es Katastrophentheoretiker voraussetzen.

  

Klammheimliche Machtträume

 

Insofern haben die Vereinten Nationen mit dem AWV ein symbolisches Zeichen gesetzt und gleichzeitig praktische Regelungen impliziert, die bereits global tätige Banken zur Überarbeitung ihrer Richtlinien veranlassen. Zudem geschieht dies zu einem Zeitpunkt, da die finanziellen Mittel der Staaten gegen einen (nicht militärischen) Feind eingesetzt werden müssen. Lars Pohlmeier, Vorstandsmitglied der deutschen Sektion von Ärzte gegen den Atomkrieg in der Frankfurter Rundschau: „Während wir als Ärztinnen und Ärzte im Kampf gegen die Corona-Pandemie stehen und unter größten Anstrengungen Impfstoffe und Therapien entwickeln, die dann der Weltgemeinschaft solidarisch zur Verfügung gestellt werden müssen, werden Ressourcen für eine sinnlose Militärdoktrin in unvorstellbarem Ausmaß verschwendet.“

 

Doch in der BRD hat es immer schon eine heimliche Lobby für die Entwicklung eigener Nuklearwaffen gegeben. So plante Franz Josef Strauß schon 1955 als damaliger Bundesminister für Atomfragen den technologischen Anschluss an die Großmächte. Doch eine Dekade nach Hitlers Krieg und Auschwitz war die Zeit für ein deutsches Kernwaffenprogramm wohl noch nicht reif. Immerhin verfügt die Bundesregierung zumindest auf dem Papier über eine Teilhabe an dem US-Nuklearmaterial, das auf Waffenträgern der Bundeswehr eingesetzt wird. Dass die BRD 1969 den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat, hindert die Bundeswehr nicht daran, gegenwärtig den Transport schmutziger, da strahlender US-Sprengköpfe zum Abwurfort im Osten zu üben.

 

Das scheint manchen nicht zu reichen. Sie richten begehrliche Blicke auf das französische Vernichtungspotential und bringen eine deutsche Mitsprache beim Einsatz zur Sprache. Andere träumen von einer germanischen Dominanz in Europa, die sich auch auf die Bundeswehr stützt. So fordert Wolfgang Ischinger, Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, eine „deutsche Führungsrolle“ in der EU und von seinen Landsleuten „gesellschaftliche Unbefangenheit“ im Umgang mit den Streitkräften. Während Ischinger das A-Wort vermeidet, postuliert das ARD-Magazin Panorama ganz ungeniert „Nuklearwaffen in nationaler Verfügungsgewalt“, um Moskau abzuschrecken. Fast gleichlautend verlangt die AfD in ihrem Militärprogramm von der NATO, Deutschland die „Verfügungsgewalt“ über „Nuklearwaffen“ zu gewähren; und zwar zackig! Nicht wenige in der Union und FDP sowie einige in der SPD könnten sich dem problemlos anschließen.

 

Und die Bundesregierung? Möchte nicht aus der gen Osten ausgerichteten Phalanx der NATO ausscheren. Will nicht durch die Unterzeichnung des AWV gezwungen werden, der deutschen Finanzwirtschaft und den Rüstungskonzernen per Gesetz lukrative Geschäfte im Graubereich atomarer Aufrüstung und Proliferation zu verbieten. Will sich vielleicht auch ein Hintertürchen für einen (nuklear-)militärischen Paradigmenwechsel offenhalten. Vom Frieden sollte man allerdings trotzdem viel und oft reden. Das verpflichtet zu nichts.

 

Und so kommt es, dass das bescheidene Honduras inzwischen, zumindest was Abrüstung und Friedenserhaltung betrifft, ein wertvolleres Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft ist als das präpotente und vorlaute Deutschland.

11/2020

Dazu auch:

Zur Bombe drängt im Archiv dieser Rubrik (2017)

Bürger zu den Waffen im Archiv der Rubrik Medien (2019)

 

  



Endlich Perspektive!


Den Fridays For Future (FFF) wird gern jugendliche Naivität unterstellt. Sie sollten doch „die Profis“ machen lassen, wenn es um die Umwelt gehe, hatte FDP-Lindner, der gerade seine Partei professionell in den Untergang steuert, vorgeschlagen. Der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wiederum wird vorgeworfen, ihre Aktivität erschöpfe sich gleich der des gesamten DGB in Tarifrunden und Verhandlungsritualen. Im September haben sich die Öko-Pioniere und die Arbeitnehmervertreter auf gemeinsames Handeln in der Verkehrspolitik geeinigt – eine gute Nachricht für das ganze Land.


Nach Corona wird wie vor Corona


Dem Bündnis für einen Paradigmenwechsel auf Deutschlands Straßen und Schienen haben sich noch der BUND und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) angeschlossen. Eigentlich müssten alle Politiker in irgendeiner Verantwortung dem Ruf der Partner nach einer essentiellen Stärkung des ÖPNV sofort folgen, könnten doch nur so die marktschreierisch verkündeten Klimaziele erreicht werden. Und endlich einmal begreift eine Gewerkschaft den notwendigen ökologischen Wandel nicht als Gefahr für Arbeitsplätze. Doch Bund und Kommunen wollen die Chance, die sich durch das in der Corona-Krise aufgekommene Umdenken ergibt, gar nicht nützen, denn jeder Anfang kostet zunächst viel Geld und erfordert eine revolutionäre Neuverteilung der Mittel.


Zu Beginn der Pandemie, als die neue Situation die Verantwortlichen vorsichtig und die Bevölkerung nachdenklich machte, war viel von einem Neubeginn nach Corona die Rede, von einer umweltverträglichen Rekonvaleszenz der deutschen Wirtschaft. Kurze Zeit später fand die Politik ins alte Fahrwasser zurück, mit einem fröhlichen Weiter so! wurde Umwelt- und Steuersündern wie der Lufthansa unter die Arme gegriffen (ohne sich im Gegenzug den Erhalt der Arbeitsplätze oder die Tarifbindung garantieren zu lassen), und bald hob auch wieder das Betrugskartell der Automobilindustrie sein hässliches Haupt, um weitere Abwrackprämien und Befreiung von angeblich strengen Emissionsnormen zu fordern. Umsichtig begleitet wurde dieses Rollback von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, der gern ein grünes Wort auf den Lippen und das Wohl der rein profitorientierten alten Schmutzproduktion im Herzen führt.


Eine Gewerkschaft schert aus


Die Monate der erst anschwellenden, dann abflauenden Corona-Welle waren eine schwere Zeit für die von der Schwedin Greta Thunberg gegründeten FFF. Das allgemein einsetzende Besinnen auf perspektivische Werte wich der Angst vor dem Virus, aktionistischen Profilierungsaktionen von Politikern und wenig später hedonistischen Ausbruchsversuchen weiter Kreise, dem Verlangen nach Reisen, Suff und Partys. Für den Klimawandel schien sich niemand mehr zu interessieren, schon gar nicht für Maßnahmen dagegen.


Mitten in dieser Phase scheinbarer Normalisierung (kurz vor der zweiten Phase) nahm Verdi die anfangs geschockte und allen Helfern dankbare Gesellschaft beim Wort und forderte für die 2,3 Millionen überwiegend schlecht bezahlten Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen bescheidene 4,8 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 150 Euro im Monat (um die unteren Tarifgruppen ein wenig näher ans mittlere Niveau heranzuführen). Die kommunalen Arbeitgeber aber schwadronierten von leeren Kassen (kein Hindernis für so manches Prestigeprojekt) und legten erst einmal gar kein Angebot vor, statt von der Bunderegierung eine Umleitung des Stroms der Hilfsgelder von privaten Aktiengesellschaften zur infrastrukturellen Basis des Landes zu fordern.


Nirgendwo wurden die Warnstreiks so schmerzhaft empfunden wie im öffentlichen Nahverkehr, wo es Verdi nicht nur um mehr Geld, sondern auch um bessere Arbeitsbedingungen sowie einen bundesweiten Tarifvertrag für Bus- und Tramfahrer ging. Während einige vergessliche Pendler die Streikenden, die noch vor wenigen Monaten als Helden des Alltags beklatscht worden waren, beschimpften, sprangen die FFF-Aktivisten der Gewerkschaft bei, wobei ihre Rechnung einfach und logisch war: Ohne ÖPNV keine Verkehrswende, ohne Verkehrswende kein Erreichen irgendwelcher Klimaziele, ohne eine attraktivere Ausgestaltung der Jobs aber kein dringend benötigter Fahrernachwuchs – und damit nicht mehr, sondern weniger Busse und Bahnen auf Straße und Schiene.


Dass eine Gewerkschaft mit ihren Forderungen nicht nur den Status ihrer Mitglieder, sondern auch die Nachhaltigkeit im Auge hat und mit ökologischen Gruppierungen koaliert, ist nicht selbstverständlich. Die beiden anderen großen DGB-Organisationen IG Metall, und IG BCE jedenfalls hatten sich zuletzt in Fragen der Auto-Produktion, der Rüstungsexporte oder des Braunkohle-Tagebaus auf die Seite der Konzerne gestellt. Insofern ist die Suche von Verdi nach neuen Partnern eines der wenigen hoffnungsvollen Zeichen in den Zeiten von Corona. Könnte es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen organisierten Beschäftigten und Öko-Aktivisten, die damit das Ein-Thema-Ghetto verlassen würden, werden?


Die Zukunft ist öffentlich


Helena Marschall von FFF erklärte in Berlin: „Wir werden uns den Streiks der Beschäftigten anschließen … Die Klima- und Verkehrswende bedeutet gute Jobs.“ Nachdem auch BUND und der ökologisch orientierte VCD die Kooperation mit Verdi verkündet hatten, schrieben die vier Partner einen Offenen Brief an das Verkehrsministerium, in dem sie monierten, dass beim „Autogipfel“ der Bundesregierung die Verbrennungsmotoren im Mittelpunkt gestanden hätten und es sinnvoller gewesen wäre, einen ÖPNV-Gipfel zu veranstalten.


Doch der Adressat ist leider sattsam bekannt, und der Bundesverkehrswegeplan auch. Andreas Scheuer ist ein fanatischer Straßenbauer und ein devoter Freund der Autokonzerne. Natürlich weiß er, dass bei einer Fahrt mit dem ÖPNV mindestens 50 Prozent der Emissionen gegenüber der Passage im eigenen PKW eingespart werden, wie die Verdi-Fachbereichsleiterin Christine Behle vorrechnet, aber das ficht ihn nicht an. Er will freie Fahrt für mutwillige Bürger, ohne Tempolimit  - und bei größtmöglicher Profitmaximierung für die SUV-Hersteller. „Scheuer und die Regierung haben komplett versagt“, stellt die BUND-Vertreterin Antje von Brook denn auch summarisch fest.


Philipp Kosok vom VCD weist darauf hin, dass es bei Bussen und Bahnen seit dreißig Jahren Stagnation gebe, obwohl eine Offensive für den ÖPNV „ein Konjunkturprogramm für alle Branchen“ wäre. „Die Straße wurde bei Investitionen stets bevorzugt“, kritisiert er die bundesdeutsche Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte. Ob die Politik während und nach Corona daran aus freien Stücken etwas ändern wird, ist zu bezweifeln, waren die Landes- und Bundesregierungen doch stets damit beschäftigt, das Wunschkonzert der Konzerne aufzuführen.


Trotz vollmundiger Absichts- und Solidaritätserklärungen hat die Politik auch in dieser Krise wieder die Interessen der Wirtschaft über die Bedürfnisse der Menschen gestellt, Profi-Fußballspieler gegenüber Schulkindern bevorzugt, Großbetrieben rasch und üppig, kleinen Selbständigen aber zögerlich und dürftig (wenn überhaupt) geholfen. Auch in ökologischem Sinn ist kein Wandel eingetreten: Dörfer und Wälder werden weiterhin dem Abbau fossiler Brennstoffe, der Parzellierung der Landschaft in neue Autobahnen oder Gewerbegebiete, die niemand braucht, geopfert. Alles wie gehabt.


Es ist wahrlich an der Zeit, dass der gesamte DGB das, was von seinem einstigen Einfluss noch übrig geblieben ist, in Allianzen mit Umweltschützern und anderen sich dem kapitalhörigen politischen Mainstream widersetzenden Organisationen einbringt. Gewerkschaften, die nicht nur für Prozente und bessere Konditionen in ihrer jeweiligen Branche kämpfen, sondern sich auch für den Umweltschutz engagieren, an der Seite von Öko-NGOs, die sich endlich mit Produktionsbedingungen und Arbeitnehmerrechten beschäftigen – das wäre mal eine gute Nachricht in diesem schlimmen Jahr.

10/2020 

Dazu auch:

DGB am Scheideweg im Archiv dieser Rubrik (2018)    

 

 




Gelehrtenrepublik BY

 

Wir schreiben die Gegenwart. Halb Deutschland wird von den Quartiersuchern für endlos strahlenden Atommüll bedroht. Halb Deutschland? Im Süden wehrt sich geschlossen ein ganzes Bundesland gegen diese Zumutung. Bayern lehnt eine Endlagerung des tödlichen Schrotts auf eigenem Gebiet ab, schon weil die anscheinend aus Wissenschaftlern rekrutierte Regierung in München den Freistaat als möglichen Standort kategorisch ausschließt und weil man dahoam nichts duldet, was man dort nicht haben will.

 

Geldgeile Zauberlehrlinge

 

Auf eine Technologie zu setzen, die endlos Energie bereitstellt, aber zugleich nicht zur Gänze beherrschbar, somit gefährlich ist und deren hochkontaminierte Hinterlassenschaften nie entschärft werden können, erinnert an die Goethe-Ballade vom Zauberlehrling: Der Nachwuchsmagier soll den Badezuber seines Meisters mit Wasser füllen und verwandelt einen Besen in einen stummen Diener, der Eimer für Eimer vom Fluss herbeischleppt. Doch kennt der Junior nicht den Zauberspruch, mit dem er seinen Hilfsroboter stoppen sowie zurückverwandeln kann und so verursacht er eine veritable Überschwemmung.

 

Ähnlich erging es den Energiekonzernen, den damals regierungsverantwortlichen Parteien (SPD, Union, FDP) und voreiligen Nuklearwissenschaftlern ab den 1960er Jahre mit ihrer Planung und Errichtung von Atomkraftwerken: Meiler hinstellen, Strom erzeugen, Nachschub sichern und hohe Profite generieren – um den gefährlich strahlenden Müll würde man sich später kümmern.

Dann entlarvte die Katastrophe von Tschernobyl die Mär von der sauberen, billigen und risikolosen Energiegewinnung als Zweckoptimismus geldgeiler Manager und ihrer Verbündeten in Politik und Forschung. Später wurden Brennstäbe, die man ins Ausland exportiert hatte, wieder nach Deutschland zurückgeholt, durch die Gegend gekarrt, und das Zwischenlager in Asse, die Schachtanlage eines aufgelassenen Salzbergwerks, erwies sich als instabil und löchrig wie Nachbars alte Garage. Schließlich zeigte der Tsunami von Fukushima die Grenzen der Sicherheitstechnik auf, verseuchte Menschen, Dörfer und Ackerböden radioaktiv, und Kanzlerin Merkel machte ihren Rücktritt vom von Grünen und SPD durchgesetzten AKW-Stopp entsetzt wieder rückgängig. Das kam uns alle sehr teuer, denn die Energiekonzerne mussten mit einem goldenen Handschlag aus der Haftung für ihren hochgefährlichen Schutt entlassen werden.

 

Die Bundesrepublik ist kein riesiger Flächenstaat wie die USA, wo der Atommüll bedenkenlos im Souterrain von Einöden oder Indianerreservaten verbuddelt wird, also suchte man in begrenztem Terrain nach der dringend benötigten todsicheren Endlagerstätte – und stieß auf die Salzstöcke des niedersächsischen Gorlebens. Die ansässigen Bauern, AKW-Gegner aus der ganzen Republik und Geologen demonstrierten gegen das Vorhaben, riefen die Gerichte an und verwiesen auf Gutachten, denen zufolge sich das Salz von Gorleben keineswegs als fester Tresor für die ewige Aufbewahrung der tückischen Uranreste eigne. Mit dieser Schlussfolgerung hatten sie recht, wie sich jetzt herausstellte. Gorleben jedenfalls wurde gekippt.

 

Bayerische Wissenschaft

 

Die von allen Länderregierungen (also auch der Bayerns) mit der „ergebnisoffenen“ Suche nach der ultimativen Mülldeponie beauftragte Bundesgesellschaft für die Endlagerung (BGE) präsentierte jetzt in einem Zwischenbericht eine Vorauswahl, die 90 Gebiete mit insgesamt 54 Prozent der Fläche Deutschlands als potentielle Standorte ausweist. Die infrage kommenden Flächen wird man in den nächsten Jahren eingrenzen und 2031 die endgültige Entscheidung treffen. Gorleben wird nicht mehr unter den Kandidaten sein, die BGE hält die dortigen Salzstöcke für zu wacklig.

 

Ob Granit oder Ton, im Freistaat liegen vom fränkischen Fichtelgebirge über den Bayerischen Wald bis zum Chiemgau etliche Regionen mit für die Endlagerung interessanten Gesteinsformationen. Die Wissenschaftler und Experten der BGE müssen unvoreingenommen alle Optionen prüfen. Laut Söder aber könnten sie sich die Suche im Süden sparen.

 

Von den Ausbildungen des bayerischen Ministerpräsidenten wussten wir bislang nur, dass er mit einer recht mäßigen Dissertation zum Rechtsdoktor wurde, ohne je als Leuchte der Jurisprudenz zu glänzen, und auch nach dem Journalistenvolontariat keine publizistischen Bäume ausriss. Nun scheint es so, als habe er heimlich auch Geologie, Mineralogie oder Atomphysik studiert, beurteilte er doch mit der Souveränität des erfahrenen Fachmanns Bayern als gänzlich „ungeeignet“ für die Endlagerung des problematischen Mülls, den man in den Reaktoren von Grafenrheinfeld, Gundremmingen oder Ohu/Isar I und II fleißig produziert hatte. Und er ging auch ins Detail: Die Gesteinsschichten mit Ton seien in Bayern viel dünner als anderswo, und die bajuwarischen Granitregionen könnten von vornherein ausgeschlossen werden, weil sie zu „zerklüftet“ seien. Fachlichen Beistand erhielt Söder von seinem Umweltminister Thorsten Glauber, einem Freien Wähler und Architekten, dem man anhört, dass er nebenbei Facility Management, also gehobene Hausmeisterei, studiert hat. Glauber erklärte, mit Gorleben gebe es einen „gut erkundeten Standort für ein sicheres und fast schlüsselfertiges Endlager“.

 

Den Wissenschaftlern von der BGE aber erschien es wohl nicht sicher genug, was wiederum Söder wurmt. Außerbayerische Wissenschaft ist aus Sicht der Münchner Elite stets mit Skepsis zu betrachten, gilt im Freistaat bestenfalls als zweitrangig, vor allem wenn sie eigenen Interessen widerspricht. So nimmt es nicht Wunder, dass der Ministerpräsident die Endlagersuche durch landsmannschaftlichen Sachverstand in die richtige Richtung lenken will. Er kündigte an, auch „eigene wissenschaftliche Expertise bayerischer Wissenschaftler“ in den bis 2031 geplanten Entscheidungsprozess mit einfließen lassen zu wollen.

 

Der große Schriftsteller Arno Schmidt beschrieb in seinem dystopischen Kurzroman „Die Gelehrtenrepublik“ auf satirische Weise eine Insel, auf der sich nach einem Dritten Weltkrieg Wissenschaftler aus allen Lagern reichlich kurzsichtig mit der Zukunft der Erde beschäftigen. Trotz seiner ausufernden Phantasie wäre aber nicht einmal er auf den Gedanken gekommen, nach dem bayerischen Landesoberhaupt und seinen Ministern auch noch den Delegierten der CSU und der Freien Wähler wissenschaftliche Kompetenz in einer zwischen Alpen und Main angesiedelten Gelehrtenrepublik zuzuschreiben. Letztere hatten nämlich in ihrem Koalitionsvertrag die im Auftrag der BGE allzu zögerlich und penibel suchenden restdeutschen Experten düpiert und ein Teilergebnis der Endlagersuche in bajuwarisch-fachmännischem Einvernehmen einfach vorweggenommen: Man sei überzeugt, dass Bayern kein geeigneter Standort für ein Atomendlager sei. Basta!

 

St. Florian M. Söder

 

Nun reißt sich kein Bundesland darum, die Castor-Behälter mit den radioaktiven Brennelementen für die nächsten Millionen Jahre in der eigenen Natur zu bunkern – schon gar nicht die stolze bayerische Staatsregierung, die ökologische Juwelen sonst gerne Luxus-Bauherren, kaum genutzten Gewerbeparks oder der Holzwirtschaft opfert, aber um die touristische Attraktivität der Restidylle bangt und den Zorn des Volkes fürchtet, müsste dieses quasi in enger Nachbarschaft mit dem strahlenden Kehricht des vermeintlichen Fortschritts hausen.

 

Zwar hat der Freistaat mit allen anderen Bundesländern gemeinsam die Suche in ganz Deutschland auf den Weg gebracht, doch nimmt er für sich in Anspruch, die Regeln zu ändern, wenn er selbst betroffen sein könnte. Grünen-Chef Robert Habeck wettert, die bayerische Landesregierung wolle sich wegducken und zerstöre so ein Verfahren, dem sie selbst zugestimmt habe.

 

Vielleicht fühlt sich Markus Söder aber auch nur der bayerischen Folklore verpflichtet, in der ein Schutzheiliger angerufen wird, bei Feuersbrunst eher das Nachbargut als das eigene Gehöft abzufackeln: Heiliger Sankt Florian/ Verschon‘ mein Haus/ Zünd and’re an!

 

Sollte Markus Söder wider alle Lippenbekenntnisse bereit sein, zur Kanzlerkandidatur „überredet“ zu werden, ist noch nicht abzusehen, ob ihm solche Haltung in der außerbayerischen Republik eher nützt oder schadet. Der kümmert sich nur um die eigene Sippe, werden die einen murren, während andere hoffen, dass der fränkische Macher die ganze Verursacherrepublik ausspart und den strahlenden Schutt irgendwo in Timbuktu bei den Negern verklappen lässt – wie man es schon immer gemacht hat. 

10/2020 

Dazu auch:

Von Bayern lernen in dieser Rubrik

System Bayern I und II im Archiv von Politik und Abgrund (2013)


 

  


 

Die Gottgleichen

 

Eins haben die Verschwörungstheoretiker mit ihren kruden Schauermärchen immerhin erreicht: Wer sich kritisch mit dem angeblich humanitären Wirken von Bill Gates auseinandersetzt, wird von der Öffentlichkeit in die Ecke gestellt, aus der die üblen Gerüchte über den Corona-Erfinder und Impfdiktator krochen. Und wer Zweifel an der Selbstlosigkeit des „Philanthropen“ George Soros hegt, gerät in den Verdacht, ein Fan des ungarischen Autokraten Viktor Orbán zu sein. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob die Entscheidung über das Schicksal unserer Welt tatsächlich am besten bei ein paar rücksichtslosen Mega-Kapitalisten liegen sollte.

 

Ein Pakt mit dem Teufel für das Gute?

 

Bill Gates gilt mit einem geschätzten Vermögen von 110 Milliarden US-Dollar als einer der drei, vier reichsten Menschen der Welt. Der Gründer und einstige Lenker des beinahe allmächtigen Software-Konzerns Microsoft hat sich zwar aus dem operativen Geschäft zurückgezogen, hält im Hintergrund aber immer noch die Fäden in der Hand. Da klingt es doch gut, wenn der Superreiche ein Drittel seines Geldes in eine Stiftung mit hehren Zielen, die Bill & Melinda Gates Foundation, einbringt und ankündigt, bis zu seinem Lebensende sollten es 95 Prozent sein, damit die Welt ein besserer Ort werde.

 

In der Tat engagiert sich die Stiftung in Bereichen, deren Status quo für Milliarden von Menschen eines Frage des Überlebens ist und in denen die viel beschworene, aber selten anzutreffende internationale Solidarität nottäte. Neben einem auf die USA beschränkten Bildungsprogramm für mittellose Schüler konzentriert sich die Foundation vor allem auf die globale Entwicklung, speziell die Unterstützung der Landwirtschaft in Drittwelt-Regionen wie Afrika oder Südasien, und auf die Bekämpfung sowie Behandlung von epidemischen Krankheiten und die Entwicklung (Aids, Malaria, TBC) bzw. Bereitstellung (Kinderlähmung, Diphterie, Gelbfieber) von Seren. Letztere Aktivitäten machten Gates zur Zielscheibe geistig fanatischer Impfgegner, die ihm ganz im „Brunnenvergifter“-Jargon des Mittelalters unterstellten, Seuchen wie Covid-19 selbst in die Welt gesetzt zu haben, um dann als „Retter der Menschheit“ die Macht an sich zu reißen.

 

Lässt man solchen Verschwörungsunsinn außer Acht, müsste man das Wirken der Stiftung rundum als löblich bezeichnen, und doch bleiben einige bohrende Fragen zur Umsetzung:

 

Wie ist es zu erklären, dass sich die Bill & Melinda Gates Foundation bei der Unterstützung agrarischer Strukturen und der Entwicklung resistenter Getreidesorten ausgerechnet mit Monsanto (heute Bayer) zusammentut, jenem Unternehmen, das für die Pestizid-Vergiftung der Plantagen und eine Politik der Saatgutpatentierung, die allein in Indien Zehntausende von Kleinbauern in den Selbstmord trieb, verantwortlich zeichnet? Ist die moderne Caritas sozusagen einen Bund mit dem Satan zur Rettung der Welt eingegangen?

 

Kann es Zufall sein, das die großzügige Stiftung vor allem die Arbeiten und Vorhaben von Pharmakonzernen, an denen sie Aktien hält, unterstützt? Ist es statthaft, dass sie die Beiträge von 210 Millionen Dollar jährlich zum Budget der WHO (womit sie übrigens mehr spendet als jeder Staat) dazu nutzt, der UN-Organisation vorzuschreiben, welche Programme oder Impfkampagnen mit welchen Produkten sie durchzuführen hat? In diesem Zusammenhang warf der Arzt David McCoy der Foundation vor, weder soziale Gerechtigkeit noch nachhaltige Entwicklung anzustreben und ihr Geld ohne Ethikstandards anzulegen.

 

Nun gehört es nicht gerade zu den Grundbedürfnissen eines Multimilliardärs, Chancengleichheit für alle herzustellen und sein Marktfaible einer ökonomisch und ökologisch sinnvollen Paradigmenwende zu opfern, doch muss er sich schon fragen lassen, ob er nicht gottgleich und in eigener Machtvollkommenheit Aufgaben beackert, denen Staaten nicht gerecht werden können, weil er ihnen die Finanzmittel durch Steuerverkürzung vorenthalten hat. Das gilt nicht nur für Bill Gates, sondern auch für den Großinvestor Warren Buffett, der etliche Milliarden als Co-Spender in die Foundation gesteckt hat, und für den ganzen Club bedenkenloser Raubkapitalisten, die sich jetzt als Philanthropen feiern lassen…

   

Mäzen mit schmutzigen Händen

 

Mit Einlagen von fast 50 Milliarden Dollar ist die Bill & Melinda Gates Foundation die größte private Stiftung der Welt. Auf dem zweiten Rang folgt ein Konglomerat gemeinnütziger Organisationen, das einer der berühmtesten und berüchtigtsten Hedgefonds-Manager, Investoren und Zocker im Spielcasino des internationalen Kapitals zusammengeschweißt hat. Die Open Society Foundations (OSF) wurden von dem gebürtigen Ungarn und heutigen US-Amerikaner George Soros gegründet, um vor allem in Osteuropa die Ideologie des ungezügelten Waren- und Finanzmarkts zu verbreiten, und mit etwa 18 Milliarden Dollar ausstaffiert.

