Inhalt

(Bitte scrollen: Texte folgen nach der Übersicht.)


2023


- Schnapsidee Reloaded ("Ruanda" ist das Zauberwort für Rechte)

- Das fünfte Rad (Lang erwartet, aber nicht neu: Sahras Ego-Partei)

- Braune Zeitenwende? (Die AfD scheint tief im Volk verwurzelt)

- Wutbürgers 10 Gebote (Aus der Bibel für Rechtsextreme)

- Sweet Dreams? (Pro und Contra der Cannabis-Legalisierung)

- Belagerung von Brüssel (Rechtsextreme wollen EU-Mandate)

- Nachhaltige Killer (Werden Teile der Ukraine zu No-Go-Zonen?)

- Mindestalmosen (Hubertus Heil bricht sein Versprechen)

- Armselige Moralisten (Die AfD treibt die Ampel vor sich her)

- Die UNO gegen Scholz (Es geht um die Letzte Generation)

- Falsche Baustelle (Justizminister Buschmann gewichtet seltsam)

- Milliardengrab Süd (Verkehrsprojekt kostet viel und wird nicht fertig)

- Türsteher der Nato (Wer in den Edelclub darf, bestimmt Erdogan)

- Braver Trotzkopf! (Verkehrsminister Wissing im Dienst von Porsche)

- Die Republik zockt (Der Staat verdient an der Spielsucht)

- Kritik erlaubt? (Israels Regierung auf dem Weg nach Rechtsaußen)



2022


- Gefahr? Welche Gefahr? (Rechte Medien ignorieren Putschgefahr)

- Exportschlager Bahn (Ägypten scheint die DB nicht zu kennen)

- Artenschutz à la FDP (Ein Herz für Lobbyisten)

- Bräunliches Europa (Wohin man in der EU schaut: Rechtsextreme)

- Hochsaison für Heuchler (Krokodilstränen für zwei Tote)

- Das ewige Übel (Religiöser Fanatismus nimmt wieder zu)

- Railway to Hell (Hat die Deutsche Bahn Angst vor Fahrgästen?)

- Wer darf? Wer nicht? (Nicht nur Putin führt einen Angriffskrieg)

- Ende der Allmacht (Die Welt tanzt nicht nach unserer Pfeife)

- Putins "Erfolge" (Er hat die Welt gefährlicher gemacht)

- Tod durch Diebstahl (Afghanen hungern, die USA klauen)

- Putin und das Chaos (Wie man die Welt gefährlicher macht)

- Impfgegner züchten (Die Politik munitioniert Covid-Leugner)

- Hilfe zum Untergang (Der Westen lässt die Afghanen sterben)

- Der doppelte Olaf (Ein diskretes Faible für Waffenexporte)



2021


- Rostiges Werkzeug (Rückkehr des Radikalenerlasses?)

- Abgang der Nieten (Massenabschied nach der Wahl)

- Klassenprimus? (Beliebte deutsche Umweltlügen)

- Befleckt ins Amt (Weiß ist die Weste des neuen Kanzlers nicht)

- Stuttgart 25 plus (Für alle, die BER für den größten Witz halten)

- Freie Fahrt für niemand (Verkehrswende nicht in Sicht)

- Die Lehren von Kabul (Deutsche Interventionspolitik gescheitert)

- Dumm oder inhuman? (Den Krieg verloren, aber weiter abgeschoben)

- Der Fisch darf stinken (Korruption fängt ganz oben an)

- Covid-Kolonialismus (Vor dem Virus sind nicht alle gleich)

- Ende des Regenbogens (EU gibt sich tolerant und handelt inhuman)

- Wer darf? Wer nicht? (Die Unterschiede zwischen Wien und Minsk)

- Hilfe durch Landraub (Entwicklungshilfe gegen Kleinbauern)

- Machiavellist Haseloff (Machtgedanken aus Sachsen-Anhalt)

- In die Ferne schweifen (Für Menschenrechte! Aber bitte nicht hier)

- Söderdämmerung (Strahlendes Image mit lauter Flecken)

- Krieg gegen die Natur (Stete Umweltzerstörung in Deutschland)

- Grünes Atomfaible (Die Öko-Partei ist nicht länger friedensbewegt)

- Internationale der Irren (Militante Rechte in der BRD und den USA)

 


2020


- Berliner Gewissen (Waffen-Schiebereien in Corona-Zeiten)

- Chronik des Versagens (Die Bundeswehr in Afghanistan)

- Vom Frieden reden... (Berlin will Atombomben nicht bannen)

- Endlich Perspektive (Ökos und Ver.di kämpfen gemeinsam) 

- Gelehrtenrepublik BY (Söder will kein Endlager in Bayern)

- Die Gottgleichen (Gates und Soros als Retter der Erde)

- Irre Träume der SPD (Ex-Volkspartei setzt auf Scholzomat)

- Honorige Komplizen (Regierung als Türöffner für Wirecard)

- Von Bayern lernen? (Söder taugt nicht als Vorbild in der Krise)

- Hiwis der Konzerne? (Das Verhältnis der Politik zur Industrie)

- Rettet Panama! (Corona-Hilfen für Steuerflüchtlinge)

- Spenden? Null Ahnung! (Die diskreten Almosen der Parteien)

- Krieg geht immer (Rüstungsindustrie floriert auch während Corona)

- Wirres im Virenland (Von Hamsterkäufen und Schuldzuweisung)

- System-Spürhunde (Die Feindbilder der Finanzbeamten)

- Erstligatauglich? (Gehört Rassismus zur Tradition von Schalke 04?)

- Ein Herz für Nieten (Die Wirtschaft sorgt für Ex-Minister)

- Verbieten verboten (Erlaubt ist, was der Umwelt schadet)


2019


- Das große Einknicken (Kommunalpolitik kuscht vor Rechten)

- Der kann nichts dafür (Scheuer nur bedingt verantwortlich)

- Schluss mit lustig! (Nazi-Gegner nicht mehr gemeinnützig)

- Braune Weihnacht (Die AfD mag kein dunkles Christkind) 

- Die Brandexperten (Ausgerechnet die CSU beklagt Hass-Sprache)

- Her mit den Migranten! (Altenpfleger aus der Dritten Welt)

- Adel verpflichtet nie (Hohenzollern wollen Beute zurück)

- Berserkers Rückhalt (Dubiose Ulster-Partei stützt Johnson)

- Die rechte Haltung (Neonazi-Aufmarsch in der Bundeswehr)

- Stunde der Komödianten (SPD-Rettung als Lachnummer)

- Logik des Untergangs (Saudi-Faible bis zum großen Knall)

- Untreuhandanstalt (wie der deutsche Osten verscherbelt wurde)

- Geht ein Gespenst um? (Juso Kühnert und das böse E-Wort) 

- Die Rache des Staates (Attac nicht mehr gemeinnützig)                      

- Afghanische Orakel (Tödliche Irrtümer des Westens)

- Donald und die Zwerge (Ein Berserker triumphiert)

- Prima Klima in Rio (Deutsche Geschäfte mit einem Faschisten)


2018


- Braundeutscher Eisberg (Rechtsextreme rüsten massiv auf)

- Grünes Vergessen (Man denkt nicht gern an alte Sünden)

- Vertragsbruch-Profis (Perfide Praktiken der USA)

- Die frohe Botschaft... (Die SPD macht sich überflüssig)

- Prinzip Belohnung (In der CSU zahlt sich Versagen aus)

- Die dümmsten Kälber (Populisten täuschen sozial Schwache)

- Das andere Israel (Künstler gegen die rechte Regierung)

- Völkermord als Test (Wurde in Afrika für den Holocaust geübt?) 

- Schmierenkomödianten (Menschenverachtung und Bundespolitik)

- Einäugiger Volkszorn (WM-Versagen und Fremdenfeindlichkeit)

- Ganz reale Ängste (Entwicklungen, die das Fürchten lehren)

- DGB am Scheideweg (Gewerkschaften verspielen Glaubwürdigkeit)

- Mit nacktem Finger (Chemiewaffen? Deutsche Firmen sind dabei!)

- Gehet hin und hört ab (Der BND bespitzelt Menschenrechtler)

- Jammern der Wölfe (Die fatale EU-Handelspolitik)

- Wieder was geschafft (Das Trauerspiel um die Inklusion)

- Überall Wiedertäufer (Sauereien einfach umbenennen!)

- Blut, Boden, Reisepass (Gefährliches Spiel um Südtirol)


2017


- Unwörter dieser Jahre (Sozialer Niedergang schöngeredet)

- Die süße Mafia (Coca Cola & Co. gehen brachial gegen Kritiker vor)

- Der U-Boot-Krimi (Deutsche Waffen-Deals wie geschmiert)

- Der Markt ist blind (Die Wirtschaft als oberste Instanz)

- German Angst (Die dubiose Sehnsucht nach Zucht und Ordnung) 

- Dem Fürsten sein Land (Nicht hochwohlgeboren, aber in der AfD) 

- Mörder und ihre Helfer (Die Saudis können sich auf uns verlassen)

- Gefährder aus Austria (Ein ÖVP-Rechtspopulist erobert Wien)

- Verhältnismäßigkeit (Von Steinewerfern und Heuchlern) 

- The Outsider (J. Corbyn, der etwas andere Sozialdemokrat)

- Lustige Kriegsspiele (Schon Kinder sollen Spaß an Waffen haben)

- Schreckliche Freunde (Statt Feinden hat Berlin die Saudis)

- Union der Verhinderer (Wie Integration unmöglich gemacht wird)

- Tödlicher Sehfehler (Die Bundeswehr lässt töten - die Falschen)

- Fürchtet Europa! (Unter deutscher  Führung rüstet die EU auf)

- Zur Bombe drängt... (Berlins feuchte Atommachtträume)

- Alle Kreter lügen (De Maizières Afghanistan-Paradoxon)
- Blindes Argusauge (Mehr Kontrolle? Durch wen bitte?)


2016


- Ende der Maskerade (Trumps Kabinett der Superreichen)

- Eine Sicht auf Castro (Was in Nachrufen unterschlagen wird)

- Ware Mensch (Vom wirtschaftlichen Wert des Flüchtlings)

- CETA-Marodeure (Wie man Freihandel erzwingen will) 

- Gefährliche Spießer (mit der AfD zurück in die 1950er Jahre)

- Spitzen-Nachbar! (AfD-Gauland möchte nicht wohnen wie andere)

- CETA spaltet DGB (Unternehmensfreunde in der Gewerkschaft)

- EU in freiem Fall? ("Wertegemeinschaft" auf Abwegen)

- Misstrauen geboten (Gabriel täuscht links an und geht rechts vorbei)

- Der letzte Strohhalm (Die SPD wird von ihren Sünden eingeholt)

- Aufschub für Austria (Atempause vor dem finalen Rechtsruck?)

- Die McKinsey-Republik (Externe Berater steuern die Arbeitsagentur) 

- Inklusionslügen (Bayern vergeigt die Inklusion, prahlt aber mit ihr)

- Europa wird braun (Rechtsradikale allerorten auf dem Vormarsch)

- Moral à la Turque (EU-Kuhhandel um verzweifelte Flüchtlinge)

- Durch die Wüste (Eine Kriegsministerin auf den Spuren Karl Mays)


2015 


- Die Christuskrieger (Fundamentalisten gibt es nicht nur im Islam)

- Die Widerlichen (Die CSU will von den Pariser Anschlägen profitieren)

- Hilfe für Pegida? (Unterstützung statt Bespitzelung durch Agenten)

- Schweizer Braun (Rechtsextreme sitzen in der Berner Regierung)   

- Asyl nach Wert (Nur hochqualifizierte Flüchtlinge sind willkommen)

- Die Flüchtlingsmacher (Deutsche Politik heizt Kriege an)

- Sichere Herkunft? (Regierung: Mit Märchen gegen Asylsuchende)

- Demokrexit (Wenn Griechen nicht so wählen, wie Berlin es will...)

- Die guten Schlächter (Deutscher Kolonialismus - eine Legende)

- Und es schießt doch! (Heckler & Koch tötet weltweit zuverlässig)

- Die Erpressung (Afrika - von der EU zum "Freihandel" gezwungen) 

- Die offenen Adern (Das Hauptwerk des verstorbenen E. Galeano)

- Terror auf Bestellung (USA und Saudis machten den IS stark) 

- Menschenrechtsstadt? (Nürnberg feiert sich - und weist aus) 

- Hüter der Spitzel (Wen deckt der Verfassungsschutz?) 

- Verramschter Verkehr (Privatisierer Dobrindt kann nicht rechnen) 

- Service für Folterer (VW do Brasil schmuste mit der Diktatur)  

- Fragen an die Irren (Die fatale Rabulistik der EU-Ökonomen)  

- Die dritte Drohung (nach CETA und TTIP soll TiSA kommen)


2014 


- Väter von Pegida (Die offizöse Verharmlosung der Xenophobie) 

- Gemeiner Nutzen (Was Parteien frommt, ist für Attac tabu)  

- Kreide gespeist (Politiker zeigen viel Verständnis - für Rassisten) 

- Europa der Diebe (Jean-Claude und die griechische Mythologie)  

- Primus aus Ankara (Erdogan hat viel von der NATO gelernt) 

- Gegen ein Monstrum (Entmündigung durch TTIP und CETA) 

- FREIHEIT und DEMOCRACY (Westliche Werte durch Intervention) 

- Tod aus Deutschland (Deutsche Wertarbeit lässt weltweit sterben) 

- Kokain (Länder versinken im Chaos, Banken scheffeln Milliarden) 

- Hässliches Profil (Wie sich die NSA einen Reim auf uns macht) 

- Dorf schlägt Staat (Aktive Bürger gegen zynische Politiker) 

- Der Teufelspakt (Ablenkungsmanöver rund um TTIP

- Blut am Stacheldraht (Die EU-Politik tötet Flüchtlinge)

- Mieser alter Mief (Sündenfall der Linken: Braunkohle-Abbau)

- Die Herren des Landes (Die Enteignung von Drittwelt-Staaten)

- Modell Haderthauer (Nicht ganz ernst gemeinte Ehrenrettung) 

- Bad Man Gabriel (Der SPD-Vorsitzende und die Waffenexporte) 

- Krippen ohne Heu (KiTas: Gebaut wird, aber die Erzieher fehlen) 

- Kleine Drohnenkunde (Wie Militärs elegant morden lassen) 

- Vorsicht: Hilfe! (Afrika leidet unter seinen EU-Gönnern)  

- Sport, Spiel, Krieg (Es darf wieder militaristisch gedacht werden)


2013

 

- Waffenbrüder? (DGB zwischen Friedenspolitik und Rüstungslobby) 

- Lobbykratie BRD (Korruption war gestern, es gibt Effektiveres)

- Partei der V-Leute (Vor lauter Spitzeln sieht man die NPD nicht) 

- Brave SPD! I und II (Wie man den letzten Rest Identität verliert)  

- Rechter Vormarsch (In der EU formieren sich die Ultras) 

- Die "Asyl-Experten" (Angst vor den USA macht schlau) 

- Die FIFA lässt sterben (Katar opfert Menschenleben für die WM) 

- Merkel-Lohn (Die Partei der Kanzlerin und die BMW-Mäzene) 

- EU-Verbrechen (Staatskriminalität gegen Flüchtlinge)        

Regio-Chauvinismus (Miniatur-Nationalisten in der EU)  

- Business à la Jesus (Beschäftigungspolitik im Zeichen des Kreuzes) 

- System Bayern I und II (Im Freistaat ist alles ein wenig anders) 

- Ein bisschen Krieg (Nato-Fehler in Syrien)

- FDP-Vorbild Obama (Wie man Mäzene versorgt!)

- Bravo, Niebel! (Ein etwas vergiftetes Lob)

Brot ohne Spiele (Fussball-Clubs gegen die Reichensteuer)

- Die Unbombe (Vom Iran spricht man, von Israel nicht.)

- Rächerin Ilse (Lebensmittelskandal verharmlost)


2012


- Deutsche Parteien (Eine Bestandsaufnahme als Panoptikum)

- Kissinger goes to Fuerth (Nobelpreis-Träger mit blutigen Händen)

- US-Wahlen: Pest? Cholera? ( Obama als kleineres Übel )



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2023


Schnapsidee Reloaded


Ein Plan, der nur von einem ausgemachten Zyniker stammen konnte, der einst ungläubiges Staunen und empörte Ablehnung auslöste, soll nun doch zur Anwendung kommen und findet plötzlich Zustimmung in (angeblich) honorigen EU-Kreisen: Der rechte englische Quartalsirre Boris Johnson hatte als Premier einen Deal mit dem Regime im zentralafrikanischen Ruanda ausgehandelt, das sich verpflichtete, „illegale“ Flüchtlinge aus Großbritannien gegen üppige Honorierung aufzunehmen. In letzter Sekunde konnte die Zwangsverbringung juristisch gestoppt werden. Doch Rishi Sunak, der jetzige Hausherr in Downing Street 10, der über ebenso geringe Empathie wie Johnson, aber bessere Manieren verfügt, will die Sache nun durchziehen – und weckt Begehrlichkeiten bei Think Tanks und Politikern der Brüsseler Union.


Überall, nur nicht in Europa


Im Grunde dreht sich in den europäischen Heimatschutz-Gremien alles nur noch um die Frage, wie man die Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention, die dummerweise alle Staaten unterschrieben haben, am elegantesten umgehen kann. Dazu werden semantische Konstruktionen jenseits aller Fakten bemüht: So spricht man von Asylbewerbern, die „irregulär“ eingereist seien, als werde Menschen, die vor der Gottesdiktatur der Taliban, den ethnischen „Säuberungen“ in Eritrea und Äthiopien, dem Krieg im Sudan oder dem Hungertod in der Sahelzone ins Abendland fliehen, je eine reelle Chance eingeräumt, „regulär“, also auf anständigem Wege, einzureisen.


Weil man auf eigenem Staatsgebiet die Asylgründe nicht mit der gebotenen Sorgfalt prüfen möchte und keine tragfähigen Integrationskonzepte entwickelt wurden, will man die Entscheidung, die tunlichst eine Ablehnung sein sollte, außerhalb der eigenen Grenzen treffen und die Unwürdigen sogleich zurück in die alte Heimat oder in ein „sicheres Drittland“ expedieren. Bei letzterem handelt es sich ebenfalls um eine sprachliche Schimäre (ein Trugbild also), die man beliebig auf Autokratien und weitgehend rechtlose Gebilde wie die nordafrikanischen Staaten Marokko, Tunesien und Algerien oder Erdoğans Türkei, wie Kasachstan oder das Indien des rassistischen Hindu-Nationalisten Modi anwenden kann. Gewissenhaft saufen sich Europas Politiker, auch die grünen und sozialdemokratischen Ampel-Moralisten, diese Regimes schön, um verzweifelte Migranten mit gutem Gewissen loswerden zu können.


Noch raffinierter wollte Boris Johnson vorgehen. Er bot Ruandas seit 2000 zunehmend despotisch regierendem Präsidenten Paul Kagame umgerechnet 144 Millionen Euro an, wenn dieser aus Großbritannien angelieferte Geflüchtete in seinem Land aufnähme – natürlich ohne Aussicht auf eine Rückkehr ins Gelobte Albion. Nicht wenige Beobachter hielten das Vorhaben für eine Schnapsidee, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte untersagte den ersten Abschiebeflug kategorisch mit der Begründung, die Deportation stelle "ein echtes Risiko von irreversiblem Schaden" für die betroffenen Asylsuchenden dar. Doch ein gutes Jahr, einige Hunderttausend Migranten in Europa und etliche tausend Ertrunkene im Mittelmeer später, entdecken die von den Rechtspopulisten vor sich her getriebenen Regierungen den Charme der Reise ohne Wiederkehr.


Ein „Vordenker“ träumt von Ruanda


Unser nördlicher Nachbar trat kurzzeitig in britische Fußstapfen. Erst nach heftigen Protesten stoppte Dänemarks Regierung ein Projekt, das ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in Ruanda vorgesehen hätte.

Währenddessen verhandelt Italiens postfaschistische Regierungschefin Giorgia Meloni mit der Regierung in Tirana. Das finanzschwache Albanien könnte doch gegen Devisen Boat People aus Lampedusa in Karst-Ghettos ansiedeln.


In London verfolgt Premier Sunak unverdrossen den Plan seines Parteifreundes Johnson weiter, mittellose und verfolgte Menschen in ein Land zu entführen, dem Armut und politische Verfolgung nicht fremd sind. Wer sich näher mit der jüngeren Geschichte Ruandas beschäftigt, wird knallhart mit der Absurdität und Skrupellosigkeit solcher Flüchtlingspolitik konfrontiert.


Erst 1994 erlebte das Land den weltweit folgenschwersten Genozid der letzten Jahrzehnte. Ein militanter Mob vom Mehrheitsvolk der Hutus brachte rund 800.000 Tutsis und Gemäßigte aus der eigenen Ethnie um. Zwar gilt Ruanda inzwischen als vergleichsweise befriedet, doch dürfte die Ankunft von Tausenden Immigranten fremder Sprache und Kultur, die noch dazu gegen ihren Willen nach Afrika zurückgebracht werden, Probleme verursachen. Zudem kommen sie in eins der am dichtesten besiedelten Länder der Welt (fast 14 Millionen Einwohner auf nur 26.000 Quadratkilometern), das – obwohl es mit die höchsten Wirtschaftswachstumsraten auf dem Kontinent verbucht – immer noch zu den ärmsten Regionen der Erde gehört.


Einiges könnte allerdings den politischen Flüchtlingen aus ihrer einstigen Heimat bekannt vorkommen: Paul Kagame hat in den 23 Jahren seiner Herrschaft Ruanda in ein autokratisches System ohne Pressefreiheit und unabhängige Justiz verwandelt, in dem Oppositionelle spurlos verschwinden und Wahlen manipuliert werden. Amnesty International wirft den Behörden vor, die Zivilbevölkerung, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten zu kontrollieren und an ihrer Arbeit zu hindern. Nach Angaben von UNICEF wiederum wachsen 600.000 Kinder ohne Eltern oder als Halbwaisen in extremer Armut auf.


Derzeit wirkt das Regime in Kigali am endlosen Bürgerkrieg im rohstoffreichen Ostkongo mit. Von dort stammt auch ein Gutteil der 130.000 Flüchtlinge in Ruanda, von denen fast alle in riesigen trostlosen Lagern dahinvegetieren müssen.


Sieht so ein „sicheres Drittland“ aus, dem die Beherbergung tausender verzweifelter Migranten anvertraut werden kann? Ist dort, fern von Europa, eine unvoreingenommene Prüfung des Asylersuchens überhaupt möglich? Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus glaubt das erstaunlicherweise und tourt mit seiner exquisiten Meinung durch die Medien. Der Mann ist u. a. Vorsitzender der neoliberalen Denkfabrik ESI, die zu ihren Financiers so illustre Gönner wie den Börsenspekulanten George Soros oder das Auswärtige Amt in Berlin zählt. Zudem war Knaus für die UN-Interimsverwaltung im Kosovo tätig, deren Mitarbeiter über allen Gesetzen standen und sich von Serben wie Kosovaren Willkürakte und Untätigkeit vorwerfen lassen mussten. Jetzt schlägt der nicht so erfolgreiche „Experte“ Knaus der EU vor, sie solle mit Ruanda eine ähnliche Vereinbarung treffen, wie dies London schon getan habe.


Dumm nur, dass in der vergangenen Woche die fünf Richter des Supreme Court, des höchsten britischen Gerichts, einstimmig die Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda untersagt haben, da für sie dort das Risiko bestehe, in ihre Heimatländer zurückgeführt zu werden, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben drohen könnte.


Gerald Knaus empfiehlt also der EU, dem failed statesman Rishi Sunak in die Pleite zu folgen. Auch Brüssel hatte schon versucht, boat people von Europa fernzuhalten und nach Tunesien „umzuleiten“, ein Land, das gerade in Richtung islamistische Autokratie driftet und dessen Behörden Flüchtlinge ohne Wasser in die Wüste trieben. Bezeichnend sind solche Maßnahmen nicht für den Pragmatismus der EU-Politiker, sondern für ihre opportunistische Bedenkenlosigkeit und die Negierung jeglicher Menschenwürde und humanitären Verantwortung.


Zwei Klassen von Traumatisierten


Derzeit üben sich in der Berliner Etappe die Baerbocks, Hofreiters oder Strack-Zimmermanns in der medialen Zurschaustellung ihrer Kriegsbegeisterung, doch gibt es in Deutschland auch Menschen, die einen bewaffneten Konflikt an der Front überlebt haben und deren Rückkehr ins zivile Leben von schlimmen Erinnerungen überlagert wird. Es dauerte eine Weile, bis die Verantwortlichen registrierten, dass etliche Afghanistan-Veteranen nach ihren schrecklichen Erfahrungen unter Posttraumatischen Belastungsstörungen litten.


Die Betroffenen hatten vor dem Kriegseinsatz als psychisch und physisch gesund gegolten, sie waren freiwillig in den Hindukusch gegangen, dort halbwegs geschützt, verpflegt und betreut worden, dennoch erkrankten sie seelisch. Immerhin wurde ihnen mit einiger Verspätung professionelle Hilfe angeboten. Und wenigstens das ist gut so.


Wie aber geht man mit Menschen um, die aus der Todesgefahr in ihrer Heimat fliehen, sich um ihre Angehörigen sorgen oder sie bereits betrauern, rechtlos durch die Welt irren, ohne Möglichkeit, in einem Land, in einer Berufstätigkeit, in einer toleranten Gesellschaft Fuß zu fassen? Ihnen verweigert die EU, deren PolitikerInnen die Menschenrechte stets auf den Lippen führen, jede Teilhabe – Traumatisierung hin, Genfer Konvention her -, pfercht sie in „Aufnahmezentren“, die Seuchenstationen gleichen, zusammen und will sie in Staaten abschieben, die sie fatal an jene, aus denen sie geflüchtet sind, erinnern…
11/2023
Dazu auch:
Johnsons fieser Deal im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)






Das fünfte Rad


Sie versucht es wieder: Nachdem Sahra Wagenknecht bereits 2018 die Sammlungsbewegung aufstehen gegründet hat, die Massen mobilisieren sollte, im darauffolgenden Jahr jedoch sanft entschlief, versucht sie es nun eine Spur kleiner, allerdings auch zielgerichteter. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wird bei der Geburt einer neuen Partei assistieren, die „eine Rückkehr zur Vernunft in der Politik“, was immer man darunter verstehen mag, einleiten soll. Nach ersten vagen Aussagen der Chefin ist programmatisch nicht viel Neues zu erwarten, es scheint eher, als werde an einem Karren mit genügend asynchron laufenden Rädern, Symbol für die jetzige Parteienlandschaft, ein weiteres unrund eierndes angebracht.


Die kalte Egomanin


In den letzten Tagen der DDR und in den Anfangszeiten der vereinigten Republik wurde Wagenknecht viel Respekt ob ihrer Unabhängigkeit gezollt. Sie hatte sich nicht von der SED vereinnahmen lassen, sie ließ sich zunächst auch nicht vom bundesdeutschen Polit-Mainstream umgarnen. Ihr schien jeglicher Opportunismus fremd, sie eckte an und sprach Unbequemes offen aus. Erst als sie mit ihrer Partei, der Linken, fremdelte, weil sie sich in ihrer Star-Rolle zu wenig hofiert fühlte, und gemeinsam mit dem umtriebigen, aber ein wenig wetterwendischen Ehemann Oskar Lafontaine begann, neue Forderungen, die eher vom rechten Rand der Gesellschaft und aus dem AfD-Vokabular zu stammen schienen, zu propagieren, nahm man wahr, dass sie sehr wohl den Trends nachjagte – wenn es persönlichen Erfolg versprach.


In der Tat ist für Sahra Wagenknecht, die als teamunfähig und eigenbrötlerisch gilt, das eigentliche Programm schlicht Sahra Wagenknecht – in ihrem Ego-Hype dem bayerischen Narziss Markus Söder sehr ähnlich. So erklärt sich auch die Benennung des neuen Bündnisses, was wiederum an andere Selbstdarsteller und Namensgeber wie den niederländischen Rechtsaußen Geert Wilders oder den konservativen Chef Jürgen des Team Todenhöfer gemahnt. Wagenknecht wirkt bei Interviews irgendwie gefühlsarm, scheint in einem Kokon zu leben, in den sie nur Fragmente der vorherrschenden Volksmeinung einlässt, die sie auf Brauchbarkeit für die eigene Kampagne prüft. Nach Empathie oder Verantwortungsbewusstsein sieht das nicht gerade aus.


So wirken die Inhaltsfetzen, mit denen sie die neue Parteigründung rechtfertigt, auch wie Bestandteile eines Potpourris aus historischen Forderungen der Sozialdemokratie, aggressivem Öko-Bashing, vagen Entspannungsvorschlägen und rigider Flüchtlingsabwehr. Zudem spricht sie sich für einen breiteren „Meinungskorridor“ in Deutschland aus – lobt damit also doch die reaktionären Meinungsmacher, die nach dem Motto „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ gern Ausländer, queere Menschen und eifrige Klimaschützer diffamieren.


Totengräberin der Linken


Unter den paar Brocken, die uns die Unnahbare zur Begründung für ihren nächsten politischen Ego-Trip hinwirft, sind auch solche, die man akzeptieren kann, etwa wenn sie eine deutliche Anhebung des Mindestlohns oder „mehr soziale Angleichung“ fordert, auch wenn sie nicht sagt, wie Letzteres zu erreichen wäre. Scheinbar konzentrieren sich die  Bundestagsabgeordneten der Linken (unter ihnen immerhin die Co-Fraktionsvorsitzende Amira Mohamad Ali), die aus der Partei ausgetreten sind, um Wagenknecht ins neue Glück zu folgen, auf solche unverdächtigen Aussagen. Was die Abtrünnigen vom Klischee „ungeregelte Zuwanderung“ und von dem die Verantwortlichkeit der Industrienationen ausklammernden Allgemeinplatz, Migration sei nicht die Lösung für Armut in der Welt, halten, ist bis dato nicht bekannt. Eigentlich sollten sie aus der linken Kinderstube noch wissen, dass es auch nicht wirklich zielführend ist, die Menschen im Mittelmeer ertrinken oder im Sahel verhungern zu lassen.


Nichts an dem, was uns da aufgetischt wird, klingt wirklich originell. So ähnlich haben wir das alles schon mal gehört, mal von der AfD, mal vom Bundeskanzler, seit Kurzem auch von grünen Vordenkern. Ein weiteres Etikett für Ausschussware, das Wagenknecht einer überlebenswichtigen Initiative anheftet, indem sie von „blindem Öko-Aktivismus“ schwadroniert, belegt angesichts der sich häufenden Umweltkatastrophen einen bislang unentdeckt gebliebenen Hang zum blanken Zynismus.


Die Linke, die in ihrer Mehrheit eine differenziertere Haltung zu diesen Themen einnimmt, wird wohl das erste Opfer von Sahra werden. Mit Recht verweigert die Restpartei den Dissidenten den Verbleib (und die Pfründen) in der Bundestagsfraktion, was bedeutet, dass sich diese auflöst, und die Ex-Mitglieder auf Mittel, Referenten, Redezeit und Gremiensitze verzichten müssen. Und das ist schade, denn die Bundestagsabgeordneten der Linken waren die fleißigsten Initiatoren parlamentarischer Anfragen und die gründlichsten Kontrolleure in den Untersuchungsausschüssen. Zwar ist es positiv zu bewerten, dass die Partei nun rechtslastigen Ballast abwirft, ob sie aber überhaupt noch den Absturz in die Bedeutungslosigkeit vermeiden kann, ist äußerst fraglich.


Koalition aus Vernunft und Populismus?


Laut einer aktuell von t-online-news bei Civey in Auftrag gegebenen Umfrage können sich 44 Prozent der Linken-Anhänger vorstellen, für die Partei von Sahra Wagenknecht, die Anfang 2024 endgültig aus der Taufe gehoben werden soll, zu stimmen. Vor allem im Osten der Republik dürften es Unzufriedene ohne dezidierte politische Grundeinstellung sein, die zur neuen Partei abwandern. Zugleich erwägt fast ein Drittel der AfD-Wähler laut Civey-Erhebung, das Kreuzchen bei der neuen Partei zu machen, was für den Wiedererkennungswert der alten Parolen in neuer Verpackung spricht.


Doch Sahra Wagenknecht darf sich nicht zu sicher fühlen. Zwar wird ihr ein Potenzial von 20 Prozent der bundesweiten Wählerstimmen bescheinigt, doch da spielt sicherlich der gegenwärtige Hype um sie eine entscheidende Rolle. Was aber wird geschehen, wenn der Glamour angesichts aktueller Ereignisse verblasst, BILD sich auf andere Themen kapriziert und die kurzfristig entzückten AfD-Sympathisanten sich wieder dem Original zuwenden? Dann reichen ein paar vernünftige Ansichten, die sich schlecht mit dem restlichen rechtspopulistischen Getöse paaren, kaum dazu aus, andere Unterstützer zu rekrutieren.


Denn die Konkurrenz ist unter den Epigonen der xenophoben AfD-Programmatik zu groß. Seit Kanzler Scholz, seine FDP, die beiden anderen Ampel-Parteien und die Union ankündigen, das Asylrecht ähnlich wie die Rechtsradikalen einschränken oder ganz aushebeln zu wollen, und bisweilen sogar Anleihen bei deren Rhetorik machen, dürfte es für eine weitere migrationsfeindliche Kraft schwer werden, sich von den Mitbewerbern abzuheben, sich als fünftes Rad am rückwärts rollenden Wagen zu profilieren.


Doch selbst wenn es Sahra Wagenknecht nicht gelingen sollte, genügend Wähler zu mobilisieren, ist ihr eine gewisse historische Rolle möglicherweise nicht abzusprechen: Sie könnte am Todesstoß für die einzige bundesdeutsche Partei, die sich nicht der Ressentiments der Gosse bediente, maßgeblich beteiligt haben.
10/2023
Dazu auch:
Sahras rechter Flirt im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2018)






Braune Zeitenwende?


„Wir erleben eine Zeitenwende.“ Das hatte Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verkündet. Gut anderthalb Jahre später drängt sich angesichts der Wahlergebnisse von Hessen und Bayern der Eindruck auf, dass tatsächlich etwas zu Ende gegangen ist und in Politik wie Gesellschaft eine neue düstere Ära begonnen hat. Der Ampelkoalition mag diese Entwicklung als blaues Wunder erscheinen, bei näherem Hinsehen jedoch entpuppt sich der Wandel als braune Restauration.


AfD auf der Zunge


Dass die beiden Landtagswahlen vom vergangenen Wochenende für die Ampelregierung so katastrophal ausgingen, hat sich Wende-Visionär Scholz zu einem Gutteil selbst zuzuschreiben. Gemeinsam mit Wirtschaftsminister Lindner blockierte er die guten Ansätze der grünen Klimapolitik, ließ indes ein mit guter Absicht, aber weltfremd konzipiertes und dann auch noch verstümmeltes Heizungsgesetz passieren. Zudem offenbarte er, zum Hamburger Cum-Ex-Skandal befragt, merkwürdige Gedächtnislücken und verstrickte sich in widersprüchliche Aussagen.


Vor allem aber gestattete er seinen MinisterInnen, sich bei der Migrationsproblematik sowohl verbal als auch in der Sache mehr und mehr den Positionen der AfD anzunähern. Für die Chefin des Innenressorts, Nancy Faeser und ihre FDP-Kabinettskollegen war die global verbindliche Genfer Konvention bald nur noch Makulatur, korrupte Autokratien wurden zu „sicheren Herkunftsländern“ ernannt, und die gesamte Regierung schwelgte in Abschiebungs- und Rückführungsphantasien, denen lediglich die Grünen ein paar kosmetische Trostpflästerchen verpassten.


Doch es kam, wie es kommen musste: Die AfD konnte auf ihre Meinungsführerschaft in Sachen Inhumanität und Xenophobie pochen, und die Werte für die Plagiatoren aus der Ampel-Koalition fielen bei den Landtagswahlen ins Bodenlose. So ist es nicht verwunderlich, dass die SPD in Hessen von allen Parteien die meisten Wähler an die Rechtsextremen verlor. Da hätten die Genossen sich zumindest teilweise an der Union orientieren können, die sich ein wenig geschickter (weil noch perfider) anstellten.


Fake sells


Nicht erst seit dem Boom der sozialen Medien im Internet weiß man, dass sich mit Enthüllungsgeschichten über Asylsuchende, Unterhaltsempfänger oder andere aus der Norm Fallende – seien die Inhalte nun wahr oder frei erfunden – trefflich Massenempörung generieren lässt; schließlich hat BILD über etliche Jahrzehnte damit Milliarden verdient. Also wagte sich auch Friedrich Merz ins Reich der asozialen Mythen und schuf den Asylanten, der sich beim Zahnarzt das Gebiss fürstlich restaurieren lässt, während der arme Volksdeutsche keinen Termin bekommt. Mochten Ärzteschaft und Gesundheitsbehörden noch so heftig dementieren, die tolle Story war in der Welt und fand ihre Liebhaber.