 

In der Ukraine mischten die OSF munter bei der Entstehung der heutigen Kleptokratie mit, wobei sie sich offen für eine pluralistische Gesellschaft einsetzten und eher verdeckt rechte Oligarchen-Milizen mit Geld, Waffen und Ausrüstung versorgten. In Russland wurden die Soros-Stiftungen bereits 2015 vom Innenministerium zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, während die ungarische Regierung die OSF 2018 zwang, ihre Central European University, eine Art akademische Talentschmiede für den kapitalistischen Nachwuchs, nach Wien zu verlegen.

 

Wenn Autokraten wie Putin und Orbán die Soros-Einrichtungen attackieren, können diese doch gar nicht so falsch liegen, sollte man meinen. Tatsächlich klingen einige Forderungen der OSF, etwa die nach der Stärkung von Migrantenrechten, in den Ohren russischer und ungarischer (oder deutscher) Nationalisten hässlich, in denen aufgeklärter Bürger aber eher angenehm. Auch nimmt sich die Förderung des investigativen Journalismus, allerdings nur in systemtreuem Rahmen, auf den ersten Blick sympathisch aus. Doch muss man sich die Biographie des Wohltäters George Soros näher ansehen, um zu erkennen, dass in seinem Handlungsschema dem demokratischen Zuckerbrot stets die Peitsche elitärer Verfügungsgewalt über Finanzinstrumente und Produktionsverhältnisse folgt – und die wird vor allem für das Recht Weniger auf skrupellose Spekulation eingesetzt.

 

In der Wochenzeitung der Freitag schrieb Georg Rammer über Soros: „Mit seinen philanthropischen Aktivitäten in Osteuropa verbindet er geschickt andere Ziele, die als neoliberaler Umbau der Gesellschaft charakterisiert werden können: offene Märkte, Deregulierung, Privatisierung.“ Auch der in New York lehrende Professor Nicolas Guilhot warnt in einer Studie davor, dass philanthropische Stiftungen die Kontrolle über die Sozialwissenschaften anstrebten, um diese zu entpolitisieren und eine kapitalistische Sicht der Modernisierung zu implementieren. Der scheinbare Radikalismus von Soros‘ OSF sei nur ein Mittel zur Verschleierung der kapitalistischen Ordnung, deren grundlegende Regeln niemals wirklich infrage gestellt oder „geöffnet“ würden.

 

Man kann auch einfacher zu Zweifeln am Gutmenschentum des Mäzens Soros gelangen, indem man schlicht die Leichen, die er bei seinem Aufstieg zurückließ, zählt. Im Herbst 1992 wettete Soros mit einigen Kumpanen gegen die britische Währung, in dem er sich etliche Milliarden Pfund lieh und sie sofort gegen fremde Devisen eintauschte. Der Wert des Pfund fiel enorm, worauf sich Soros mit genügend Sterlings eindeckte, um seine nun wesentlich geringer gewordenen Schulden zu begleichen. Innerhalb eines Monats „verdiente“ er mit diesem Hütchenspieler-Trick 1,5 Milliarden Dollar, während britische Banken und Sparer das Nachsehen hatten. Ein Jahr später spekulierte er auf ähnliche Weise gegen die Deutsche Mark.

 

Sein größter Coup aber war 1997 die Wette gegen den thailändischen Baht zusammen mit Komplizen in New York und London. Die Notenbank in Bangkok musste die Währung gegenüber dem Dollar bis auf Ramschniveau abwerten, was etliche andere Länder der Hemisphäre mitriss und die größte Finanzkrise aller Zeiten in Asien auslöste. Die Staaten konnten Gläubiger nicht mehr bedienen, es fehlte ihnen an Mitteln für dringend benötigte Importe von Lebensmitteln, Medikamenten oder Investitionsgütern. Die Wirtschaft halb Asiens wurde um Jahre zurückgeworfen, die Menschen verloren ihre Jobs wie Ersparnisse, und Abertausende von Existenzen wurden vernichtet. Der Philanthrop Soros aber stieg zu einem der reichsten Männer der Welt auf.  

 

Der Herr nahm es, der Herr gab es

 

Wenn die Nabobs dieser Welt Mittel locker machen, um Seuchen auszurotten oder Impfstoffe entwickeln zu lassen, wirkt dies zunächst positiv und altruistisch. Nach und nach aber relativiert sich die allgemeine Freude: Warum sind die Länder von privatem Gönnertum abhängig, obwohl sie doch für solche Aufgaben öffentliche Gesundheitsdienste geschaffen haben? Wieso sind diese wiederum finanziell und personell so dürftig ausgestattet? Nutzen die generösen Spender ihr Engagement nicht vielleicht auch zur Ankurbelung der eigenen Geschäfte? Und last not least: Entziehen sie den Staaten nicht langsam die Kontrolle über die infrastrukturelle Versorgung der Bevölkerungen und zementieren damit eine eigene absolute Zuteilungsmacht?

 

Überlegungen, woher das Geld stammt, das die superreichen Menschenfreunde zum Wohle des Globus zu spendieren gedenken und woher sie die Legitimation ableiten zu entscheiden, womit wo was für die Zukunft getan werden soll, werden allzu oft von gläubiger Bewunderung überlagert. Mögen die Politiker in unseren Ländern zögerlich, unfähig und bisweilen korrupt sein, so haben sie doch irgendwann zumindest ansatzweise ein Mandat von der Gesellschaft erhalten, über die Gestaltung der ökonomischen wie geistigen Rahmenbedingungen zu entscheiden. Oligarchen aber, die auf mehr oder weniger dubiose Weise an ihre materielle Macht gekommen sind, maßen sich selbst die Omnipotenz an, aufgrund der sie nur die wissenschaftliche Expertise, die ihnen in ihren göttlichen Plan passt, akzeptieren und nur jene Bedürfnisse der Bevölkerung, die ihren Geschäftszielen nicht zuwiderlaufen, befriedigen oder zumindest anerkennen müssen.

 

Soros mag ein besonders abstoßendes Beispiel für menschenverachtende Trickserei sein, aber auch Bill Gates kam vor allem durch die Ausbeutung von Mitarbeitern auf allen Kontinenten, an Steuerbetrug grenzende Vermeidung von Abgaben und bedenkenlose Manipulation von Märkten und Ländern zu seinem Reichtum. Die beiden haben ebenso wie Warren Buffett und andere freigiebige Konsorten in allen Industrienationen den Regierungsverantwortlichen und Sozialpolitikern (und ihren Beschäftigten) die Mittel vorenthalten, mit denen sie nun die Welt nach ihrem Gusto modellieren wollen.

 

Es geht bei der Kritik an ihren Handeln nicht um eine Abwertung individueller Mildtätigkeit, es geht um den letzten Rest an Volksbeteiligung, möglicherweise auch um das faktische Ende der bürgerlichen Demokratie. 

09/2020   

Dazu auch:

In Ungnade bei Wiki (2020) und Goldenes Schweigen (2019) im Archiv der Rubrik Medien

 

 

  



Irre Träume der SPD

 

Eine Partei träumt davon, ganz neue Wege einzuschlagen – und kürt einen Mann, der für das ganz Alte steht, zum Leiter der Expedition. So geschehen vor wenigen Tagen, als die SPD den Bundesfinanzminister Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten präsentierte. Mit den Grünen und sogar der Linken wolle man koalieren, tönte die Doppelspitze, aus Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bestehend, doch hatte sie die Rechnung zunächst ohne den Wirt gemacht. Der stramm rechte Thronanwärter Scholz lässt nämlich wenig Begeisterung für einen gesellschaftspolitischen Aufbruch erkennen.

 

Der rechte Mann zur rechten Zeit?

 

„Die Ersten werden die Letzten sein“ heißt es im Matthäus-Evangelium, doch die SPD-Chefstrategen erweisen sich als wenig bibelfest und begehen zum dritten Mal denselben Fehler: Sie nominieren ihren Kanzlerkandidaten viele Monate vor der Bundestagswahl und werden wohl auch diesmal erleben müssen, wie ihm im Wahl-Marathon die Puste ausgeht, so wie sich 2009 der typische Genosse der Bosse, Peer Steinbrück, auf der Strecke durch unqualifizierte Statements selbst demontierte und sich der Kurzzeit-Favorit Martin Schulz 2013 im Endspurt als inkompetent entlarvte.

 

Auch aus einem anderen Grund erscheint die Nominierung des drögen Hanseaten (Spitzname: Scholzomat) verfrüht. Der Finanzminister muss damit rechnen, in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss peinliche Fragen zum Wirecard-Skandal beantworten (oder offenlassen) zu müssen. Da könnte der kurzzeitige Publikumszuspruch, der ihn auf den dritten Platz der Politiker-Hitliste hievte, rasch gegen Null gehen. Zudem ist es merkwürdig, dass jemand jäh zum Hoffnungsträger für den Bund ernannt wird, dem die überwältigende Mehrheit der SPD-Mitglieder bei der Urwahl nicht einmal das Amt des Parteivorsitzenden zugetraut hat.

 

Diejenigen, die über ihn triumphierten, das Tandem Esken und Walter-Borjans, gelten im inhaltlich wenig differenzierten Meinungsspektrum der SPD irgendwie als links. Wenigstens halten sie ein Bündnis mit der Linken nach der Bundestagswahl für „möglich und denkbar“ (Esken). Sie streben eine „rot-rot-grüne“ Koalition an. Wie aber soll das mit dem Wirtschaftsliberalen Olaf Scholz gehen? Tatsächlich begann der gleich nach seiner Kandidatenkür damit, sich und seine Partei gewissenhaft um die winzige Chance auf einen bundesdeutschen Politikwechsel zu reden.

 

Das Geheimnis des Olaf Scholz

 

Olaf Scholz formulierte im Interview einen klaren Anspruch, auch wenn er dabei von sich selbst innerhalb eines Satzes mal im Pluralis Majestatis und dann wieder in der dritten Person sprach: „Wir wollen, dass die nächste Regierung von einem Sozialdemokraten angeführt wird.“ Soweit die Zielsetzung, bleibt nur das Rätsel, mit wessen Unterstützung sich Scholz selbst zum Kanzler krönen will und ob das Postulat in der derzeitigen Konstellation überhaupt realistisch ist…

 

Die SPD dümpelt zurzeit in den Umfragen zwischen 14 und 18 Prozent herum, das ist in etwa die Hälfte der Zustimmung zu den Unionsparteien. Sollte es überhaupt eine Koalitionsoption für die Genossen geben, schieden die nationalkapitalistische AfD und die marktreligiöse FDP von vornherein als Partner aus. Blieben nur die Grünen, bei denen Annalena Baerbock, die eine Hälfte des Führungsduumvirats, mit der Union flirtet und Jürgen Trittin, der einer ominösen Parteilinken zugerechnet wird, plötzlich immer mehr „Schnittmengen“ mit den Schwarzen entdeckt, und die Linkspartei.

 

Aber genau über die lästert Scholz bei jeder Gelegenheit.

Schon die Regierungsfähigkeit der Linkspartei stellt der Kandidat in Frage. Da existierten "noch viele Fragen, da wird es sicherlich viel zu diskutieren geben". Und in BILD, der Leib- und Magenpostille konservativer Politprominenz, erklärte er ebenso kurz wie einfältig: „Ich mag die Linkspartei auch nicht – ich bin nämlich in der SPD.“

 

Wie soll das mit der SPD-Kanzlerschaft gehen, wenn man die wenigen potentiellen Bündnispartner desavouiert? Wie will man selbst im nach diesen Invektiven unwahrscheinlichen Fall einer Einigung mit den derzeit prognostizierten knapp vierzig Prozent Wählerzustimmung für alle drei Parteien zusammen die Regierung stellen? Olaf Scholz verfügt entweder über exklusives Geheimwissen oder er will eine ganz neue Form von Wahlarithmetik implementieren. Oder er kann schlicht nicht rechnen.

 

Übrigens hätte es nach der Bundestagswahl 2005 eine satte Mehrheit für Rot-Rot-Grün gegeben. Doch die heute sich so machtbewusst gebende SPD ließ Frau Merkel den Vortritt und vergab so die letzte Möglichkeit für viele Jahre.

 

Was sich wohl nicht durchsetzen lässt 

 

Sollte es wider Erwarten doch zu Koalitionsverhandlungen zwischen den drei Oppositionsparteien kommen, wäre Olaf Scholz mit Sicherheit der schlechteste aller möglichen SPD-Vertreter. Das Konzernwohlbehagen steht bei ihm an erster Stelle, weshalb er immer wieder betont, dass die nationale Wirtschaft konkurrenzfähig bleiben muss – notfalls auf Kosten des Umwelt- und Klimaschutzes. Er wäre auch nicht der Mann, die eklatanten sozialen Schieflagen im Land wenigstens etwas abzumildern, betont er schließlich regelmäßig, es stünden nicht unbeschränkt Mittel zur Verfügung (was selbstredend nicht für Banken- und Unternehmensrettung gilt) und bejubelte er doch einst als SPD-Generalsekretär Schröders höchst unsoziale Agenda 2010. So ist eine Wiedereinführung der vom damaligen Kanzler der Konzerne ausgesetzten Vermögenssteuer mit Scholz wohl nicht zu machen.

 

Offensiv wird die SPD-Führungsriege, wenn es um die Forderung der Linken, Deutschland solle aus der NATO austreten, geht. Natürlich könnten die Pazifisten das nicht durchsetzen, zumal auch die Grünen bisweilen gern Krieg führen, wie die völkerrechtswidrigen Bundeswehr-Luftschläge unter der Schröder/Fischer-Regierung gegen Serbien belegen. Es gäbe aber keinen Grund, aus dieser Einstellung eine Unvereinbarkeit zu konstruieren, immerhin stellt derzeit die SPD-Schwesterpartei PSOE gemeinsam mit den NATO-Gegnern vom Linksbündnis UP die spanische Regierung. Und über die Existenzberechtigung oder zumindest den beklagenswerten Zustand des Nordatlantikpakts in einer Zeit nachzusinnen, in der sich die Mitgliedsstaaten Griechenland und Türkei gegenseitig mit Krieg drohen, ein US-Präsident die nukleare und konventionelle Rüstungsspirale wieder mit Macht in Gang setzt, alle Verträge zur Deeskalation bricht und die Partner zu unsinnigen Militärausgaben zwingen will, ist eigentlich ein Gebot der Vernunft und darf keinem Denkverbot unterworfen werden.

 

Vielleicht sollte die Linke ihrerseits über die Verlässlichkeit eines möglichen Regierungspartners SPD ins Grübeln geraten. Die Windeseile, mit der die Sozialdemokraten in der Vergangenheit inhaltliche Positionen räumten, sich der Wirtschaft anbiederten und deutsche Großmannssucht adaptierten, ist noch zu gut in Erinnerung. Und während einige Genossen noch mit der Berufung des rechten Flügelmanns Scholz zum Kanzlerkandidaten hadern, eilt diesem bereits ungefragt der vor Kurzem noch als Revoluzzer diffamierte Kevin Kühnert zu Hilfe. Der scheidende Juso-Chef gemahnt fatal an Andrea Nahles, die auch erst links sprang, ehe sie nach kurzem Umweg über die rechte SPD-Führungsriege im politischen Abseits landete. 

08/2020 

Dazu auch:

Olaf der Schreckliche im Archiv von Helden unserer Zeit (2019)   

 

 

  



Honorige Komplizen

 

Spendenskandale, Vorteilsnahme, Bestechlichkeit in der deutschen Politik – das alles war gestern. Der Skandal um die Wirecard AG legt die Vermutung nahe, dass sich Amtsinhaber von mindestens zwei Bundesregierungen aus freien Stücken als „Türöffner“ für ein betrügerisches Unternehmen betätigt haben. Wenn Politiker nicht erst von Lobbyisten „überzeugt“ werden müssen, sondern von sich aus zu Komplizen und somit Partnern einer für Anleger teuren Nullnummer geworden sein sollten (und alles sieht danach aus), würde dies eine neue Qualität der innigen Verflechtung von Staatsrepräsentanz und dubiosen Wirtschaftsinteressen bedeuten.

 

Betrüger als Aufpasser

 

In digitalen Technologien hinkt die Bundesrepublik meilenweit hinter den globalen Marktführern her. Kein Wunder also, wenn die Politik angesichts des Auftritts eines deutschen Konzerns, der den Online-Zahlungsverkehr weltweit zu organisieren verspricht, in Verzückung gerät. Das 1999 gegründete und in Aschheim bei München ansässige Unternehmen Wirecard AG bot Lösungen für den elektronischen Zahlungsverkehr, das Risikomanagement sowie die Herausgabe und Akzeptanz von Kreditkarten an und schien von Erfolg zu Erfolg zu eilen. Ständig wurden Umsatz- und Gewinnsteigerungen gemeldet, die Wirecard-Aktie erreichte ungeahnte Höhen, und schließlich drängte der neue Digital-Crack sogar thyssenkrupp, den Inbegriff des klassischen Kapitalismus, aus dem DAX der dreißig deutschen Spitzenwerte.

 

Doch bald kamen Gerüchte auf, der Konzern schöne seine Bilanzen. Als die Financial Times (FT) Anfang 2019 nach ausgiebigen Recherchen zu dem Schluss gelangte, Wirecard erfinde schlichtweg Umsätze und Kundenkontakte, schlug der Zeitung Empörung von Seiten vieler Anleger und der deutschen Kontrolleure entgegen. Statt die Machenschaften des Konzerns akribisch zu durchleuchten, schützte ihn die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) an der Börse und zeigte den FT-Journalisten an, als solle wieder einmal der Überbringer der schlechten Nachricht bestraft werden. Erst als die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young die Wirecard-Bilanz nicht abnahmen, weil sie vergeblich nach 1,9 Milliarden Euro suchten, die als Aktiva angegeben worden waren, flog das Foulplay auf.

 

Hier wird das Verbrechen zur Posse: Als hätten sie Ostereier versteckt und könnten sie nun selbst nicht mehr finden, legte die Unternehmensspitze eine Fährte zu philippinischen Banken, in deren Obhut das Geld sich angeblich befand. Nach Dementis aus dem Südpazifik brach das Lügengebäude in sich zusammen, entpuppte sich die Summe als pure Phantasie, meldete Wirecard Insolvenz an, wurden der Chef Markus Braun und andere Mitarbeiter wegen des Verdachts auf Vortäuschung von Einnahmen und Marktmanipulation verhaftet, floh der Manager und mutmaßliche Drahtzieher Jan Marsalek, ein Österreicher mit besten Geheimdienstkontakten, nach Weißrussland.

 

Wirecard hatte also mit nicht vorhandenem Vermögen geprahlt, um kreditwürdig zu bleiben, Aktienkäufer anzulocken und – sicherlich auch – um Politikern, die nur allzu gern an ein digitales Wirtschaftswunder made in Germany glauben wollten, zu imponieren. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die Betrüger die Überprüfung der Kreditwürdigkeit von Kunden sowie ein Programm zur Betrugserkennung als Dienstleistungen anboten.

 

Willige Helfer mit großen Namen

 

Der Fall Wirecard liefert ein wahres Lehrstück in puncto gegenseitiger Durchdringung von politischen und privatwirtschaftlichen Machenschaften, die Verquickung von Regierungsnaivität und krimineller Hybris erreicht hier ein neues Niveau. Man stellte sich die Einflussnahme der Konzerne auf Legislative und Exekutive bislang in etwa so vor: Aalglatte Lobbyisten lümmeln in den Vorzimmern von Parlamentariern und Ministern herum, bis sie im persönlichen Gespräch das Staatshandeln im Sinne ihrer Auftraggeber manipuliert haben – nach einigen Offerten und Gefälligkeiten für die Volksvertreter und deren Parteien, versteht sich.

 

Diesmal aber spielt der klassische Lobbyismus eine untergeordnete Rolle, die Minister sowie Staatssekretäre scheinen aus eigenem Antrieb zu handeln bzw. wegzuschauen. Und die Liste der Involvierten liest sich wie ein Who̓ s Who deutscher Regierungspolitik. Als 2015 die ersten Unregelmäßigkeiten bei Wirecard auffielen, war noch Wolfgang Schäuble Finanzminister. Der Mann, der sechs Jahre lang zuließ, dass Konzerne den Staat mit Cum-Ex-Geschäften um etliche Milliarden brachten, indem sie sich Vorsteuern zurückerstatten ließen, die sie gar nicht entrichtet hatten, war wohl außerstande, die Praktiken der modernen FinTech-Unternehmen zu durchschauen. Also holte er einen forschen Polit-Karrieristen mit besten Kontakten zur Wirtschaft als Staatssekretär in sein Ministerium. Jens Spahn aber konnte nichts Anrüchiges beim Hoffnungsträger Wirecard finden.

 

Als vor eineinhalb Jahren der Fisch mächtig vom Kopf her zu stinken anfing, war Olaf Scholz Finanzminister in Berlin. Die BaFin ist der Aufsicht seines Ressorts unterstellt, und sein Staatssekretär Jörg Kukies leitet ihren Verwaltungsrat. Im September und im November 2019 traf der sich mit Wirecard-Chef Markus Braun zu Gesprächen, über deren Inhalte das Finanzministerium striktes Stillschweigen bewahrt. Kukies will Scholz über die Situation des Konzerns auf dem Laufenden gehalten haben; Tatsache ist, dass beide den bösen Dingen ihren Lauf ließen, während die BaFin alle Energie in den Kampf gegen den Enthüllungsjournalismus der FT investierte.

 

Ähnlich verhielt sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier. In seinen Geschäftsbereich fällt die Aufsicht über jene Wirtschaftsprüfer, die bis 2019 in den Wirecard-Bilanzen keinerlei Fehler entdecken konnten.

 

Als Wirecard beschloss, den chinesischen Markt zu erobern, traten dann doch Lobbyisten auf den Plan, allerdings von edlem Geblüt und mit politischem Stallgeruch: Der überführte Hochstapler im Geiste, Karl-Theodor zu Guttenberg, und Söders bayerische Staatsministerin Dorothee Bär drängten Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor ihrer China-Reise im September 2019, sich in Peking für Wirecard einzusetzen. Diese tat das bravourös, obwohl das Finanzministerium sie immerhin auf die „öffentlich bekannten Vorwürfe gegen das Unternehmen“, die u. a. Geldwäsche und Marktmanipulation beinhalteten, hinwies. Olaf Scholz selbst scheint den Warnungen seiner Beamten nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Gemeinsam mit der Kanzlerin legte er sich für Wirecard ins Zeug, und der Konzern durfte die chinesische Firma AllScore Payment Services zu 80 Prozent übernehmen.

 

Hier bewahrheitete sich wieder einmal die Binsenweisheit, der zufolge sich Gleich zu Gleich gesellt: AllScore war den chinesischen Behörden wegen der Zahlungsabwicklung im illegalen Glücksspiel aufgefallen und hatte mit 9,3 Millionen Dollar die bislang höchste Strafe in dieser Branche zahlen müssen… 

   

Hauptsache Kohle für die Wirtschaft

 

Bundes- sowie Landesminister und allen voran die Kanzlerin im Einsatz als Cheflobbyisten für einen Gangster-Konzern? In der Tat lassen sich die äußeren Umstände der Wirecard-Affäre kaum an Skurrilität überbieten, die Motive und das Kalkül indes folgen altbekannten Mustern. Egal, wie krumm die Wege der Wirtschaft sind, wie schädlich, gefährlich oder unsinnig eine Produktion oder Dienstleistung sein mag – die offizielle deutsche Politik wird als treuer Vasall schützen, helfen und bezahlen, um noch dem krudesten Unternehmen zu Weltgeltung zu verhelfen.

 

Um Schaden von der auf SUVs und Highspeed-Wagen spezialisierten Automobil-Industrie abzuwenden, schwächten deutsche Abgeordnete in Brüssel strengere EU-Emissionsnormen ab, weigert sich ein Verkehrsminister, endlich ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen, verstößt eine bayerische Staatsregierung fortlaufend gegen geltendes Recht, um Dreckschleudern freie Fahrt in arg belasteten Großstädten zu ermöglichen. Während tolle Klimaziele verkündet werden und der Kohleausstieg beschlossene Sache ist, müssen immer noch Wälder und Menschen dem Tagesabbau weichen, damit RWE ein letztes Mal Profit aus dem braunen Gold pressen kann. Jeder neue Bundeswirtschaftsminister verkündet strengere Waffenexportregeln, nur um anschließend noch mehr Rüstungsausfuhren in Kriegsgebiete zu erlauben. Der Staat hält die marode Lufthansa mit einer gigantischen Finanzspritze am Leben, verzichtet dabei aber großzügig darauf, Einfluss auf die Unternehmenspolitik im Sinne der Umwelt und der Beschäftigten zu nehmen.

 

Die Politik scheint sich in der Rolle des unmündigen, aber fleißigen Assistenten der großen Konzerne wohlzufühlen, schließlich belegen die Karrieren diverser Partei-Soldaten, dass auf dem Weg oder am Ende desselben dicke Belohnungen durch die Gönner in den Chefetagen winken. Ein solches System kann auch weitgehend auf Kontrolle verzichten – wenn nicht gerade die Ordnung im unteren Erwerbssegment aufrechterhalten werden soll. So interessieren sich die Finanzbehörden brennend für die Umsätze von Eisdielen und die Trinkgeldeinnahmen von Friseuren, für die Aufklärung von Steuerbetrug in Milliardenhöhe fehlen da leider Zeit und Personal. Und wenn sich ein Hype-Player wie Wirecard durch dreiste Lügen Vorteile verschafft, versagen sowohl die Prüfer von der BaFin als auch die der Frankfurter Börse, deren Ignoranz einer kriminellen Bande das Renommee eines DAX-Konzerns verschaffte.

 

Auch wenn es – wie von der Opposition gefordert – zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss kommen sollte, werden allenfalls individuelle Tat- und Schuldanteile der diversen Mandatsträger festgestellt werden. Dass die Regierungspolitik längst zur Kumpanei mit einer ökonomischen Elite, die ein schrankenloses Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste zur Zementierung der eigenen Machtstellung benötigt, verkommen ist, wird wohl nicht einmal angedeutet werden. Nachhaltigkeit, Transparenz oder Klimaschutz sind beliebte Worthülsen im Munde von Kabinettsmitgliedern, verbale Placebos für beunruhigte Bürger. Ansonsten werden wir bald registrieren dürfen, dass die Zeit nach Corona der trüben Periode vor Corona fatal ähnelt. 

08/2020 

Dazu auch:

Hiwis der Konzerne in dieser Rubrik

Lobbykratie BRD im Archiv dieser Rubrik (2013)   

  




Von Bayern lernen?

 

Des Bundesbürgers liebster Krisenmoderator hat gesprochen, und zwar auf Twitter. Während sich das Wahlvolk den Kopf darüber zerbricht, ob Markus Söder nun als Kanzlerkandidat antritt oder nicht, preist dieser die CSU-Domäne Bayern als leuchtendes Vorbild und lobt damit vor allem sich selbst und die Politik seiner Partei. Er darf sich dabei weniger auf Fakten als auf die Gewogenheit der Medien und die Vergesslichkeit der Adressaten verlassen.

 

Will er - oder traut er sich nicht?