Die AfD hat so schon oft den Hass auf Ausländer geschürt und dabei auch mal auf Fake News von Russia Today zurückgegriffen. Doch schon vor ihr ist ein findiger Christunionist auf solche süffigen Horror-Märchen verfallen: Peter Gauweiler pflegte gern nach unten tretende Spießer mit der Mär von der schwarzen Flüchtlingsfrau, die sich ihre Dreadlocks auf Kosten des Sozialamts flechten lässt, zu schocken. Dass alle zuständigen Stellen von völligem Unsinn sprachen, vermochte den Erfolg des Erzählers nicht zu mindern.


Zwar konnte die Union auf diese Weise ein paar Ultra-Rechte bei der Stange halten, aber auch hier gilt: Nur wer sich von ganzem Herzen der Fremdenfeindlichkeit verschreibt, und zwar mit dem Herzen auf dem rechten Fleck und nicht nur mit der Zunge, kann in immer weiter werdenden Bevölkerungskreisen ordentlich punkten. Folgerichtig wurde die AfD in Hessen zweitstärkste Partei und übernahm die Oppositionsführung im Landtag, während Nancy Faeser vergeblich die überschaubaren Reste ihrer Anhängerschaft um sich zu scharen suchte.


In Bayern gab es trotz zackigen Rechtsschwenks von Markus Söder und trotz der Unfähigkeit der Herausforderer, seine zahllosen Pannen und erratischen Richtungsänderungen (Stammstrecke 2, wirres Corona-Management, gebrochene Versprechungen beim Wohnungsbau, Versagen bei Stromtrassen und Windkraft etc.) publik zu machen, einen Dämpfer, das zweitschlechteste Wahlergebnis der CSU seit 70 Jahren nämlich. Dass die AfD knapp nur drittstärkste Kraft im Freistaat wurde, hat sie einem Kontrahenten zu verdanken, dessen Bauernschläue und Wortradikalität offenbar lange unterschätzt worden waren.


Spätestens mit seiner Wutrede von Erding hatte sich Hubert Aiwanger von den Freien Wählern (FW) unauslöschlich ins Herz nationalistischer Querulanten getobt. Markus Söder war auf derselben Veranstaltung bei seiner Hetztirade gegen die Ampel, nur zweiter Sieger geworden. Als Aiwanger wegen früherer Nazi-Sympathien scheinbar in eine Affäre geriet, ging er aus dem Medienwirbel gestärkt hervor. Offenbar goutierten es die Anhänger, dass der junge Hubsi nie zum Joint gegriffen und einen Hang zum Humanismus oder Pazifismus gezeigt, sondern sich der braunen Traditionspflege mit bemerkenswertem Humor  gewidmet hatte. Zum Dank machten die Wähler seine FW nun zur Nummer 2 in Bayern. Die AfD lässt sich punktuell also doch noch rechts überholen.


Hoffnung auf die nächste Generation?


In Hessen gab jeder fünfte Wähler der AfD seine Stimme, in Bayern war es jeder siebte. Das sind nicht Ergebnisse aus dem Osten der Republik, wo wir in den Wahlen des nächstes Jahres (Thüringen, Sachsen, Brandenburg) möglicherweise jeweils ein Drittel brauner Sympathisanten an den Urnen begrüßen dürfen, falls sich die chronisch zerstrittene Partei bis dahin nicht wieder einmal selbst zerlegt.

Zusammen mit den FW und der von ihr weiter nach rechts getriebenen CSU bildet die AfD in Bayern einen mächtigen Rechtsblock, in Hessen nimmt sie bereits die Vize-Führungsposition ein, die bundesweit auch kein unrealistisches Ziel mehr zu sein scheint.


Wie kann eine Gruppierung, die keine praktikablen Vorschläge macht, deren Programme entweder instinktiven Unmut in der Bevölkerung aufgreifen oder – wie im Wirtschaftsteil – von der FDP abgeschrieben wurden, die trotz ihres Namens keinerlei Alternativen für die Deutschen oder die Welt an sich bietet (lässt man Chauvinismus und Geschichtsklitterung nicht als originäre Leistungen gelten) so erfolgreich sein?


Zumindest zwei Teilantworten auf diese Frage seien hier angeführt: Die AfD befreit einen großen Teil der Bundesbürger von den diesen lästigen Schatten der Geschichte, indem sie die nationale Vergangenheit banalisiert (Gaulands Einschätzung der Nazi-Herrschaft als „Vogelschiss in der Geschichte“) oder die Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen nonchalant verunglimpft (Höckes Bezeichnung „Denkmal der Schande“ für das Holocaust-Mahnmal). Die Forderung Irgendwann muss doch mal Schluss sein mit den ewigen Schuldzuweisungen! ist entgegen allen Politiker- und Edelmedien-Aussagen in der Mehrheit der Bevölkerung durchaus konsensfähig. Die Tatsache, dass 80 Prozent das Asylrecht ändern (etliche davon es sogar abschaffen) wollen und Flüchtlinge als Schmarotzer denunzieren, belegt die Geschichtsvergessenheit eines Landes, dessen Geisteselite sich einst zu großen Teilen nur noch durch Emigration retten konnte.


Und dann ist da noch die Klaviatur der Ängste, auf der die AfD trefflich klimpert: In Kleinstädten und auf dem Land legte sie besonders stark zu, fürchten doch die Kleinbauern den EU-Trend zur Agrarindustrie. Von der Union, in der die Besitzer großer Landwirtschaftsbetriebe organisiert sind, oder den Grünen, denen der rechte Block unisono das Prädikat der „Verbotspartei“ anhängte, glauben sie, nichts als Ungemach erwarten zu können. Dazu kommt die Angst vor „Überfremdung“, vor dunklen Gesichtern in den Straßen, vor Kriminalität, vor der Minderung von Löhnen und Renten, vor ausländischer Konkurrenz usw. Die AfD braucht dazu keine Konzepte zu entwickeln, sondern nur ihr mittelalterliches Weltbild zu propagieren, in dem multikulturelle Beziehungen nicht vorkommen, internationale Beziehungen an der Burgmauer enden und der deutsche Schrebergärtner ganz allein mit eiserner Harke Ordnung in seinem Gau hält.


Angesichts der jüngsten Wahlergebnisse könnte man über die geistige Verfassung der eigenen Zeitgenossen verzweifeln, glatt zwei bis drei Generationen hinsichtlich eines humaneren Gesellschaftswandels abschreiben und auf den Nachwuchs hoffen. Doch eine weitere Hiobsbotschaft kommt wiederum aus dem südlichen Freistaat.


Der Bayerische Jugendring organisierte eine U18-Landtagswahl im Freistaat. Etwa 60.000 Kinder und Jugendliche gaben ihre Stimme ab und bestätigten im Großen und Ganzen die Binsenweisheit, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Die CSU wurde mit 26 Prozent stärkste Partei vor der AfD (15 %). Immerhin schaffte es die bei den Großen so kläglich abgestürzte SPD auf Rang drei, knapp vor den Grünen (beide über 13 %). Dann kam schon der unvermeidliche Hubert Aiwanger mit 9 %. Die Zukunft war auch schon einmal besser.
10/2023
Dazu auch:
Posse mit Nancy, Alternative Merz und Depp oder Brandstifter in der Rubrik Helden unserer Zeit
Land der AfD in der Rubrik Medien







Wutbürgers 10 Gebote


Dass sich die AfD trotz unzähliger Skandale, schwerer Fehltritte ihrer Funktionäre, unappetitlicher Fehden zwischen den Parteioberen, Blamagen bei Faktenchecks und offensichtlicher Inkompetenz anschickt, zur zweiten politischen Kraft in der Republik aufzusteigen, grenzt an ein Wunder. Und tatsächlich hat sie weder mit Argumenten noch Inhalten oder sinnvollen Initiativen die potentiellen Wähler auf ihre Seite gebracht, sondern mit Hasstiraden, kruden Glaubenssätzen und bräunlicher Heilspropaganda. Handelt es sich bei diesem „auserwählten“ Haufen womöglich gar nicht um eine klassische Partei, sondern originär um eine Schar religiöser Fanatiker, eine Sekte somit?


Rational sind weder die inhaltlichen Maximen der Neuen Deutschen Rechten noch der Zuwachs an deren Gefolgschaft erklären, doch irgendetwas muss dem Erfolg zugrundeliegen. Existieren vielleicht Parallelen zu Religionsgründungen in grauer Vorzeit, kam Hilfe vom Höchsten Wesen, weil der irdische Intellekt der braunen Eiferer nicht ganz ausreichte? Doch in diesem Fall war es nicht Moses, der mit steinernen Gesetzestafeln, die ihm Gott höchstpersönlich ausgehändigt hatte, vom Berge Sinai herab schritt. Vielleicht aber wurden die neuen ehernen Gebote den Führern von Identitären, Reichsbürgern und AfD-Horden auf den nebligen Gipfeln Walhalls, das irgendwo in der Sächsischen Schweiz zu suchen ist, offenbart.


Dem Vernehmen nach lauten die göttlichen Dekrete, die irriges Nachdenken, lächerliche Empathie, lauwarme Toleranz, feigen Friedenswillen und dergleichen sündig-dekadente Regungen aus den Köpfen der Anhänger fernhalten sollen, folgendermaßen:


1. Du sollst Deutschland über alles in der Welt stellen

Alle anderen Länder müssen erst am deutschen Wesen genesen – sofern sie von weißhäutigen Menschen bewohnt sind. Den Rest in Afrika, Asien oder sonstwo brauchen wir ohnehin nicht.


2. Du sollst Flüchtlingen jegliches Asyl verweigern
In unserem Land ist kein Platz für Fremde, die behaupten, in ihrer Heimat verfolgt zu werden. Menschen andersfarbiger Rasse oder heidnischer Religion passen nicht in unsere Volksgemeinschaft. Wer hat denn unseren engagierten Spitzenkräften in Wehrmacht, SS und NSDAP nach dem vorzeitigen Ende des Tausendjährigen Reichs Hilfe und Aufnahme geboten – außer ein paar Bundesministerien, südamerikanischen Diktatoren und dem Vatikan? Andererseits liefert die bloße Anwesenheit von Flüchtlingen ein prima Thema für elaborierte Totschlagsargumentation. Ist dadurch doch die Hälfte der Volksgemeinschaft auf unserer Seite, auch wenn sie es noch nicht laut zu äußern wagt.


3. Du sollst nicht mit der Nationalität spielen
Als Deutscher geboren zu sein, ist ein Gottesgeschenk. Die rechte Volkszugehörigkeit lässt sich weder durch scheinheilige Integration oder doppelte Staatsbürgerschaft noch durch eifriges Spiel für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erwerben. Wer schwarz ist oder Moslem, Boateng oder Gündoğan heißt, kann nicht deutsch sein.


4. Du sollst Gedenktage heiligen, aber nur die richtigen
Schmach und Verrat, wie sie die Weltkriegsabpfiffe 1918 und 1945 prägten, sollen übergangen werden. Der Kapitulationen der Franzosen in Sedan (1870) und Compiègne (1940) ist hingegen unbedingt zu gedenken. Die „Befreiung“ sogenannter Konzentrationslager durch irgendwelche Alliierte muss ignoriert werden, schließlich sollte dort nur Weltverschwörungen vorgebeugt werden. Dafür darf man den Einzug von Nazis in den Bundestag (2017) nachhaltig würdigen, auch wenn es sich nicht im eigentlichen Sinn um eine Premiere handelte, da vor allem Christunion und FDP ihre parlamentarischen Reihen nach 1948 kräftig mit ziemlich unverbesserlichen Gefolgsleuten des Führers aufgestockt hatten.


5. Du sollst Vater und Mutter ehren
…soweit sie dich in bestem Wissen und Gewissen zu einem völlig intoleranten Seelenkrüppel erzogen haben, so dass du nie auch bloß einen Zoll vom rechten Weg abweichen mögest. Nur dann nämlich hast du den Kadavergehorsam und die Untergangssehnsucht von Urdeutschen wie Hagen von Tronje, Lettow-Vorbeck oder Uwe Mundlos wirklich verinnerlicht.


6. Du sollst niemanden abmurksen
Es sei denn, es handelte sich um linke Zecken, dunkle Nichtarier und türkische Schneider oder Blumenhändler, Angehörige falscher Religionen oder minderwertiger Ethnien sowie Queere. Das deutsche Volk muss Notwehr begehen dürfen.


7. Du sollst keine Lügen verbreiten und stets die Wahrheit suchen
Dazu bedienst du dich am besten seriöser Medien, etwa Facebook, Tiktok, Russia Today und ab und zu BILD. Keinesfalls darfst du dich mit der Lügenpresse abgeben! Dieser fehlt weitgehend die Phantasie, eigene Verschwörungstheorien zu entwickeln, was sie durch die Wiedergabe politischer Allgemeinplätze aus den Mündern unbedarfter oder arglistiger Angehöriger der „Eliten“ kompensiert: Valium für Weicheier.


8. Du sollst Klima-Aktivisten und Umweltschützer verachten
Wetter hat es schon immer gegeben, mal war es ziemlich warm, mal klirrend kalt, oft aber wendisch. Zugegeben, im Augenblick steigen die Temperaturen schneller und höher als in den letzten hunderttausend Jahren, und so unangenehme Events wie Starkregen, Stürme oder Forstbrände suchen uns häufiger heim als früher. Aber das geht schon wieder vorbei. Nur Hysteriker fürchten um Wälder, Moore und Wiesen und vergessen dabei, dass durch die Erosionsarbeiten der Umwelt das Schlagen neuer Trassen für deutsche Autobahnen nicht unwesentlich beschleunigt wird. Und was das „Artensterben“ betrifft: Sollen sie doch verschwinden, die welschen Moskitos, asiatischen Tigermücken und afrikanischen Tsetse-Fliegen!


9. Du sollst wehrhaft sein wie ein Reichsbürger
Jedem reinrassigen Deutschen steht eine Schusswaffe zu, damit er Gut, Heim und Hof sowie die Ehre der Frauen schützen kann. Die Volksgenossen von der AfD haben das bereits in ihr Programm aufgenommen, die befreundeten Reichsbürger, Uniter und andere identitäre Rassisten haben schon aufgerüstet und praktizieren die bewaffnete Vorwärtsverteidigung von Zeit zu Zeit bereits mit durchschlagendem Erfolg.


10. Du sollst nicht nachdenken, sondern deinem Instinkt folgen
Grübeleien, Skepsis, Selbstzweifel und wissenschaftliche Belege überlässt der Deutsche den linken Sonntagsrednern. Er vertraut seinem tierisch guten Instinkt, der ihn schon einmal als Stecken und Stab auf die rechte Bahn geführt hat.


Dass die neue Glaubensgemeinschaft, die sich strikt an diese zehn Gebote hält, erfolgreich im Land missioniert und immer mehr Anhänger findet, lässt sich an den letzten Umfragen zu den anstehenden Landtagswahlen ablesen.
09/2023
Dazu auch:
Bürger zu den Waffen (2019) und „Reichsbürger“ (2017) im Archiv der Rubrik Medien








Sweet Dreams?


Den einen geht der Schritt nicht weit genug, die andern warnen vor hemmungslosem Rauschmittelkonsum, und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach verspricht vollmundig den „Wendepunkt einer leider gescheiterten Cannabis-Drogenpolitik“. Gegen Ende dieses Jahres sollen Freunde der sanften Trance unter gewissen Bedingungen und nach reglementiertem Erwerb ihr Haschisch-Pfeifchen und den Marihuana-Joint angstfrei genießen können. Ist diese bedingte Zulassung einer weiteren Droge sinnvoll oder leitet sie den Untergang des Abendlands ein? Der Argumente und Halbwahrheiten sind so viele, dass einem bei intensiverer Beschäftigung der Kopf schwurbelt, als habe man gerade ein wenig grass zu viel durchgezogen.


Inspiration oder Sucht und Gewalt?


Im Idealfall sollte der Mensch seine gesellschaftliche Umgebung ja ohne künstliche Aufheller, euphorisierende, besänftigende oder halluzinogene Substanzen bestreiten. Aber in einer Welt wie der gegenwärtigen fällt es angesichts immer neuer Krisenmeldungen, von Hungersnöten über Klimakatastrophen, Flüchtlingsströme bis hin zu Kriegen in der Ukraine, im Jemen und anderswo, immer schwerer, völlig klaren Kopf zu bewahren. Und wer angesichts eines verdächtigen Personals von Meinungsbildnern, dem u. a. Putin, Trump, AfD-Braune, Superreiche mit Mega-Energieverbrauch, Auto-Lobbyisten im Ministerrang und Markus Söder angehören, völlig nüchtern und psychisch unbeschwert durchs Leben geht, muss katholischer Schweigemönch oder buddhistischer Asket sein und Finger, Augen sowie Ohren von allen Medien lassen.


Es existieren also genügend Gründe, sich den Status quo schönzutrinken, die Nervosität mit Nikotin zu dämpfen – oder eben mittels Cannabis in wohligen Dunst einzutauchen. Überall auf der Erde kauen Menschen Kat, Bethelnuss oder Koka-Blätter, rauchen Tabak, Haschisch oder Opium, um die Realität ertragen zu können. Solche Flucht- und Ersatzhandlungen lassen sich nicht ausrotten, bleibt also die Frage: Braucht es in unserer Kultur neben Alkohol, Glimmstängeln, Tee, Kaffee und Beruhigungsmitteln noch eine weitere Droge? Davon abgesehen, dass nichts von alledem überlebensnotwendig (aber wohl begehrt) ist, kommt die Frage viel zu spät. Eine Untersuchung von 2021 ergab, dass knapp 9 Prozent der jungen Erwachsenen regelmäßig Haschisch oder Marihuana konsumierten. Cannabis hat sich also längst als Volksdroge etabliert.


Bis zu 30 Gramm im Monat sind statthaft, die Abgabe sowie der Gehalt des Wirkstoffs THC sollen kontrolliert werden, und ein User mit grünem Daumen darf sich drei Cannabis-Pflänzchen ziehen. Klingt gemäßigt, dennoch laufen konservative Politiker Sturm gegen das Gesetzesvorhaben. Vor allem Bayern, wo das Bier, mit dem sich Millionen regelmäßig high saufen, als Lebensmittel gilt, ist strikt gegen jede Form der Legalisierung. Immer wieder wird in rechten Kreisen kolportiert, der Konsum des indischen Hanfs werde exorbitant ansteigen, wenn das Strafgesetz erst nicht mehr greife. Dabei haben Experten im Cannabis 2002 Report, den die Gesundheitsminister von Belgien, Frankreich, Deutschland, Niederlande und der Schweiz in Auftrag gegeben hatten, längst Gegenteiliges ermittelt: “Die meisten Studien zeigen, dass der Cannabiskonsum nicht durch entspannte Cannabisbesitz-Gesetze steigt.”


Seit jeher werden Haschisch und Marihuana bestimmte Eigenschaften und Wirkweisen zugeschrieben, die auf einer Positiv-Negativ-Skala von „Beflügelung der Kreativität und Phantasie“ bis zu „Auslösung von Gewaltexzessen“ reichte. Entmystifiziert man diese Zuschreibungen, ergibt sich immer noch ein widersprüchliches Bild.


Zu spät für den Kampf gegen Kartelle


Unbestritten ist, dass viele Rock- und Jazzmusiker, aber auch Maler und Literaten ausgiebig kifften. Das mag sie angespornt haben, war jedoch nicht die ursächliche Quelle ihres Talents. In den Zirkeln, die in den 1960er und 70er Jahren gegen die erzreaktionäre Geisteswelt in Deutschland und in den USA gegen den Vietnamkrieg protestierten, kreisten die Joints wie selbstverständlich. Das macht Cannabis aber nicht zu einer „progressiven Droge“, denn die kriminellen und oft rechtsradikalen Hell’s Angels griffen ebenfalls zu Dope. Dass Haschischraucher oft Friedensphilosophien entwickelten, wird durch die Tatsache gekontert, dass sich auch die GIs, die das Massaker von My Lai begingen, zuvor mit Lady Mary Jane (Umschreibung für Marihuana) antörnten. Die Droge per se vermittelt weder Werte noch Weltanschauung oder böse Triebe, das alles muss der Konsument schon selbst beisteuern.


Cannabis hat im Gegensatz zu Nikotin kaum Suchtpotential, und die Folgen bei übermäßigem „Missbrauch“ fallen meist glimpflicher aus als bei einem mutwilligen Vollrausch nach Konsum von hochgeistigen Getränken. Allerdings scheint erwiesen, dass der exzessive grass-Genuss bei Jugendlichen zu häufigerem Auftreten von Psychosen führen kann. Der Jugendschutz wird daher im Gesetzesentwurf auch großgeschrieben. Wie er gewährleistet werden soll, steht auf einem anderen Blatt.


Dass früher immer wieder Cannabis-Raucher zu härteren Rauschgiften griffen, ist kein Beleg für eine Funktion als „Einstiegsdroge“, sondern auf den Umstand zurückzuführen, dass Haschisch, das übrigens selten rein war, im selben kriminellen Milieu wie Heroin oder Kokain gekauft werden musste. Dies entfiele künftig, ob sich aber der Schwarzmarkt gänzlich austrocknen lässt, muss die Zukunft zeigen.


Für die hehre Absicht aber hat sich die teilweise Legalisierung arg verspätet: Kaum eine Regierung, die auf sich hält, versäumte es, einen erbitterten Krieg gegen das organisierte Verbrechen, in diesem Fall gegen die großen Drogen-Kartelle, anzukündigen. Für diese aber ist das Geschäft mit Cannabis längst zum marginalen Beifang geworden, die Legalisierung tangiert sie kaum mehr. Zunächst stiegen sie auf den ungleich lukrativeren Kokain-Handel um, dann ließen sie ihre Milliarden von westlichen Banken waschen, monopolisierten den Schmuggel von Raubkopien aller Art, übernahmen IT-Firmen oder sicherten sich altehrwürdige Wirtschaftszweige. Ob das Sinaloa-Kartell oder La Familia in Michoacan – an den mexikanischen oder guatemaltekischen Früchten in unseren Supermärkten, von Ananas bis Avocado, verdienen meist Gangster mit.


Die Kleinen müssen nicht mehr hängen


Ein großer Wurf ist Lauterbachs Gesetz, so es denn im Parlament reüssiert und der Bundesrat es nicht stoppen kann, sicherlich nicht. Aber es trägt einer sich – auch im Freizeitverhalten – verändernden Gesellschaft Rechnung. Wer einen Joint raucht, muss nicht zwangsläufig als Rechtsbrecher oder „asozialer Rauschgiftsüchtiger“ diffamiert werden.


Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte zwei Gramm Haschisch, die bei ihm gefunden wurden, für einen jungen Menschen das Ende der akademischen Laufbahn oder der beruflichen Karriere bedeuten. Bei zehn Gramm lag die Vermutung nah, es handle sich um einen hochkriminellen Dealer, Haftstrafen und Einträge ins Vorstrafenregister waren an der Tagesordnung. Später mäßigten sich die Staatsanwälte und werteten den Besitz geringer Mengen gewöhnlich als Bagatelldelikte. Doch dies entsprang informellen Übereinkünften, nicht den Buchstaben des Gesetzbuchs. Sollte Lauterbachs Entwurf nach der Sommerpause des Bundestags angenommen werden, hat der gelegentliche Cannabis-Konsument erstmals Rechtssicherheit.


Die gleiche Rechtssicherheit, die auch der Besucher des Münchner Oktoberfests oder des Politischen Aschermittwochs in Passau hat, wenn er sich fünf Maß Bier hinter die Binde kippt…

08/2023

Dazu auch:

Rauch der Unschuld im Archiv der Rubrik Medien (2015)





Belagerung von Brüssel


Eine wilde Horde wütet gegen die Europäische Union, fordert deren Degradierung zum bloßen Wirtschaftsclub, erwägt sogar den Austritt Deutschlands aus dem Staatenverbund. Seltsamerweise wollen sich diese Berserker nächstes Jahr aber dennoch ins EU-Parlament wählen lassen, wo gut gefüllte Fleischtöpfe und gleichgesinnte Rassisten auf sie warten. Dass dieses schizophrene Verhalten hierzulande mehr und mehr Anhänger bzw. Befürworter an der Urne findet, belegt, dass es der AfD gelungen ist, die politische Auseinandersetzung auf ein inferiores Debattenniveau, geprägt von gärendem Hass und chauvinistischer Hybris, durch die kritischer Intellekt abgewürgt wird, zu drücken.


Reingehen und/oder abschaffen?


Sich Woche für Woche mit der AfD beschäftigen zu müssen, gehört angesichts des unterirdischen geistigen Potentials dieser Partei nicht gerade zu den publizistischen Lieblingsbeschäftigungen. Es ist aber absolut notwendig angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs des extremen Nationalismus und des Versagens des bürgerlichen Lagers, vor allem aber auch in Kenntnis der deutschen Geschichte. Wenn die AfD in den östlichen Teilen der Republik die Meinungsanfragen anführt, obwohl sie sich Pannen und Skandale am laufenden Band leistet, wenn landesweit jeder fünfte Wähler für die Rechtsradikalen votieren will, gewinnt der historische Appell an Aktualität: „Wehret den Anfängen!“


Wie absurd sich die widersprüchlichen Forderungen und Meinungen der Rechtsaußen-Partei zur EU darstellen, wurde auf einer „Europawahlversammlung“ anlässlich des Bundesparteitags der Ultranationalisten in Magdeburg deutlich. Nachdem mittlerweile die Anhänger Höckes und Weidels weitgehend unter sich sind, weil ihre zwar auch stramm rechten, aber noch bürgerliche Formen wahrenden Kontrahenten wie Meuthen oder Pauly desertiert sind, wabern Verschwörungstheorien und fremdenfeindliche Phantasien durch die Hallen. Dass von Alice im Wunderland der restaurativen Euphorie ein „Rückbau der EU-Kompetenzen“ und ein „Europa der Vaterländer“ propagiert wird, gehört noch zur abgestandenen Folklore, dass aber das Märchen vom „Großen Austausch“ der Bevölkerungsgruppen (kinderreiche Muselmanen rein, blonde Arier raus), den die „Eliten“ von Brüssel angeblich planen, sein Publikum findet, zeugt vom fortschreitenden Abbau geistiger Kompetenz im AfD-Spektrum.


Es lässt sich tatsächlich einiges gegen die EU vorbringen, der oft eher ein Europa der Konzerne als eins der Menschen vorzuschweben scheint, die zu lasch gegen Korruption in den eigenen Reihen vorgeht und nun auch noch den Anspruch erhebt, eine globale Militärmacht zu werden. Aber es gibt auch die EU des internationalen Jugend- und Bildungsaustausches, der kulturellen und infrastrukturellen Investitionen in sozial schwachen Regionen des Kontinents (auch in den Glasscherbenvierteln des Ruhrpotts oder des deutschen Ostens) und der friedlichen Begegnung einst verfeindeter Staaten. Dass Brüssel bei wichtigen Vorhaben, etwa der Implementierung strengerer Schadstoffnormen sowie den Verboten von Glyphosat und Verbennermotoren, teilweise oder total scheiterte, hatte es den Berliner Regierungen zu verdanken, die Deutschland als Klassenprimus im Umweltschutz präsentierten, aber tatsächlich als industriehörige Bremser auftraten.


Ganz ausbremsen möchte wiederum die AfD EU-Kommission und Europaparlament. Sie stritt sich nur, ob dies von außerhalb oder doch von den Abgeordnetenstühlen des Hohen Hauses aus geschehen sollte. Viele Parteimitglieder forderten den Dexit (Austritt Deutschlands aus der Union analog dem Brexit), konnten sich aber nicht durchsetzen. Vor allem Alice Weidel focht für den Verbleib, denn in Brüssel kommt die AfD an Ausschusssitze, Posten sowie Gelder, und sie kann zusammen mit anderen rechtsradikalen Parteien jedes humanitäre oder klimaschützende Vorhaben torpedieren. Bereits jetzt bilden die deutschen Extremisten eine Fraktionsgemeinschaft mit der österreichischen FPÖ, der italienischen Lega und Marie le Pens Rassemblement  National. Nun wollen sie der europäischen Xenophoben-Partei Identität und Demokratie beitreten.


Erst die Köpfe, dann die Inhalte


Dafür, dass sie aus tiefster Überzeugung Europa ablehnen, wollten erstaunlich viele AfD-Delegierte auf dem Parteitag das Ticket für 2024 nach Europa. Mehr als hundert bewarben sich für die Kandidatenliste der Wahlen zum EU-Parlament. Ein Kuriosum stellt dabei die Prioritätensetzung der Rechtspopulisten dar: Bevor überhaupt über das Wahlprogramm debattiert wurde, wählte man bereits die Bewerber um einen Sitz in Brüssel.


Wollte man sicher gehen, dass sich die skurrile Riege der Kandidaten nicht durch Unkenntnis der eigenen Schwerpunkte lächerlich machen konnte? Oder ließ man so  durchblicken, dass der AfD Inhalte und Projekte ziemlich egal sind, solange nur der brachiale Ton stimmt und man gemeinsam mit den Kumpels aus anderen Ländern die Arbeit des EU-Parlaments möglichst effektiv behindert.


Und tatsächlich schicken sich in etlichen Staaten des Kontinents Parteien an, unter dem Ruf „Festung Europa“ ihre Truppen nach Brüssel zu entsenden, um den Belagerungsring um die Mehrheitsfraktionen dort enger zu ziehen, auf dass diese ihre todbringende Flüchtlingspolitik noch weiter verschärfen. Ob in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien oder Skandinavien – allerorten sind die Propagandisten eines rein weißen Europas der Vaterländer auf dem Vormarsch. Und als Verbündete bieten sich auch noch die Regierungsparteien Polens und Ungarns an.


Keine sinnfreie Metapher und kein schiefer Vergleich sind den Rechtsradikalen zu abwegig, um Angst und Ressentiments zu schüren. Ein besonders putziges Beispiel für wirre AfD-Phantasien lieferte die erneut kandidierende EU-Abgeordnete Christine Andersson, als sie forderte, den Jahrestag der Schlacht am Kahlenberg von 1683 zum europäischen Gedenktag zu machen. Damals wurden die türkischen Truppen vor Wien entscheidend geschlagen. Die Identität der Völker des Kontinents sei heute ähnlich bedroht, argumentierte die arische Historieninterpretin und vergaß dabei, noch ein paar weitere  Jubiläen, die an die entscheidenden Niederlagen Hitler-Deutschlands erinnern würden, vorzuschlagen. Schließlich war die NS-Bedrohung für ganz Europa wesentlich gravierender gewesen als die durch den osmanischen Feldzug.


Personal des Grauens


Was das Gerangel um die vorderen Listenplätze anging, zeigte sich, dass  ohne das Plazet des Thüringer Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke (den man als Nazi bezeichnen darf, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen) nichts ging. Sowohl der letztendlich erneut zum Spitzenkandidaten gewählte Maximilian Krah als auch dessen potentieller Konkurrent René Aust genießen das Wohlwollen des ungekrönten AfD-Führers.


Dabei ist Krah auch in der eigenen Partei und in der rechten EU-Fraktion Identität und Demokratie nicht unumstritten. Kritiker werfen ihm vor,  Vergabeverfahren manipuliert zu haben. Von seiner Fraktion wurde er deshalb zweimal suspendiert. Seine Nähe zu dem extremistischen Publizisten Götz Kubitschek, Chef des völkischen Antaios Verlags und Vertrauter von Björn Höcke, wird mit Sorge gesehen, bietet sie den Medien und politischen Gegnern doch ein veritables Angriffsziel.


Aber man findet in der AfD ohnehin kaum unbelastete, integer scheinende Repräsentanten. Also lautet die Devise der Partei auch vor den EU-Wahlen: Augen zu und durch zu den Sitzen und Pfründen von Brüssel! Armes Europa…
08/2023
Dazu auch:
Bräunliches Europa im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022) Verblödungstheorien im Archiv der Rubrik Medien (2019)






Nachhaltige Killer


Die „Mutterbombe“ explodiert in der Luft und verstreut Hunderte kleiner ball- oder keulenähnlicher Sprengkörper über ein ziemlich weites Terrain. Von diesen detoniert ein Teil beim Aufprall auf dem Erdboden sofort, die anderen graben sich ins Erdreich und verharren dort als „Blindgänger“, bis ein Mensch oder ein Tier auf sie tritt. Dann zerfetzen feine Splitter Haut oder Fell und Gewebe. Streumunition zählt zu den perfidesten und folgenschwersten Kampfmitteln der konventionellen Kriegsführung. Und sie kann noch Jahrzehnte nach einem Konflikt töten.


Bombis für die Ukraine


US-Präsident Joe Biden hatte eine – zumindest aus seiner Sicht – frohe Botschaft für die Ukraine parat: Zwar werde langsam auch in den Vereinigten Staaten die Munition knapp, doch man könne dem osteuropäischen Land Streubomben liefern – eine Nachricht, die in Kiew begrüßt wurde, während sie in anderen Teilen der Welt Entsetzen auslöste und bittere Erinnerungen weckte.


Im Oslo-Übereinkommen von 2008 war Streumunition von 123 Staaten geächtet worden, von denen bislang 111 das Verbot ratifiziert haben. Mehr als 30 weitere Länder unterstützten 2020 im Rahmen einer UN-Deklaration die Inhalte der Vereinbarung im Grundsatz. Nicht zu den Unterzeichnern zählen die USA, Russland und die Ukraine. Die beiden letzteren Staaten haben gemäß Berichten von Journalisten und NGOs im gegenwärtigen Krieg bereits Streumunition eingesetzt, jetzt soll die Büchse der Pandora mit Hilfe Washingtons ganz weit geöffnet werden.


Warum aber setzt man eine Waffe ein, die nicht auf gezielte Liquidation des Feindes geeicht ist, sondern mittels Sprengkörpern, von denen jeder bis zu hundert Unterbomben, von den GIs in Indochina einst verniedlichend bomblets oder bombis („Bömbchen“) getauft, enthält, die ein Stück Land unterschiedslos für Tiere und Menschen, Militärs und Zivilisten unpassierbar machen sollen? Es sind vor allem die Blindgänger, durch die ein Areal zur Todesfalle wird, nicht nur während des Krieges, sondern noch für Jahrzehnte danach. Die Organisation Handicap International erklärte, 98 Prozent der von den Auswirkungen der Streubomben betroffenen Menschen seien Zivilisten, darunter 27 Prozent Kinder.


Washington beschwichtigt mit einer Notlüge, und die Ukrainer kommen der US-Administration mit einer Zusage, die unmöglich einzuhalten ist, zu Hilfe: So soll nur Streumunition geliefert werden, die eine Blindgängerrate von weniger als 2,35 Prozent aufweise. Kiew wiederum versprach, die Waffe nur dort zu nutzen, wo keinerlei Gefahr für Zivilisten bestehe. Um das zu garantieren, müsste man die Bomben auf dem Meeresgrund oder in tiefen Bergwerkschächten explodieren lassen oder das Betreten von Wegen, Weiden und Feldern im Großteil des umkämpften Gebiets für immer verbieten. Die Mär von den ziemlich „sicheren“ Streubomben widerlegte indes John Ismay in den New York Times: Die tatsächliche Blindgängerrate bei der an die Ukraine gelieferten Munition liegt demnach bei über 14 Prozent.


Eine Warnung aus Kambodscha


Als der große Scheinheilige auf dem Bundespräsidentensessel erweist sich auch diesmal Frank-Walter Steinmeier. Noch in seiner Funktion als Außenminister der Merkel-Regierung hatte er 2008 das Abkommen von Oslo zur Ächtung von Streumunition für Deutschland unterzeichnet. Jetzt windet sich der seltsam wählerische Moralist aus eigenen Gnaden um eine klare Ablehnung des üblen Deals herum. Man könne „in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen“, erklärte er, was Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung zu einem eindeutigen Kommentar veranlasste: „Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußert sich vertragsbrüchig und feige.“


Ein Bundespräsident im Erklärungsnotstand: "Was schert mich eine Unterschrift von 2008? Unsere amerikanischen und ukrainischen Freunde werden schon wissen, was sie tun - vielleicht aber auch nicht. Und die Russen erst recht nicht!"


Aus dem Chor der vielen internationalen Stimmen, die Bidens fatale Entscheidung offen kritisierten, klang die Stimme eines Mannes, für den Streubombeneinsätze nicht infernalische Theorie, sondern gelebte Realität sind, heraus. Kambodschas Regierungschef Hun Sen, der sich einst von Pol Pot losgesagt und an der Seite der Vietnamesen die Terrorherrschaft der Roten Khmer beendet hatte, veröffentlichte einen Appell an die „Handelspartner“ in Washington und Kiew:


„Aus Mitgefühl mit dem ukrainischen Volk rufe ich den US-Präsidenten als Lieferanten und den ukrainischen Präsidenten (Wolodymyr Selenskyj) als den Empfänger auf, Streubomben in dem Krieg nicht zu verwenden, weil die wahren Opfer die Ukrainer sein werden.“


Hun Sen hatte miterleben müssen, wie sein Land während des Vietnamkriegs von den USA regelrecht mit Streubomben vermint wurde. Zehntausende von Menschen wurden getötet oder verstümmelt. Mehr als ein halbes Jahrhundert später lägen immer noch Sprengkörper im kambodschanischen Boden, schrieb er.