 

Kein Politiker in Deutschland versteht es derzeit so gut wie Markus Söder, eigene Fehler und Versäumnisse als Erfolge und Belege für landesväterliche Umsicht zu kaschieren. Als die Warnungen vor einem Corona-Ausbruch schon nicht mehr zu überhören waren, gab er am 26. Februar anlässlich des Politischen Aschermittwochs noch die üblichen Plattitüden vor Tausenden bierseliger Fans in Passau von sich. Den österreichischen Lockdown schloss er für Bayern zunächst aus, um ihn zwei Wochen später doch anzuordnen. Vermutlich weil nicht vorgesorgt worden war, wiederholte sich dieses Zaudern bei der Maskenpflicht, die er erst ablehnte, um dann wieder nach zwei Wochen dem Beispiel Austrias  zu folgen und die Vermummung anzuordnen. Die Todesraten, gemessen an der Zahl der Infizierten, sind in Bayern höher als in den meisten anderen Bundesländern (was ein schlechtes Licht auf die medizinische Versorgung wirft), und bundesweit hervorstechende Hotspots wie Tirschenreuth, Coburg oder Rosenheim bekamen die Behörden lange nicht in den Griff.

 

Auch andere Verantwortliche verloren durch Ignoranz viel Zeit, aber keiner, mal von Jens Spahn abgesehen, war später so erfolgreich damit, die eigene Rolle fulminant schönzureden. Und jetzt, da drei Abgehalfterte aus der CDU um die Kanzlerkandidatur der Union buhlen, klingen Söders apodiktischen Worte, er könne sich nur einen Kandidaten vorstellen, der sich in der Corona-Krise bewährt habe, wie eine Bewerbung. Denn aus seiner Sicht hat sich vor allem einer bewährt: Markus Söder.

 

Wenn Friedrich Merz dann erklärt, er glaube nicht, dass der bayerische Ministerpräsident seinen Hut in den Ring werfe, weil der ja mehrfach gesagt habe, sein Platz sei im Freistaat, klingt das wie das Pfeifen im Wald. Schließlich hat sich Söder stets äußerst flexibel – böse Zungen würden von wetterwendisch sprechen – gezeigt: Als die Niederlage bei einem Volksbegehren drohte, wandelte er sich quasi über Nacht vom Agrarindustrie-Förderer zum obersten Bienenschützer. Die Alpennatur am Riedberger Horn wollte er so lange im Dienste des Kommerzes ruinieren, bis der Widerstand zu groß wurde und er in die Larve des Naturbewahrers schlüpfte. Überhaupt nimmt ihm die Metamorphose zum grünen Markus niemand ab, der die Karriere des begabten Opportunisten und Machtmenschen aufmerksam verfolgt hat.

 

Ob Söder selbst antritt oder sich nur als Kanzlermacher profilieren will, weiß im Augenblick nur er allein. Er hat auch in der Vergangenheit gekuscht, wenn er eine Niederlage befürchtete – als es etwa um OB-Posten in Nürnberg ging – und fürchtet vielleicht auch die Fallstricke, die das CDU-Establishment für ihn bereithält, für alle Fälle aber inszeniert er sich schon mal als Superman und sein Bundesland als hehres Wesen, an dem Restdeutschland genesen könnte. Nicht wenige argwöhnen, Söder würde sich gern als Retter der Union zur Thronfolge in Berlin bitten lassen.

 

Die kollektive Amnesie

 

In Bayern hat die allmächtige CSU eine Kultur des Vergebens und Vergessens installiert, die vor allem ihren Amtsträgern zugutekommt. Davon profitierten in den letzten siebzig Jahren nicht nur korrupte oder trunksüchtige Kommunalpolitiker, sondern auch Regierungsmitglieder und sogar Ministerpräsidenten.

 

Man gedenke nur – wenn man nicht der kollektiven CSU-Amnesie anheimgefallen ist – des bayerischen Champions Franz Josef Strauß, dessen Konterfei Söders Kinderzimmerwände zierte. Von Verbrechen gegen die Waffenexportgesetze (illegale Ausfuhren nach Israel) über Vorteilsnahme (Fibag-Affäre) bis hin zu den Skandalen um den HS-30-Schützenpanzer und den Starfighter ließ der spätere Ministerpräsident kaum ein nach Amtsmissbrauch und Bestechlichkeit duftendes Fettnäpfchen aus. Kongenialer Partner war ihm dabei Friedrich Zimmermann, der des Meineids überführt wurde und dennoch später Bundesinnenminister werden durfte.

 

Max Streibl, Gerold Tandler, Christine Haderthauer und etliche andere waren in bizarre Aktivitäten zum Zweck der Vermögensmehrung verstrickt. Bedauerlicherweise gönnte ihnen der sonst so milde Resozialisierungsverein CSU kein politisches Comeback – ganz im Gegensatz zu Straußtochter Monika Hohlmeier, die einst Parteifreunde erpressen wollte und heute im EU-Parlament sitzt, und vor allem zu Otto Wiesheu. Der fuhr einst im Vollsuff einen polnischen Kleinwagenlenker zu Tode und bekleidete dann, nach einer gewissen Anstandszeit, das Amt des bayerischen Ministers für Wirtschaft und Verkehr.

 

So viel Dreck am Stecken hat Markus Söder nicht, doch bewies auch er bereits, dass er es mit dem Gesetz nicht so genau nimmt: Vor drei Jahren wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Staatsregierung an, Diesel-Fahrverbote für München durchzusetzen. Diese weigerte sich (zunächst unter Seehofer, dann unter Söder), die Entscheidung umzusetzen. Das Verwaltungsgericht München verurteilte daraufhin den Freistaat zu einem Zwangsgeld von 4000 Euro. Der bayerische Steuerzahler musste also für die Rechtsmissachtung durch seine Regierung und deren hohe Anwaltskosten aufkommen.

 

Ungemach droht auch von der EU: Bayern verstößt (wie auch andere Bundesländer) gegen die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen. Weil dem Freistaat Strafzahlungen von 100.000 Euro am Tag ins Haus stehen, ließ Söder jetzt ein paar Flecken als Naturschutzgebiete ausweisen, nachdem er die Planung des längst überfälligen dritten Nationalparks schon bei Amtsantritt vom Tisch gefegt hatte.

 

Bei näherem Hinsehen erkennt man rasch, wie dünn die grüne Schminke auf Söders tiefschwarzes wahres Antlitz aufgetragen ist. Vollends abstrus wird es, wenn er „eine Wende zu mehr Agrar-Ökologie“ fordert, und von einem „bayerischen Weg“ (mit kleineren Höfen statt Landwirtschaftsfabriken), dem Deutschland tunlichst folgen solle, fabuliert. Dann fragt man sich, ob der Ministerpräsident sein eigenes Land kennt. Eine kleine Tour durch die gigantischen niederbayerischen Anlagen zur Schweine- und Geflügelqual würde ihm sicherlich neue Erkenntnisse verschaffen.

      

Land der Metzger

 

Tatsächlich besaß schon einmal ein bayerischer Konzern als Vorbildcharakter für die Fleischbarone und Agrar-Multis, wie wir sie heute kennen. Franz Josef Strauß, der einer Metzgerfamilie entstammte, war mit den März-Brüdern in Rosenheim eng befreundet. Er stellte für die Großschlachter und Viehhändler lukrative Beziehungen, etwa in die DDR, nach Frankreich, Griechenland und sogar Afrika her. Etienne Eyadéma, grausamer Diktator von Togo und Strauß-Spezl, lud die geschäftstüchtigen Brüder ein, eine Fleischfabrik und eine Brauerei in seinem Land zu errichten. So wurden die Untertanen, die es sich leisten konnten, mit Leberkäse und Bier à la Bavaria bekannt. Das klingt doch angenehmer als die ständigen Klagen über die Exporte von Schlachtabfällen nach Westafrika heutzutage, durch die einheimische Produzenten ruiniert werden. Die Folgen der März-Investition dürften damals für die Togolesen allerdings die gleichen gewesen sein.

 

Die März-Brüder kauften sich nach und nach ein wahres Agrar- und Bier-Imperium zusammen, exportierten – noch völlig unbehelligt von lästigen Tierwohl-Skrupeln – Vieh in ferne Länder und gingen schließlich pleite, als nach der Wiedervereinigung der DDR-Handel wegbrach. Doch im „Vorbildland“ Bayern gab und gibt es auch weiterhin genügend Massentierhaltung und Monokultur. Erst kürzlich wurde die Öffentlichkeit wieder daran erinnert, als in einer Straubinger Hähnchenschlachterei mehrere der 1000 Beschäftigten positiv auf Covid-19 getestet wurden – Wochen vor Gütersloh. Und schon vor Corona erregte die mit Salmonellen verseuchte Ware von Bayern-Ei Aufmerksamkeit und Ekel im Freistaat. Immer wieder sickert durch, dass es zu wenige Veterinäre für die Kontrolle der Betriebe gibt und das Gerücht geht um, dass einige von der Zunft gegen eine kleine Gefälligkeit auch mal ein Auge zudrückten.

 

Am bayerischen Wesen genesen zu wollen, hieße auch, immer mehr Freiflächen zu versiegeln, unnütze Gewerbegebiete auszuweisen, den natürlichen Lebensraum einzuengen oder zu bebauen, die Großbauern und die Massentierhaltung ordentlich zu subventionieren. Und schon immer waren die Bajuwaren wahre Meister der Flurbereinigung, durch die kleine Felder zu größeren Einheiten zusammengefügt und landschaftliche Hindernisse beseitigt werden sollten.

 

Natur muss sich lohnen

 

Nach Herzenslust wurden noch vor kurzer Zeit störende Vogelhecken eingestampft, mäandernde Bachläufe zu Abflussrinnen begradigt und Schmetterlingswiesen untergepflügt. Was im Kleinen geht, müsste auch bei der Donau klappen, dachte sich die Staatsregierung einst und plante zur Freude der Kanal-Lobby, den Fluss zum Highway für die Binnenschifffahrt zu kanalisieren. Erst 2013 knickte sie unter dem Druck der Bürger sowie des Bundestags ein und entschied sich für einen sanften Ausbau des Stroms. Es wäre ohnehin fraglich gewesen, ob sich zu den paar Frachtkähnen auf dem Rhein-Main-Donaukanal noch weitere Boote gesellt hätten, dafür hätte man aber nach dem zwangsläufigen Verschwinden der Auwälder und Sumpfwiesen mit regelmäßigen Überschwemmungen rechnen müssen.

  

Dass sich auch für Söder die Natur in erster Linie kapitalisieren muss, unterstrich er, als er das Riedberger Horn im Allgäu, als europäisches Schutzgebiet der höchsten Kategorie ausgewiesen, mit einer Skischaukel für den Massentourismus öffnen wollte und dies so begründete: „Der Alpenraum ist kein Denkmal, ist keine Verbotszone für Bürger.“ So ähnlich umschreibt Brasiliens Bolsonaro die Invasion der Großagrarier und Prospektoren mit anschließender Brandrodung in den Regenwäldern Amazoniens.

 

Obgleich sich der Freistaat modern und weltoffen gibt, Söder nicht müde wird, ihn als Hort der Digitalisierung und Zukunftstechnologien zu bewerben, beschleicht einen doch häufig das Gefühl, Vorrechte aus der Feudalzeit hätten sich erhalten. Die Privilegien und Interessen der Großkopferten, des Erb- wie Geldadels, der Münchner Schickeria sowie der alten Seilschaften der CSU (in manchen Großstädten auch noch der SPD) zählen weit mehr als Umweltbelange. So durfte etwa Manuel Neuer, Torwart des FC Bayern, eine protzige Villa mitten in ein Naturschutzgebiet über dem Tegernsee stellen.

 

Inzwischen steht laut BR die Windkraft in Bayern vor dem Aus. Wegen der maßlos übertriebenden 10H-Abstandsregelung werden im Freistaat keine Windräder mehr produziert. Selbst etliche Anlagen, die bereits genehmigt waren, dürfen nicht fertiggebaut und in Betrieb genommen werden. So viel zum Traum von einer dezentralen Versorgung mit erneuerbarer Energie…

 

Markus Söder aber erklärt bei Anne Will in der ARD allen Ernstes, für Bayern sei die Windkraft nicht so wichtig, weil dies Land zu hügelig sei und es in den Lüften nicht stark genug blase. Er sollte sich mal in die bretterflachen Eiszeitebenen des Regierungsbezirks Schwaben oder auf die windgeplagten Felder seiner Heimat Mittelfranken begeben. 

 

Jahrzehnte lang war die Wiederaufforstung im Freistaat relativ erfolgreich gewesen. Öde Kiefern-Reihen wichen allmählich einem widerstandsfähigeren und ökologisch wertvolleren Mischwald. Dann plante die CSU, die im Staatsbesitz befindlichen 800.000 Hektar zu privatisieren. So weit kam es nicht ganz, doch 2004 setzte der damalige Ministerpräsident Stoiber eine Forstverwaltungsreform durch, die zu einem großen Teil von einem Parteifreund, dem Waldbesitzer Sebastian Freiherr von Rotenhan, diktiert worden war. Die Staatsforsten wurden künftig privatrechtlich bewirtschaftet, die Einheitsforstämter wurden aufgelöst respektive den Landwirtschaftsämtern angegliedert, wobei an die tausend Stellen wegfielen. Ein vom Bund für Naturschutz initiiertes Volksbegehren scheiterte nur knapp an der Zehn-Prozent-Hürde. Seither hört man immer wieder von großflächigem Holzeinschlag in altem Waldbestand. 

 

Der verhängnisvolle Einfluss der Holzwirtschaft in Bayern zeigt sich auch am Beispiel Steigerwald. Das fränkische Mittelgebirge gilt als fünftwichtigstes Laubwaldterrain der Bundesrepublik und als eines der größten zusammenhängenden Buchengebiete in Mitteleuropa. Mit Hilfe Söders und seiner CSU verhinderten Wald- und Sägewerksbesitzer die Ausweisung des Steigerwaldes als dritten Nationalpark im Freistaat.

   

Wenn man alles, was in Bayern bezüglich der Landwirtschaft, der Tierhaltung und Lebensmittelproduktion sowie des Naturschutzes schiefgelaufen ist, Revue passieren lässt, könnte man durchaus zu dem Schluss gelangen, der Freistaat habe eine Vorbildfunktion – für die Pioniere des Raubbaus, der Ausbeutung und der Profitmaximierung wenn es um Tierhaltung, Agrar- und Forstwirtschaft geht. Angesichts der von kaum einer medialen Kritik getrübten Akzeptanz, die Markus Söder erfährt, darf man vermuten, dass Fakten und Analysen vergessen sind und die bajuwarische Amnesie bald die ganze Bundesrepublik einhüllt. Und dann werden die Bürger den Clou verpassen: Bayern ist nämlich ein Beispiel dafür, wie man mit Umwelt und Lebensmittelversorgung besser nicht umgehen sollte. 

07/2020        

Dazu auch:

Teuer macht gut in der Rubrik Medien

Lumpaci & Vagabundus, Archiv von Helden unserer Zeit (2016)

System Bayern I und II im Archiv dieser Rubrik (2013) 

  



Hiwis der Konzerne?

 

In den Regierungsberatungen über das Konjunkturprogramm, das der deutschen Wirtschaft in und nach der Corona-Krise wieder aufhelfen soll, ließ die SPD wenigstens in einem Punkt einen Hauch von Weitsicht und Umweltbewusstsein erkennen. Es wird (vorerst) keine Abwrackprämie geben, damit die Automobilkonzerne ihre auf Halde parkenden Benzin- und Diesel-Verbrenner mit Staatshilfe günstig verkaufen können. Lob kommt von Naturschützern und rational denkenden Bürgern, heftige Kritik hingegen von der größten Einzelgewerkschaft, der IG Metall, die sich doch einst als progressive Speerspitze gegen den gierigen Kapitalismus verstand. 

 

Rüge für ein bisschen SPD-Widerstand

 

Die Bundesregierung hat also ein riesiges Konjunkturpaket geschnürt, das 130 Milliarden Euro (oder über 160 Milliarden, wie manche Ökonomen rechnen) schwer sein soll. Das Kabinett war bemüht, möglichst vielen Begehren entgegenzukommen, und manche Förderung mag auch ganz sinnvoll sein. Dass die Kommunen (recht sparsam) bedacht werden, ist der Tatsache geschuldet, dass sie am Ende der administrativen Befehlskette stehen, dafür aber unmittelbar und kostenintensiv mit den Auswirkungen der Corona-Krise konfrontiert werden. Ob sich die Senkung der Mehrwertsteuer in den Preisen widerspiegeln und damit die Verbraucher finanziell entlasten wird, darf ernsthaft bezweifelt werden. Und die Hilfen für die Wirtschaft, handle es sich um niedrigere Steuern für Unternehmen,  Kaufprämien für E-Autos oder Milliarden für die klamme Lufthansa, gehen an die Arbeitgeber, ohne dass diese Beschäftigungsgarantien geben, umweltschonend produzieren oder eine Tarifbindung beherzigen müssten - für die Arbeitnehmer bleiben befristetes Kurzarbeitergeld und warme Worte.

 

Dennoch zeigen sich fast alle zufrieden, sogar Markus Söder, obwohl doch seinem heldenhaften Einsatz für die Freunde von BMW und Audi kein Erfolg beschieden war und die beiden bayerischen Autohersteller nun ihre neuen Benziner und Diesel-Fossile nach Rücknahme der älteren Dreckschleudern nicht mit Zusatzprofit per Subvention an den Käufer bringen konnten. Zu verdanken war dieser eine kleine Sieg der Vernunft, nämlich nur den Neukauf von E-Autos zu subventionieren, vor allem dem SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans. Sinnvoller wäre es gewesen, den ÖPNV weit höher bezuschussen und den motorisierten Individualverkehr unattraktiver zu machen. Doch einige, darunter selbstredend die betroffenen Konzerne, sind auch mit der Förderung light nicht einverstanden, die schärfste Kritik aber kommt ausgerechnet aus Ecken, die für sozialdemokratische Chefs einst Wohlfühlzonen gewesen waren.

 

Dass Walter-Borjans Parteigenosse Stephan Weil die schnöde Missachtung der Wünsche großer Autobauer ablehnt, war zu erwarten, amtiert er doch als Ministerpräsident von Niedersachsen und VW. Dass aber der Vorsitzende und etliche Betriebsräte der IG Metall ihre einstigen Lieblingsgenossen regelrecht als Feinde der Arbeiterklasse abstempelten, war doch zumindest vom Ton her ungewöhnlich. Gewerkschaftschef Jörg Hofmann sprach, sekundiert vom Daimler-Betriebsrat, von einem „massiven Vertrauensverlust“ in der Autobranche gegenüber der Sozialdemokratie. MAN-Betriebsratsvorsitzender Saki Stimoniaris setzte noch einen drauf und stellte die Suggestivfrage: „Die Parteispitze der SPD muss sich hinterfragen, vertritt sie tatsächlich noch die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“

 

Ist Denken Gewerkschaftsaufgabe?

 

Blindes Vertrauen scheinen die Vertreter des Automobilproletariats eher in Konzernleitungen zu setzen, die Käufer und Öffentlichkeit gerichtsnotorisch betrogen sowie die Umwelt und damit die Gesundheit der Bürger wissentlich geschädigt haben und auch ohne Staatshilfen derzeit noch 180 Milliarden Euro an Rücklagen horten.

Von der IG Metall wird stets das Totschlagsargument „Arbeitsplatzverlust“ in die Debatte geworfen, dabei müssten ihre Vordenker doch wissen, dass durch „Verschlankungen“, Einsparungen, „Synergie-Effekte“, wie sie die Anleger an der Börse lieben, weit mehr Beschäftigte vom Jobverlust bedroht sind als durch das Ausbleiben einer milden Gabe vom Bund. Aber manche Gewerkschaftsführer fühlen sich in Mitbestimmungsgremien, Aufsichtsräten und Kungelrunden auf Führungsebene mittlerweile so wohl, dass sie die kapitalistische Scheinlogik offenbar verinnerlicht haben.

 

Es gab Zeiten, in denen die IG Metall eine Kraft sein wollte, die eine künftig gerechtere und humanere Gesellschaft mitgestaltet. So versuchten einst die Betriebsräte der Rüstungsfirmen, ihren Konzernchefs eine Umstellung auf zivile Produktion schmackhaft zu machen, ganz nach der Zielvorgabe des DGB „Frieden, internationale Solidarität und Umweltschutz“. Inzwischen sitzen die Betriebsräte der IG Metall in Arbeitskreisen zusammen mit Bundeswehroffizieren und Lobbyisten der Waffenkonzerne, debattieren mit ihnen die weltweiten Einsatzmöglichkeiten tödlicher deutscher Qualitätsprodukte und wettern gegen die (nicht sehr ernst gemeinten) Exportbeschränkungen durch die Bundesregierung.

 

Es ist sicherlich lobenswert, den pekuniären Status quo der Arbeitnehmer durch zähe Lohnverhandlungen erhalten zu helfen, aber das ist nur die Pflicht ihrer Vertreter in einem engen systemischen Rahmen. Es würde aber den Gewerkschaften gut anstehen, unheilvolle gesellschaftliche Entwicklungen zu bekämpfen, die Allmacht von Konzernen zu attackieren und den Sinn der jeweiligen Produktion zu hinterfragen. Doch alternatives Denken und Zweifel an der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung sehen die Organisationen unter dem DGB-Dach meist als inopportun an, sie begnügen sich damit, das materiell Beste für die Beschäftigten der Metiers, in denen sie tätig sind, „herauszuholen“, betreiben also im weiteren Sinn kurzfristige Klientelpolitik, nicht perspektivische Vorsorge.

 

Arbeitsplätze retten, Welt versauen

 

Während die IG Metall am liebsten SUVs, deren Verkauf durch Steuergelder lanciert wird, ohne Rücksicht auf die Umwelt in Massen produzieren ließe, kämpft die IG Bergbau, Chemie, Energie um jedes Braun- und Steinkohlebergwerk, ganz so, als solle die Welt an fossilen Brennstoffen und Landschaftsfraß genesen. Ideen, andere Stellen für infrastrukturelle Nachhaltigkeit oder Naturschutz zu schaffen, haben keinen Platz in der gewerkschaftlichen Agenda. Das geht so weit, dass selbst Arbeitsplätze, die für ihre Inhaber und die unmittelbaren Anrainer höchst gesundheitsschädlich sind, erhalten werden sollen. Überspitzt gesagt: Es wird gemeinsam mit den Energieversorgern um jede Kohlenstaubschleuder gerungen, um nicht über neue und dezentrale Energieversorgungsmodelle nachdenken zu müssen. Aus ähnlichen Gründen scheint die IG Metall auch jede kriegsähnliche Auseinandersetzung weitab von Deutschland zu goutieren, weil diese den Waffenexport sichert.

 

Und wenn die eigene Klientel in die Kritik gerät bzw. Nachdenkliches über gewisse Fehlhaltungen geäußert wird, wie unlängst von Walter-Borjans Kollegin Saskia Esken, dann prüft die zuständige Gewerkschaft der Polizei (GdP) nicht weiter, ob der Äußerung ein Fünkchen Wahrheit zugrunde liegt, sondern konstatiert sogleich einen „Schlag ins Gesicht“ der Beamten. Gemeint sind die deutschen Ordnungshüter, unter denen sich laut Esken (wie auch im Rest der Gesellschaft) nicht wenige Rassisten tummeln sollen. Dies wird kategorisch abgestritten, obwohl etliche Demonstranten oder Journalisten schon Augen- und Ohrenzeugen von (vereinzelter?) Gewalttätigkeit, Sympathie mit Rechtsradikalen oder Ausländerfeindlichkeit seitens polizeilicher Einsatzkräfte wurden. Die GdP im DGB leugnet den Wahrheitsgehalt solcher Zeugenaussagen und findet sich dabei unversehens in einer Law-and-Order-Front mit der AfD wieder.

 

Es geht hier nicht um DGB-Bashing, wir benötigen starke Gewerkschaften, wie ich als Mitglied seit mehreren Jahrzehnten wohl weiß. Was wir vor allem bräuchten, wären aber aber innovativ denkende und systemkritische Arbeitnehmerorganisationen für eine substantielle Veränderung nach Corona, nicht Hilfskräfte für die (zu erwartende) Restauration des bedenkenlosen Turbo-Kapitalismus. 

06/2020 

Dazu auch:

DGB am Scheideweg im Archiv dieser Rubrik (2018)

 

 

  



Rettet Panama!

 

Wahrlich, wir leben in der besten aller möglichen Wirtschaftswelten: Angebot und Nachfrage prägen pro forma im sinnfreien Raum den Markt, dessen Wandlungen de facto von Banken und Investoren, die sich in lobenswertem Eigeninteresse über jede Ethik oder Moral hinwegsetzen, bestimmt werden. Sollte dieses elaborierte Hamsterrad (mit dem Gros der Gesellschaft als Besatzung), das sich Wirtschaftskreislauf nennt, stehenbleiben wie jetzt in der Corona-Krise, springt der Staat mit milden Gaben ein, bei deren Verteilung genau darauf geachtet wird, dass Inhabern von Briefkastenfirmen und anderen Steuergeflüchteten kein Schaden entsteht und alles beim Alten bleibt. Letzteren sind auch die Erdkundelehrer dankbar; wie könnten sie sonst das Interesse ihrer Schüler für exotische Regionen wie Mittelamerika oder die Karibik-Inseln wecken.

 

Hauptsache systemrelevant

 

Der emsige Kapitalist strebt bei jeder Unternehmung danach, ohne Rücksicht auf Verluste oder kollaterale Personenschäden höchstmögliche Gewinne zu erzielen und diese anschließend weiter zu vermehren. Wie und womit, will er (bzw. ein Konzern, eine Aktiengesellschaft, eine Bank) tunlichst in Eigenregie entscheiden, wobei ihm der Staat, der bereits die soziale und gesetzliche Infrastruktur für Profitmaximierung zur Verfügung stellt, nicht dreinzureden hat.

 

Allerdings fällt der Staat mit seinen administrativen und kommunalen Untergliederungen auf andere Weise lästig, auch wenn er zumindest hierzulande bemüht ist, sich diskret und kulant zu verhalten: Die Kommunen fordern Gewerbesteuer ein, Zuschüsse zu Versicherungen der beschäftigten Subalternen werden fällig, und dann sollen auch noch die im Schweiße anderer mühsam erzielten Gewinne versteuert werden. Nun fallen die aber gerade weniger üppig aus, weil ein tückisches Virus die Gesundheit der Wirtschaft und nebenbei auch noch die der Bevölkerung bedroht.

 

Unser schlauer Kapitalist denkt sich nun, in einem solchen Falle könnte der Staat ja wirklich mal von Nutzen sein. Er müsste einfach mit Subventionen, Steuersenkungen und Rettungspaketen einspringen, wenn Verluste anfallen, Bedingungen für die Hilfen sollte er indes nicht stellen; und bei künftigen Firmenstrategien mitreden darf er erst recht nicht. Der Staat kann dafür ruhigen Gewissens Schulden aufnehmen, denn er tut es für mich, der ich vielen Menschen Lohn und Brot gebe, der ich für eine positive Handelsbilanz der BRD sorge, indem ich mit meinen Exportwaren die Betriebe anderer Länder ruiniere, der ich den hiesigen Politikern durch zahllose Lobbyisten in meinem Sold den rechten Weg weise, der ich – mit einem Wort – systemrelevant bin.