Noch wesentlich schlimmer traf es damals den Nachbarstaat Laos. Ohne den Krieg offiziell erklärt zu haben, überzogen die Vereinigten Staaten das nur 240.000 Quadratkilometer große Land mit dem dichtesten Bombenhagel der Geschichte. Zwischen 1964 und 1973 warf die US-Luftwaffe über zwei Millionen Tonnen Sprengsätze auf Laos ab – mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg auf alle Feindstaaten zusammen. Als ich Ende 2012 dort war, also vier Dekaden nach dem Ende des Krieges, starben immer noch Jahr für Jahr mehr als hundert Menschen durch explodierende bombis, die im Ackerboden oder im Gebüsch unentdeckt geblieben waren.


In der kleinen Provinzhauptstadt Phonsavanh am Rande der Ebene der Tonkrüge, Schlachtfeld und Kulturerbe zugleich, das aus der Luft flächendeckend vermint worden war wie keine andere Gegend der Welt, sprach ich im Hauptquartier der Mines Assesory Group (MAG) mit dem dortigen Leiter. Die britische Organisation, die auch schon für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, räumt auf den Kriegsschauplätzen der Erde Sprengkörper und kümmert sich um die medizinische sowie berufliche Rehabilitation überlebender Bombenopfer. Auf meine Frage, wann Laos wohl minenfrei sein werde, antwortete der Mann von MAG: „Vielleicht in zweihundert Jahren.“


Das perverse Kalkül


Warum also wird von einer kriegführenden Partei eine Waffe eingesetzt, deren Wirkung in erster Linie Zivilisten, möglicherweise auch die eigenen Leute schädigt und die noch Jahrzehnte nach dem Krieg eine Gefahr für Leib und Leben darstellt? Warum sollten die russischen Streitkräfte Cherson und Teile der Ostukraine verminen, nur weil der Feind sie nach der Invasion zurückerobert hat? Laut Putin handelt es sich doch um russische Heimat? Warum sollte wiederum die ukrainische Armee eigenes Land für unabsehbare Zeit in einen Todesstreifen verwandeln, nur um einen russischen Vorstoß zu stoppen?


Das Faible für Streumunition entspringt perverser militärisch-strategischer Logik: Die Bombensplitter töten viele Menschen, aber sie verstümmeln noch mehr. Verkrüppelte Opfer aber bedeuten für ein Land im Notstand eine größere Belastung als Tote; sie müssen medizinisch versorgt und möglicherweise lebenslang betreut werden. Auf die Bevölkerung wirkt ihr Anblick im Straßenbild deprimierend, während die Gefallenen nur in Verlustlisten aufscheinen, quasi lediglich die Ruhe der Angehörigen stören. Zudem leben die Menschen, ob sie nun als Bauern auf dem Feld arbeiten, oder ihre Autos über abgelegene Straßen steuern, in einem Gefühl permanenter Bedrohung und existenzieller Verunsicherung.


Um den Feind zu demoralisieren, wird ohne Rücksicht (auch auf eigene) Verluste Menschen- und Kriegsrecht gebrochen. Dass die durch den Einsatz von Streumunition entfesselte Gefahr auch nach einem Waffenstillstand oder Friedensschluss nicht vorbei ist, wird dabei billigend in Kauf genommen. Die ukrainische (aber auch die russische) Führung sollte Hun Sens Appell sehr genau lesen. Ich fürchte jedoch, genau das wird nicht passieren.
07/2023
Dazu auch:
Dossier Tatort Indochina - Laos: Die Verminung der Zukunft in der Rubrik Politik und Abgrund







Mindestalmosen


Bislang fiel Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, nicht so unangenehm wie etliche Kabinettskollegen auf, etwa durch Tölpelhaftigkeit (Habeck), Naivität und Penetranz (Baerbock) oder Lobbyismus im Amt (Lindner, Wissing). Doch jetzt hat auch der SPD-Politiker im Rahmen der Mindestlohnsteigerung für 2024 eindrucksvoll bewiesen, dass in der Berliner Regierung starken Worten selten entsprechende Taten, sondern meist Torheiten folgen.


Eine Erhöhung, die noch ärmer macht


Was Bundeskanzler Scholz in seinem Faible für Infantil-Sprache als „Doppelwumms“ bezeichnet hätte, kündigte Heil vor wenigen Wochen gegenüber dem Leib- und Magenblatt führender Sozialdemokraten, der Bild am Sonntag, in wohlgesetzten Worten an: Die „ordentlichen Tariferhöhungen“ der letzten Zeit sowie die Inflation sollten sich in einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns niederschlagen. „Arbeit muss sich wieder lohnen!“ forderte der Minister kämpferisch.


Na ja, in erster Linie wird sie sich weiter für die Arbeitgeber rentieren, denn trotz der Forderungen von Sozialverbänden, das niedrigste noch statthafte Entgelt wenigstens von 12 auf 14 Euro anzuheben, gibt es ab 1. Januar 2024 lächerliche 41 Cent mehr für die Ärmsten unter den sozialpflichtig Beschäftigten. Ein Jahr später soll es noch einmal derselbe Betrag obendrauf sein, damit sich Malocher mit einem Stundenlohn von 12,82 brutto auch 2025 wieder gesundes Bio-Essen, erholsame Urlaubsreisen und ambitionierte Bildungsausgaben leisten können…


Eingebrockt hat uns diese soziale Unverschämtheit, die von der Bundesregierung zügig umgesetzt wird, eine im Gesetz vorgesehene fünfköpfige Mindestlohnkommission, der je zwei Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter angehören. Können diese sich nicht auf eine gemeinsame Empfehlung in puncto Höhe der Anhebung einigen (wie im aktuellen Fall geschehen), entscheidet der oder die Vorsitzende des Gremiums, derzeit die Juristin Christiane Schönfeld.


Obwohl 2004 von der SPD in die Bundesversammlung zur Wahl des Präsidenten unseres Landes entsandt, scheint sie doch eher den nationalen Kapitaleignern zuzuneigen. Jedenfalls wurde sie vor vier Jahren auf Vorschlag der Arbeitgebergruppe vom Verwaltungsrat in den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit gewählt. So erscheint es logisch, dass sie sich in der Frage der künftigen Kleinverdiensthöhe auf die Seite der Bosse schlug, deren bloße Anwesenheit in der Kommission ohnehin so manchen Laien verwundert: Gäbe es doch nach deren Gusto überhaupt keinen Mindestlohn – und damit auch keine Steigerung desselbigen.


Hubertus Heil zeigte sich enttäuscht über die Knausrigkeit, berief sich aber auf das Mindestlohngesetz, dem zufolge die Bundesregierung nur den Vorschlag der Kommission umsetzen könne, wenn nicht jegliche Erhöhung ausfallen solle. Wie wir später sehen werden, entsprang diese Behauptung entweder einem partiellen Gedächtnisverlust oder dem latenten Hang zur politischen Notlüge.


Simple Rechnungen


Dass 82 Cent mehr pro Stunde über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg nur eine nummerische Erhöhung des Lohns, de facto aber eine spürbare Verschlechterung der Lebenssituation für Geringverdiener darstellen, lässt sich leicht ausrechnen.


Ab 1. Januar 2024 sollen nun die Mindestlöhne für die Dauer eines Jahres um 41 Cent aufgestockt werden. Dies entspricht einer Erhöhung um etwa 3,4 Prozent. Für dieses Jahr wird aber eine durchschnittliche Inflationsrate von sechs Prozent erwartet, die auch 2024 kaum nennenswert zurückgehen wird. Dies bedeutet, dass sich für gut sechs Millionen Wenigverdiener die Situation weiter verschlechtern wird.


Noch deprimierender gestaltet sich die Perspektive für 2025: Dann steigen nach den jetzigen Plänen die Mindestlöhne von 12,41 auf 12,82 Euro. Das sind nur noch 3,3 Prozent mehr, während allenfalls die leichtsinnigsten Marktoptimisten für das übernächste Jahr eine Inflation von unter 4 Prozent erwarten. Statt langsam Anschluss an den unteren Mittelstand  zu finden, wird sich für die Bezieher prekärer Löhne die Lücke vergrößern, sie verlieren an Kaufkraft, und ihre Renten werden dereinst immer dürftiger ausfallen.


Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Nach Abzug von Miete oder Energiekosten bleibt ärmeren Arbeitnehmern ein bescheidener Betrag, den sie zum großen Teil für Lebensmittel ausgeben müssen. Genau aber hier liegt die Inflationsrate locker im zweistelligen Prozentbereich. Zwar trifft die Teuerung alle Bürger, aber für Menschen, die sich nur das Nötigste leisten können, fällt sie doppelt hart aus.


Den Heil in Ausflüchten suchen…


Er hätte gern einen höheren Mindestlohn gesehen, doch die böse Kommission habe nicht mitgezogen, und so seien ihm die Hände gebunden, lamentiert Hubertus Heil und wäscht damit seine Zunge in einer Unschuldsbehauptung, die sich als schlicht falsch erweist. Im § 11 des einschlägigen Gesetzes ist nämlich lediglich vom Vorschlagsrecht des Gremiums die Rede: „Die Bundesregierung kann die von der Mindestlohnkommission vorgeschlagene Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates für alle Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbindlich machen.“


Die Regierung kann der Empfehlung der Kommission folgen, aber sie muss nicht. Die Ampelkoalition hat schon einmal bewiesen, dass sie das seltsam zusammengesetzte Quintett einfach ignorieren kann, wenn sie denn will: Zum 1. Oktober 2022 erhöhten SPD, Grüne und FDP den Mindestlohn von 10,45 auf 12 Euro, und zwar ohne das Votum der Kommission einzuholen. Geht doch!


Angesichts des Unmuts der Betroffenen und Sozialverbände und des Umstands, dass die Sozialdemokraten in den Meinungsumfragen mittlerweile nur noch die Schlusslichter des AfD-Express sehen, fordert der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil nun eine deutlichere Anhebung des Mindestlohns im nächsten Jahr. Jetzt fällt den Genossen plötzlich ein, dass die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung die Europäische Mindestlohnrichtlinie reißt, und sie reden unversehens von 13,50 bis 14 Euro pro Stunde. Es steht aber zu befürchten, dass für die Partei angesichts  ihrer falschen und fahrlässigen Weichenstellungen der Zug schon abgefahren ist.
07/2023
Dazu auch:
Ein Traum von Heil im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)






Armselige Moralisten


Die InnenministerInnen der EU-Staaten haben nach schier endlosem Gezerre einen Kompromiss zum Umgang mit Flüchtlingen vereinbart. Um es vorwegzunehmen: Humaner wird die Behandlung von Asylsuchenden keineswegs, eher schreitet der Ausbau der „Festung Europa“ ohne Rücksicht auf Verluste (menschlichen Lebens) voran. Die zuständige deutsche Ressortleiterin Nancy Faeser nennt die Einigung trotzdem „historisch“. Das ist in gewissem Sinne nicht ganz falsch, erreicht doch die Raffinesse, mit der internationales Recht gebeugt wurde, eine beinahe geschichtliche Dimension.


Gefängnisse am Rande unserer Welt


Für einen faulen Kompromiss hebelten die EU-InnenministerInnen in Luxemburg die völkerrechtlich verbindliche Genfer UN-Konvention von 1951 aus – vorgeblich, um Verfahren zu vereinfachen und Asylsuchende gerechter auf die Länder der Union verteilen zu können; tatsächlich aber, um sie noch effektiver vom Gebiet der EU fernzuhalten.


Die Konvention schreibt vor, dass Menschen als Flüchtlinge anzuerkennen sind, wenn sie in ihrer Heimat wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Da werden doch einige Gründe für erzwungene Emigration angeführt, die von den Behörden der EU-Länder Fall für Fall geprüft werden müssten. Doch stattdessen hat man sich in Luxemburg darauf verständigt, ziemlich willkürlich den Katalog sicherer Herkunftsländer zu erweitern und dadurch eine „Vorauswahl“ zu treffen, welche Ankömmlinge denn überhaupt auf Asyl hoffen können.


Das Bundesamt für Migration führt außerhalb des EU-Bereichs namentlich nur fünf Länder des Balkan sowie Ghana und den Senegal in Afrika als „sichere Herkunftsstaaten“ auf, doch mit einem Trick wurde die Liste nun de facto erweitert: Flüchtlinge aus Ländern mit einer Asyl-Anerkennungsquote von unter 20 Prozent dürfen jetzt auch nicht mehr offiziell in die EU einreisen. Vielmehr werden sie in bewachten Lagern an den Grenzen (also im „Niemandsland“) drei Monate lang interniert und dann meistenteils (nach sicherlich nicht sehr gründlichen) Schnellverfahren abgeschoben. Asylbewerber aus Indien oder der Türkei etwa haben so kaum mehr eine Chance. Die politischen Systeme in ihrer Heimat ähneln schließlich zumindest formal bürgerlichen Demokratien, und ihre Gerichtsbarkeit funktioniert einigermaßen.


Dass in der Türkei kurdische Politiker und NGO-Mitarbeiter nach fadenscheinigen Verleumdungen ins Gefängnis wandern und dass in Kaschmir und in Regionen von indigenen Bevölkerungsgruppen mit Billigung der indischen Justiz gefoltert wird, ficht die Grenzschützer in den EU-Regierungen nicht an.


Offenbarungseid der Grünen?


Da Deutschland keine EU-Außengrenzen und keine für Fluchtrouten relevante Meeresküsten aufzuweisen hat, profitiert es von dieser Regelung. Weniger Menschen werden sich nach München oder Berlin durchschlagen, wo sie dann – ungeachtet ihrer tragischen Vergangenheit oder ihres Integrationswillens – die zweiprozentige Anerkennungschance als Asylberechtigte wahrnehmen können. Nancy Faeser, die klaglos die Ablehnung der deutschen Alibi-Forderung, Familien mit Kindern sollten von der Schnelljustiz ausgenommen werden, durch die Ministermehrheit hinnahm, frohlockt derweil, dass nun die „Grenzen in Europa offen bleiben können“ für einen Reiseverkehr ohne Grenzkontrollen. Problemloser Tourismus scheint in unserem schönen neuen Europa menschliches Elend locker auszustechen.


Der SPD-Führungsspitze ist die Orientierung an Menschenrechtsgrundsätzen schon längst abhanden gekommen, die Grünen, die einst für globale Gerechtigkeit antraten, jetzt aber von bigotten Zeigefinger-Moralisten wie Baerbock und Habeck dirigiert werden, stehen allerdings vor einer Zerreißprobe. Und Amnesty International (AI) streute einen Tag nach der Einigung von Luxemburg Salz in die offene Wunde: „Gestern hat die deutsche Bundesregierung der vollständigen Aushöhlung des europäischen Flüchtlingsschutzes zugestimmt. Was bedeutet, dass zukünftig sogar Kinder an den europäischen Außengrenzen inhaftiert werden können!“ (Hervorhebungen von AI)


Damit nimmt die Menschenrechtsorganisation auch die Grünen als willige Koalitionspartner in die Verantwortung. Und deren Führung ist durchaus gespalten. Während Robert Habeck und Annalena Baerbock bereit sind, alle Zumutungen durch Scholz, die FDP und jetzt durch die reaktionäre EU-Ländermehrheit hinzunehmen und grüne Prinzipien ohne nennenswerten Widerstand im Rekordtempo aufzugeben, nur um weiter mit Herr und Frau Minister angesprochen zu werden, wenden sich die Co-Parteichefin Ricarda Lang und die Co-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge vehement gegen die inhumane „Reform“ des Asylrechts. Die Tandem-Partner der beiden Letztgenannten, Omid Nouripour und Britta Haßelmann, werben wiederum für das Mogelpaket. Widerstand haben dagegen Prominente auf dem Abstellgleis wie Jürgen Trittin und Anton Hofreiter angekündigt.


Am Ende wird es wohl wieder zu einem kleinen Sturm im Wasserglas kommen, der alsbald abebbt, ohne Spuren zu hinterlassen. Denn während die Hoffnung traumatisierter Menschen auf eine Zukunft in Sicherheit zwischen Stacheldrahtzäunen enden wird, haben sich die Grünen längst an das kuschelige Gefühl gewöhnt, noch ein wenig länger an der Macht teilhaben zu dürfen.


Unsägliche Angst vor der AfD


Dass die Abschottungspolitik der Bundesrepublik und der EU latente rassistische Merkmale aufweist, wurde erst letztes Jahr deutlich: Als Millionen Menschen aus der von Putins Truppen überfallenen Ukraine in den Westen flohen, wurden sie in Ländern, die sich sonst weigern, auch nur Hundertschaften von Flüchtlingen aufzunehmen, willkommen geheißen. Man bemühte sich, die Neuankömmlinge angemessen unterzubringen, stellte ihnen sofort Arbeitsgenehmigungen aus und beseitigte, wo immer möglich, die bürokratischen Hemmschwellen.
Davon konnten Millionen von Jemeniten, Sudanesen oder Afghanen, die zur gleichen Zeit einer noch wesentlich bedrohlicheren Situation in ihren Ländern entkommen wollten, nur träumen. Die Gründe für die Ungleichbehandlung? Falsche Heimat, falsche Hautfarbe, falsche Religion…


Bleibt die Frage, warum die Bundesregierung ohne erkennbare Not einer so offenkundig misanthropischen EU-Lösung der Asylrechtsfrage zugestimmt hat. Und es ist wieder Innenministerin Nancy Faeser, die – wohl eher unabsichtlich – den triftigsten Grund ausplappert:


„Dass Europa lange handlungsunfähig wirkte, hat nicht nur der AfD, sondern Rechtspopulisten in vielen Ländern genützt. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir den Rechten mit gemeinsamen europäischen Lösungen Wind aus den Segeln nehmen.“


Das also ist der schlaue Plan! Um den Ultra-Nationalisten, Neonazis und Ethno-Puristen künftig Wählerstimmen wegzunehmen und das Wasser der völkischen Denkungsart abzugraben, setzen die Regierungen einfach deren Forderungen um. Armes Europa…
06/2023
Dazu auch:
Sichere Herkunft im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2015)







Die UNO gegen Scholz


Endlich hat er wieder einen echten Scholz losgelassen: Unser oft so wortkarger und blasser Kanzler schaut dem Volk immer dann aufs Maul, wenn es gerade geifert, und biedert sich ihm dann geschickt an. Die Klimaschützer der Letzten Generation mit ihren unkonventionellen Protestmethoden seien „völlig bekloppt“, erklärte der Regierungschef apodiktisch und muss sich nun wundern, dass sogar die Vereinten Nationen das ein wenig anders sehen.