 

Erst hungern lassen, dann melken

 

Natürlich darf sich die Bundesregierung auch ein wenig ihren Wählern dazu verpflichtet fühlen, die eine oder andere durch die Krise entstandene Härte abmildern, sei es durch Kurzarbeitergeld (das ja auch die Firmen entlastet) oder kurzzeitige Übernahme von Krippenkosten. Auch Hilfsprogramme für Handwerker, Bauern, mittelständische Betriebe und anderes zweitrangige Kroppzeug sind in gewissem Rahmen noch verkraftbar, doch darf dies nach Ansicht der 30 DAX-Konzerne und anderer einheimischer Unternehmen von Relevanz nicht zu weit gehen, es müssen schließlich genügend Mittel für die eigene von Dr. Staat verschriebene Wohlfühl-Therapie übrigbleiben. Schon machen die Star-Ökonomen, die mit den Bedürfnissen der Elite sehr einfühlsam umgehen, gegen Rentenerhöhungen und andere soziale Wohltaten mobil. Die Chefetagen der Spitzenwirtschaft wünschen sich nämlich maßgeschneiderte staatliche Konjunkturprogramme für ihre Unternehmen, und sie wissen genau, dass nicht so arg viel Steueraufkommen dafür da ist – sie haben ja schließlich nicht allzu viel an den Fiskus abgeführt…

 

Die Bundestagsfraktion der Linken hat die Geschäftsberichte von Großbetrieben, die Veröffentlichungen im Bundesanzeiger, die schwarze Liste der EU und die Aufstellung der NGO Tax Justice Network (TJN) hinsichtlich der Machenschaften in Niedrigsteuerländern ausgewertet und kommt zu einem vorhersehbaren, aber dennoch empörenden Ergebnis: „Steuertricks gehören zum Geschäftsmodell aller 30 DAX-Konzerne“ (MdB Fabio de Masi). Auf den Kaiman-Inseln, in Panama oder in Luxemburg hat die Creme der deutschen Wirtschaft mehr als tausend Tochterfirmen, gegründet, deren einzige unternehmerische Aufgabe darin besteht, durch ihre bloße (fiktive) Existenz der jeweiligen deutschen Muttergesellschaft zur Minimierung von Steuern zu dienen.

 

Mit einem Briefkasten auf Samoa lässt sich trefflich Handel treiben, ob man ihm nun die eigenen Markenrechte verscherbelt, nur um sie teuer wieder zurückzukaufen, oder die daheim erwirtschafteten Gewinne konsequent so lange dorthin verschiebt, bis im Mutterland nur noch Verluste anfallen. In der Südsee aber muss man – wenn überhaupt – nur Gewinnsteuern im Promillebereich berappen, während in Deutschland der Fiskus leer ausgeht, weil nichts zu holen ist, wo – Shit happens – leider nichts verdient wurde.

 

Nun bedienen sich nur 18 der 30 DAX-Konzerne dieser Methode in den von der EU gelisteten Schurkenstaaten wie Oman, Guam oder Panama. Uns mögen solche Praktiken kriminell erscheinen, sie sind es aber nach den Buchstaben unserer Gesetze nicht, wie alle von der Süddeutschen Zeitung befragten Konzerne betonen. Darüber hinaus geben sie an, dass ihr exotisches Engagement rein gar nichts mit Steuertricks zu tun hätte. Vermutlich betrachten sie die gebührenpflichtige Anmietung einer Postadresse als selbstlose Entwicklungshilfe für Panama oder andere darbende Drittwelt-Länder.

 

 

In der Tat haben es das Finanzministerium in Berlin und die Steuerbehörden, die jede Ungereimtheit in der Abrechnung eines Kiosk-Besitzers aufspüren, bislang nicht geschafft, die Steuerverkürzung in großem Maßstab durch klare Regelungen zu unterbinden oder gar unter Strafe zu stellen, denn da käme es zu fiskalischen Verwicklungen innerhalb Europas oder in handelspolitisch wichtigen Weltregionen. Denn noch weit mehr Geld als in den illustren Zwergstaaten wird über Adressen in „seriösen“ Ländern vor dem Finanzamt in Sicherheit gebracht. Und hierbei mischen ausnahmslos alle DAX-Konzerne mit.

 

Da sich die EU-Liste nur auf die sattsam bekannten Bermuda-Dreiecke der Steuerpolitik kapriziert und vermeintlich honorige Lokationen außer Acht lässt, hat TJN den Tax Haven Index erstellt, eine Hitliste der Steueroasen, in der gleich nach den Britischen Jungferninseln oder Bermuda die Niederlande, die Schweiz, Luxemburg, die Kanalinsel Jersey, Singapur und Hongkong auftauchen. Dort versickert also ein Großteil jenes Geldes, das Deutschlands Steuersäckel hätte auffüllen sollen, und zwar so prall, dass Wohltaten für notleidende Betriebe die Berliner Regierung in der Krise vor kein größeres Problem stellen würden.

  

Die Vögelein im Felde

 

Denn jetzt stehen sie um Almosen vom Staat an, die Flaggschiffe des Marktes. Und in der Reihe der Bittsteller finden wir etliche Namen, die uns schon seit geraumer Zeit durch ihr Engagement in den tropischen Winkeln der Welt aufgefallen sind, etwa die Lufthansa, die auf Karibik-Inseln, die sie gar nicht anfliegt, oder im US-Bundesstaat Delaware Tochtergesellschaften unterhält, oder Adidas, die Sportschuhmacherei, die ihre Steuern lieber woanders in homöopathischer Dosis zahlt, aber in der Corona-Krise bereits Staatshilfen in Milliardenhilfe abgegriffen hat – und natürlich die Automobilindustrie, die ihren potentiellen Kunden wieder einmal Abwrackprämien aus dem Finanzministerium zuschanzen möchte, und zwar ohne lästige Öko-Auflagen – man will ja auch die hochtourigen Dreckschleudern, Missgeburten einer verkorksten Produktionspalette, noch an den Mann bringen.

 

Man sieht, in unserem von Wirtschaftsweisen feuilletonistisch umrahmten System kassieren Spieler ab, die keinen Einsatz auf den Tisch gelegt haben. Oder um es mit Jesus zu formulieren: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ Tatsächlich verweigern die CEO-Vögel der Gesellschaft, was sie ihr schulden, spekulieren lieber auf Kosten der Beschäftigten (und bisweilen auch der Volksgesundheit) als perspektivisch zu planen und verzichten auf eigene Rücklagen für eine Krise wie die gegenwärtige, denn sie wissen, dass der Staat – in diesem Fall an Gottes Stelle - sie im Notfall doch alimentieren wird.

 

So rotiert der Wirtschaftskreislauf immer weiter. Kommt er ins Stocken, tritt die Regierung als Reparaturbetrieb auf den Plan, flutscht er hingegen, werden über diverse periphere Zahnräder Werte in dunkle Sektoren gepumpt, so dass sie wohl enormen Reichtum für Investoren generieren, aber an der Mehrheit der Bevölkerung vorbeilaufen, nicht ohne auf ihrem Fluchtweg irreparable Schäden an Umwelt und Gesellschaft zu hinterlassen.

 

So ist es kein Witz, sondern tragikomische Realität, dass die Bundesregierung der Lufthansa eine Minderheitsbeteiligung und rund neun Milliarden Euro zur Rettung aufdrängt, dabei auf jeglichen Einfluss, was etwa den Erhalt von Arbeitsplätzen oder eine Einschränkung des ökologisch fatalen innerdeutschen Flugverkehrs, der auch noch das Staatsunternehmen Deutsche Bahn schädigt, verzichtet, und der Konzern sich ziert, dieses money for nothing anzunehmen.

 

Eins aber dürfte unverrückbar feststehen. Nach der Krise wird sich Lufthansa wieder um die Briefkastenkultur in Panama und anderswo verdient machen.  


05/2020 

Dazu auch:

Der Corona-Bär in der Rubrik Medien (2020)

     

  



Spenden? Null Ahnung!

 

Es geht um die Neuinfektionen im Land, um Aufhebung von Notstandsdekreten und um Geisterspiele im Profi-Fußball. Wichtige Themen fallen da hinten runter. So scheint sich kaum jemand dafür zu interessieren, dass Anfang Juni das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig darüber verhandelt, was Bürger über die finanziellen Zuwendungen an die von ihnen gewählten Parteien und Parlamentarier wissen dürfen.

 

Erfahren wollen, wer anschafft

 

Die Internet-Plattform abgeordnetenwatch.de (aw) überprüft gern die die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit sowie die Einhaltung von Recht und Gesetz, kurz: das Geschehen rund um das maßgebliche Personal im Bundestag. Sie beruft sich dabei auf das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) und macht die Ergebnisse der deutschen Öffentlichkeit zugänglich. Bereits 2015 hatte die NGO Einsicht in  "sämtliche Korrespondenzen, Vermerke, Notizen, Dienstanweisungen etc., die im Zusammenhang mit den Rechenschaftsberichten 2013 sowie den Parteispenden 2013 der seinerzeit im Bundestag vertretenen Parteien CDU, CSU, SPD, Grüne, Linke und FDP stehen“ beantragt. Diese Unterlagen waren damals die aktuellsten greifbaren Dokumente, deren Offenlegung hätte Fehltritte der Vergangenheit enthüllt, aber auch künftige Verstöße gegen das Parteiengesetz erschwert.

 

An pekuniäre und buchhalterische Niederungen dachten die Autoren der Verfassung früher nicht.  So heißt es seit 1970 im Artikel 38 des Grundgesetzes über die Abgeordneten des Bundestages: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Andere sahen das anders: Die Parteien, denen die Mandatsträger zu verdanken hatten, dass die überhaupt als Kandidaten zur Wahl aufgestellt wurden, forderten nach deren Einzug ins Parlament eiserne Fraktionsdisziplin ein. Den Chefstrategen von Union oder SPD galt das „Gewissen“ als zu vernachlässigendes Überbleibsel längst obsoleter romantischer Gesetzesprosa.

 

Und dann forderte natürlich die Wirtschaft viel von den Abgeordneten und zeigte sich dafür deren Parteien gegenüber erkenntlich. So flossen üppige Spenden an die CDU/CSU, um sie daran zu erinnern, dass Kapital und Konservativismus schon im selben Sandkasten sozialisiert worden waren. Die Sozialdemokraten hingegen wurden etwas bescheidener dafür bedacht, dass sie die letzten Reste Marx gewissenhaft gegen das Glaubensbekenntnis zum Markt eintauschten.

 

Als die Avancen der Unternehmen zu offensichtlich und damit peinlich wurden und im Volk der Merksatz, dass Geld die Welt regiere, wieder umher geisterte, griff die Regierung Schröder 2002 ein und ließ im Parteiengesetz zwei Änderungen verankern: Großspenden von über 50.000 Euro mussten dem Bundestagspräsidenten angezeigt und auf der Homepage des Parlaments veröffentlicht werden. Mittelprächtige Gaben von mehr als 10.000 Euro sollten nach ca. eineinhalb Jahren in den Rechenschaftsberichten der Parteien erscheinen. Das scheint nicht immer ordentlich geklappt zu haben, auch wurden dadurch geradezu unappetitliche Geldflüsse nicht gestoppt. So wies Bundestagspräsident Lammert (CDU) im Januar 2010 die Bundestagsverwaltung an, Großspenden sofort zu veröffentlichen, nachdem die FDP, ein Fanclub des Neoliberalismus mit Parteistatus, 1,1 Millionen Euro in drei Tranchen von einem Hotelbesitzer erhalten hatte.

 

Da immer noch die Volksweisheit Wer zahlt, schafft an ihre Gültigkeit besitzt, gehört es zu den Aufgaben einer wachsamen NGO zu kontrollieren, von wem die Parteien großzügig alimentiert werden, könnte doch so auch die eine oder andere „Gegenleistung“ ruchbar werden. Bei dem Vorstoß 2015 ging es aw vor allem um folgende Fragen: „Geht die Bundestagsverwaltung Berichten über mögliche Gesetzesverstöße von Parteien nach – und wenn ja wie intensiv? Wie genau prüft sie die Angaben der Parteien zu ihren Finanzen? Wie gelangt sie zu ihrer Entscheidung, in einigen Fällen eine Partei mit einer Strafzahlung zu belegen und in anderen Fällen nicht?“

 

Die Lüge der Verwaltung

 

Die Administratoren des Bundestages aber waren wohl der Meinung, dass das Finanzgebaren von Parteien, die von vertrauensvollen Wählern zu Entscheidern der Legislative gemacht wurden, die Öffentlichkeit gar nichts angeht. Unterlagen zur Parteienfinanzierung müsse sie grundsätzlich nicht herausgeben, da diese nicht unter das IFG fielen, behauptete die Parlamentsverwaltung. Gegen diesen Bescheid klagte aw 2016 – und zwar erfolgreich, sowohl vor dem Verwaltungsgericht Berlin als auch, in höherer Instanz, vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg.

 

Die Bundestagsverwaltung aber hielt die (mutmaßlichen) Dokumente weiterhin unter Verschluss und riskiert nun im Juni die letztinstanzliche Niederlage vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Vier Jahre Abwehrkampf gegen das öffentliche Interesse, die Beauftragung einer der prominentesten Großkanzleien der Bundesrepublik – das würde selbst den Arglosesten auf den Gedanken bringen, dass etwas vertuscht werden soll.

 

Und tatsächlich könnten einige Leichen im Keller der administrativen Kontrollpflicht ihre Wiederauferstehung im Licht der bürgerlichen Aufklärung feiern. Trotz offensichtlicher Verstöße gegen das einschlägige Gesetz sollen Parteien ohne Strafzahlung davongekommen sein, während ein unbequemer (gesetzestreuer?) Beamter der Verwaltung offenbar strafversetzt wurde. Im Kontrastprogramm: Die Partei des Satirikers Sonneborn machte auf ein Schlupfloch im Parteiengesetz aufmerksam, das sogleich geschlossen wurde. Zum Dank für die Aktion muss Die Partei nun vor Gericht gegen eine hohe Strafzahlung kämpfen. Diese Vorgänge (und noch viele mehr) ließen sich durch Einsicht in die Akten auf- bzw. erklären.

 

Mit einem raffinierten Trick versuchte die Bundestagsverwaltung schon 2016 aw von der Aussichtslosigkeit einer Klage zu überzeugen. In einem Bescheid erklärte sie damals: "Unabhängig davon liegen die von Ihnen begehrten Informationen der Verwaltung des Deutschen Bundestages nicht vor." Und in den beiden Berliner Verwaltungsgerichtsurteilen werden die Parlamentsbeamten dahingehend zitiert, dass „weder eine gesonderte Korrespondenz noch Problemvermerke“ angefallen sei. Wo nichts ist, hat der Kläger sein Recht verloren, wollte die Verwaltung suggerieren. Die gähnende Leere zwischen den Aktendeckeln nahmen ihr aber selbst die Richter in Berlin nicht ab.

 

In diesem Jahr nun überführte sich die Bundestagsverwaltung selbst der Unwahrheit. Über die Bonner Kanzlei Redeker Sellner Dahs, die schon illustre Mandanten wie den Kanzler Kohl, die ehemaligen Bundespräsidenten Rau und Wulff oder den FJS-Sohn Max vertreten hatte, ließen die Beamten am 10. März dieses Jahres plötzlich mitteilen, dass in den betreffenden Akten „zahlreiche“ Unterlagen vorhanden seien, beispielsweise „Korrespondenzen mit den politischen Parteien“. Man könnte dementsprechend entweder die Aussagen von 2016 oder die aktuellen Einlassungen „Ungereimtheiten“ nennen, man darf aber auch von Lügen sprechen.

 

Das fragwürdige Engagement der Parlamentsverwaltung, das offenbar Parteien und Mandatsträger vor Unbill schützen soll, hat seinen Preis. Die beauftragte Kanzlei hatte schon in einem der ersten Prozesse Honorare von 20.000 Euro eingestrichen. Auch diesmal fallen vermutlich üppige Kosten an, doch dafür kommen jene Steuerzahler auf, denen die Informationen vorenthalten werden sollen.

 

Die Spitze eines Eisbergs

 

Spätestens seit dem Untergang der Titanic weiß man einiges von Eisbergen, etwa dass die sichtbaren Gipfel nur einen kleinen Teil der überwiegend unter Wasser verborgenen Masse ausmachen. So ist es auch bei der Parteienfinanzierung. Ein paar Zuschüsse für die baden-württembergischen Grünen von der Automobilindustrie oder Pharma-Gelder für die Union machen – nach Gutsherrenart gesprochen - das Kraut nicht fett. Abseits der (offenbar nicht immer) nachverfolgbaren Wohltaten, die willigen Politikern zuteilwerden, gibt es die indirekten, latenten Belohnungen, die noch viel effizienter Einfluss und Dominanz sichern.

 

Bundestagsabgeordnete nehmen in Aufsichtsräten großer Unternehmen Platz, Minister wechseln in Vorstände oder werden – bei geringerer Eignung – Cheflobbyisten. Das Know-how und die Infos aus Parlamentsausschüssen und Regierung wechseln die Seite oder besser: bleiben auf der Seite der Banken und Konzerne, kommen dem MARKT aber nun auf kürzestem Weg zugute. In Think Tanks singen ehemalige Staatsmänner auf internationaler Bühne das Lied der Investoren und Börsenspekulanten, während willfährigen Journalisten die Claqueur-Sitze angewiesen werden: Die Politik wird von der Wirtschaft absorbiert.

 

Dennoch ist die Arbeit von NGOs, die sich wie aw auch mit den Firmenkontakten und Nebentätigkeiten der einzelnen MdBs beschäftigen, äußerst wichtig. Denn es ist, wie wir am vorliegenden Beispiel sehen, aufgrund der offiziösen Vernebelung ohne eine kritische Ortung bereits schwierig, überhaupt die Spitze des Eisbergs ins Visier zu bekommen. Wie aber sollen wir die systemischen Verflechtungen von Kapital und Politik in ihrer Dimension begreifen, wenn uns schon das eigentlich Offensichtliche  entgeht? 

05/2020 

Dazu auch:

Lobbykratie BRD im Archiv dieser Rubrik (2013)

Hire a Staatsdiener im Archiv der Rubrik Medien (2018)

 

Nachbemerkung: Das Bundesverwaltung in Leipzig kassierte die Urteile der Vorinstanzen. Die Bundestagsverwaltung darf also weiter das  Mäntelchen des Schweigens über das Finanzgebaren der Pateien breiten. 

 

 

 

  



Krieg geht immer

 

Viel ist im Augenblick davon die Rede, wie vernünftig sich die Deutschen, ihre Regierung und ihre Wirtschaft in der Corona-Krise verhielten. Vernunft schreiben sich in der Tat die verantwortlichen Politiker für ihr Handeln zu, selbst wenn sie zu spät oder unzureichend reagierten, die Medien übernehmen diese Sichtweise seltsam unkritisch, und die Bevölkerung möchte einfach daran glauben, in starker und kompetenter Obhut zu sein. Doch diese Spielart von Vernunft gleicht einem kurzsichtigen Selbsterhaltungstrieb, die notorische Unvernunft hingegen treibt die ökonomisch maßgeblichen Kreise dazu, während einer kollektiven pandemischen Bedrohung auf künftige Gewinne zu setzen, indem noch tödlichere Krisen geschürt werden: Wer Verluste durch die Seuche befürchtet, setzt vorsichtshalber auf den Krieg.

 

Todesproduktion rettet die Börse

 

Wenn die Nachfrage nach Autos oder Reisen sinkt, die Industrieproduktion leidet, die Aktienkurse in den Keller gehen, weil die Kunden und die Arbeiter wegen Corona zu Hause bleiben müssen und Spekulanten mangels Masse auf ihren Luftnummern sitzen bleiben, gibt es nur eins: Man entkommt der Krise im eigenen Haus, indem man andere Krisen nutzt. Die Börsenanalysten, jene Auguren des neoliberalen Imperiums, raten jedenfalls derzeit dazu, Aktien von Waffenherstellern zu kaufen, denn während die Wirtschaft allerorten der Rezession entgegen taumelt, hat das Geschäft mit der Vorbereitung und Ausstattung von Kriegen Konjunktur. Die Branche sei krisensicher, heißt es in Wirtschaftskreisen, die rechtskonservative Welt prophezeit sogar, die „Rüstungssparte verspricht glänzende Geschäfte“.

 

Dazu passt es, dass die Bundesregierung unlängst wieder einmal den Verkauf von Rüstungsgütern an dubiose Regimes in gefährlichen Regionen genehmigt hat: ThyssenKrupp liefert ein U-Boot an Ägypten, Rheinmetall hingegen Munition und Zünder im Wert von 179 Millionen Euro an Qatar. Ägypten führt Seite an Seite mit Saudi-Arabien, das im letzten Jahr Waffen im Wert von über einer Milliarde Euro aus der BRD erhielt, und anderen sunnitischen Staaten einen grausamen Krieg im Jemen; das Emirat Qatar, mittlerweile mit etlichen Ländern verfeindet, liegt in einem der unsichersten Gebiete der Welt. So verhält es sich auch mit Israel, das wiederum vier Kriegsschiffe von ThyssenKrupp erwerben durfte. Im Who is Who der deutschen Todesindustrie darf natürlich der Name Diehl Defence nicht fehlen. Der fränkische Waffenproduzent verklopft mit gütiger Erlaubnis des Bundessicherheitsrates 72 Raketen an die Philippinen, wo derzeit der Schlächter Duterte in seinem „Krieg gegen die Drogen“ Tausende massakrieren lässt.

 

Immer wieder hatte die Bundesregierung verkündet, sie wolle die Ausfuhren von Kriegswaffen in Länder außerhalb der NATO signifikant herunterfahren. Ex-Wirtschaftsminister Gabriel brüstete sich bei seinem Amtsantritt sogar damit, er werde die Lieferungen nach Saudi-Arabien stoppen, nur um wenig später seine Unterschrift unter eine weitere diesbezügliche Genehmigung zu setzen. Wie das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI kürzlich feststellte, ist Deutschland der viertgrößte Waffen-Exporteur der Welt, und seine Rüstungskonzerne verdienen im Augenblick mehr als jemals zuvor – an Verkäufen in Krisengebiete und an Kriegsparteien.

 

Laut Paragraph 6 des Kriegswaffenkontrollgesetzes ist aber die Ausfuhrgenehmigung zu versagen, wenn „die Gefahr besteht, daß die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden … und wenn Grund zu der Annahme besteht, daß die Erteilung der Genehmigung völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder deren Erfüllung gefährden würde…“.

 

Die kulante Bundesregierung 

 

Aus der „Gefahr“ ist zumindest im Jemen längst traurige Realität geworden: Ägypten und Saudi-Arabien führen mit ihrer Staatenallianz einen völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg gegen die dortige Bevölkerung. Die Bundesregierung bricht also fortlaufend Recht, genehmigt äußerst kulant den Händlern des Todes, was sie nie genehmigen dürfte. Aber kaum jemanden stört das im Augenblick, in Corona-Zeiten sind die Bürger um die eigene Gesundheit besorgt und drängen sich wie Schäflein an ihre Hirten um die Macher – also um staatstragende Politiker, die sich als kompetent und verantwortungsbewusst geben.

 

In der allgemeinen Aufregung geht unter, dass all die neuen Sympathieträger, Kurz in Austria, Söder in Bayern oder Spahn in Berlin, bei ihren Prognosen zu Auswirkung und Bekämpfung des Corona-Virus falsch gelegen haben: Die Krankheit sei harmloser als Grippe, man sei bestens gerüstet für die Pandemie, eine Maskenpflicht brauche man nicht etc. Das Kurzzeitgedächtnis der Bevölkerung und der Medien scheint von infektiöser Demenz befallen. 

 

Und so freut sich das gutgläubige neue Deutschland, dass miserabel bezahlte Krankenpfleger ein wenig Gefahrenzulage erhalten, und bemerkt u.a. nicht, dass sich bei Rheinmetall, Autozulieferer und größter Militärausrüster des Landes, klammheimlich die Gewichte verschieben. Die Verluste, die dadurch entstehen, dass sich zurzeit nur wenige Bürger einen SUV zulegen wollen, werden wettgemacht, indem der Konzern mehr Waffen veräußert – an die NATO, die eine Drohkulisse im neuen Kalten Krieg aufbauen will, und an nahöstliche Armeen, die schon mitten drin im Heißen Kampf sind. Daher wird den Anlegern dringendst zum Kauf von Rheinmetall-Aktien geraten, Tod geht immer.      

 

Welche Produktion brauchen wir?

 

Nie zuvor hatte Rheinmetall mehr Militär-Aufträge, so dass der Konzernchef Armin Papperger laut Welt frohlockt, das Unternehmen profitiere als international tätiger Systemanbieter „vom ‚Super-Zyklus‘ im wehrtechnischen Geschäft“. Während also große Teile der Wirtschaft jetzt an den Tropf der öffentlichen Finanzen drängen, gestaltet Rheinmetall einfach Produktionspalette und Geschäftsmodell anders. Dass Autokäufer launisch, Kriegsherren aber wenigstens in ihrer Materialgier verlässlich sind, kann man aus einer Welt-Anmerkung herauslesen: „Während das Automotive-Geschäft auch von der Lust der Kunden auf neue Autos abhängt, sitzen die Waffenkäufer in den Regierungen und bestellen nach Kriegs- und Konfliktlage.“

 

Vorbei die Phase, da heftig, wenn auch etwas oberflächlich über Sinn und Nachhaltigkeit von Produktion diskutiert wurde, verschoben die Themen Umwelt und Klimawandel – jetzt geht es um das physische und materielle Überleben für die Unterschicht sowie um frische Erfolgsgeschichten von Cleverness und Geldscheffeln im Rezessionssumpf für die Oberen, und nur noch die Spahns, Söders und Merkels führen das Wort Verantwortung im Mund, besetzen damit aber lediglich den angstgetriebenen Gehorsam des braven Normalbürgers.

 

Was ist von einer Gesellschaft zu halten, die nicht in der Lage ist, die Produktion von Gütern zum Schutz von Gesundheit und Leben vor und während einer Pandemie ausreichend zu organisieren, es gleichzeitig aber zulässt, dass industrielle Kapazitäten (zum Vorteil skrupelloser Profiteure und Spekulanten) für todbringende Ausrüstung von Kriegsparteien in fremden Ländern mobilisiert werden? 

04/2020 

Dazu auch:

Mörder und ihre Helfer im Archiv dieser Rubrik (2017)

Üble Deals mit Kalkül im Archiv der Rubrik Medien (2018) 

 

 

 

   

  



Wirres im Virenland


Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, Schul-, Geschäfts- und Lokalschließungen wurden von staatlichen Stellen verfügt, und nirgendwo brach ein Proteststurm los. Nun kennt man den Deutschen gemeinhin als sehr gehorsam, erstaunlich aber ist doch, dass sich die allgemeine Panik in Grenzen hielt. Tatsächlich waren hierzulande kaum Symptome von Massenhysterie zu registrieren, dafür aber deutliche Anzeichen für kollektive Wahrnehmungsstörungen, und zwar sowohl an der politischen Entscheiderfront als auch im sozialen Souterrain.


Unten: Rollen der Zivilisation


Als die angeordnete Vereinzelung begann, offenbarte das Fußvolk der Republik, der Normalbürger also, zwei Gesichter, die sich so fundamental unterschieden, wie man dies eigentlich nur von krankhafter Persönlichkeitsspaltung kennt. Da gab es einerseits Positives zu vermelden: Kaum einer drehte in der Öffentlichkeit durch, Verschwörungstheorien und Untergangsprophetien hielten sich in engen Grenzen, auf der Straße benahmen sich die „Freigänger“ meist verantwortungsbewusst, viele Menschen halfen älteren Nachbarn, selbst die als Rabauken verschrienen Fußball-Ultras versorgten Kranke und Schwache. Auf der anderen Seite waren da Anzeichen für Ignoranz, vor allem bei omnipotenten Besserwissern jüngeren Alters (die glauben, selbst von keinem schweren Krankheitsverlauf bedroht zu sein, aber blendende Überträger des Virus für Ältere und chronisch Kranke abgeben) und ein irrationales Hamsterverhalten, vom neuen Reizwort Toilettenpapier gekennzeichnet, zu beobachten.