Wer sich Sorgen macht, ist doof


Schauen wir uns Form und Aussage der Scholz’schen Analyse näher an. Zunächst fällt auf, dass der Kanzler, der sonst nicht zu den feurigsten Rhetorikern des noch jungen Jahrtausends gezählt wird, bei den ihm wichtigen Feststellungen auf eine regressive, dem Milieu der Halbstarkenszene oder dem Comic-Universum entlehnte Sprache verfällt. Da wummst oder doppelwummst es, und da wird zur Bazooka gegriffen. Und wenn sich Umweltschützer angesichts einer schockierenden Gleichgültigkeit von Politik und Gesellschaft gegenüber der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu unorthodoxen Aktionen gezwungen sehen, die den heiligen Individualverkehr und unseren Dauerschlaf zu stören drohen, dann sind sie halt bekloppt.


Zum Glück ist Verblödung bzw. Dummheit hierzulande ziemlich selten anzutreffen – zumindest in der von Scholz definierten Form. Für die Verantwortlichen in der Bundesregierung können wir sie jedenfalls ausschließen. Wir wollen festhalten, dass deren gelegentliche Aussetzer eher dem Übereifer als ihrer geistigen Insuffizienz entspringen.


So war es keineswegs doof, sondern nur ein bisschen voreilig, dass die Außenministerin aus Versehen Russland zweimal den Krieg erklärte. Dass ihr Parteikollege im Wirtschaftsressort seine halbe Entourage mit Posten versorgte und diese auch noch Freunde sowie Verwandte mit alimentierte, kann nicht als Zeichen für Beklopptheit, sondern nur als Beleg einer symbiotischen Beziehung gedeutet werden. Und dass der Verkehrsminister alle Pflichten zur Energieeinsparung ignorierte und stattdessen die Versiegelung der Restlandschaft durch weitere Autobahntrassen durchsetzte, war natürlich kein umweltpolitischer Amoklauf eines Vollidioten, sondern wohldurchdachte Taktik. Er hat ja im Nachhinein vom Kabinett Recht bekommen.


Wäre da noch Kanzler Scholz selbst: Dass er sich nicht mehr an die Inhalte von gemütlichen Gesprächen mit hanseatischen Steuerbetrügern erinnern kann, hat nichts mit Debilität zu tun, sondern eher mit deutscher Schlagerweisheit. „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist…“


Nein, bekloppt sind die anderen, die partout den üblichen Gang der Dinge blockieren wollen, nur weil sie zusammen mit vielen Wissenschaftlern der Meinung sind, dieser Gang führe vor die Hunde.


Wie illoyal von der UN-Spitze!


Wie verdutzt muss der deutsche Regierungschef gewesen sein, als er realisierte, dass nicht alle Mächtigen der Welt seine Meinung teilen. Stephane Dujarric, Sprecher des umweltbewegten UN-Generalsekretärs Guterres, sagte in New York nach der Razzia gegen die Letzte Generation: „Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt, und wir brauchen sie jetzt mehr denn je.“


Zwar hatte er auch für die staatlichen Rächer der durch Demonstranten ausgebremsten SUV-Fahrer den kleinen Trost parat, dass Regierungen trotz des Grundrechts auf friedliche Demos die Verantwortung hätten, Gesetze durchzusetzen und die Sicherheit zu gewährleisten, doch in der Sache stellte sich der UN-Repräsentant hinter die Klimaschützer. Sie hätten in „entscheidenden Momenten maßgeblich dazu beigetragen, Regierungen und Wirtschaftsführer dazu zu bewegen, viel mehr zu tun“.


Das passt dem kühl berechnend und ein wenig populistisch polternden Scholz nun gar nicht in den Kram. Da hält er sich doch lieber an seine zornigen deutschen Volksgenossen (Gendern ist in solchen Kreisen verpönt).


Wie die Untertanen den Chef mögen…


Gemäß einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für das Medienhaus Table.Media halten 82 Prozent der Befragten die Aussage, die Aktionen der Letzten Generation seien „völlig bekloppt“, für richtig. Nur 15 Prozent finden sie falsch.


Im Klartext: Den Klimaschützern ist es tatsächlich gelungen, auf die existenziellen Probleme, die sich aus der Erderwärmung und dem Dilettantismus der zuständigen Politiker ergeben, aufmerksam zu machen. Zum Dank dafür werden sie kriminalisiert (Union) oder als Volltrottel diffamiert (Scholz).


Die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger stört eine kurzzeitige Verkehrsblockade mehr als der marode Zustand des Planeten. Und wie so oft in der Geschichte wird der Überbringer der schlechten Nachricht abgeurteilt. Scholz hat sich die Volksmeinung genau angehört und anschließend beifallheischend nachgeplappert. So mögen die Deutschen ihren Kanzler.
06/2023
Dazu auch:
Gas- und Waffenmakler im Archiv der Rubrik Medien (2023) 

Das empörte Volk im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2022)





Falsche Baustelle


Wie für eine bürgerliche Demokratie üblich, ist die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat. Das heißt nicht unbedingt, dass es allerorten gerecht zugeht, sondern dass es mehr oder minder klar formulierte Regeln und eine relativ unabhängige Rechtsprechung gibt. Von Zeit zu Zeit wird vom Justizministerium an den Gesetzen herumgedoktert, d. h. es werden Stellschrauben angezogen, Geltungsbereiche verändert oder Anwendungen entschärft. Solches hat sich nun FDP-Justizminister Marco Buschmann vorgenommen, und zwar beim Delikt der Fahrerflucht. Die Intention des Vorhabens, die Reaktionen sowie die Frage nach der Relevanz des Sujets lassen allerdings vermuten, dass an der falschen Baustelle gearbeitet wird.


Reparaturbedarf vorhanden


Im FDP-Regierungsteam sind die Rollen von Christian Lindner und Volker Wissing klar. Beide stehen im Blickpunkt der Öffentlichkeit, als Sparer, Bremser und Verhinderer, wobei der Verkehrsminister für viele die Rolle des Umweltfrevlers und für einige den Part des Freiheitshelden übernommen hat, während der Chef des Finanzressorts den staatstragenden Buchhalter gibt. Im Hintergrund und fern des Medieninteresses werkelte Marco Buschmann im Justizministerium, bis vor kurzem wusste allerdings niemand, woran.


Dabei gäbe es einiges zu reparieren, zu justieren und zu präzisieren in der deutschen Gesetzgebung. Wie kann die Steuergerechtigkeit verbessert und die Ahndung von Hinterziehung sowie Betrug im Finanzbereich verschärft werden (wohl ein frommer Wunsch bei einem Cum-Ex-Kanzler)? Wie ist darauf zu reagieren, dass die Bundesrepublik die von der WHO vorgeschriebenen Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft weiter missachtet, was – wie die Europäische Umweltagentur mahnt – den Tod von Kindern und Jugendlichen verursachen kann, vor allem aber auch deren Lebenserwartung senkt? Ein Justizminister könnte die zuständigen Ressorts, etwa für Umwelt oder Verkehr, zur Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen anhalten und ihnen fachliche Unterstützung anbieten.


Und er könnte die Strafgesetze für die notorischen Umweltsünder in der Automobilindustrie erheblich verschärfen, damit Konzernchefs, die, per Manipulation bei Emissionstests, die Gesundheit anderer Menschen vorsätzlich schädigen, nicht mit Bagatellstrafen davonkommen. Stattdessen aber ist der scheue Marco Buschmann jetzt mit einem Vorhaben ins Rampenlicht getreten, das eine Änderung der Rechtsprechung im Verkehrsbereich vorsieht. Nur wird man das Gefühl nicht los, der Justizminister hat eine seltsame Vorstellung von Prioritäten sowie Notwendigkeit, und er wird auf der falschen Baustelle aktiv.


Von der Straftat zum Kavaliersdelikt?


Wie sein Ministerium verlauten ließ, möchte Buschmann den Tatbestand der Fahrerflucht zumindest teilweise entkriminalisieren. Bislang musste der Verursacher einer Karambolage im Straßenverkehr „eine angemessene Zeit am Unfallort“ warten, bis der Geschädigte oder die Polizei eingetroffen war. Entfernte er sich und hinterließ nur eine Notiz oder auch gar nichts, drohten ihm Geldstrafen, ja sogar bis zu drei Jahren Haft. Jetzt soll es reichen, wenn der Übeltäter Meldung über eine noch zu standardisierende Online-Maske erstattet oder einfach einen Zettel (mit hoffentlich lesbaren Infos zum Unfall) am demolierten Fahrzeug anbringt. Dies gilt allerdings nur, wenn kein Personenschaden entstanden ist.


Der Gegenwind ist heftig. Die Versicherer erinnern daran, dass „Unfallursache und –hergang sich zweifelsfrei feststellen“ lassen müssen. Zudem lässt sich bei Abwesenheit des Verkehrssünders nicht klären, ob Alkohol oder Drogen im Spiel waren. Der Deutsche Richterbund sieht keinen Grund dafür, „das unerlaubte Entfernen vom Unfallort in Fällen ohne Personenschaden zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen“. Und die Grünen-Rechtspolitikerin Canan Bayram unterstellt Buschmann schlicht, eine „Nebelkerze“ gezündet zu haben.


Bleibt die Frage: Warum kündigt der Bundesjustizminister ein Reförmchen an, nach dem niemand gerufen hat? Eine möglicher Grund könnte in seiner politischen Heimat liegen: Die FDP ist eine Autofahrerpartei, und dazu besonders wählbar für die Halter teurer Vehikel. Für die wiederum ist es schwer erträglich, dass ein SUV-Fahrer, der einen dringenden Termin bei seinem Makler oder Banker hat, seine kostbare Zeit mit Warten auf die Polizei vergeuden muss, nur weil er beim Einparken ein Fahrrad plattgemacht oder vielleicht beim Abdrängen eines impertinenten Kleinwagens eine Karambolage verursacht hat – ein Vorgang, der, als Stoßstangen noch Stoßstangen und nicht Zierleisten waren, als normale Praxis durchgegangen wäre.


Arme Kriminelle und nachlässige Reiche


Marco Buschmann möchte also Nachlässigkeit bzw. Zeitnot der Wohlhabenden nicht länger als Straftatbestand bewerten. Zur gleichen Zeit werden Petitionen am alternativen Ende der Gesellschaft gestartet, ein anderes Vergehen zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen und damit zu entkriminalisieren, nämlich das Schwarzfahren. Doch dazu schweigt der Liberale, hier geht es schließlich nicht um die klassische FDP-Klientel.


Wenn jemand, der sich freie Beförderung im ÖPNV erschlichen hat, erwischt wird, erhält er eine Geldstrafe. Kann der Schwarzfahrer diese nicht bezahlen, ist ersatzweise eine Gefängnisstrafe möglich. Gerät ein Fahrgast mehrmals ohne Ticket in Kontrollen, droht ihm sogar bis zu einem Jahr Knast. „Ein Bußgeld ist ausreichend“, sagt u. a. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Heinemann von den Grünen.


Nun würden die Liberalen vielleicht argumentieren, dass in den meisten Fällen mit Vorsatz schwarzgefahren wird, während der Unfallflüchtige den Blechschaden ohne Absicht verursacht hat. Dem könnte man entgegenhalten, dass der Zahlungsunfähige oder –unwillige in Bus, Tram oder U-Bahn weder eine Gefahr für den Straßenverkehr darstellt, noch Schäden verursacht, der Kollisionsverursacher aber schon. Um noch weiter zu gehen: Fordern nicht Mittellose per Schwarzfahren das Recht auf öffentliche Mobilität im Sinne der Inklusion ein? Doch diese Sichtweise wird sich wohl erst dann durchsetzen, wenn keine SUVs mehr die Straßen beherrschen und die FDP Geschichte ist.
05/2023
Dazu auch:
Deutsche Autofahrer im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2017)






Milliardengrab Süd


Bau der S-Bahn-Stammstrecke 2 in München – klingt nicht unbedingt spektakulär, zumal die City lediglich zehn Kilometer lang unterquert werden soll. Doch die nüchterne Benennung steht für das derzeit größte Infrastrukturprojekt der Bundesrepublik, dessen Kosten sich vom ersten Voranschlag bis zur jüngsten Bestandsaufnahme mindestens verdreifacht haben; das aber möglicherweise noch so teuer wird, dass es am Ende den Berlin-Brandenburger Flughafen (BER) und das schwäbische Bahn-Desaster Stuttgart 21 in der Hitliste der Pannen und Fehlkalkulationen überflügeln könnte.


Die Vier von der Baustelle


Da hatten sich 2016 aber auch vier glorreiche Stümper zur Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung für den Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke zusammengefunden: die Deutsche Bahn, die schon bei jedem Wetter überfordert ist, als Bauherr; der Bund mit seinem federführenden Verkehrsministerium, das seit Generationen von Autolobbyisten mit mehr Benzindämpfen als grauen Zellen im Hirn befehligt wird; die vor Hybris schäumende bayerische  Staatsregierung und die Stadt München, deren SPD-Oberhäupter (anfangs Ude, später Reiter) nach dem urbanen Motto „A bisserl mehr geht immer“ gerne alle Fünfe gerade sein lassen.


Nach ersten bei zwei Milliarden Euro liegenden Schätzungen wurden  im Jahr darauf, als die Bauarbeiten begannen, die Gesamtkosten des von Experten als wirtschaftlich wenig relevanten Projekts auf 3,6 Milliarden Euro taxiert, die Inbetriebnahme sollte 2026 erfolgen. Bereits 2019 hieß es, erst 2028 würden die ersten S-Bahn-Züge durch den neuen Tunnel rollen. Und zwei weitere Jahre später waren die geschätzten Kosten auf 7,3 Milliarden gestiegen, und der Startschuss für den ÖPNV wurde nicht vor 2035 erwartet.


Nach einem Gespräch mit leitenden DB-Mitarbeitern zeigte sich der oberfränkische CSU-Landtagsabgeordnete Jürgen Baumgärtner erschüttert. Dem „Münchner Merkur“ sagte der Vorsitzende des parlamentarischen Unterausschusses zur Begleitung der Bauarbeiten, nun sei die Rede von 10,7 Milliarden Euro, die aber angesichts der Inflation wohl noch weiter steigen würden: „Ich schätze, dass die zweite Stammstrecke am Ende rund 14 Milliarden Euro kosten wird.“ Der FDP-Abgeordnete Albert Duin rechnet mit einer noch höheren Endsumme. Ob unser Lebensrest noch ausreicht, Erlebnisberichte von den ersten Passagieren genießen zu dürfen, steht in den fernen Sternen.


BER war ein beispielloses Desaster deutscher Logistik und Ingenieurskunst, Stuttgart 21 (wie München 2 mit der DB) schickt sich gerade an, es dem Pannenflughafen gleichzutun. Beide Unternehmungen galten aber von Anfang an als kompliziert und hatten internationale Weiterungen. Die Münchner Stammstrecke 2 ist jedoch ein regionales Projekt mit relativ einfacher Aufgabenstellung. Wie viel planerische Blindheit, politische Ignoranz und fachliche Inkompetenz mussten hier fusionieren, um eines der teuersten zeitfressenden Debakel der europäischen Technologie-Geschichte zu generieren?


Bayern, Bayern über alles!


München ist nicht nur „eine Großstadt mit Herz“ (Eigenwerbung), sondern auch eine ständig am Rande des Verkehrsinfarkts stehende Metropole. Oberirdisch stauen sich die KfZ-Ströme, die, von den Alpen kommend, in die Mitte und den Norden der Republik vorstoßen wollen, während von dort Touristen- und Frachtverkehr anrollt und sich nach Österreich oder über den Brenner durchschlagen möchte. Zugleich ist München mit seinen Unternehmen und Behörden eine Hauptstadt der Pendler, und die nutzen häufig den Untergrund, um zur Arbeit zu gelangen.


Täglich fahren 840.000 Menschen mit der S-Bahn, die im Jahr zwanzig Millionen Kilometer zurücklegt. Die meisten werden dabei durch einen 1972 gebauten Tunnel, die „Stammstrecke“,  transportiert, der die Knotenpunkte der Innenstadt wie Stachus, Marienplatz oder Hauptbahnhof miteinander verbindet. Dieses Nadelöhr leidet nicht selten unter Verstopfung, und dann geht in der City und in der Peripherie nichts mehr. Also musste Entlastung, eine Art Bypass, her, und wenn München schon mal handelt, dann generell unter der Devise „Think big!“


Also hörten Staatsregierung und Oberbürgermeister nicht auf Verbände wie den Bund Naturschutz oder Pro Bahn sowie die Grünen, die alle eine kostengünstige und pragmatische Lösung, nämlich den Ausbau des Südrings anstelle des zweiten Tunnels befürwortet hatten. Die Verantwortlichen in Land und Stadt wollten aber die neue riesige Röhre durch den ohnehin bereits intensiv genutzten Untergrund treiben. Beim Blick auf das übergroße Ganze verloren sie dabei die Details aus den Augen, und so traten nun die Defizite zutage, vor denen Experten zuvor gewarnt hatten.


So können zwar künftig mehr Menschen mit der subterrestrischen S-Bahn fahren, nur sind ihnen dann zahlreiche Umsteigemöglichkeiten verwehrt und andere nur nach langen Laufwegen erreichbar. An diesen wenigen aber, etwa am heute schon überfüllten Marienplatz, wird „das Gedränge noch dichter“, wie der Bund Naturschutz prognostiziert. Die Bauherren mussten tiefer buddeln lassen und ihre Pläne für einige S-Bahnhöfe umfassend ändern, was zu Kostensteigerungen und Verzögerungen führte (und führen wird).


In der Verantwortung für die gigantische Steuervergeudung sehen Kritiker die bayerischen Staatsregierungen unter Seehofer und Söder, die in der Münchner Stadtspitze eifrige Claqueure fanden. Vor allem die Untätigkeit des amtierenden Ministerpräsidenten angesichts der sich potenzierenden Verluste an Zeit und Geld soll im Parlament jetzt ein wenig aufgeklärt werden.


Probleme für das „System Söder“?


Ausgerechnet im bayerischen Landtagswahljahr hat Markus Söder zwei Untersuchungsausschüsse am Hals, er darf jedoch zuversichtlich sein, dass ihn die Sünden der Vergangenheit zwar verfolgen, aber nicht einholen werden. Er regiert schließlich in Bayern, wo sich jeder CSU-Häuptling Pannen und Skandale leisten darf, ohne in kleinlicher Manier dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.