Als stünde das Ende der abendländischen Hygiene bevor, wurden die betreffenden Regale in Supermärkten und Discountern leergefegt – und das, obwohl bereits unzählige Witze über dieses absurde Verhalten durch Net und Medien geisterten. Die Schicksalsfrage aber blieb unbeantwortet: Warum nur? Es ist schwer zu glauben, dass nach der moralischen Abwertung früherer Statussymbole, etwa des Nerzes für die Dame (aus Tierschutzgründen), der Rolex für den gehobenen Zuhälter (aus Dezenz) oder des SUV (wegen asozialer Verkehrs- und Klimabehinderung), ausgerechnet ein Keller voller Klopapierrollen das neue Vorzeigeobjekt sozialer Überlegenheit (aufgrund von Nachhaltigkeit?) sein soll.


Man möchte dieser neuen Spezies von Sammlern und Jägern die angebliche Prophezeiung der Cree-Indianer leicht modifiziert zurufen: Erst wenn der letzte Schoko-Riegel, die letzte Suppendose und die letzte Fischkonserve aus den Regalen verschwunden ist, werdet ihr merken, dass man Klopapier nicht essen kann.“


Vielleicht aber trauen die Menschen ganz einfach den Versicherungen der Bundesregierung nicht, dass die Versorgungslage und der Nachschub optimal gesichert seien. Schließlich hatten dieselben Politiker noch vor kurzem verkündet, hinsichtlich Covid-19 alles unter Kontrolle zu haben.

   

Oben: Das Chaos voll im Griff


Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn nicht staatlicherseits suggeriert würde, man sei auch in der Bewältigung dieser Krise Spitze. Mag ein Trump per Ellbogeneinsatz die Vereinigten Staaten über alles in der Welt stellen, unsere Politiker brillieren (nach eigener Einschätzung) mit Expertise, Voraussicht und akribischer Planung, kurz gesagt: durch geistige Überlegenheit. Wäre da nur nicht die schnöde Realität…


Bereits im Januar verzeichnete Bayern die ersten Corona-Fälle bundesweit. Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto hatten sich in China infiziert, konnten aber als überschaubare Gruppe noch schnell isoliert werden, auch ließen sich ihre Kontaktpersonen hierzulande rasch ermitteln und in Quarantäne stecken. Schon damals prahlten die Behörden mit ihrer Effizienz und gaben vorerst Entwarnung. Mittlerweile profiliert sich Markus Söder als der starke Mann der Bundesrepublik, wobei in Vergessenheit gerät, dass er am Anfang den Outbreak bagatellisierte, dass seine Regierung die Kinder nach den bayerischen Faschingsferien zurück in die Schule gehen ließ, nur um sie wenige Tage danach wieder nach Hause zu schicken, und dass im Freistaat viel zu schleppend getestet wird.


Es ging richtig los, als deutsche Italien-Urlauber und Skifahrer aus Österreich infiziert zurückkamen, ausländische Touristen und Messebesucher ihr Teil zur Ausbreitung der Seuche beitrugen. Doch Ende Januar und auch später noch tönte Gesundheitsminister Jens Spahn immer wieder, die Bundesregierung sei auf alle denkbaren Fälle „gut vorbereitet“. Und das sah dann so aus: Bald fehlten Atemschutzmasken und Schutzkittel, obwohl die WHO bereits am 7. Februar alle Staaten auf den dringenden Bedarf hingewiesen hatte. Vier Fünftel der in Deutschland niedergelassenen Ärzte und die meisten Krankenhäuser beklagten die mangelnde Ausrüstung, zumal auch noch die Desinfektionsmittel ausgingen. Besonders verhängnisvoll dürfte sich der viel zu niedrige Bestand an Beatmungsgeräten, überlebenswichtig für viele alte Erkrankte, auswirken.


Nebenbei war die Personalsituation in Kliniken und Altenheimen schon vor Corona unhaltbar. Jens Spahn tourte durch die Welt, vom Kosovo bis Mexiko, um Pflegekräfte anzuwerben, da den Deutschen die Jobs als zu stressig, physisch und psychisch als zu belastend und dazu noch als zu schlecht bezahlt erscheinen. Die brutale Umgestaltung des Gesundheitswesens von der Säule des Allgemeinwohls zum Profit generierenden Dienstleistungssektor führte zur Überlastung der Mitarbeiter durch Millionen von Überstunden, zur Schließung von Kliniken und Reduzierung des Personals sowie zur Degradierung des Patienten zum Kosten/Nutzen-Faktor. Es fehlt also an Betten, an Intensivstationen, an Fachkräften – und nun ist Covid-19 in Deutschland angekommen.


Bereits 2005 hatte die WHO gefordert, dass die Staaten sich gegen eine jederzeit mögliche Pandemie wappnen sollten. Selbst die Weltbank hatte 2018 Investitionen zur Seuchenabwehr angemahnt, stieß in Berlin aber offensichtlich auf taube Ohren. In einem Interview mit t-online wies nun Gregor Gysi von den Linken darauf hin, dass schon 2012 Experten die Bundesregierung davor gewarnt hatten, das deutsche Gesundheitssystem sei „für eine derartige Bedrohung nicht gut aufgestellt“. Den Grund hierfür sahen sie u.a. in den Privatisierungen, die Union und SPD gemeinsam zu verantworten hätten.


Die Deutsche Welle zitiert derweil den ehemaligen Chef von Goldman-Sachs in Deutschland, Alexander Dibelius, gelernter Arzt (!) und auch eine Zeit lang Merkel-Berater, der fragt: Ist es richtig, dass zehn Prozent der von Corona besonders bedrohten Bevölkerung geschont werden, aber der Rest samt kompletter Volkswirtschaft extrem behindert werden mit der möglichen Konsequenz, dass die Basis unseres Wohlstands nachhaltig erodiert? Auch eine Sichtweise: Überlasst notfalls doch bitteschön die Rentner dem Siechtum und dem sozialverträglichen Ableben, damit die Wirtschaft ohne weitere Hindernisse wieder Fahrt aufnehmen kann.

 

„Gut vorbereitet“ nennt Jens Spahn in unverständlicher Hybris die marode Infrastruktur und betet zu seinem Gott, dass die Zahl der Erkrankten nicht noch rasanter steigt. Bleibt die Frage, wie für ihn wohl eine „schlechte Vorbereitung“ aussähe. Selbst bei der simplen Materialbeschaffung versagt das von seinen Pfuscher-Kollegen hochgelobte Krisenmanagement. Ein Unternehmer, der dem Gesundheitsministerium die Reservierung von 1,5 Millionen Atemschutzmasken anbot, erhielt laut SPIEGEL nicht einmal eine Antwort. Später wies Spahns Ressort jede Verantwortung zurück, denn die „Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung“ werde über das Beschaffungsamt der Bundeswehr koordiniert.


Ausgerechnet die Einkäufer jener von der adligen Ursula zum Beratermündel heruntergewirtschafteten Streitmacht sind für die bundesweite Ausstattung im medizinischen Katastrophenfall zuständig - jene Multimillionenjongleure, die Hubschrauber beschafften, die nicht fliegen, Marineboote, die nicht schwimmen, und Sturmgewehre, die um die Ecke schießen! Wie das im Seuchenfall aussieht, erfuhr man am letzten Dienstag. Auf einem Flughafen in Kenia verschwanden sechs Millionen Atemschutzmasken für die Bundesrepublik. Das Beschaffungsamt hatte sie bestellt, wohl aber nicht bewachen lassen.


Der Chinese war es!


Da unsere Krisenmanager nach eigener Meinung die besten und weisesten der Welt sind, können sie es sich auch leisten, fremde Hilfe auszuschlagen. Chinas Präsident Xi Jinping hatte der Bundeskanzlerin Unterstützung im Kampf gegen das Coronavirus angeboten. Diese hätte die Lieferung von Schutzausrüstung, die Entsendung von erfahrenen Ärzten bis hin zur Kooperation bei der Entwicklung eines Impfstoffs umfassen können.


Die meisten Staaten Europas, von Frankreich, Spanien, Italien über Litauen bis zu Serbien nahmen Chinas Hilfsangebot dankbar an, kam es doch von dem Land, das zunächst am schwersten unter Covid 19 litt, die Ausbreitung des Virus offenbar aber inzwischen einigermaßen eindämmen konnte.


Angela Merkel und ihre Minister jedoch ignorierten die Offerte und bekamen von Teilen der Presse Rückendeckung. „China wirft die Propaganda-Maschine an“, geiferte Silke Wettach in der Wirtschaftswoche. In der FAZ wird gemutmaßt, die Volksrepublik wolle nur davon ablenken, dass es eigentlich „Verursacher der Krise“ sei. Das erinnert stark an Trumps herabwürdigend gemeinte Bezeichnung China-Virus.


Wahrscheinlich ist der Corona-Brutherd tatsächlich in der chinesischen Provinz Hubei zu orten, doch ist für die Ausbreitung einer Epidemie nicht der erste Ort ihres Auftretens verantwortlich. Niemand lastet heute Europa an, dass Grippe und Pocken, beinahe alle indigenen Völker Amerikas ausgerottet hätten, von dort stammten. Gewiss, früher sprach man auch schon von Spanischer Grippe oder Englischer Krankheit (Rachitis), doch waren das Behelfsnamen zur Klassifizierung, relativ frei von rassistischen Untertönen. Wenn Trump aber von China-Virus spricht, klingt dies eher wie Döner-Morde.


Deutsche Zeitungen dürfen und sollten den chinesischen Staatskapitalismus nach Herzenslust kritisieren. Aber ein Material- und Knowhow-Angebot, das Deutschland nur nutzen kann, von vornherein als propagandistisch zu diffamieren und den substanziellen Wert zu ignorieren, stärkt nur die  Haltung der Bundesregierung, die man mit gutem Willen als zögerlich, realistischer als fahrlässig und möglicherweise sogar als unterlassene Hilfeleistung für die eigene Bevölkerung bezeichnen kann.

03/2020

Dazu auch:

Der Corona-Bär im Archiv der Rubrik Medien

 

 





System-Spürhunde 

 

Es gab Zeiten, da waren die deutschen Finanzbehörden und ihre Fahnder richtig unbeliebt bei Begüterten und Unternehmern. Inzwischen aber scheinen die Beamten begriffen zu haben, dass sie Diener des Systems sind, und belästigen nicht mehr die Reichen und Mächtigen, sondern nehmen soziale Vermieter, günstig Wohnende sowie organisierte Gutmenschen aufs Korn. Das kann für diese teuer werden, uns aber hilft es, die Methoden einer Gesellschaft besser zu verstehen, in der Hierarchien gehätschelt werden und das Fußvolk dafür zahlen darf.

 

Eifer schadet der Karriere

 

Früher, als das Kuschen noch nicht zum obligatorischen Handwerkszeug von Fiskus-Mitarbeitern zählte, musste ab und zu die Politik einschreiten, um fanatische Spürhunde zur wirtschaftsverträglichen Räson zu bringen. So geschehen zu Beginn des Jahrhunderts in Hessen, wo vier Frankfurter Steuerfahnder den Banken und Finanzjongleuren derart penetrant auf den Pelz rückten, dass der Staatskasse Nachzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe zukamen. Klingt zunächst gut, kann aber das gedeihliche Intimverhältnis von Geld und Legislative empfindlich stören. Die Beamten wurden von den meisten Fällen, mit denen sie befasst waren, auf höheren Wink hin abgezogen. Als sie monierten, die hessische Landesregierung verfahre wohl etwas milde mit Steuersündern, mussten sie sich ärztlich begutachten lassen. Der Psychiater bescheinigte den vier Widerborstigen eine „paranoid querulatorische Entwicklung“ und sie wurden in den Ruhrstand versetzt.

 

Die gründlichen Fahnder wurden später rehabilitiert und auf Kosten der (einfachen) Steuerzahler finanziell abgefunden, doch die Kungelei von Wirtschaft und Hochfinanz mit ausgewählten Volksvertretern konnte ohne enervierende Zwischengeräusche weitergehen, wobei Bayern wieder einmal als Trendsetter fungierte. Dort verfuhr man schon immer sehr diskret und effizient mit renitenten Beamten, die die im Freistaat besonders stark ausgeprägte Symbiose von Konzernen und Regierenden zu gefährden drohten. 

 

Als etwa eine Betriebsprüferin des Finanzamts 1995 herausfand, dass der Nürnberger Rüstungsgigant Diehl Veräußerungsgewinne nicht korrekt versteuert und dadurch dem Fiskus 60 Millionen Mark vorenthalten hatte, wies die Oberfinanzdirektion die Schnüfflerin an, die Betriebsprüfung abzuschließen, die fraglichen Firmenbeteiligungen als „Privatvermögen“ und die Gewinne als „nicht steuerpflichtig“ einzustufen. Nachdem sie sich beschwert hatte, wurde die vorlaute Dame vom Fall abgezogen und – Strafe muss sein! – von ihren Vorgesetzten, die sie zuvor als exzellente Fachfrau eingeschätzt hatten, schlecht bewertet.

 

Man muss in Bayern schon so plump wie Uli Hoeneß vorgehen, um für kriminelle Finanztransaktionen sanft (und schnell, damit nicht Unnötiges ans Licht kommt) bestraft zu werden. Während in NRW der damalige Finanzminister Norbert Walter-Borjans Steuer-CDs kaufte, um den Sündern bei ihren grenzüberschreitenden Machinationen auf die Schliche zu kommen und sie zur Kasse zu bitten, bemühte sich sein damaliger Ressortkollege Markus Söder vergeblich darum, zusammen mit der Bundesregierung ein Abkommen mit der Schweiz unter Dach und Fach zu bringen, das sogar einen Hoeneß hätte straffrei davonkommen lassen.

 

Steuer eintreiben, aber von Wehrlosen

 

Der bayerische SPD-Chef Florian Pronold warf damals Söder vor, dass im Freistaat Unternehmen kaum kontrolliert würden. „Heute sind in Bayern 40 Prozent der Stellen für Betriebsprüfung und Steuerfahndung nicht besetzt.“ Nun, den einen oder anderen Prüfer hat die Staatsregierung dann eingestellt; um aber die in Rottach-Egern und am Starnberger See residierende Klientel nicht zu verschrecken, setzte man die Prüfermeute auf andere Fährten.

 

Dass Attac und der VVN die Gemeinnützigkeit abgesprochen wurde, ist einer seltsamen Faktenauslegung der Finanzbehörden in Hessen und Berlin und des bayerischen Verfassungsschutzes, der bekanntlich das Herz auf dem rechten Fleck hat, zu verdanken. Abgesegnet wurde die steuerliche Abwertung vom in München sitzenden Bundesfinanzhof.

 

Systemkritische NGOs sind aber nur ein Ziel der dubiosen Offensive. Wer sich als Privatperson nicht nach den Maximen des neoliberalen (also enthemmten) Marktes richtet oder vom sozialen Handeln Dritter profitiert, gerät ins Visier des Finanzamtes, vor allem wenn er in der bayerischen Landeshauptstadt wohnt.

 

Der Bayerische Rundfunk (BR) berichtete, dass die Eigentümerin einer 38 qm großen Wohnung an einer vielbefahrenen Straße im nicht gerade gediegenen Münchner Stadtteil Moosach vom Finanzamt gemaßregelt wurde, weil sie ihr Objekt für 475 Euro kalt vermietet hatte. Nach Meinung der Beamten hätte sie 900 Euro verlangen müssen. Ein Wohnungsbesitzer kann Reparatur- oder Instandhaltungskosten, die anfallen, steuerlich geltend machen, in vollem Umfang allerdings nur, wenn er seine Mieter mindestens 66 Prozent der ortsüblichen Miete bezahlen lässt. Im Moosacher Fall wähnte sich die Eigentümerin auf der sicheren Seite, denn der offizielle Mietspiegel sah für diese Gegend nur 13 Euro vor. Zu wenig, befand das Finanzamt aus eigener Machtvollkommenheit, setzte aus kryptischen Gründen 22,85 Euro pro Quadratmeter (also fast 900 Euro) als Vergleichsmiete an und kürzte so die in der Steuererklärung anzurechnenden Werbungskosten.

 

Wahrscheinlich sollten philanthropische Vermieter von den staatlichen Hütern der herrschenden Marktordnung auf den rechten Weg der maximalen Ausbeutung zurückgeführt werden. Zur Freude des wertvollsten Teils unserer urbanen Gesellschaft, der sich aus Baulöwen, Immobilienspekulanten und obskuren Investoren rekrutiert, werden so die Mieten in München, die ohnehin ein absurdes Level erklommen haben, noch weiter in die Höhe getrieben, wie auch der BR mutmaßte. Natürlich argumentieren die Finanzbehörden, dass hohe Mieten Mehreinnahmen für den Staat garantierten, doch wird diese Praxis ganze Familien in die Bedürftigkeit oder gar Obdachlosigkeit treiben – während viele Hausbesitzer sehr wohl über Instrumente der Steuerminderung oder gar -umgehung verfügen. Hierzulande werden die Paläste subventioniert, während der Krieg gegen die Hüttenbewohner  beginnt.

 

Die Mieter kann es allerdings auch direkt treffen: Die Süddeutsche Zeitung griff den Fall der Barmherzigen Schwestern auf. Diese katholische Kongregation betreibt in München mehrere Pflege- und Altenheime. Damit sie überhaupt noch Fachkräfte findet, vermietet sie günstige Wohnungen an ihre Mitarbeiter, die sich sonst wohl keine Bleibe in der Luxus-Metropole leisten könnten. Zu billig, befindet das Finanzamt, das Quadratmeterpreise von neun bis zehn Euro (anderswo die Norm) wohl als Affront wider die geheiligten Prinzipien des Kapitalismus ansieht. Es wittert einen „geldwerten Vorteil“ und droht, die wahrlich nicht üppig bezahlten Pfleger und Krankenschwestern um 150 bis 350 Euro im Monat zu erleichtern – falls der Orden nicht doch künftig „vernünftige“ Mieten verlangt.

 

Die Finanzbehörden haben also die Wehrlosen als Quelle der Steuermehrung entdeckt. Diese schalten in der Regel keine Anwälte ein, und es ist auch nicht anzunehmen, dass sich Lobbyisten der Sozialmieter und Bedürftigen im Bundestag und in den Länderparlamenten die Klinken in die Hand geben.    

 

Die bayerische Wellness-Oase

 

Bayern ist überall, der ungezügelte Markt ist keine Erfindung des bajuwarischen Volksstammes. Umgekehrt ist aber auch richtig, dass die Exzesse der schamlosen Vorteilsannahme mit Billigung der Politik nirgendwo in Deutschland eine solche Dimension erreichten wie in Bayern.

 

Mit erstaunlicher Beharrlichkeit wurde hier von der Staatspartei CSU das Konzept eines Eldorado für unternehmerische Schlitzohren, sozusagen das System Strauß-Stoiber-Söder (von minderen Epigonen wie Streibl oder Tandler gar nicht zu reden), durchgesetzt und verewigt. Begüterte und Steuerverkürzer können sich im Freistaat ohne Furcht vor häufigen Prüfungen niederlassen, Unternehmen siedeln sich an, weil Kontrollen ihrer Bücher  Seltenheitswert haben. Bayerns Steuerbeamte haben Wichtigeres zu tun, etwa die Mieten in München nach oben zu regulieren, ganz im Sinne wohlhabender CSU-Mäzene.

 

Wer seinen Reichtum ohne große Mühe vermehren möchte, seine Villa in einem Naturschutzgebiet oder ein Gewerbegebiet in die grüne Landschaft setzen will, wer ständigen Kontakt zu den Spezerln in der Kommunal- und Landespolitik sucht, der wird sich im Freistaat zwischen Alpen und Rhön wie in einer Wohlfühloase vorkommen. Wie sich internationale Oligarchen als zumindest virtuelle Gäste in Panama oder auf den Cayman Islands sicher dünken, so genießen deutsche Magnaten die bevorzugte Behandlung in Bayern. Dass so auf unlautere Art und Weise ein Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Bundesländern entsteht – ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt! Leben und leben lassen, lautet hier die Devise. Gilt allerdings nicht für Migranten, kritische Geister, Antifaschisten und arme Mieter.

03/2020

Dazu auch:

Gemeiner Nutzen im Archiv dieser Rubrik (2014)

Professor Persil im Dossier Coburger Schande unter Medien

 

 

 

 

  


Erstligatauglich?


Meinungsäußerungen von Fußballfans und rassistische Beleidigungen scheinen ziemlich kompatibel zu sein – zu diesem Schluss könnte man jedenfalls gelangen, wenn man in den letzten Wochen Medienberichte aus den Stadien verfolgt hat. In England und Portugal wurden schwarze Spieler auf übelste Weise verhöhnt, und zuletzt hetzten Rechte in Münster und Gelsenkirchen gegen Spieler afrikanischer Abstammung. Doch während Anhängerschaft und Vereinsspitze des Bundesligisten Schalke 04 weiter unter Chauvinismus-Verdacht stehen, bewiesen die Fans des Drittligisten Preußen Münster, dass sie keine Rassisten in ihren Reihen dulden wollen.


Keine Nazis im Stadion


Die Bischofsstadt Münster ist außerhalb von NRW allenfalls wegen des Tatort-Kommissars Thiel und des snobistischen Gerichtsmediziners Börne ein Begriff. Nur die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch daran, dass Preußen Münster 1963 Gründungsmitglied der Bundesliga war. Doch der Verein stieg bereits im ersten Jahr ab, krebste in den unteren Spielklassen herum und kam der Edel-Division nie mehr nahe. Auch in dieser Drittliga-Saison sind die westfälischen Preußen stark vom Abstieg bedroht, was das Match gegen die nur wenig besser dastehenden Würzburger Kickers zu einer Art Schicksalspartie machte. 

 

In der Elf der Unterfranken lief der 23-jährige Leroy Kwadwo auf, dessen Vater einst aus Ghana nach Deutschland gekommen war. Immer wenn Kwadwo am Ball war, versuchte ein Zuschauer mit Gesten und Geräuschen, die er wohl für affenartig hielt, den Spieler lächerlich zu machen. Das Kalkül des Provokateurs war offenbar, andere Preußen-Fans zum Mitmachen zu animieren. Stattdessen skandierten diese lautstark „Nazis raus!“, worauf der Rassist versuchte unterzutauchen. Doch die empörten Ohren- und Augenzeugen machten die Polizei auf den Vorfall aufmerksam und halfen bei der Identifizierung. Nun erwartet den geschnappten Übeltäter ein Prozess wegen Volksverhetzung, ein dreijähriges bundesweit geltendes Stadionverbot hat der Verein schon gegen ihn ausgesprochen. Um die Integrität von Preußen Münster und den meisten seiner Fans scheint man sich keine Sorgen machen zu müssen, schon eher um die des Traditionsvereins Schalke 04.   

 

Schalke stinkt vom Kopf her


Bundesweit dürfte Schalke 04 bekannter sein als sein Standort Gelsenkirchen im Ruhrgebiet. Anfang Februar waren auch dort beim DFB-Pokalspiel gegen Hertha BSC rassistische Beleidigungen von Fans gegen einen schwarzen Gästespieler zu hören. Für den Berliner Profi Jordan Torunarigha müssen die widerlichen Primatenvergleiche besonders deprimierend gewesen sein, wurde doch schon sein Vater Ojokojo, einst ebenfalls Berufskicker, vor etlichen Jahren während eines Stadtfestes von Neonazis durch die Straßen von Chemnitz gehetzt. (Der dort beheimatete Drittligist leidet auch aktuell unter von rechtsextremen Mitgliedern ausgelösten Turbulenzen.) Auf Schalke indes ist der Vorfall keine Premiere, hatte sich doch Vereinschef Tönnies höchstpersönlich bereits einen chauvinistischen Scherz erlaubt.


Clemens Tönnies gehört nicht zu den Personen, denen man von vornherein erhöhte Sensibilität attestieren würde. Wer mit dem Schlachten von Schweinen und Rindern einen Umsatz von fast sieben Milliarden Euro erzielt, sollte nicht allzu zartbesaitet sein, was natürlich nicht heißt, dass man als Aufsichtsratsvorsitzender von Schalke 04 diskriminierende Plattitüden zum Besten geben darf. Doch offenbar wurde Tönnies von der renommierten Sozialexpertin Gloria von Thurn und Taxis, die einst erklärte, dass der Neger zu gern schnackselt, im Sommer 2019 zu dem Statement angeregt, man solle auf dem schwarzen Kontinent mehr Kraftwerke bauen, denn: „Dann würden die Afrikaner aufhören, Kinder zu produzieren.“ 


Zwar entschuldigte sich der Schweinebaron und ließ nach einer Anhörung durch den Schalker Ehrenrat sein Vereinsamt drei Monate ruhen, doch bleibt die Frage, ob ein Club, der wohl auch finanziell von einem solchen Herrenmenschen abhängt, nicht wie ein angegammelter Fisch vom Kopf her stinkt und sich über die menschenfeindlichen Ausraster seines Fußvolks nicht wundern darf. 


Stadionverbot für Höcke?


Das in Münster ausgesprochene dreijährige Stadionverbot ist sicherlich der richtige Weg, um rechtsradikale Eskapaden künftig zu erschweren, doch bleibt die Frage, ob diese Sanktion konsequent genug angewandt wird. Vor dreieinhalb Jahren erklärte der AfD-Vordenker Björn Höcke auf einer Tagung der Neuen Rechten, in Afrika dominiere der „Ausbreitungstyp“ der r-Strategie, der eine möglichst hohe Wachstumsrate anstrebe (und – so die Schlussfolgerung – dadurch die „Asylantenflut“ verursacht), während in Europa die K-Strategie vorherrsche, „die die Kapazität des Lebensraums optimal ausnutzen möchte.“


Biologen verwenden die Klassifizierung r-Strategie bei inferioren Lebewesen, etwa bei Bakterien, Läusen und Ameisen, während die K-Strategie von höher entwickelten Spezies wie Säugetieren und damit auch Menschen befolgt wird. Angesichts dieser Vergleiche müsste man – zynisch gesprochen – den Rassisten von Münster und Gelsenkirchen fast eine nuancierte Diskriminierung zubilligen: Für sie stehen schwarze Menschen wenigstens noch auf der Stufe von Affen, nicht auf der von Bazillen, Flöhen und anderen Blutsaugern. 

    

Wir erinnern uns auch an den honorigen Herrn Gauland, einst in der hessischen Staatskanzlei für die CDU tätig, dann für die AfD als Bundesvorsitzender unflätig. Er erklärte vor fast vier Jahren im Brustton der Überzeugung, dass den deutschafrikanischen Nationalspieler Jerome Boateng kein (weißer) Mensch als Nachbar haben wolle.


Wie wäre es denn mit einem unbefristeten Stadionverbot für die gesamte AfD-Führungsriege. Gründe dafür liefert sie ohne Unterlass. Wäre das nicht ein Zeichen für Erstligatauglichkeit - ein Prädikat, dass man den Fans der unterklassigen Münsteraner Preußen, nicht aber dem Kohlenpott-Darling Schalke 04 zugestehen könnte?