Das System Söder, mit dem das Wahlvolk besänftigt wird, beruht auf drei Säulen, welche sind: Vollmundige Ankündigung; diskretes Schweigen zu dezentem Nichtstun, überraschender Kehrtwende oder desaströsem Scheitern; permanenter Themenwechsel. Der CSU-Chef redet einfach nicht mehr über Dinge, die gestern schiefgingen, als etwas anrüchig empfunden wurden oder einfach in der Versenkung verschwanden. Stattdessen macht er ein weiteres Fass auf, treibt eine neue Sau durchs Dorf und verlässt sich darauf, dass sich morgen auch daran keine/r mehr erinnern kann.


Wenn ein Volksbegehren gegen das Bienensterben trotz schwarzen Widerstands reüssiert, setzt Söder sich an die Spitze der Bewegung, kreiert ein unverbindliches Naturschutzgesetz und nimmt so den Kritikern viel Wind aus den Segeln. Er umarmt Bäume und sieht ungerührt dabei zu, wie der bayerische Boden im Rekordtempo versiegelt und das immer knapper werdende Grundwasser an Mineralsprudel-Konzerne verramscht wird.


Bis 2025 werde er 10.000 neue Wohnungen errichten lassen, tönte er 2018. Bis heute, zwei Jahre vor dem Stichtermin sind gerade mal 8 Prozent der Behausungen gebaut. Eine Stellungnahme werden Sie von Söder dazu nicht bekommen, er ist nämlich gerade damit beschäftigt, Bayern als künftige Nummer 1 in Sachen landgestützter Windkraft zu bewerben (nachdem er einst bei Anne Will erklärt hatte, im Freistaat gäbe zu wenig böige Luftbewegung). Dass gerade eine Studie einen bundesweiten Anstieg an Genehmigungen von Windrädern in der Republik ermittelt, Bayern dabei aber den letzten Platz zuweist, wird er ebenfalls unkommentiert lassen.


Einen Untersuchungsausschuss hat Markus Söder wegen des Zukunftsmuseums in Nürnberg an der Backe. Als damaliger Wirtschaftsminister hatte er den Standpunkt am eigentlich zuständigen Wissenschaftsministerium vorbei durchgesetzt und seinem Parteifreund, dem Baulöwen Gerd Schmelzer, der zufällig gerade eine hohe Spende für die CSU platziert hatte, beste Konditionen und eine wahre Luxus-Mieteinnahme garantiert. Von Söder, mittlerweile Ministerpräsident, ist dazu wieder kein Wort zu erfahren, und letztendlich wird der parlamentarische Untersuchungsausschuss unverrichteter Dinge auseinandergehen.


Ein wenig brisanter dürfte es beim zweiten Untersuchungsausschuss zugehen, der die Gründe für die Untätigkeit und das Schweigen der Staatsregierung angesichts der Kostenexplosion beim Bau der Stammstrecke 2 eruieren soll, da sich sogar CSU-Abgeordnete schockiert zeigen (s. o.). Der eher konservative Münchner Merkur zitiert einen Referatsleiter der Bayerischen Staatskanzlei, der im Dezember 2020 notierte, dass solche Nachrichten „kein Gewinnerthema“ seien, und stellt heikle Fragen: „…weswegen jetzt schwarz auf weiß nachzulesen ist, dass die Staatskanzlei von Markus Söder damals die dilatorische Behandlung  bis nach der Bundestagswahl 2021 empfahl. Es dauerte dann tatsächlich auch noch über zwei Jahre, bis die Öffentlichkeit von der Stammstrecken-Katastrophe erfuhr. Weil Söder sich schon als Bundeskanzler-Kandidaten sah und ihm das Thema unangenehm war?“


Mal schauen, mithilfe welcher spektakulären Ankündigungen und Tricks Söder das Loser-Thema Stammstrecke 2 während des Wahlkampfs in den Hintergrund drängen und schließlich ganz verschwinden lassen wird…
04/2023
Dazu auch:
Profis ohne Schimmer im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (2023)
Stuttgart 25 plus im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)







Türsteher der NATO


Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich nach langem Zögern dazu entschlossen, einen angesagten Club aufzusuchen, um sich auf Ihre alten Tage mit Gleichgesinnten – je nach Temperament oder Lebensalter – in heiße Disco-Musik oder tiefschürfende Konversation zu stürzen. Doch am Eingangsportal erklärt Ihnen der etwas schmierig und brutal wirkende Türsteher, Sie hätten in diesen heiligen Hallen nichts zu suchen. Und jetzt endlich erkennen Sie den Zerberus: Das ist doch Recep Tayyip Erdoğan…


Ein wahrhaft würdiger Partner


So erging es Schweden und Finnland, als sich beide bis dato zumindest formal neutralen Länder gemeinsam unter die Fittiche der Allianz für die hehren Werte und – last not least – die wirtschaftlich-militärischen Interessen des Westens, der NATO also, begeben wollten. Ausgerechnet ein Außenseiter im 30 Staaten umfassenden Bündnis verhinderte die Aufnahme zunächst beider skandinavischer Aspiranten, was durch das Gebot der Einstimmigkeit bei solchen Entscheidungen möglich wurde. (Übrigens zickt auch noch ein anderes Sorgenkind der Militärgemeinschaft, nämlich Ungarn, weil dem Staatschef Viktor Orbán die Wahrnehmung seiner Politik in Stockholm und Helsinki zu negativ erscheint.)


Inzwischen stimmt Erdoğan dem Beitritt Finnlands zu und wird dies im Mai vom Parlament ratifizieren lassen, gegen Schweden aber, wo unlängst einige unappetitliche anti-islamische Kundgebungen stattgefunden hatten, besteht das türkische Off-Limits-Verdikt weiter. Bleiben die Fragen, was den autoritären Populisten in Ankara dazu bewegt, sich gegen den Rest der NATO zu stellen, was ihm überhaupt die Macht dazu verleiht und mit welchen Finten sowie windelweichen Zugeständnissen sein Zorn besänftigt werden soll.


Die Türkei hatte zuvor Bedingungen gestellt, darunter die Wiederaufnahme von Waffenlieferungen und die Auslieferung türkischer Exilanten, die das Regime in Ankara des Terrorismus verdächtigt. Finnland und Schweden haben ein Abkommen mit der Türkei unterzeichnet, um die Einwände Ankaras auszuräumen. Für die Gegner ungehemmter Rüstungsexporte und für Oppositionelle im Exil sind dies schlechte Nachrichten, doch im Falle Schwedens reichen die Zugeständnisse Edoğan immer noch nicht.


Im Grunde erpresst der türkische Staatschef den eigenen Club ebenso unverschämt wie erfolgreich. Da er sich auch mit seinem Bruder im Geiste, Wladimir Putin, gut versteht, erhält er nicht nur das russische Verteidigungssystem S400 (was die ihn ebenfalls umwerbenden USA provoziert), sondern auch das westliche Plazet für seine Feldzüge in den Irak und nach Syrien. Um ihren unsicheren Kantonisten nicht zu verlieren und gleichzeitig eine lange Ostfrontlinie unter Einbeziehung Finnlands und Schwedens zu ermöglichen, segnet die selbsternannte Menschenrechtsvereinigung NATO die völkerrechtswidrigen Überfälle Erdoğans auf andere Staaten ab und schweigt zu den türkischen Drohgebärden gegenüber dem Mitglied Griechenland sowie zur aggressiven Diskriminierung ethnischer Minderheiten in Anatolien.


Verbündete elegant fallen lassen


Seit dem Ende des osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg wurden Armenier, Kurden, assyrische Christen und die letzten verbliebenen Griechen in türkischer Diaspora häufig Opfer von Anfeindungen bis hin zu Pogromen seitens der in Ankara an die Macht gekommenen Militärs und Nationalisten. Den höchsten Blutzoll entrichteten einst die Armenier in zahllosen Massakern, heute zahlt ihn die kurdische Gemeinschaft, deren (gewählte) Bürgermeister entmachtet, deren Politiker ins Gefängnis geworfen und deren junge Aktivisten liquidiert werden.


Da der „Vater der modernen Türkei“, Kemal Atatürk, als Modernisierer im Sinne westlicher Zivilisation wahrgenommen wurde, regte sich gegen ihn und seine Nachfolger in Europa und den USA kaum Kritik (wenn nicht gerade mal wieder das Militär eine bürgerliche Regierung aus dem Amt geputscht hatte). Recep Erdoğan aber schuf ein klepto-kapitalistisches System mit islamisch-fundamentalistischem Überbau, in dem die Angehörigen anderer Völker und Religionen von vornherein unter Generalverdacht standen. Den Westen schien dies abermals nicht weiter zu stören.


Dass sich bereits Jahrzehnte zuvor bewaffneter kurdischer Widerstand formierte und dass die Truppe der PKK auch terroristische Methoden anwendete, ist die logische Konsequenz staatlicher Repression. Als aber die Kämpfer die Waffen niederlegen wollten, sich ein progressives ökologisches wie basisdemokratisches Programm verordneten und Verhandlungen über eine begrenzte Autonomie anboten, ging Erdoğan zum Schein darauf ein, nur um kurz danach umso brutaler zuschlagen zu können. Die meisten NATO-Länder hatten die PKK längst auf die Terror-Liste gesetzt (wie auch Schweden, wo sie verboten wurde) und revidierten diese Einschätzung weder, als sie das grausame Vorgehen Ankaras registrierten, noch als sie die Partisanen der kurdischen Arbeiterpartei und ihre syrischen Kollegen von der YPG benötigten, um die von der Ausrottung bedrohten Jesiden im nordirakischen Sindschar-Gebirge zu retten und um den IS niederzuringen.


Wenn Erdoğan Menschenleben und Infrastruktur in Nachbarländern vernichten lässt und seiner politischen Gegner auf der ganzen Welt habhaft werden will, kann er auf Waffenlieferungen seitens des Westens (wie auch aus Russland), auf stillschweigende Billigung und - im Falle der PKK-Einstufung - auf Entgegenkommen zählen. Der IS ist besiegt, also braucht man die einstigen Verbündeten nicht mehr, man paktiert lieber mit dem Beelzebub, um den Teufel in Moskau auszutreiben.


Die Morallüge


Um Putin zu bekämpfen, ist es aus Sicht der NATO offenbar legitim, einen Mann gewähren zu lassen, der sich wie der Russe als nationalistischer Eroberer geriert, der wie dieser erzreaktionäre, rassistische, homophobe und religiös-ultraorthodoxe Positionen vertritt. Und Erdoğan lässt sich seine „Neutralität“ wie ein Pate, der zwischen Mafia-Familien vermittelt, teuer bezahlen.


Damit die Finnen noch vor den Schweden unter den NATO-Schutzschirm kriechen dürfen, rüsten sie die Invasionsarmee der Türkei auf, beide skandinavischen Länder werden wohl die Meinungsfreiheit zumindest in Bezug auf Ankara beschränken müssen. Wir werden sehen, ob sie künftig auch noch die eine oder andere Auslieferung wohlwollend prüfen werden.


Natürlich sind Zweckbündnisse im globalen Machtkampf durchaus üblich, selbstredend verfolgen Länder und Staatengemeinschaften ihre Interessen oft skrupellos, doch sollten Grenzen dort respektiert werden, wo der Frieden einer Weltregion oder des ganzen Globus durch aggressives Vorpreschen bedroht wird. Die NATO ist ohne Rücksicht auf Verluste nach Osten expandiert, statt ein entmilitarisiertes Gebiet zwischen den Atommächten zu initiieren, und Putin diente diese Provokation zur Rechtfertigung eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs, der nun auch „großrussische“ Ansprüche durchsetzen soll. Ihn wegen des inhumanen Vorgehens in Den Haag anzuklagen, scheint legitim, löst aber nicht nur in der Dritten Welt Kopfschütteln aus. Wo blieben denn, so fragen sich viele Beobachter mit einem Rest von Geschichtsgedächtnis, die Prozesse gegen westliche Regierungschefs und Militärs nach den Kriegen in Vietnam, im Irak, in Jugoslawien oder in Libyen?


Und wieso hofiert der Westen den Putin-Klon Erdoğan und verbündet sich mit dem saudischen Mörder Mohammed bin Salman? Eine ehrliche Antwort fiele recht ernüchternd aus: Weil es uns nie um Menschenrechte oder politische Moral gegangen ist, sondern ausschließlich um die Durchsetzung unserer militärischen und ökonomischen Interessen.
03/2023
Dazu auch:
Wer darf? Wer nicht? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)








Braver Trotzkopf!


Eine typische Szene aus dem Familienalltag: Der kleine Sohn,  im Geiste noch nicht ausgereift, soll etwas tun oder unterlassen, in jedem Fall aber „Vernunft an den Tag legen“. Doch auf alle Vorhaltungen, Ermahnungen, gütlichen Zureden und Bitten antwortet das Leichtgewicht kategorisch: „Nein, ich will nicht!“ Aber es wäre doch gut für alle, die Eltern, Geschwister und Nachbarn, auch für ihn selbst, wird verzweifelt appelliert, doch der Knirps bleibt stur. Exakt so verhält sich derzeitig Verkehrsminister Volker Wissing im Angesicht der EU und des Klimawandels. Allerdings ist zweifelhaft, ob hinter der Verweigerungshaltung nur infantiler Eigensinn steckt, oder ob der FDP-Mann nicht von „höheren“ Interessen geleitet wird…


Bis zur letzten Tankfüllung!


Erst kürzlich hatte die FDP im Bundeskabinett die Genehmigung zum Verkauf rein synthetischer Kraftstoffe, sogenannter E-Fuels, an deutschen Tankstellen durchgesetzt. Für Verkehrsminister Wissing, der zuvor nie als Umweltexperte auffiel, war das ein „wesentlicher Schritt“ zur Vermeidung klimaschädlicher CO2-Emissionen im Autoverkehr und damit zur Erreichung der ambitionierten (jedoch angesichts der Berliner Trödelei obsoleten) Klimaziele der deutschen Bundesregierung. Andere sehen das anders.


E-Fuels werden mittels viel Strom aus Wasser sowie Kohlenstoff hergestellt, mit ihnen könnten Kraftfahrzeuge wie mit Diesel oder Benzin fahren, aber ohne den Ausstoß von Kohlendioxid. Der Energieaufwand zur Herstellung ist allerdings enorm, und der Bedarf an grünem Wasserstoff könnte nur durch (die Umwelt belastende) Importe von weit her gedeckt werden. Auf der Internetplattform heise online gibt der Kommentator Daniel AJ Sokolov weiter zu bedenken: „Offen ist, woher leistbarer synthetischer Treibstoff aus überflüssigem Ökostrom in namhafter Menge kommen soll.“  Greenpeace beurteilt die E-Fuels-Alternative, die übrigens extrem kostspielig wäre, als „eine Verschwendung sauberer Energie“, die man sich  nicht leisten könne, und der BUND rechnet vor, dass „hinsichtlich ihrer Energieeffizienz Elektrofahrzeuge klar im Vorteil gegenüber Fahrzeugen mit E-Fuels“ sind, die letztendlich das Mehrfache an Strom für dieselbe Fahrstrecke verbrauchten.


Also handelt es sich bei der liberalen Präferenz um ein Öko-Strohfeuer, das vor allem Aufmerksamkeit generieren soll? Nicht ganz, es geht schließlich um ein letztes Gefecht für den vom Aussterben bedrohten Verbrennungsmotor. Um die fossilen Treibstoffe aus dem Straßenverkehr zu nehmen, hat die EU nämlich beschlossen, die archaische Antriebsmaschine bis 2035 zu verbieten. Nicht mit uns! tönt jetzt aber Verkehrsminister Wissing, man müsse allen emissionsmindernden Technologien gegenüber offen sein. Und damit hat er zumindest die Verschiebung einer richtungsweisenden gesamteuropäischen Umweltmaßnahme bereits bewirkt – als hätte die Erdbevölkerung noch jede Menge Zeit.


His Master’s Voice


Mindestens 15 der 27 Mitgliedstaaten müssen nämlich der Gesetzesvorlage zustimmen, und diese wiederum haben mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung zu repräsentieren. Hatten bislang erst zwei große Länder, der Öko-Dinosaurier Polen und Italien als Nation der Fiat-Fans und Ferraristas, angekündigt, den Antrag abzulehnen, so könnte sich nun Deutschland als Heimat von Porsche und anderen Nobel-Protzkarossen dazu gesellen. Damit wäre die Sperrminorität von mehr als 35 Prozent locker erreicht.


Wissing möchte weiterhin nicht auf den satten SUV-Sound und das Aufheulen hochfrisierter Boliden verzichten, nur sollen diese künftig mit E-Fuels gefüttert werden. Dass eine solche Ausnahme, die den Verbrenner-Autos für Betuchte eine Überlebensnische sichern würde, umwelttechnisch wenig Sinn macht, ficht den Verkehrsminister nicht an – und wieder fühlen wir uns an das eingangs erwähnte kindische Querulantentum erinnert. Doch man sollte die FDP nicht unterschätzen, die Motive dieser zur Partei mutierten Wirtschaftslobby sind vielleicht nicht lauter, dafür aber von raffiniertem Vorteilsdenken geprägt.


Porsche-Chef Oliver Blume hatte es letztes Jahr vor Mitarbeitern ausgeplappert, und ZDF-Reportern war es zu Ohren gekommen: „Fast stündlich“ sei er von Wirtschaftsminister Lindner in Sachen Synthetische Kraftstoffe „auf dem Laufenden“ gehalten worden, und so sei es ihm gelungen, das Ding mit den E-Fuels quasi im Alleingang zu „wuppen“, will sagen: eine überflüssige Antriebsvariante vor dem endgültigen Aus zu retten. Selbst andere Autokonzerne, etwa Audi, lehnen diesen Anachronismus ab, aber die haben ja im Gegensatz zu Porsche auch kein Geld für eine Pilotanlage zur Produktion der Kraftstoffe in Chile gesteckt, das nun zu verbrennen droht. Der Konzern hatte von vornherein bei dieser Investition natürlich nie das Klima im Sinn, sondern stets die eigene Rendite.


Ob der passionierte Porschefahrer Christian Lindner aus freien Stücken dieser Aufweichung des Verbrennerverbots den Weg ebnete oder erst von Oliver Blume „überredet“ werden musste, können wir nicht mit Sicherheit sagen, weigern sich doch die beiden Beteiligten, ihre sicherlich interessante (und irgendwie doch dienstliche) Korrespondenz der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dagegen glauben wir recht zuversichtlich, dass Volker Wissing nicht in einem Anfall von Regression als renitenter Wicht, sondern im Auftrag seines Meisters und Parteichefs halb Europa lahmlegt.


Narrenlob


Der Aufschrei in der Bundesregierung fiel relativ kleinlaut aus, obwohl doch neben den EU-Maßnahmen auch die Koalitionsvereinbarungen blockiert wurden. Und wer sich ein wenig Richtlinienkompetenz von Olaf Scholz erwartet hätte, wurde eines Schlechteren belehrt.