 

02/2020

Dazu auch:

Spitzen-Nachbar! Im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2016)

 

 





Ein Herz für Nieten


Was geschieht mit all den Bundesministern, die ein übellauniges Geschick aus ihrem Ressort gespült hat? Ertränken sie ihren Kummer über des Volkes Undank in der Eckkneipe, verfallen sie ob des Gnadenentzugs durch die Kanzlerin in Depressionen oder verelenden sie mittellos auf der Straße? Keine Angst, die Wirtschaft, der sie im Amt so manchen Dienst erwiesen haben, lässt sie nicht verkommen. Sie hat auch tatsächlich Verwendungszweck für die Geschassten, kann sie diese doch als fünfte Kolonne der diskreten Vorteilserschleichung in den ihnen vertrauten Mief ihrer alten Ressorts zurücksenden. Diese Praxis lässt uns für den Noch-Verkehrsminister Andreas Scheuer hoffen, dem derzeit viele Kleinmütige vorschnell eine düstere Zukunft im kärglichen Abseits prophezeien.


Versager als Türöffner


Dieser Tage erst machte sich ein Trio von Koryphäen des Scheiterns im Dienst auf den Weg, ihren früheren Amtsstuben Besuche abzustatten. Alle drei sind wieder in Brot und Lohn und wurden von Konzernen, denen ein gewisses Interesse an Kontroll- und Vergabekriterien bestimmter Ministerien nicht abgesprochen werden kann, in ihre Dienststellen von einst entsandt:


Im Sold des Rüstungsgiganten Rheinmetall sagte Franz-Josef Jung den ehemaligen Kollegen im Verteidigungsministerium Hallo. In seine Zeit als oberster Kriegsherr der BRD fiel 2009 der Bombenangriff auf zwei bei Kundus gestohlene Tanklaster, bei dem über hundert Afghanen, in der Mehrzahl Zivilisten, massakriert wurden. Jung informierte die Öffentlichkeit verspätet, unvollständig und weitgehend falsch, weshalb er wenig später – inzwischen als Arbeitsminister – zurücktreten musste. Es war nicht seine einzige Demission. Neun Jahre vorher hatte er als Landesminister in Frankfurt aufgegeben, weil er von seinem eigenen CDU-Parteifreund, dem Fraktionsvize Lortz der Mitwisserschaft in der hessischen Spendenaffäre bezichtigt worden war. Ein Mann, der exzessiven Waffengebrauch entschuldigt und sich in der Nähe von verdeckten Finanztransaktionen aufhält, muss einfach ins Anforderungsprofil eines Rüstungskonzerns passen!


Auch Dirk Niebel (FDP), der nacheinander in der Bundeswehr und in der Agentur für Arbeit als Karrierist scheiterte, steht auf der Gehaltsliste von Rheinmetall – und auch er ließ sich kürzlich in seiner alten Dienststelle sehenDer forsche Dirk forderte in der Opposition vehement die Abschaffung des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Als seine Partei eine Koalition mit der Union einging und kein anderer Posten für ihn frei war, übernahm er als Entwicklungshilfeminister genau den Posten, den er zuvor hatte eliminieren wollen. So wie die deutsche Wirtschaft, betrachtete auch er das Ressort offenbar als Schnäppchenbasar. Leider wurde sein Versuch, einen offiziellen Besuch Afghanistans 2012 zur zollfreien Ausfuhr (vulgo Schmuggel) handgewebter Teppiche zu nutzen, aktenkundig. Mit allen Wassern gewaschene Lobbyisten wie ihn kann die Wirtschaft gut gebrauchen und zum informellen Plausch an die alte Wirkungsstätte abkommandieren.


Niebels Parteifreund Daniel Bahr wiederum, als Chef des Gesundheitsressorts von 2011 bis 2013 u. a. wegen seines Zauderns beim EHEC-Ausbruch unter Beschuss, schaute sich unlängst im zurzeit von Jens Spahn geleiteten Ministerium um. Er wollte den einstigen Kollegen vermutlich die Wünsche des Versicherungsriesen Allianz vortragen. Dort hatte Bahr nämlich kurz nach dem Ende seiner politischen Laufbahn als Manager Unterschlupf gefunden.


Natürlich wissen wir nicht, worüber die drei Herolde der Wirtschaft in ihren früheren Ministerien geplaudert haben. Wir attestieren ihnen aber ein Pflichtbewusstsein, das die Inanspruchnahme von Zuwendungen und Spesen ohne Erbringung eines gewissen Nutzens für ihre Auftraggeber nicht zugelassen hätte. Ganz davon abgesehen, dass Konzerne ihre Mittel nicht für offenkundige Versager verschwenden würden, wenn sie diese nicht als Türöffner installieren könnten…

  

Sorgt euch nicht!


Während der gemeine Bundestagsabgeordnete sich während der Legislaturperiode durch Nebentätigkeiten in Vorständen, Aufsichtsräten oder Kanzleien finanziell gesundstoßen muss, kommen die Polit-Stars, die eine Zeit lang in Ausschüssen, Fraktionsgremien oder Regierungen etwas zu sagen hatten, erst nach ihrer Abdankung an das wirklich ordentliche Geld. Man muss sich also keine großen Sorgen um ihre Altersversorgung machen, wie das Beispiel Sigmar Gabriels zeigte.


Die rhetorischen Kaskaden des ehemaligen SPD-Vorsitzenden schwemmten jedes gedankliche Fundament hinweg und wurden landauf landab als Lärm, also störend, wahrgenommen. Kaum aber war Gabriel parteipolitisch entsorgt, zahlten Edel-Gazetten Unsummen für die in kurze Kolumnen gegossenen Ausbrüche seiner chronischen Logorrhoe. Bald darauf wurde dem Hansdampf-in-allen-Gossen der Vorsitz des exklusiven Think Tank (internationale Bezeichnung für Kungelklub) Atlantikbrücke angetragen, und nun soll er für die Deutsche Bank tätig werden, was nur die freuen wird, die dieses Geldinstitut abgründig hassen.


Insofern darf auch Andreas Scheuer seiner Zukunft hoffnungsvoll entgegensehen. In Abwandlung des Titels einer bestsellenden Hitler-Schmonzette könnte man angesichts seines Beharrungsvermögens erstaunt feststellen „Er ist immer noch da“, doch dürfte es sich nur noch um eine kurze Gnadenfrist handeln. Dann geht das Geldverdienen richtig los.


Eigentlich stehe ich Science-Fiction skeptisch gegenüber, zu zügellos geriert sich die Phantasie, wenn sie erst einmal losgelassen. So kreierte ich vor etwa zwanzig Jahren bei dem Versuch, ein utopisches Werk zu verfassen, ein völlig abscheuliches Monster ohne Gefühl, Intelligenz und Wirklichkeitsnähe. Da mir meine Schöpfung maßlos übertrieben vorkam, legte ich die Arbeit beiseite. Vor vier Jahren aber erwachte die Kreatur zum Leben, sie hieß Donald Trump und war plötzlich US-Präsident. Seitdem bin ich vorsichtig mit Zukunftsvisionen. Aber bei Andi Scheuer liegen die Dinge anders (weil harmloser Schwank statt globaler Tragödie zu erwarten ist), und so wage ich doch noch einen Blick in die Glaskugel, denn in diesem Fall dominiert der fröhliche Optimismus des Unbedarften.


Andis schöne neue Welt


An einem Montag in nicht allzu ferner Zukunft stellt der adrette Niederbayer seinen Boliden auf dem Gästeparkplatz des Bundesverkehrsministeriums ab. Rund zwölf Stunden war er von München nach Berlin unterwegs, weil er immer wieder von Staus und Baustellen ausgebremst wurde. Dazwischen konnte er aber mehrmals für einige Kilometer mit 250 Sachen über die Autobahn brettern. Andi ist im Auftrag von Daimler, BMW und Audi unterwegs; es handelt sich um eine Joint-Venture-Mission -  ein Konzern allein konnte sich diesen so wertvollen Mann gar nicht leisten.


Die drei SUV-Hersteller waren soeben wieder einmal dabei ertappt worden, wie sie aktuelle Regierungsmitglieder mit goldenen Lenkrädern bestochen und Testapparaturen so manipuliert  hatten, dass Prüfer lungenkrebsige Abgase für milde Waldluft hielten. Strafen drohten, Verbote wurden angekündigt, doch die Konzerne schnürten rasch ein Paket von Gegenmaßnahmen, die ein bisschen Nachrüstung oder einen vom Staat subventionierten Fahrzeugtausch beinhalteten. Und als ihren besten Mann, der das alles schon einmal erlebt hatte, schickten sie Andi ins Gefecht.


Kaum betritt Andi seine frühere Wirkungsstätte, als ihm auch schon auffällt, dass sich die Ministerialräte und Bürodiener nicht mehr per pedes durch die endlosen Gänge bewegen, sondern auf E-Scootern. Eine Sekretärin erklärt ihm, dass durch diese Maßnahme ein großer Teil der Roller, die in herrenlosem Zustand alle Straßen der Hauptstadt zu verstopfen drohen, einer sinnvollen Nutzung zugeführt wird. Schnell findet Andi sein ehemaliges Büro wieder. Als er eintritt, ist es wie ein Déjà-vu für ihn: Hinter dem mächtigen Schreibtisch sitzt ein noch junger Mann mit Hornbrille und etwas dämlichem Gesichtsausdruck – es könnte sich glatt um Alexander Dobrindt oder einen Wiedergänger seiner selbst handeln, das Verkehrsminister-Styling der Münchner Staatskanzlei hat  also Bestand. Herzlich schütteln sich die beiden die Hände, sind sie doch Parteifreunde, denn das Verkehrsministerium ist längst in den Familienbesitz der CSU übergegangen. Bald vertiefen sie sich in ein konstruktives Gespräch…


Was der jetzige Minister und sein Vorgänger, der jetzige Lobbyist Andi, im Detail besprechen, muss unseren unberufenen Ohren vorenthalten bleiben. Da mag es um Mindesttempo 70 auf Spielstraßen oder Prämien für besonders gelungene Manipulationen bei fiesen Abgastests gehen, egal. Wir sind uns jedenfalls sicher: Zum Schaden der Automobilindustrie wird es gewiss nicht sein. 

02/2020 

Dazu auch:

Karriere eines Klons (2018) und Tricky Dirk (2013) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit 

Lobbykratie BRD im Archiv dieser Rubrik (2013) 







Verbieten verboten!


Verbote sind entweder von der Obrigkeit ausgesprochene Tabus, die Privilegien der Herrschaft vor dem Zugriff des niederen Volkes schützen sollen, oder aufgrund von Expertenerfahrung formulierte Verhaltensregeln zur Verhinderung desaströsen Tuns, etwa von Kindern, Verkehrsteilnehmern oder Militärs. Die Parteien des rechtsbürgerlichen Spektrums, insbesondere die Union, haben die Unterschiede zwischen beiden Spielarten eigentlich nie so richtig definiert, und jetzt können sie ganz auf eine Differenzierung verzichten. Einst im Mief der 1950er Jahre als krasse Verbotsvereine hochgekommen, stilisieren sich CDU und CSU heute als Vorreiter der Freiheit – soweit diese Laissez-faire-Attitüde gewissen exklusiven Kreisen nutzt.


Anarcho-Sause der Adenauer-Urenkel


Was war nicht alles verboten in den Anfängen der Bundesrepublik, jener bleiernen Zeit vor der 1968er Revolte (und teilweise noch einige Jahre nachher): Homosexualität, Abtreibungen, das Kürzel „DDR“, die KPD (nicht aber diverse rechtsextreme Kleinparteien), Berufstätigkeit einer Frau ohne Erlaubnis ihres Ehemanns, Pazifismus (realiter zumindest, denn die wenigen Kriegsdienstverweigerer ließ man anfangs fast immer in „Gewissensprüfungen“ durchfallen), linke Meinungen im Öffentlichen Dienst (vulgo Berufsverbote) etc.


Verantwortlich für diese gesellschaftlichen Restriktionen war die Union unter den Kanzlern Adenauer und Erhardt, sekundiert von der damals mehrheitlich deutschnationalen FDP. Erlaubt blieben gleichzeitig übrigens die massenweise Beschäftigung von Altnazis in Ministerien und die Restitution vormals zusammengeraffter Reichtümer an braun vorbelastete Industrielle sowie Adlige.


Zähneknirschend mussten die Altkonservativen den Einzug neuer Sitten, anderer Denkmodelle, religiöser und (atheistischer) Vielfalt in das von ihnen doch so sorgsam gehütete Gesellschaftsgebäude Westdeutschlands hinnehmen. Ihre Nachfolger verschrieben sich einer ausschweifenden Konsumsause, die Einschränkungen und Verbote hinwegfegte, soweit Wachstumsideologie, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse nicht tangiert wurden. Den alten Rechten, etwa an bayerischen CSU-Stammtischen beheimatet, ist das libertäre Gebaren heute noch ein Graus, aber junge Karrieristen wie Jens Spahn bekennen sich inzwischen offen zu ihrer Homosexualität, wofür ihnen vor gut 50 Jahren noch Gefängnis gedroht hätte, und können sogar CDU-Minister werden. Gerade an dem erklärten neuen Rechten Spahn zeigt sich allerdings, dass der Wandel mehr die Politur als den inhaltlichen Wert betraf. Über Flüchtlinge äußerte er sich inhuman und ablehnend, wie um zu belegen, dass Schwule nicht unbedingt tolerantere Menschen als Hetero-Nationale sein müssen.


Die ungehemmte Verbrauchs- und Verschwendungslust und das unvernünftige, aber profitable Produzieren weltweit führten mittlerweile zu Klima- und Sinnkrisen in der Ersten sowie Hoffnungslosigkeit, Krieg und Flucht in der Dritten Welt. Daher haben derzeit weite Teile der hiesigen Bevölkerung die große Freiheit ohne tatsächliche Mitwirkung satt, fühlen sich von Medien wie Politik betrogen, von Ausländern und anderen Verbrechern bedroht, rufen nach mehr Polizei und lückenloserer Überwachung, während Wirtschaft und Finanzmärkte anarchisch regellos und unkontrollierbar Ressourcen abgreifen, als gäbe es kein Morgen. Und jetzt wäre tatsächlich das eine oder andere Verbot angebracht, um die Menschen und die Umwelt vor irreversiblen Schäden zu schützen, aber die Unionspolitiker scheinen alle den verschwiegenen Freiheitskämpfer Wilhelm Tell geben zu wollen, auf den sich die Schweizer Bankenrepublik beruft, wenn jemand wissen will, woher die Gelder stammen, die sie aufbewahrt.

   

Freie Fahrt in Umwelt-Chaos


Wie ein Mann stehen die Unionsparteien hinter Verkehrsminister Andreas Scheuer, wenn er sich gegen die „Verbotskultur“ wendet und die freie Raserei auf Autobahnen ausdrücklich billigt, koste sie Menschenleben, wie sie wolle. Tempo Unbegrenzt ist nur ein Nebenaspekt im Trauerspiel um die selbst gesteckten Klimaziele. Diese können ohnehin nie erreicht werden, haben doch die christlich-konservativen Söldner der Autolobbyisten im Europaparlament schon längst dafür gesorgt, dass kleinliche Grenzwerte für Emissionen vom Tisch kamen, damit die deutschen Konzerne auch weiterhin in jeder Beziehung verschwenderische SUVs für den stockenden Stadtverkehr verkaufen können. Und ganz im Sinne der neuen Chaoten-Strategie ignoriert CSU-Ministerpräsident Markus Söder (gelernter Jurist) einfach rechtskräftige Gerichtsurteile, die ein Fahrverbot für Diesel-Dreckschleudern in belasteten Stadtvierteln dekretieren: Legal? Illegal? Scheißegal?


Doch nicht nur die Automobilindustrie will bedient sein, auch die Energie-Lobby fordert erfolgreich ihr Recht ein. Hatte nicht Kanzlerin Merkel das künftige Verbot der nie völlig beherrschbaren und immens folgenschweren Nutzung von Atomkraft wieder rückgängig gemacht (bis sie dann nach Fukushima kalte Füße – oder besser: nasse, war ja ein Tsunami – bekam und erneut zurückruderte)? Die Pharma- und Chemiekonzerne wollen ebenfalls bedacht werden, schließlich müssen sie ein stehendes Heer von Lobbyisten in Berlin und Brüssel unterhalten, die wiederum Gesetze mitschreiben und spezielle Untersuchungen mitgestalten. Also wurde es zunächst nichts mit dem sofortigen Verbot von Glyphosat als Vorsichtsmaßnahme wegen möglicher Krebserregung und zum Schutz der Artenvielfalt.


Selbst die Bauernverbände, in denen die Agrar-Industriellen das Sagen haben, können mit guten Aussichten darauf hinarbeiten, Verbote zu kippen, selbst wenn diese auf Druck der EU ausgesprochen wurden. Wieder ist es die CSU, die ihrer großbäurischen Klientel die neue Düngemittelverordnung ersparen möchte, auf dass die Großagrarier weiterhin Äcker und Fluren in Klärschlamm ertränken und unser Trinkwasser so „anreichern“ dürfen. Für Folterhaft von Hühnern und Schweinen, Qualtransporte von Rindern, verstümmelte Schwänze, Klauen und Schnäbel, mit Antibiotika vollgepumptes Schlachtvieh ist wiederum die Pfälzer Ex-Weinkönigin Julia Klöckner von der CDU zuständig, die auch nichts verbieten will, sondern lieber ein luftiges „Tierwohl“-Label kreiert, an dem sich niemand orientieren muss und die Verbraucher dafür kritisiert, dass sie billiges Fleisch kaufen. Noch ist nicht bekannt, ob der ministerielle Tadel im Mindestlohn-Milieu einen Run auf hochpreisige Delikatessen-Boutiquen ausgelöst hat.

   

Den Cum-Ex-Betrug, mit dem sich Weißkragen-Gangster über Mehrfacherstattung von Steuern Milliarden erschlichen, verbieten? Lange (und für den Steuerzahler kostspielige) Jahre lang war das keine Option, neigte doch der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble, so etwas wie der Uli Hoeneß der Politik, dazu, der Kreativität des Finanzmarktes freien Lauf zu lassen, zumal die ganze Trickserei ja vom Vorgänger und SPD-Kollegen Peer Steinbrück ganz ordentlich zugelassen worden war.


Das Kriegswaffenkontrollgesetz schreibt dem Sicherheitsrat der Bundesregierung eigentlich zwingend vor, alle Rüstungsexporte in Staaten, die an bewaffneten Konflikten beteiligt sind, etwa Saudi- Arabien, Ägypten oder die Vereinigten Emirate, strikt zu unterbinden. Aber möchte man die in unionstreuen Wahlkreisen angesiedelten Unternehmen vergrätzen? Soll die Konkurrenz in anderen EU-Ländern das tödliche Geschäft allein machen? Könnte nicht der eine oder andere Arbeitsplatz wegfallen, weil die so hingebungsvoll den Waffenhandel betreibenden Firmen ein rüdes Verbot nicht vertragen? Nein, dann lieber mit immer lauteren und stets leeren Absichtserklärungen hausieren gehen, jedes Jahr neu den Stopp der bösen Deals ankündigen – und doch alles beim Alten lassen.


Es ließen sich noch viele ähnliche Beispiele anführen, doch legen schon die erwähnten den Schluss nahe, die Bundesrepublik sei eine verbotsfreie Insel im Meer der Reglementierung, quasi ein Schlaraffenland für Anarchisten und Antiautoritäre. Doch der Schein trügt: Untersagt wird sehr wohl, aber zumeist das, was der Gesundheit und den Menschen nützt, unglücklicherweise aber die Wirtschaft in ihrem Wachstum (Übelwollende sprechen hier von Wucherungen) bremst.


Damit sich der Bürger nicht alles erlaubt


Verbot ist eigentlich ein negativ besetzter Begriff, er bezeichnet aber manchmal die letztmögliche Maßnahme, in ein unheilvolles Geschehen einzugreifen oder einer Katastrophe vorzubeugen. Andererseits kann eine strafbewehrte Untersagung Störungen der elitären Symbiose zwischen rechtsbürgerlicher Politik und profitorientiertem Marktoligopol hervorrufen. Wer gegen die Praktiken der Wirtschaft vorgeht, die Integrität von Staatsdienern in Frage stellt oder sich über hohle Machtsymbole mokiert, muss bisweilen mit Verboten rechnen, auch wenn er belegbare und/oder sinnvolle Gründe angibt. Hier einige vermischte Beispiele für eine höchst sensible Behandlung von Sachverhalten und Beteiligten:


Wer gegen den Anspruch eines Energiekonzerns, Dörfer und Wälder der Förderung des nach allgemeinem Konsens vor dem Ende stehenden Rohstoffs Braunkohle zu opfern, agiert, sieht sich der jeden Zutritt (auch zu Wäldern) verbietenden Staatsmacht gegenüber.


Es ist nicht verboten, die übel vorbelastete erste Strophe des Deutschlandliedes lauthals zu singen, wer allerdings über den dem ganzen Song innewohnenden Kitsch spottet, riskiert eine Strafe wegen „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“.


Die Annahme, ein Demonstrant habe auf einer Kundgebung gleiche Bürgerrechte wie ein Polizist ist irrig. Fotografieren, Diskutieren und Protestieren sind dem Zivilisten verboten. In Ermittlungen ist es untersagt, das Zeugnis von zehn Demonstranten für glaubwürdiger als die Aussage eines einzigen Beamten zu halten. Wer einen Polizisten auf einer Demo duzt, beleidigt einen Staatsvertreter. Umgekehrt gilt das Duzen von Kundgebungsteilnehmern durch Ordnungshüter als jovialer Akt.


In den letzten Jahren erreichten  essentielle Informationen die Öffentlichkeit nur, weil Mitarbeiter von Unternehmen oder Geheimdiensten die Missetaten ihrer Arbeitgeber publik machten. Panama-Papers, NSA-Skandal oder Facebook-Datenklau wurden nicht wegen des Aufklärungswillens der Politiker oder des Recherche-Eifers der professionellen Medien ruchbar, sondern weil interne Mitarbeiter die illegalen Machinationen ihrer Dienste, Ämter und Finanzdienstleister aufdeckten. Da die ökonomische und bisweilen sogar physische Existenz solcher Whistleblower gefährdet ist, beschloss das EU-Parlament, ihr Vorgehen zu entkriminalisieren und ihnen Schutz zu gewähren.


Es sollte also nicht mehr verboten sein, die vertraglich festgelegte Verschwiegenheitspflicht zu verletzen, wenn dadurch Schaden von der Gesellschaft abgewendet werden konnte. Ausgerechnet die damalige deutsche Justizministerin Katarina Barley von der schwindenden Unionspartnerin SPD stellte sich quer und machte aus der Chance, Verfehlungen und Verbrechen sofort der Gemeinschaft mitzuteilen, einen Schneckengang mit hohen persönlichen Risiken für den wagemutigen Hinweisgeber: Erst habe der nämlich behörden- oder firmenintern Abhilfe anzumahnen, dann solle er Behörden informieren und erst danach dürfe er sich an die Öffentlichkeit wenden.


Im Falle Edward Snowdens hätte diese Reihenfolge vermutlich bedeutet, dass er nach dem ersten Schritt nicht mehr leiblich existent gewesen wäre. Aber gerade, was den ehemaligen Agenten betrifft, hat sich ja die Bundesregierung ohnehin eine eigenartige Dialektik zurecht gebastelt: Whistleblowing ist im Prinzip nicht verboten, aber Snowden müsste de facto trotzdem damit rechnen, an die USA ausgeliefert zu werden. 

01/2020 

Dazu auch:

Der kann nichts dafür in dieser Rubrik

Barleys Gesetz (2019) und Oppermännchen (2015) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 

 

    

 

 

2019



Das große Einknicken


Es mutet zunächst wie eine Provinzposse an, doch die Vorgänge im fränkischen Schwarzenbruck zeigen exemplarisch, wie hierzulande von Rechten mithilfe sozialer Medien eine Atmosphäre der Verunsicherung und Einschüchterung erzeugt wird. Kommunalpolitiker fassen zunächst einen couragierten Beschluss, weichen dann vor einem Shitstorm zurück und lassen sich mehrheitlich am Ende auch noch instrumentalisieren – und die regionale Presse geht von kritischer zu beschönigender Berichterstattung über. Der Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke ist nur der traurige Höhepunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung, die zunehmend durch neonazistische Gewaltbereitschaft, begleitet von rechter Meinungsführerschaft im Netz, gekennzeichnet ist , die aber von manchen etablierten Medien verharmlost wird.


Ein Schlafdorf wird geweckt


Die 8000-Seelen-Gemeinde Schwarzenbruck liegt idyllisch im Speckgürtel der Franken-Metropole Nürnberg zwischen Wäldern, Feldern und Wiesen. Die meisten Berufstätigen arbeiten in der nahen Großstadt, einige auch für eine der großen evangelischen Sozial-Institutionen, die im Ortsteil Rummelsberg angesiedelte Diakonie. Viele Bürger verdienen überdurchschnittlich und wohnen im eigenen Häuschen. Fernab von sozialen Problemzonen schien nichts die beschauliche Ruhe des Schlafdorfs stören zu können – bis der Bauunternehmer Klaus-Peter Weber im vorigen Jahr beschloss, die Netz-Republik mit Kommentaren zu brisanten Themen zu beglücken.


Weber, den nicht wenige für den wohlhabendsten Bürger in Schwarzenbruck halten, monologisiert in selbstgedrehten Filmchen auf YouTube und auf Facebook gegen Migranten, die er – ungeachtet der Genfer Flüchtlingskonvention – weitgehend mit „Illegalen“ gleichsetzt, gegen Kanzlerin Merkel, die er wegen der zeitweisen Grenzöffnung vor Gericht zerren möchte, gegen die “Manipulationen“ von ARD und ZDF und dagegen, dass extrem rechte Meinungen von den Medien als rechtsextrem eingestuft werden. Bisweilen droht er politischen Gegnern, sie mit Klagen zu überziehen, aber viel öfter spricht er von sich selbst und den Spenden, die er der Gemeinde und sozialen Einrichtungen zukommen lässt. Irgendwie beschleicht den Beobachter das Gefühl, ein Reicher übe sich in Wohltaten, um der dankbaren Gemeinschaft seine Rechtsauffassung und Positionen überzustülpen.


Nun klingt das alles nicht besonders aufregend. Blogs und Video-Clips, in denen dezidiert Rechte in egomanischer Attitüde und mit seltsamer Logik die Menschheit von der Wahrheit überzeugen wollen, gibt es zuhauf. Bemerkenswert aber ist, dass Weber bundesweit inzwischen über 60.000 Abonnenten hat, und seine Beiträge nach den Chemnitzer Vorkommnissen von drei Millionen User angeklickt wurden. Geradezu exemplarisch für unser Land aber ist der erstaunlich changierende Umgang der Kommunalpolitik und der örtlichen Monopolzeitung mit dem missionarischen Autodidakten.

  

Der Unternehmer und die Rampensau


In holpriger Sprache und unklarem Zusammenhang abgesonderte Sprüche wie „Wenn wir alle rechts wären, dann wären nicht anderthalb Millionen Menschen im Land und werden von unserer Sozialhilfe bedient“ oder  „Mir langen die deutschen Straftäter, ich brauch da nicht noch jemand, der bei uns Schutz sucht, und wir müssen vor denen Schutz suchen“ sind nicht gerichtsverwertbar, sondern unbeholfen, und wären damit eigentlich belanglos, wenn sie heutzutage nicht von einem Millionenpublikum unter dem Motto „Das wird man doch noch sagen dürfen…“ goutiert würden. Und tendenziöse Vereinfachung bereitet bisweilen den Boden für diejenigen, die es nicht bei Worten belassen…

 

Durch den bundesweiten Zuspruch für seine YouTube-Kampagne bestätigt, beschloss Weber, das kulturelle Niveau seiner Heimatgemeinde mittels eines Event-Konzerts deutlich zu heben. Jürgen Drews, als Ballermann-Rampensau und selbsternannter „König von Mallorca“ in gewissen Kreisen weltberühmt für gediegene Unterhaltung, sollte am 14. Juni einen „Benefiz“-Auftritt vor 1200 Zuschauern hinlegen. Für das Ticket hätten die Musik-Gourmets 25 Euro berappen sollen, der erhoffte Erlös wäre gespendet worden. (Dem Vernehmen nach waren aber bis zur späteren Absage des Konzerts viel zu wenige Karten verkauft worden.) Organisator Weber bat die Gemeinde um organisatorische Hilfe, Mitarbeiter des Bauhofs sollten Bänke aufstellen. Doch nun wehrten sich die Grünen-Fraktion im Gemeinderat und ihr parteiloser Bürgermeisterkandidat Mario Rubel gegen dieses Ansinnen.

 

Distanzierung und Reaktion

 

Sie verwiesen auf Webers Net-Aktivitäten, und tatsächlich distanzierte sich am 4. Juni der Gemeinderat, in dem neben der Öko-Partei noch SPD, CSU und Freie Wähler sitzen, von den kruden Inhalten. In der Presse hieß es: SPD-Fraktionschef Manfred Neugebauer war nach eigenen Angaben ´schockiert`, als er Videos von Weber im Internet gesehen habe.“

               

Der Schockzustand des Sozialdemokraten kann nicht lange vorgehalten haben. Ein paar sonnige Tage lang glaubte man, Schwarzenbruck werde als Vorbild für den beherzten Umgang mit rechter Vebalradikalität im Internet bundesweit positive Schlagzeilen machen  – und das im tiefschwarzen Bayern! Schließlich sind die Ermordung Lübckes und die Menschenhatz in Chemnitz in den sozialen Medien „angedacht“ und menschenverachtend kommentiert worden.

 

Dann erhob sich ein mächtiger Shitstorm eben dort, und es geschah, was der grüne Gemeinderat Wolfgang Hubert später in der BR-Sendung quer in Bezug auf das Verhalten der anderen Parteien so charakterisieren sollte: „Sie sind umgefallen wie Kegel.“  

 

Rückzug und Unterwerfung


Das bundesdeutsche Publikum, das Klaus-Peter Webers Interpretation der Welt im Internet für bare Münze nahm, flutete nun die Websites und Mail-Adressen der Schwarzenbrucker Gemeinderäte mit Droh- und Hassbotschaften. So wurde Mario Rubel, Bewerber für das Bürgermeisteramt, als „Volksverräter“ beschimpft, begann um seine Familie zu fürchten, hielt aber an seiner Meinung fest – wie auch die Grünen. Bei den anderen im Gemeinderat vertretenen Parteien ereignete sich indes ein wahrlich radikaler Einstellungs- und Gesinnungswandel.

War es der Druck durch den Mob im Internet, die Angst vor rechtlichen Schritten Webers oder vorauseilender Gehorsam gegenüber dem großzügigen Mäzen? Wir werden wohl nie erfahren, was die Fraktionsspitzen von SPD, CSU und Freien Wählern bewog, sich zehn Tage nach ihrem Distanzierungsbeschluss bei dem 65-jährigen Unternehmer zu entschuldigen. Die Krone der Peinlichkeit gebührt allerdings dem Bürgermeister. 

 

Bernd Ernstberger erklärt in einem im Rathaus (!) aufgenommenen Video, in dem Weber als Akteur und Moderator in einer Person, wirkte und das die Gemeinde sowie der Unternehmer im Netz veröffentlichten: „In der Gemeinderatsitzung am 4. Juni kam es leider zu einer Entscheidung, die ich bedauere und für die ich mich entschuldigen möchte.“ Seinen Sinneswandel begründete der Bürgermeister damit, ein von ihm beauftragter Fachanwalt habe Webers Videos geprüft und sei zu dem Schluss gekommen, es liege nicht einmal der Anfangsverdacht einer Straftat vor.

 

Das allerdings hatte auch niemand behauptet. Von einem Mann, der Ressentiments durch Zuspitzung schürt (O-Ton: „Und wenn ein Zehnjähriger von drei, von zwei Syrern und einen Afghanen vergewaltigt wird, da ist kein Aufschrei da.“), distanziert man sich nicht, weil seine Diktion strafbewehrt sein könnte, sondern weil man vielleicht der Meinung ist, sie sei gefährlich und begünstige Fremdenhass. Schließlich wird ein entsetzlicher Einzelfall zum Beweis für multinationale Bestialität stilisiert, während Zehntausende von deutschen Onkels, die ihre Neffen und Nichten missbrauchen, ohne Erwähnung der Nationalität und ohne „Aufschrei“ davonkommen, weil ihre Taten anscheinend zur statthaften heimischen Folklore gerechnet werden.

 

An anderer Stelle schüttelt Bürgermeister Ernstberger dem alten und neuen Freund Weber die Hand („Sehr geehrter Herr Weber, lieber Peter…“) und besiegelt den Bund mit einem Maulkorb-Gesuch: „Ich bitte darum, dass sich alle außenstehenden Personen und Gruppierungen nicht mehr einmischen.“ Dabei hatte sich die Regionalpresse zuletzt recht vorteilhaft für Klaus-Peter Weber, den „rechten Scharfmacher“ (TV-Moderator Christoph Süß im BR-Magazin quer), eingemischt.

 

Ein journalistischer Eiertanz


Die Nürnberger Nachrichten (NN) behaupten in Mittelfranken eine erstaunliche mediale Machtstellung. Zu ihrem Verlagshaus gehören die lokale „Konkurrenz“, die Nürnberger Zeitung, sowie 18 Mantelzeitungen, die Großstädte wie Fürth und Erlangen, aber auch ländliche Regionen abdecken. Für die Schwarzenbrucker ist Der Bote der unverzichtbare NN-Ableger.


Die NN sind trotz sinkender Auflage immer noch eine der größten Tageszeitungen Deutschlands, und da zum Verlag auch der Monopol-Vertrieb für die Gegend gehört, verdienen sie an allen anderen dort im Handel verkauften Publikationen mit. Eine glänzende Ausgangslage, um ohne äußeren Druck guten Journalismus zu praktizieren, möchte man meinen. Doch trotz gelegentlicher gründlicher Recherche, etwa zum NSU-Umfeld, verharrt das Blatt inhaltlich weitgehend in bräsiger Selbstzufriedenheit, während durch neues Layout und Reduzierung der Artikellängen die Boulevardisierung forciert wird.


Hinzu kommt in den Mantelzeitungen die für Lokaljournalisten und Kommunalpolitiker so typische Anbiederung an regionale Wirtschaftsgrößen und Provinz-Zampanos. Dass Der Bote der Vorankündigung des von Weber promoteten Drews-Konzert ungewöhnlich viel Platz einräumt, ist ja noch verständlich, passiert doch in dem verträumten Schwarzenbruck nicht eben viel; dass aber der Eintritt des Immobilienunternehmers in die WerteUnion der Zeitung am 1. Juni einen Fünfspalter mit großem Foto wert war, verblüfft doch irgendwie.


Die WerteUnion ist ein am rechten Rand der Union angesiedelter Verein von Mitgliedern und Freunden der CDU. Die reaktionäre Vorhut wird von der Parteispitze nicht anerkannt und zählt einige fragwürdige Persönlichkeiten zu ihren Mitgliedern, etwa den Ex-Verfassungsschutzpräsidenten, multiplen Versager und AfD-Versteher Hans-Georg Maaßen oder Hinrich Rohbohm, Redakteur bei der rechtsradikalen Jungen Freiheit. Dazu gehört(e) auch Max Otte, Vorsitzender des Kuratoriums der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, der nach dem Mord an Walter Lübcke mit folgendem Tweet Aufsehen erregte: "#Lübcke - endlich hat der #Mainstrem (sic!) eine neue #NSU-Affäre und kann hetzen. Es sieht alles so aus, dass der #Mörder ein minderbemittelter #Einzeltäter war, aber die #Medien hetzen schon jetzt gegen die 'rechte Szene', was immer das ist. #Rechtsextremismus." Daraufhin forderte die WerteUnion den CDU-Ausschluss des eigenen Mitglieds Otte.


Für den Eintritt des parteilosen Weber in diesen illustren Haufen schlägt also der Bote eine ganze Seite frei. Handzahm nähern sich die beiden Redakteure Alex Blinten und Christian Geist dem streitbaren Provinz-Krösus, lassen ihn über Merkel schimpfen, konfrontieren ihn dann plötzlich tollkühn mit seiner Behauptung, ARD und ZDF seien „populistisches Propagandafernsehen, schlimmer als das Fernsehen zur Zeit der DDR“, und geben ihm nach seiner Bekräftigung des starken Tobak sogar teilweise recht (positive Berichterstattung über die Grünen). Von unübertrefflichem Euphemismus aber ist die Erwähnung der Weber-Präsenz im Internet durch die beiden Journalisten: „Sie werden mit 65 Jahren wohl nicht mehr in die Politik gehen. Die sozialen Netzwerke, You Tube, die Äußerungen hier und die Diskussion mit Lesern und Zuschauern bereiten Ihnen allerdings Freude.“ Ja, das Bedienen von Aversionen und Vorurteilen macht einfach Spaß.


Immerhin äußert der Chefredakteur des Boten, Christian Geist, einige Tage später Verständnis für die Distanzierung des Schwarzenbrucker Gemeinderats von den Inhalten der Weber-Videos: „Zu nahe waren einige seine Thesen am Duktus der neuen Rechten.“ Allerdings kritisiert der Journalist, dass zu spät gehandelt worden sei: „Denn wenn allein Webers Inhalte den Ausschlag gegeben hätten, dann hätte sich die Gemeinde schon viel früher von dem Geschäftsmann distanzieren müssen…“ Hier sollte sich Geist aber an die eigene Nase fassen. Seiner Zeitung (als Repräsentantin der vierten Macht) hätte es zuallererst oblegen, über Webers Rabulistik und deren wachsende Anhängerschaft kritisch zu berichten, statt ihm ein mild moderiertes Forum zur Selbstdarstellung anlässlich seines Eintritts in die WerteUnion zu bieten.


Am 11. Juni schließlich kommt es zu einer nichtöffentlichen Besprechung des Bürgermeisters mit den Fraktionssprechern und Klaus-Peter Weber. Der distanziert sich von der extremen Rechten (was immer er darunter versteht) – und die Gemeinde entschuldigt sich – mit Ausnahme der Grünen – für ihren Distanzierungsbeschluss. Am selben Tag ereignet sich auch in der regionalen Publizistik Erstaunliches: Die Zentralredaktion der NN zieht die Deutungshoheit in der Causa Weber an sich. In einem langen Artikel (zweizeilige Überschrift: „Das ist eine moderne Hexenjagd,/die mich ans Mittelalter erinnert“) kommt vor allem der Bauunternehmer zu Wort. Der NN-Redakteur André Ammer sieht die armen Gemeinderäte nicht mehr vom rechten Net-Mob, sondern von impertinenten Schwarzenbrucker Streithanseln getrieben:


In der vorangegangenen Bürgerfragestunde sprechen sich rund 40 Besucher lautstark dafür aus, dass sich Bürgermeister Bernd Ernstberger (SPD) und der 20-köpfige Gemeinderat von dem meinungsstarken Unternehmer abgrenzen. Ein Beobachter des Geschehens sagt, dass er noch nie eine so aggressive Atmosphäre im Sitzungssaal des Schwarzenbrucker Rathauses erlebt habe. Das Gremium beugt sich schließlich dem Druck und gibt einstimmig grünes Licht für diesen symbolischen Akt.


Seltsamerweise liegt  mir ein anderer Augen- und Ohrenzeugenbericht vor, der allerdings von höchstens 20 Besuchern und einer eher ruhigen Atmosphäre handelt.


Vier Tage später vollendet Ammer die Reinwaschung Webers, in einem Meinungsbeitrag in den NN (Titel: „Einige Weber-Kritiker haben sich selbst disqualifiziert“). So konstatiert der Redakteur zwar, dass man, wenn man auf Webers Facebook-Profil oder seine YouTube-Videos klickt, des öfteren auch auf rechtspopulistische Größen wie AfD-Gauland oder Thilo Sarrazin verwiesen wird, erklärt dies aber damit, dass deren Themen eben manchmal denen des Unternehmers ähnlich seien. Die Algorithmen, die Ammer für die Links verantwortlich macht, interessieren aber die Themen relativ wenig, sie vergleichen eher die potentiellen Vorlieben der User, der Community bzw. der Follower. Man kann also davon ausgehen, dass Weber und Gauland Anhänger mit ähnlichen Ansichten und Bedürfnissen haben.

Insofern geht auch die folgende Mahnung des NN-Redakteurs ins Leere:


… Begrifflichkeiten wie „rechtspopulistisch“ oder „rechtsgerichtet“ sind sehr schwammig und werden in der politischen Auseinandersetzung deshalb gerne instrumentalisiert.


Inhaltlich und stilistisch spielt Klaus-Peter Weber in einer Internet-Liga, für die Beschreibungen wie „rechtsgerichtet“ oder „rechtspopulistisch“, nicht „schwammig“, sondern höchstens ein wenig zu schwach scheinen. 


Die traurige Moral der Geschichte


Es mag Weber ehren, dass er sich öffentlich gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus ausspricht. Wünschenswert wäre allerdings, er hielte sich von Propagandisten dieser grausamen Irrwege fern – und das nicht nur im Netz. Am 10. Juni eilen 35 „Gelbwesten“ aus Nürnberg dem Unternehmer zu Hilfe und halten eine Kundgebung in Schwarzenbruck ab. Mit dabei sind der zweite Vorsitzende der NPD Nürnberg, Frank Auterhoff, der erst unlängst den bundesweit beachteten Fackelzug an der Steintribüne des Reichsparteitagsgeländes organisiert hat, sowie mehrere Pegida-Aktivisten, darunter der Bannerträger auf einer Nürnberger Demo von Holocaust-Leugnern im Juni 2018. Der oben zitierte NN-Redakteur Ammer tut sich nicht nur im Bewerten von Aussagen schwer, er scheint auch der genauen Recherche abhold:  „Unter den etwa 30 Teilnehmern waren angeblich auch einige Personen aus dem Dunstkreis von NPD und Pegida Nürnberg.“ Angeblich? Da waren leibhaftige Rechtsradikale bei!


Gemäß der neuen Taktik rechtsextremer Propagandisten, sich als Märtyrer des freien Wortes zu stilisieren, erklären die Demonstranten: „Wir und Peter Weber dürfen unsere Meinung nicht sagen.“ Mag sein, dass Weber die Vita seiner Unterstützer zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt ist – doch er reagiert ohne weitere Nachfrage oder Prüfung. Am Abend desselben Tages erklärt Weber auf Facebook seinen Beitritt zur „Gelbwesten“-Gruppe Nürnberg. Später erklärt er den NN zum einschlägigen Hintergrund seiner Sympathisanten: „So was ist mir natürlich unangenehm, denn das ist ja gerade das, was ich nicht will.“ Wenn dem so ist, sollte er sich vielleicht einmal fragen, was ihn zum Darling der Rechtsextremen macht.


Dass Weber auch nach dem Kotau des Bürgermeisters seine Aggressivität nur schwer im Zaum halten kann, belegte ein in quer gesendetes Statement. Dort drohte er seinem Widersacher Mario Rubel offen mit dem Internet-Mob: „Ich werde meine Community beauftragen, dass sie ihnen schreibt… Das ist zu viel, Herr Rubel…“ Dass es auch anders geht, lässt Weber seine Anwälte demonstrieren. Rubel muss wenig später eine Unterlassungserklärung wegen unangebrachter Nazi-Vergleiche unterschreiben. Rechtfertigt aber der verbale Ausrutscher Rubels die Androhung eines neuen Shitstorms im Netz gegen ihn und – als sattsam bekannte Konsequenz – gegen dessen Familie?


Die Moral dieser Geschichte ist sonnenklar und düster zugleich: Viele Politiker und Journalisten ducken sich weg, wenn rechte Gesinnung mit entsprechender medialer oder ökonomischer Durchsetzungskraft salonfähig gemacht wird. Der Mord an Walter Lübcke wird als Auswuchs neonazistischer Gewalt gesehen. Wie aber wächst diese Gewalt? Da muss doch zuvor gesät und gedüngt worden sein!?                 

07/2019 






Der kann nichts dafür                     


Andreas Scheuer weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, so er denn über einen erwähnenswerten verfügt. In der Öffentlichkeit ein Dampfplauderer, im Amt ein Versager und im Geschäftsgebaren nicht zurechnungsfähig – trotz diverser unfähiger Vorgänger kann man sich hierzulande an keinen Minister von solch herausragender Inkompetenz erinnern. Sein Wirken wird uns viele Millionen Euro kosten und die bundesdeutsche Verkehrspolitik zur Niete in der Lotterie um das Weltklima degradieren, seine Auftritte nötigen selbst seinen Gegnern mittlerweile einiges Mitleid ab, und doch ist er nicht ganz allein: Markus Söder, der Bienenflüsterer an Bayerns Spitze, verteidigt ihn mit abstrusen Worten und muss sich darob fragen lassen, ob er selbst noch ganz von dieser Welt ist.


Vom Maut-Erben zum Maut-Clown


Alle CSU-Generalsekretäre mussten sich erst als Wadenbeißer im Dienste der jeweiligen bayerischen Ministerpräsidenten profilieren, ehe sie zu Höherem berufen wurden. Andreas Scheuer, aus Passau, also dem erdverwurzelten Südosten des Freistaats, machte da keine Ausnahme und fiel unter Horst Seehofer sogar durch besonders bodenständigen Flachsinn auf. Wenn die CSU bei einem ihrer Hoffnungsträger noch nicht so genau weiß, ob er einigermaßen vernünftig tickt und ob er überhaupt irgendeiner Aufgabe gewachsen ist, macht sie ihn gern zum Bundesverkehrsminister.


So kam also Scheuer, der an der Prager Karls-Universität den „kleinen Doktorgrad“ der Philosophie erworben hatte, mit dem man sich nur in Bayern und Berlin Dr. nennen darf, eine Einschränkung, die er aber für sich und das gesamte Bundesgebiet großzügig übersah, kam also in ein Amt, in dem man eigentlich nie eigene Ideen entwickeln muss, weil einem die Automobilindustrie die wesentliche Richtung schon vorgibt. 


Der Niederbayer hatte nach Ermittlungen wegen Titelmissbrauchs und Plagiatsvorwürfen zwar auf seinen Doktor verzichtet, im Kampf gegen Erderwärmung, Umweltvergiftung und Verkehrskollaps aber fand er nach zahllosen Beratungen mit Emissären von BMW, Daimler und VW (und keiner mit Umweltverbänden) das Universalrezept. Seither machen E-Scooter Geh- und Fahrwege unsicher, verursachen eine respektable Anzahl von Unfällen und werden nachts mit erheblichem Energieaufwand aus den entlegensten Ecken zusammengesammelt. Sicherlich ist die Roller-Offensive (und nicht so etwas Spaßfernes wie ein Tempolimit) genau die Maßnahme, die mittelfristig die Polkappen wieder anwachsen und die Erde zum Luftkurort werden lässt.


Ein anderer toller Trick aber stammte nicht vom Scheuer Andi selbst, sondern von seinem kongenialen Vorgänger Alexander Dobrindt: Ausländische und deutsche Kraftfahrer müssten künftig Maut auf Autobahnen zahlen, nur dass die Eingeborenen diese über eine Reduzierung der KFZ-Steuer zurückerstattet bekämen. Es kann jedoch der Frömmste nicht in Ruhe diskriminieren und abkassieren, wenn es dem bösen Österreicher nicht gefällt. Wien verklagte die Bundesrepublik vor dem Europäischen Gerichtshof, Speedy Andi wollte den Richterspruch jedoch nicht abwarten und schloss eilends Verträge mit künftigen Mautbetreibern. Der EuGH aber verbot das windige Geschäft, und nun fordern die vorgesehenen Partner 560 Millionen Euro Entschädigung für entgangene Profite vom Bund, von den Steuerzahlern also.


Doch jetzt geht der Komödienstadel erst richtig los: Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags sollte aufklären, was in Scheuers Ministerium und Kopf so alles schief gelaufen ist. Der Minister gab zunächst den beflissenen Aufklärer und karrte eigenhändig einen Schwung Akten zu den parlamentarischen Ermittlern, ließ die Unterlagen dann aber von Ministerialbeamten wieder abholen, weil ihm gerade eingefallen sei, dass es sich um vertrauliche Schriftstücke, somit Verschlusssachen (besonders rätselhafte Begründung: „Geheimhaltungsbedürfnisse des Vergabeverfahrens“), handelte.


Die Akten dokumentieren laut SPIEGEL eine weitere Trickserei: Scheuer hatte in Verhandlungen mit den Betreibern eine Milliarde Euro Kosten kreativ in einem Schattenhaushalt verschwinden lassen, um so die vom Bundestag vorgegebene Grenze der Ausgaben für die Maut von zwei Milliarden nicht zu überschreiten. Mittlerweile erklärte auch der Bundesrechnungshof, das Ministerium habe gegen das Vergabe- und Haushaltsrecht verstoßen.

    

Söders gestörte Wahrnehmung


Scheuer ist also auf bestem Weg, mehr als eine halbe Milliarde an Steuergeldern zu verschleudern, wobei seine Schutzbehauptung, die Betreiber hätten ihre Verträge nicht eingehalten, nur noch hilflos wirkt. Zusätzlich hat er das Parlament getäuscht, sich durch sein Verhalten lächerlich gemacht und eine ökologische Verkehrswende nach Kräften behindert. Es wird also Zeit, sich auf das Anstimmen des alten Kinks-Hits „Death of a Clown“ zur Feier seines baldigen Abgangs vorzubereiten. Doch einer hält trotz aller Schieflagen und Pannen treu und fest zu ihm: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder – doch ausgerechnet der offenbarte zuletzt ebenfalls Symptome eines umfassenden Realitätsverlustes.

 

Noch im Oktober gab Söder dem Münchner Merkur ein Interview, das dieser so betitelte: Söder verteidigt Andreas Scheuer wegen Pkw-Maut: „Er kann nun wirklich nichts dafür“ 


Den Verdacht hatten wir angesichts der ansehnlichen Kette von Aussetzern schon lange. Geht dem Andi Scheuer einfach ein wenig gesunder Menschenverstand ab, ist er bei Verhandlungen mit Unternehmern oder Rechtfertigungen vor Ausschüssen intellektuell überfordert, oder handelt es sich um etwas Organisches? Liest man allerdings Söders Antworten genauer, stellt sich heraus, dass der sich gar nicht um die geistigen Kapazitäten des Parteikollegen sorgt, sondern ebenso richtig wie sinnentleert schwadroniert, Scheuer sei nicht dafür verantwortlich, „dass der Europäische Gerichtshof anders entschieden hat als alle anderen europäischen Institutionen“. Was der CSU-Chef damit meint, bleibt sein Geheimnis. Die einzige supranationale Institution, die diesen Rechtsstreit entscheiden konnte, war nun einmal der EuGH.


Vor ein paar Tagen äußerte sich der bayerische Leitwolf noch einmal zur Malaise seines Rudelmitglieds, und gab Anlass zu der Mutmaßung, dass ihm von den Unmengen Kreide, die er zuletzt gefressen hatte, etwas zu viel weißer Staub ins Hirn gedrungen sei. Im Morgenmagazin von ARD und ZDF sagte Söder allen Ernstes, Andreas Scheuer sei „ein Aktivposten der Bundesregierung“. Diese Bemerkung, die in jedem zweitklassigen Witzwettbewerb preisverdächtig gewesen wäre, beweist einmal mehr, dass der Ministerpräsident die Welt inzwischen so sieht, wie sie seiner Meinung nach sein sollte, und nicht, wie sie tatsächlich ist.


Das legt auch sein Kommentar zu einer Antwort des EuGH auf die Anfrage des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nahe. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte die Staatsregierung wegen ihrer Untätigkeit angesichts zu hoher Stickoxid-Werte auf Münchner Straßen verklagt und Recht bekommen. Das Kabinett ignorierte die Urteile einfach und weigerte sich, Fahrverbote auszusprechen, um die Gesundheit von Anwohnern zu schützen. Diese wiederholte Missachtung des Gerichts seitens einer Regierung wurde mit Zwangsgeldern geahndet, die allerdings ziemlich niedrig ausfielen und vom zahlungspflichtigen Verkehrsministerium an das Umwelt-Ressort „umverteilt“ wurden.


Nun sollte der EuGH prüfen, ob die Verantwortlichen mit Söder an der Spitze in Zwangshaft genommen werden könnten. Die europäischen Richter bejahten die Möglichkeit der Inhaftierung von Politikern im Grundsatz, schränkten aber ein, dass es eine nationale Rechtsgrundlage dafür geben müsse. Auf eine solche Präzisierung aber hatten die gesetzgebenden Politiker einst wohlweislich verzichtet – man gräbt sich schließlich ungern selbst eine Grube. Allerdings gab der EuGH seinen bayerischen Gerichtskollegen zusätzlich auf, zu prüfen, ob der Freistaat nicht künftig hohe Geldbußen an die Umwelthilfe zahlen sollte.


Die Richter in Luxemburg haben also die Schuld der bayerischen Staatsregierung festgestellt und für empfindliche Strafgelder an eine NGO plädiert. Und wie sieht Markus Söder das: „Gut, dass es jetzt geklärt und die Sache vom Tisch ist.“ Nichts ist ausgeräumt, und wenn sich die obersten Juristen im Freistaat trauen, wird es richtig teuer. Eine gefährliche Form von Weltfremdheit scheint vom bayerischen Ministerpräsidenten Besitz ergriffen zu haben, eine eklatante Bewusstseinseintrübung gaukelt ihm vor, fortgesetzter Rechtsbruch sei eine Art Wellness-Periode. 


Was wird nun aus dem Andi?


Langsam muss man sich wirklich Sorgen um die in der CSU-Führungsriege vorherrschende Geistesverfassung machen. Ist das Münchner Kabinett zu einer Anstalt für renitente Wirklichkeitsleugner und delirierende Traumtänzer verkommen, bleibt seit geraumer Zeit der göttliche Beistand für die bayerische Christenunion aus oder ging deren einst legendäres Gespür für Stammtisch-Vorlieben verloren? Es läuft zurzeit nicht rund in der Erbengemeinschaft von Franz Josef Strauß. Am meisten muss man aber um die Zukunft des Passauer Verkehrschaoten bangen.


Noch lässt Söder seinen Scheuer fabulieren und an den Fakten vorbeitorkeln wie ein unmündiges Kind, ganz so, als wolle er allen, die ihn während seines Aufstiegs der Tücke, Illoyalität und Skrupellosigkeit ziehen, beweisen, dass er als treusorgender Landesvater auch ein Herz für die geistig Schwachen und tumben Toren in seiner Partei habe. Sollte aber der übergroße Schatten des pechschwarzen Schafs Andi demnächst auf seinen neuen Glanz fallen, wird er den Kollegen ganz schnell aus dem Führungszirkel seines Rudels wegbeißen.


Und was soll dann aus dem Andreas Scheuer werden? Die lukrativen Posten in den Vorständen oder Lobbyisten-Clans von Autokonzernen oder bei der Bahn, die üblichen Geldquellen für abgehalfterte Politiker guten Willens also, kämen vermutlich nicht in Frage. Wer möchte sich schon öffentlich mit einem solchen Dilettanten schmücken? Eine akademische Karriere ist sicherlich obsolet: Die Prager Karls-Universität würde ihren kleinen Doktor allenfalls als Pedell zurücknehmen. Bleibt nur die Möglichkeit für ihn, einem staunenden Publikum im Tegernseer Volkstheater vorzuspielen, wie man als glückloser Knecht in Windeseile eine halbe Milliarde verzockt. 

12/2019 

Dazu auch:

Fabel vom Wolf Markus (2019) und Karriere eines Klons (2018) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 





Schluss mit lustig!


Zuerst Attac, dann Campact, nun die VVN-BdA und morgen die ganze Horde globalisierungskritischer, umweltbesorgter oder friedensbewegter NGOs! Durch die Aberkennung der Gemeinnützigkeit dieser Vereine glauben die Finanzbehörden, den ganzen Sumpf demokratischen Widerstands endlich trockenlegen zu können. Richter und Behördenmitarbeiter maßen sich neuerdings an, den Wert inhaltlicher Arbeit in dieser Gesellschaft zu beurteilen. Tatsächlich geht es darum, widerspenstige Organisationen von finanziellen Ressourcen abzuschneiden, während ihre konformistischen bis rechtsradikalen Pendants ungestört weiterwerkeln dürfen. Dies ist ganz im Sinn der Regierungspolitik; nicht verwunderlich daher, dass ein Vorschlag von Finanzminister Scholz dem unwürdigen Procedere beinahe noch die Krone staatlicher Ignoranz aufgesetzt hätte…


Wer den Bundesadler stört…


Das waren noch Zeiten, als in unserem Land vor allem Vereine herumwuselten, deren Mitglieder/innen auf Scheiben schossen, deutsches Liedgut pflegten oder die Erinnerungen an die große Zeit Preußens hochhielten, sich aber nie gegen die Bundesregierung und ihr weises Tun wandten. Bei so viel bravem Bürgersinn konnten Politik und Verwaltung es leichten Herzens zulassen, dass Beiträge und Spenden von der Steuer abgesetzt werden durften. Doch es kann der Frömmste nicht in Frieden zum Wohl der eigenen Partei und der Konzerne agieren, wenn ständig aufmüpfige Gruppen die Natur retten, Korruption anprangern oder braunen Spuren im bürgerlichen Habitat nachspüren wollten. Auch diese Störenfriede schlossen sich zu Vereinen zusammen, und da sie geltend machten, sich für eine bessere Gesellschaft oder eine weniger belastete Umwelt einzusetzen, beantragten auch sie die Gemeinnützigkeit, damit ihre (i.d.R. weniger begüterten) Mäzene den Finanzämtern Bescheinigungen vorlegen konnten.


Der Staat ließ die Aufrührer gewähren, bis sie zu unbequem wurden. Als Attac und Campact gegen Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA, die ganze Länder per geheime Mauschelei im Hinterzimmer der Rechtsauffassung der Multis zu unterwerfen drohten, mobilisierten, Millionen Unterschriften für Petitionen sammelten, Klagen einreichten und Hunderttausende Demonstranten auf die Straße brachten, behinderten sie den glatten Service der Bundesregierung für die globalen Unternehmen doch zu arg. Zunächst stellte der Bundesfinanzgerichtshof in Sachen Attac fest, dass „die Einflussnahme auf politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung (…) keinen gemeinnützigen Zweck erfüllt“.


Kein Wort davon, dass die Aktivisten durch Publikation und Einspruch ungefilterte Informationen über fragwürdige, aber für unser Leben und unsere Grundversorgung höchst relevante Vereinbarungen, die möglichst ohne Aufsehen vom Parlament abgesegnet werden sollten, erzwangen. Was scherte es die Richter, dass die Kenntnis der Faktenlage eine Voraussetzung für politische Meinungsbildung und somit von höchster Priorität für die demokratische Öffentlichkeit ist? Attac wurde die Gemeinnützigkeit aberkannt, kurze Zeit später auch Campact.


Doch es gibt noch andere in Vereinen organisierte Unruhestifter, die den minutiös eingespielten Ablauf des gegenseitigen Händewaschens von Politik und Wirtschaft empfindlich behindern. Kein Bundestagsabgeordneter kann den vertraulichen Umgang mit den zahllosen Lobbyisten so diskret pflegen und enorme Nebenverdienste durch seinen Sitz in Aufsichts- und Beiräten so unbemerkt wie früher einstreichen, seit abgeordnetenwatch Kontakte und Honorare gewissenhaft veröffentlicht. Und die Deutsche Umwelthilfe wurde durch die Aufdeckung von Betrugsfällen, also Verstößen gegen geltendes Recht, sowie durch Abmahnungen und Klagen zu einer virulenten Gefahr für die stille Symbiose von Regierungspolitik und Automobilindustrie. Kein Wunder, dass die Staatsjuristen demnächst auch diese Wundstellen im System finanziell veröden wollen, indem sie ihnen den Zufluss der für die Kampagnen notwendigen Mittel abgraben. Zwischendurch aber erlaubten sich die Kontrolleure der bürgerlichen Ruhigstellung eine Fingerübung in akribischer Gesinnungsschnüffelei, die eine andere missliebige Organisation ins Mark traf.


Die Berliner Finanzbehörden entzogen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antfaschisten (VVN-BdA) das Siegel der Gemeinnützigkeit mit der Begründung, der Verein werde in den bayerischen Verfassungsschutzberichten seit Jahren als linksextreme Gruppierung geführt. Esther Bejarano, 94-jährige Auschwitz-Überlebende und Ehrenpräsidentin des Verbands, bezeichnete die Entscheidung als „Kränkung“ und schrieb in Bezug auf den immer stärker werdenden Chauvinismus in Deutschland an den zuständigen Bundesminister Olaf Scholz: „Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus.“


Friedensarbeit, die Bewahrung der Erinnerung an eine verheerende historische Periode sowie Kampf gegen faschistische Tendenzen gehören für deutsche Finanzbeamte also nicht zum gemeinnützigen Wirken. DGB-Chef Hoffmann, das Internationale Auschwitz-Komitee, der Sprecher der jüdischen Gemeinde Berlin und andere Prominente wie Organisationen protestierten gegen diese Einschätzung. Auf den Punkt brachte es der Münchner Kabarettist und TV-Moderator Christoph Süß in seiner BR-Sendung quer.


Die Verschonten


Süß erklärte, die VVN sei kurz nach 1945 von Widerstandskämpfern gegründet worden, weil die Nazis nicht alle erwischt hätten. „Da sind immer noch Kommunisten darunter, weil die eben auch verfolgt worden sind.“ Dies habe zur Aberkennung des Siegels genügt, während der Verein Uniter immer noch gemeinnützig sei. Damit wies Süß auf den wohlwollenden Umgang der Finanzämter mit rechten bis rechtsextremen Vereinen hin.


Uniter ist ein privater, in Stuttgart eingetragener Verein, der vor allem Angehörige der Spezialeinheiten von Bundeswehr (KSK) und Polizei (SEK) rekrutiert und laut taz als offizieller Teil des Netzwerks Hannibal fungiert. Dort sind auch die Prepper organisiert, braune Apokalyptiker, die geheime Waffenlager für den Endkampf anlegen und Todeslisten mit den Namen politischer Gegner führen. Wie kommod für die braune Szene, dass man seinen Obolus für diese Schattenarmee offenbar von der Steuer absetzen kann.


Doch Uniter ist nicht das einzige rechtsextreme Forum, dessen Finanzierung steuerlich begünstigt wird. Dem Portal Jou Watch, das AfD-Politikern, Pegida-Anhängern und Mitgliedern der Identitären Bewegung eine Plattform für Hasskampagnen bietet, sprach das Finanzamt Jena 2017 die Gemeinnützigkeit zu. Man könnte daraus folgern, dass den Behörden rechte Hetze als gesellschaftsdienlich erscheint, nicht aber Antifaschismus.


Überhaupt erfüllt den Bildungsauftrag (und ist damit gemeinnützig) so manche Stiftung oder Vereinigung, die ein seltsames bis fragwürdiges Wissen vermittelt. Zu diesem illustren Kreis gehören etwa Wehrkundemuseen der Rüstungsindustrie, in denen die Effizienz von Tötungsmaschinen bewundert werden kann, oder auch die Propagandatöchter der großen Parteien. So darf etwa die Hanns-Seidel-Stiftung der CSU, die übrigens schlecht mit Geld umgehen kann, wie ihr hoher Schuldenstand beweist, für den Neoliberalismus werben und in der Dritten Welt rechte Putschisten beraten – wie übrigens auch die Konrad-Adenauer-Stiftung der Unionsschwester oder die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP. Dem edlen Spender für solche Vorhaben winkt eine Steuerersparnis.


Im Gegensatz zu Attac oder Campact zementieren diese Parteistiftungen ja das selbstgefällige Bild sowie den ökonomischen Expansionsanspruch Deutschlands in aller Welt und sorgen nicht für Irritationen in der Wirtschaft. Auf die Antifaschisten der VVN indes kommen jetzt sogar Steuernachforderungen in fünfstelliger Höhe sowie weitere fiskalische Belastungen zu; der Verband ist damit in seiner Existenz gefährdet.


Null Ahnung von politischem Handeln


Olaf Scholz, Bundesfinanzminister und gescheiterter Aspirant auf den SPD-Chefposten, gab in seinem Haus einen Entwurf zur Änderung der Abgabenverordnung in Auftrag, vermeintlich, um Vereine, die den öffentlichen Diskurs mitgestalten, zu schützen. Was letztendlich dabei herauskam, war aber eine Verschlimmbesserung. Zunächst aber hatten seine Beamten eine Art von Zensur vorgeschlagen, die selbst Scholz verschreckte. Danach hätte ein Verein schon dann seine Gemeinnützigkeit verloren, wenn er „sich nicht parteipolitisch neutral verhält“. Da wird der Finanzminister um die Friedrich-Ebert-Stiftung gefürchtet haben, die ihrer Mutti SPD seit jeher innig zugetan ist.


Doch auch der abgespeckte Entwurf hätte die Disziplinierung unliebsamer Gruppierungen erleichtert. Laut SPIEGEL hieß es darin nämlich, Vereine würden „auch dann noch“ steuerlich begünstigt, „wenn eine gemeinnützige Tätigkeit mit politischen Mitteln begleitet wird“. Die Intention, Parteien oder staatliche Entscheidungen zu beeinflussen, müsse dabei „weit in den Hintergrund“ treten. Im Klartext: Nur, wenn ihr euch auf euren eigenen Mist beschränkt, dürft ihr das Maul aufreißen. Aber auch dann nicht so weit, dass ihr am Ende eure Vorstellungen auch noch durchsetzen könnt.


Die Empörung über diese durch die Hintertür eingeführten Scheuklappen war groß, und sie erfasste auch NGOs, die gesellschaftlich weithin anerkannt sind, etwa den BUND oder Amnesty International. Der rührige Grünen-Abgeordnete im EU-Parlament, Sven Gingold, machte an einem launigen Beispiel die Brisanz des Entwurfs klar:  "Ein Karnevalsverein, der sich gegen einen Naziaufmarsch engagiert, würde demnach absurderweise seine Steuerbegünstigung aufs Spiel setzen."


Als er sich massiver Kritik von allen Seiten gegenübersah, ließ Olaf Scholz seine fatale Reform der Abgabenverordnung fallen. Dabei hätte er einfach das kritische Engagement sowie die unbequeme, aber aufklärerische Informationsarbeit von NGOs in einem neuen Entwurf ausdrücklich zulassen können, ist doch politisches Handeln laut einer allgemein anerkannten Definition „soziales Handeln, das auf Entscheidungen und Steuerungsmechanismen ausgerichtet ist, die allgemein verbindlich sind und das Zusammenleben von Menschen regeln“. Demnach sollten Vereine und Gruppierungen die politische Einmischung sogar als demokratische Pflicht verstehen.


Es ist allerdings anzunehmen, dass Scholz und seine Kollegen in der Regierung das nicht so sehen, sondern das Schachern mit Posten und den servilen Dienst am Kapital für die wesentlichen Kriterien gesellschaftlichen Handelns halten. Denn sie wissen oft gar nicht mehr, wozu sie da sind und was sie machen sollen, wenn sie nicht von Konzernlenkern auf Kurs gebracht werden. Nonkonformisten aber, die dann wider den Stachel des staatstragenden Opportunismus im trägen Fleisch der Republik löcken, müssen zu spüren bekommen, dass bald Schluss mit lustig ist!

12/2019

Dazu auch:

Die Rache des Staates (2019). Gemeiner Nutzen (2014) sowie Braundeutscher Eisberg (2018) im Archiv dieser Rubrik





Braune Weihnacht


Emsige Scharfmacher der sich zunehmend extremistisch outenden AfD sind dabei, ihren Nazi-Unrat in die Kinderstuben und unter den geschmückten Tannenbaum zu kübeln. Weil das Mädchen, das den weltberühmten Nürnberger Weihnachtsmarkt als Christkind eröffnen soll, indische Wurzeln hat, geben sie vor, um den Fortbestand der weißen Rasse zu fürchten. Was den braunen Heimatschützern vermutlich entgangen ist: Der Ort, an dem das Lebkuchen- und Glühweinspektakel alljährlich stattfindet, ist in der jüngeren und in der mittelalterlichen Historie der Stadt schwer vorbelastet; die rechtsradikalen Dumpfköpfe knüpfen an grausige Perioden der urbanen Geschichte an.

 

Untergang des Abendlandes

 

Alljährlich flanieren mehr als zwei Millionen Besucher, ein beträchtlicher Teil davon Touristen aus aller Welt, über den Nürnberger Christkindlesmarkt, ein nach Glühwein und Bratwurst duftendes Konglomerat aus Butzenscheibenromantik, Kleinkommerz und lokaler Tradition. Für Tausende von Kindern ist die feierliche Eröffnung am Freitagabend vor dem 1. Advent bereits der Höhepunkt, denn von der Empore der Frauenkirche herab heißt das Christkind seine Gäste willkommen.

 

Aus unerfindlichen Gründen ist der Gottesspross in Nürnberg kein kleiner Orientale jüdischer Abkunft, sondern ein per Perücke blondgelocktes Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, das von einer Jury aus mehreren Bewerberinnen ausgewählt wurde. Man mag das Ganze für leicht absurd halten oder schlicht für Kitsch, man könnte sich auch an die Halbwelt der Schönheitswettbewerbe erinnert fühlen – das Procedere ist jedoch Teil des Brauchtums geworden, und die Kinder auf dem Hauptmarkt lassen sich durch die geballte vorweihnachtliche Stimmung sogar von ihren PC-Games weglocken.

 

Von deutschem Brauchtum aber glauben Rechtsradikale besonders viel zu verstehen. Und so war es kein Wunder, dass neben anderen Braun-Bloggern die Nürnberger NPD sowie die neue Volkspartei Ostdeutschlands einen Shitstorm lostreten wollten, als die 17-jährige Benigna Munsi zur Tochter des Herrn gekürt wurde, stammte ihr Vater doch aus Indien, waren ihre Locken und ihr Teint doch etwas dunkler als im fränkischen Durchschnitt üblich: Der AfD-Kreisverband München-Land postete gar ein Bild des Mädchens auf Facebook und textete dazu: „Nürnberg hat ein neues Christkind. Eines Tages wird es uns wie den Indianern gehen."

 

Die oberbayerischen Chauvinisten wollten offenbar das rechtsschaffene deutsche Volk warnen, im drohe ein ähnliches Schicksal wie den amerikanischen Indigenen, denen die Weißen einst Land, Kultur und (häufig) das Leben genommen hatten. Ganz so, als sei der Untergang des Abendlandes gleich dem edler Indianerstämme durch die Wahl einer Kandidatin ohne rein germanische Wurzeln bereits vorprogrammiert, wobei nonchalant verschwiegen wird, dass viele Indio-Völker ihr Ende eben reinrassigen Europäern zu verdanken hatten.

 

Statt verheerende Hetze in den „sozialen“ Medien anzufachen, mussten die Retter des Okzidents allerdings erleben, dass über Benigna Munsi ein regelrechter Lovestorm aus aller Welt hereinbrach. Der üble Post wurde schnell gelöscht, und wie üblich distanzierte sich die AfD routiniert von diesem Ausrutscher. Doch als isoliert, tölpelhaft und kontextlos sollte man die Angelegenheit nicht werten, hinter den widerlichen Entgleisungen steckt nicht nur Hass, sondern auch Kalkül. Eine Besinnung auf früheres Geschehen zeigt, wohin der Rassismus führen kann und dass er gerade in Nürnbergs Altstadt nie ganz fremd und weit weg war. 

 

Schauplatz eines Pogroms

 

Die AfD trägt als rechtsextreme und neoliberale Partei den Rassen- und Klassenkampf offenbar in die Kinderzimmer und Jugendclubs. Der Urnengang in Thüringen belegte unlängst, dass sie erfolgreich bei jungen Wählern das Prinzip sozialdarwinistischer Konkurrenz gegen das Primat von Empathie und Solidarität durchsetzen konnte: Bei den Jugendlichen, die erstmals abstimmen durften, wurde die AfD stärkste Partei.

 

Was den Nürnberger Fall zusätzlich so traurig macht und ihn in einen geschichtlichen Zusammenhang stellt, ist die Tatsache, dass gerade in dieser Stadt die Rassengesetze der Nazis entstanden und andere Höhepunkte der Inhumanität direkte Bezüge zum Schauplatz des Weihnachtsmarktes hatten.

 

Im Stadtarchiv kann man sich Fotos vom Christkindlesmarkt aus der Zeit anschauen, als das Gelände, das Zentrum der historischen Altstadt, für ein paar Jahre Tausendjähriges Reich „Adolf-Hitler-Platz“ hieß. Zwischen festlich geschmückten Buden schwenken stämmige Männer in Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden unter einem Schild „Hier sammelt der Oberbürgermeister der Stadt der Reichsparteitage“ fröhlich Spendenbüchsen.

    

Im Mittelalter war der heutige Hauptmarkt ein häufig von der Pegnitz überschwemmtes Stück Morast, auf dem sich Handwerker und Kaufleute nicht niederlassen mochten. Also wies man das Terrain der jüdischen Gemeinde zu. Doch durch den Bau einer Flussbrücke gewann das Gelände an Wert, und so genehmigte Kaiser Karl IV.  der Ratsherrnfamilie Stromer 1349 den Abbruch des dichtbesiedelten Ghettos. Am 12. Dezember desselben Jahres wurden die Juden aus Nürnberg vertrieben, allerdings nicht alle. Der Mob tötete 600 von ihnen und plünderte anschließend ihre Häuser. Noch heute ist in Nürnberg, der selbsternannten Stadt der Menschenrechte, eine Straße nach dem Patriziergeschlecht der Stromer benannt. 

 

Wer redet jetzt noch mit der AfD?

 

Man sieht: Die xenophoben und antijudaischen (noch nur) verbal vorgetragenen Attacken der AfD entbehren nicht gewisser Verweise auf fürchterliche geschichtliche Verwerfungen. Und diese Referenzen sind nicht zufälliger Natur, nicht als peinliche Versehen oder Fehler einiger Rabauken im Fußvolk der Partei zu deuten. Die höhnische Abwertung anderer Ethnien, Haltungen oder wissenschaftlicher Erkenntnisse ist, mal geschickter, mal primitiver genutzte, Methode. Höcke, Gauland und Weidel unterscheiden sich allenfalls im Sprachgebrauch, nicht aber in den bräunlichen Inhalten und Intentionen.

 

Die Bilanz der Partei ist eigentlich erbärmlich. Ihr Führungspersonal scheint heillos zerstritten, ihre sachliche Kompetenz tendiert gegen Null, sie bricht Gesetze, wird in Spendenskandale verwickelt, und ihre Sprecher müssen sich ständig von Nazi-Parolen aus den eigenen Reihen distanzieren. Das alles scheint der AfD nicht zu schaden. Wo das Denken aufhört, macht der lauteste Ton die Musik, und den hat sie im Repertoire. Fragt sich nur, wer außerhalb der rechtsradikalen Blase überhaupt noch mit ihr reden, sie ernst nehmen will.

 

Doch da gibt es erstaunlicherweise gar nicht so wenige, denken wir nur an bestimmte CDU-Repräsentanten in Sachsen und Brandenburg, vor allem aber an jene 17 Thüringer Funktionäre der Union, die wie der dortige Fraktionsvize Michael Heym „ergebnisoffene Gespräche“ mit den Rechtsaußen führen wollen. Erinnern wir uns auch an das Verständnis, das SPD-Opportunist Gabriel oder die Linke Sahra Wagenknecht, die beide gern im rechten Reservoir gefischt hätten, für „besorgte“ AfD-Unterstützer zeigten.

 

„Mir tun Menschen mit solchen Ansichten leid“, kommentierte das Nürnberger Christkind die rechte Hetze. Es ist verständlich, dass sich Benigna Munsi die Freude an ihrem Amt nicht vermiesen lassen will, doch ist die Aussage inhaltlich falsch. Nach all dem, was in den letzten Jahren hierzulande auf Straßen und in Medien passiert ist, kann Mitgefühl mit AfD-Politikern oder ihren Wählern nur bedeuten, dass man sie für unzurechnungsfähig oder geistig behindert hält. So viel Intelligenz und Umsicht, ihre Aversionen bewusst zu pflegen und ihre zerstörerischen Ziele mit geradezu krimineller Energie zu verfolgen, muss man ihnen aber attestieren. Mit anderen Worten: Sie sind voll schuldfähig. 

11/2019        

 

 




Die Brandexperten


Es mutet makaber an, aber der Massenmord-Versuch eines Neonazis in Halle endete beinahe glimpflich. Wäre es dem Täter gelungen, in die jüdische Synagoge einzudringen, hätte er ein Blutbad anrichten können. So steuerte der multilaterale Rassist einen Döner-Imbiss an und konnte nur zwei Menschen töten. Wie meist nach solchen Ereignissen äußern sich Politiker betroffen und fordern schärfere Gesetze, weisen die Polizeibehörden jegliche Schuld von sich, wird die Einzeltäter-Hypothese bemüht.


Wahres Wort aus falschem Mund


Mag sein, dass der Täter von Halle nicht in rechtsextremistische Organisationen eingebunden war, Vorbilder wie den Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant oder Anders Breivik, den Massenmörder von Oslo, hatte er und ein „inspirierendes“ politisches Klima fand er in der ausufernden braunen Szene dieses Landes auch vor. Mögen die Spitzenkräfte der AfD, des vorgeblich legalistischen Zweiges der Bewegung, auch betonen, wie sehr sie Israel schätzen (wohl wegen der eigenen Islamphobie und des radikalen Kurses von Benjamin Netanjahu), die Anhänger konfabulieren weiterhin von „zionistischer Weltverschwörung“ und pflegen ihren Fremdenhass.


Wenn Alice Weidel oder Alexander Gauland sich Ausrutscher erlauben und diskriminierende oder gar rassistische Sottisen über Flüchtlinge und dunkelhäutige Menschen von sich geben, so bestätigt dies die Aversionen ihres Fußvolks und weckt beim einen oder andern vielleicht sogar den Wunsch, mit dem Gesocks aufzuräumen. Die antijudaistische Komponente aber brachte Bernd Höcke ins Spiel, als er das Berliner Holocaust-Monument als „Mahnmal der Schande“ bezeichnete, wobei sich der abwertende Begriff nicht etwa auf die Ermordung von sechs Millionen Juden durch Hitler-Deutschland bezog, sondern auf den künstlerischen Versuch, wenigstens die Erinnerung daran wachzuhalten.


Insofern könnte man dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann durchaus zustimmen, wenn er feststellt: "Einer der schlimmsten geistigen Brandstifter für neuen Antisemitismus im Land ist der thüringische AfD-Boss Björn Höcke. Wer die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung beseitigen will, der will doch offensichtlich den Massenmord verharmlosen.“ Sein Chef, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder schlägt in dieselbe Kerbe, fordert den AfD-Rausschmiss Höckes und erklärt dem BR, es gelte nun, gegen „geistige Brandstiftung“ anzugehen.


Bisweilen erklingen simple Weisheiten aus unberufenem Mund, so auch hier. Die beiden CSU-Politiker scheinen die verbalen Verfehlungen der eigenen Partei in der Vergangenheit verdrängt zu haben, darunter menschenverachtende Vorschläge und Invektiven, die kaum weniger rechtspopulistisch und gefährlich klangen als Höckes unsägliche Entgleisung.


Andreas Scheuers höhnische Einschätzung, das „Schlimmste sei ein fußballspielender, ministrierender Senegalese“ kann man noch als Stammtischscherz aus unterster Schublade abtun, viel bedenklicher ist da Markus Söders Twitter-Statement nach den Anschlägen von Paris ("#ParisAttacks ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen"), das eine Gleichsetzung von Asylbewerbern und Terroristen impliziert. Und 2015 forderte der sich mittlerweile staatsmännisch gerierende Ministerpräsident, damals noch Finanzminister im Freistaat, ganz im Sinne Trumps Zäune an den deutschen Grenzen und eine teilweise Abschaffung des Asylrechts.

 

Hass zu säen, Andersdenkende zu verunglimpfen und zum Abschuss freizugeben, hat durchaus Tradition in der CSU: Schon Bundeskanzler Ludwig Erhard bezeichnete 1965 missliebige Autoren wie Günther Graß und Rolf Hochhuth als „Banausen“ und „Pinscher“. Ein Jahr, nachdem 1968 der Studentenführer Rudi Dutschke durch einen aufgehetzten Kleinbürger niedergeschossen worden war, heizte der große alte Mann des deutschen Rechtspopulismus, Franz Josef Strauß, die Atmosphäre weiter auf, indem er küssenden APO-Demonstranten bescheinigte, sie benähmen sich "wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist".

 

Überhaupt scheint es der Vergleich von politischen Gegnern mit Tieren, insbesondere solchen der Ekel-Kategorie, den CSU-Granden angetan zu haben. In Kronach erklärte FJS 1978 zu Auseinandersetzungen mit dem linken Presseausschuss Demokratische Initiative (PDI): „Mit Ratten und Schmeißfliegen führt man keine Prozesse.“ Dieselben animalischen Synonyme fand sein damaliger Generalsekretär Edmund Stoiber zwei Jahre später für die Mitglieder des Verbands deutscher Schriftsteller sowie des PEN-Zentrums, allen voran für Bernd Engelmann, Walter Jens, Ingeborg Drewitz und Hermann Kesten.

 

Wir müssen zugeben, dass die CSU im Laufe der Jahrzehnte tatsächlich ausreichend Expertise in Sachen geistiger Brandstiftung bewiesen hat.


Solisten mit sehr viel Rückhalt


Ein Neonazi tötet Menschen. Usus ist hierzulande, dass zunächst die Einzeltäterschaft festgestellt wird, oft allerdings von Spezialkräften, die selbst nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Aber selbst wenn die schnelle Hypothese zuträfe – auch Solisten haben Idole, fühlen sich in einer spezifischen Atmosphäre angeregt, nehmen ein bestimmtes geistiges Umfeld als motivierend wahr, eins, wie die AfD es als wesentlicher Faktor bestimmt, zu dem jedoch auch andere (siehe oben) beitragen.


Nein, allein muss sich in Deutschland niemand fühlen, der gegen Ausländer hetzt, ein beträchtlicher Prozentsatz der Bev