Als die Kommissionspräsidentin von der Leyen den Bundeskanzler auf dem zweitägigen Kabinettstreffen im Meseberg auf den europaweiten Stau, den das am Verbrenner festklebende enfant terrible verursacht hatte, ansprach, fand der nur Lob für seinen Untergebenen: Volker Wissing sei „ein sehr, sehr guter Verkehrsminister“.


Olaf Scholz ist nicht der Schnellste, und so scheint ihm entgangen zu sein, dass der Karneval vorüber ist. In einer Kölner oder Mainzer Prunksitzung des Elferrats hätte er sich allerdings für diese brillante Büttenpointe einen donnernden dreifachen Tusch verdient gehabt. Applaus! Applaus!
03/2023
Dazu auch:
Saubere Regierung im Archiv der Rubrik Medien (2022)







Die Republik zockt

Wenn finanzielle Sicherheit, ein solider Daseinsentwurf oder befriedigende Arbeit in weiter Ferne liegen, halten etliche Menschen eine Gewinnverheißung, die sich zeitnah erfüllen könnte, für den letzten Ausweg aus der Misere, an den man nur glauben muss. In Glücksspielen, die suggerieren, per Geschick oder Wissen beherrschbar zu sein, wollen sie die
Chance wahrnehmen, die sie im richtigen Leben nie hatten. Realiter aber häuft sich Verlust auf Verlust, wird der nüchterne Verstand durch die Illusion, beim nächsten Versuch liefe alles besser, übertrumpft – bis Zocken zur Sucht ausufert. Im Gegensatz zu Drogen, die ähnlichem Effekte zeitigen, ist die Steuerung des Irrsinns durch bedenkenlose Anbieter legal, bringt sie dem Staat doch Geld. Und für Finanzminister Lindner ist solches Hasardspiel sogar eine Option für unser Rentensystem.


Der Weg nach unten


Von „Pathologischem Spielen“ oder „Glücksspielstörung“ reden die Experten, in der Alltagssprache ist schlicht von „Spielsucht“ die Rede. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das Phänomen als psychischen Defekt ein und klassifiziert es in diesem Kontext als „Impulskontrollstörung“ bzw. „Abhängigkeitserkrankung“. Die Betroffenen daddeln an Automaten, zocken mit Karten und Würfeln oder wetten auf die Verläufe und Resultate von Events, am häufigsten im Sportbereich. Der schnelle Gewinn verschafft dem Anfänger eine mühelos erlangte Lustbefriedigung, die erste Niete spornt nur dazu an, es künftig besser zu machen und die Einsätze so lang zu steigern, bis nicht nur der Verlust ausgeglichen, sondern sogar ein üppiges finanzielles Polster geschaffen wird.


Das gelingt fast nie, denn die Spiele sind allesamt zum Vorteil des Bankhalters bzw. Wettanbieters konzipiert. Doch das so gut wie nie eingelöste Versprechen, dass ein Lucky Punch das ganze Leben zum Positiven verändert, lässt die einmal „Angefixten“ weiterspielen, bis außerhalb des Kokons ihrer Sucht das soziale Umfeld in Trümmer fällt. Hierzulande weisen etwa 200.000 Menschen (mehr Männer als Frauen) dieses Syndrom auf, und ein Entzug gilt als mindestens so kompliziert wie eine Suchtdrogentherapie.


Zwiespältig (sehr milde ausgedrückt) wirkt der staatliche und öffentliche Umgang mit dieser durch enormen Werbeaufwand vorangetriebenen Verführung naiver und verunsicherter Gemüter. Um das Suchtpotential weiß man in der Politik, in den Behörden und ehrenwerten Vereinigungen, verbieten will man den „Stoff“ aber nicht, denn man verdient selber daran oder kennt einen Parteiensponsor, der es tut. Also verordnet man ein paar Vorsichtsmaßnahmen, die nicht greifen, lässt ansonsten aber hochgradig manipulative Reklame (vor allem im TV) zu und erleichtert den Dealern den effektiven Auftritt abseits der Schmuddelecke.


Saubere Regelung für üble Verführung


Nicht nur, dass Bund und Länder die Spiel- und Wettumsätze der privaten Anbieter besteuern, sie offerieren den Bürgern auch selbst Gelegenheiten, ihr Geld im Glauben an eine Minimalchance loszuwerden. Und damit auch alles seine Richtigkeit hat, gilt seit dem 1. Januar 2008 der Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV), der den Schutz der Spieler regeln soll. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies zur Verpflichtung gemacht und argumentiert, das staatliche Glückspielmonopol sei nur durch eine konsequente und glaubhafte Erfüllung der staatlichen Suchtprävention zu rechtfertigen. Die Bundesländer, die den GlüStV geschlossen hatten, akzeptierten die Vorgabe – mit der Umsetzung hapert es indes. Man fragt sich angesichts des Eifers, mit dem Lizenzen zum Abzocken ausgestellt werden, worin die Bemühungen, Menschen vor Abhängigkeit zu bewahren, eigentlich bestehen sollen.


Als direkter Entrepreneur tritt die öffentliche Hand bei 6 aus 49  oder diversen Klassenlotterien auf, die allerdings so dröge beworben und präsentiert werden, dass sie nur sehr bedingt zur gefährlichen Verführung taugen. Es sollte dennoch darauf hingewiesen werden, dass sich etliche KleinrentnerInnen den ausgefüllten Tippzettel, die vermeintliche Fahrkarte in den späten Wohlstand, vom Mund absparen müssen. Nur verschulden sie sich dafür meist nicht.


Beunruhigender ist die Tatsache, dass Sportwetten per Handy zu jeder Sekunde abgeschlossen werden können, dass den Aficionados ein Flair von Entschlossenheit, Sachkenntnis und Wagemut vorgegaukelt und in einer Intensität beworben wird, die sich nur mit dem einstigen Reklame-Hype um Klingeltöne vergleichen lässt.


Während die klassischen Automatenzocker in mechanischer Redundanz ihr Geld, ihre Hoffnung und zuletzt Haus, Hof und Familie an den Münzschlitz verlieren, passionierte Poker-Spieler wiederum mit tückischer Geduld auf die Möglichkeit zum entscheidenden Bluff oder auf das perfekte Blatt (das kaum jemals kommt) warten, brauchen die Wetter der Internet-Generation den ständigen Thrill, die sich überschlagenden Anreize, es nur Sekunden nach der letzten Pleite mit etwas Neuem zu versuchen: Man hat auf ein Null zu Null gesetzt, aber es ist ein Treffer gefallen – kein Problem. Tippt man halt auf die Mannschaft, die das nächste Tor schießt oder die nächste Ecke zugesprochen bekommt… Es werden einem in Echtzeit so viele Chancen eingeredet, den Verlust wieder auszugleichen.


Nur funktioniert die prompte Kompensation des „Pechs“ leider nicht, und im Gegensatz zum Süchtigen am Geldautomaten, der die Münzen noch händisch einwerfen muss, bemerkt man gar nicht, wie fortlaufend etwas vom Konto abgebucht wird. Und wer auf sein Fußball-Fachwissen vertraut, sollte einen Hinweis der IHK München für die Anbieter von Kicker-Hasard unter ihren Mitgliedsfirmen ernstnehmen: „Sportwetten sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Glücksspiele.“ Folglich unterliegen sie dem staatlichen Monopol, und so warnt die IHK auch pflichtschuldig: „Sportwetten dürfen daher nur mit der erforderlichen Erlaubnis der Landesregierung angeboten werden.“


Also könnten die zuständigen Ministerien eingreifen, zumal bereits mehr als ein Drittel aller deutschen Spielsüchtigen die Selbstkontrolle bei Sportwetten verliert, vor allem junge Menschen geködert werden und das Selbstmordrisiko dreifach höher als in der Normalbevölkerung liegt.


Zumindest könnte – in Entsprechung zu den Werbe-Einschränkungen für Tabak – die Reklame in den Medien und im Straßenbild für den Zocker-Wahnsinn reglementiert oder ganz untersagt werden. Lediglich der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer von der SPD fordert ein solches Verbot, die FDP neigt wie gewohnt dazu, dem Markt freies Spiel zu lassen, wie immer das ausgehen mag.


Das Bayerische Ministerium für Finanzen erklärte auf Anfrage sinngemäß, es sehe keinen Anlass einzugreifen, schließlich sei es besser, das Glücksspiel finde unter staatlicher Aufsicht statt, und nicht in der Unterwelt. Muss deshalb der Weg zur Selbstaufgabe medial so prächtig illuminiert und ins Bewusstsein gerückt werden? Überhaupt liebäugelt die Christenunion nicht nur mit zusätzlichen Steuereinnahmen, sondern auch mit Lobbyisten des Branchenführers Tipico.


Lindners Rentencasino


Was ein SPIEGEL-Team im Vorjahr über den deutschen Konzern, der seinen Sitz auf der Steuervermeidungsinsel Malta hat, recherchierte, hätte früher gereicht, dessen Manager aus dem Kreis der sich honorig gebenden Unternehmer auszuschließen: Vorständler mit wegen Wettbetrugs schmutziger Weste, Verstrickungen in den Kokainhandel und in die Geldwäsche; Ungereimtheiten in 20 Prozent der teilweise von Kriminellen geleiteten Filialen, die stets in ärmeren Stadtvierteln angesiedelt sind, wo das Glücksspiel als letzter Strohhalm, als einzige Aufstiegsoption wahrgenommen wird.


Heutzutage geniert das niemanden mehr, nicht einen Werbe-Promi wie Oliver Kahn, Vorsitzender des FC Bayern, der einst von einem Steuerbetrüger und einem Uhrenschmuggler geführt wurde, nicht die seriöse ARD, die den Traum-Dealern für viel Geld Spots in der Prime-Time zwischen Sport- und Tagesschau einräumt. Und natürlich nicht den Springer-Verlag, dessen Flaggschiff BILD sogar mit Tipps und Einführungen zu Fußballwetten Tipico latent unterstützt.


Vielleicht glaubt auch Christian Lindner, der vor seiner Politikerkarriere als „freier“ Unternehmer eher unterirdisch performte, dass ihm im Zockermilieu der große Coup gelingt. Schließlich ist auch auf den von ihm so geschätzten Kapitalmärkten der riskante Einsatz das probate Mittel, ganz gleich, ob man auf steigende oder fallende Kurse, gegen die Währungen von Staaten oder auf Ernteausfälle wettet. Also plant der Bundesfinanzminister, zehn Milliarden Euro im Jahr einzusammeln und in Aktien sowie Wertpapieren anzulegen. Ein solcher Fonds soll vom Ende der 2030er Jahre an das schwächelnde Rentensystem stabilisieren. Experten haben ausgerechnet, dass gut 212 Milliarden Kapital bei einer optimistischen Renditeschätzung von 8 Prozent nötig wären, um den Anstieg des Rentenbeitrags um nur 1 Prozent (!) zu verhindern. Den dreistelligen Milliardenbetrag würde Lindner gern aus den Versicherungsrücklagen für die Altersvorsorge nehmen…


Um die Einzahler in die Rentenkasse homöopathisch zu entlasten, möchte der smarte Christian also ein riesiges Vermögen auf den häufig verrücktspielenden Kapitalmärkten riskieren. Es ist ja nicht seines, und die Investmentbanker sowie Spekulanten werden ihm applaudieren, denn er führt ihrem Roulettetisch frische Einsätze zu.


In Chile führte ein ähnliches Experiment zum Abschmelzen aller Rücklagen und zu gravierender Altersarmut. „Verzockt meine Rente nicht!“ titelte denn auch die Ver.di-Zeitung publik besorgt. Aber keine Bange! Wenn alles schiefgeht, können die Ruheständler ihre Altersversorgung immer noch mit Fußballwetten aufbessern.
02/2023
Dazu auch:
Bürger zu den Waffen im Archiv der Rubrik Medien (2019)







Kritik erlaubt?


Wenn ein Gegenüber chauvinistische Reden führt, ankündigt, gegen geltendes Recht verstoßen zu wollen, und vollends ins kriminelle Milieu abzurutschen droht, ist man gut beraten, ihm sein Fehlverhalten deutlich vor Augen zu führen. Was für private Belange wie eine Binsenweisheit klingt, kann höchst problematisch werden, wenn es sich bei dem potentiellen Übeltäter um einen Staat handelt. Heißt der auch noch Israel, wird man möglicherweise von allen Seiten des Antisemitismus verdächtigt, selbst wenn man die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Landes zu schätzen weiß und sein Existenzrecht gegen alle Angriffe verteidigen würde.


Netanjahus Horrorkabinett


Welch krude Truppe wurde vom israelischen Parlament, der Knesset, mit 63 zu 54 Stimmen zur neuen Regierung bestellt! Der stramm rechte Likud koaliert dazu mit den ultra-orthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum sowie den drei rechtsradikalen Fraktionen Religiöse Zionisten, Jüdische Stärke und Noam. Glaubensfundamentalismus paart sich mit Rassismus, Homophobie und krimineller Energie, um Benjamin Netanjahu seine sechste Amtszeit als Premierminister und die Erlösung vom anhängigen Korruptionsprozess zu ermöglichen.


Unter den 31 Kabinettsmitgliedern, zu denen gerade einmal fünf Frauen zählen, haben noch andere schlechte Erfahrungen mit der Strafjustiz gemacht. Etwa der neue Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, der wegen Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde, was ausgemachte Zyniker als Beispiel für gelungene Resozialisierung interpretieren könnten – vom fanatischen Zündler zum obersten Ordnungshüter. Schas-Parteichef Arye Deri wiederum wurde des Steuerbetrugs überführt und hätte eigentlich keinen Chefposten antreten dürfen. Mit einer eiligen Gesetzesänderung öffnete man ihm das Innenressort, später soll er Finanzminister (ausgerechnet!) werden.


Überhaupt will Benjamin Netanjahu das Justizwesen nach seinem Gusto umgestalten, schon um der vom Generalstaatsanwalt gegen ihn erhobenen Anklage wegen Bestechung, Betrugs und Vertrauensbruchs zu entgehen. So soll der Einfluss des Obersten Gerichts zurückgedrängt werden, und für die Ernennung der (nur noch nominell) unabhängigen Richter würde dann die Politik zuständig sein. Polen und Ungarn lassen grüßen…


Rechtsextremismus im Namen Gottes


Der knallharte Landokkupant Bezalel Smotrich, der einstweilen das Finanzministerium leitet und zusätzlich für die zivile Verwaltung des Westjordanlands, also auch den Siedlungsbau, zuständig ist, wird permanent gegen internationales Recht und UNO-Resolutionen verstoßen. Ein Leitsatz der Koalition lautet nämlich:
„Das jüdische Volk hat ein alleiniges und unumstößliches Recht auf alle Teile des Landes Israel.“ Von den arabischen Mitbürgern (rund 20 Prozent der Bevölkerung) und den Palästinensern ist keine Rede mehr. Der Begriff „Westjordanland“ wird im Sprachgebrauch der neuen Regierung durch Judäa und Samaria ersetzt. Einen Palästinenserstaat kann es so de facto auch nicht geben, weil der Anspruch nicht aus dem Tanach, der hebräischen Bibel, herauszulesen ist.


Und die neuen, aber sich recht archaisch gebärdenden Machtinhaber legen auch gleich tüchtig los: Polizeiminister Ben Gvir spaziert über den Tempelberg, ein multi-religiöses Heiligtum, und brüskiert damit die Moslems, denen die Verwaltung obliegt. Obwohl selbst Ex-Premier Lapid  von einer „Provokation, die zu Gewalt führen wird“ spricht und die Botschaft der verbündeten USA die Wahrung des Status quo der heiligen Stätten anmahnt, setzt der ultra-rechte Zelot noch eins drauf und droht den Palästinensern mit der „eisernen Faust“. Derweil stellt die Noam-Partei Schwarze Listen mit den Namen von schwulen Journalisten, Feministinnen und angeblich linken Mitarbeitern im Justizministerium auf. Offenbar soll kaltgestellt werden, wer nicht dem sektiererischen „Reinheitsbegriff“ entspricht.


Im Koalitionsvertrag haben der eigentlich bis zur Skrupellosigkeit pragmatische Netanjahu und die eher irrational fabulierenden Fundamentalisten, die ihn vor den Schatten seiner Vergangenheit beschirmen sollen, sich darauf geeinigt, künftig Händlern, Hoteliers und Ärzten (!) zu erlauben, bestimmten Bevölkerungsgruppen aus Gründen der religiösen Überzeugung ihre Dienste zu verweigern. Dies ist nicht nur eine Aussetzung des Hippokrates-Eids, es bedeutet staatlich geduldete Diskriminierung und riecht sogar ein wenig nach Rassismus.


„Sensibles“ Schweigen oder ehrliche Kritik?


Während in Israel selbst viele Repräsentanten jener knappen Bevölkerungshälfte, die nicht für Netanjahu und Konsorten gestimmt hat, gegen eine Regierung demonstrieren, die eilends daran geht, alles, was zu einer Versöhnung der Glaubens- und Volksgruppen führen könnte, endgültig zu eliminieren, verharrt der befreundete Westen in Schockstarre. Und während die international angesehenste Tageszeitung des Landes, Haaretz, und etliche der prominentesten Kulturschaffenden für die Politik der neuen Führung Termini wie „Apartheid“ oder „faschistoid“ finden, Juristen sowie Hightech-Manager davor warnen, „den Rechtsstaat zu beschädigen“, und mehr als tausend Veteranen der Luftwaffe in einem offenen Brief bereits „den demokratischen Staat in Gefahr“ sehen, kochen die Diskussion über die brisante Situation und Positionierung dazu in der Bundesrepublik auf Sparflamme.


Das hat sowohl nachvollziehbare als auch pseudo-moralische und bigotte Gründe: Dass sich Deutsche angesichts der eigenen Geschichte und der Urheberschaft an Holocaust und den daraus resultierenden tragischen Ereignissen im Nahen Osten vorsichtig äußern sollten, versteht sich per se – zumal Netanjahus Feinde, die korrupte Palästinenserbehörde auf den West Banks und die fanatische Hamas im Gaza-Streifen, auch nicht gerade zur Identifikation einladen. (Wie hätten auch in einem zerstückelten, von zahllosen Militärgrenzen durchzogenen Land, bedroht von Wasserknappheit, Zwangsenteignung und willkürlichem Siedlungsbau auch vernünftige Strukturen und Haltungen entstehen sollen?)


Dass andererseits hierzulande jeder kritische Gedanke zur israelischen Siedlungspolitik oder einem orthodoxen, Intoleranz gegenüber Andersgläubigen beinhaltenden Absolutheitsanspruch mit dem Verdikt „antisemitisch“ belegt wird, entbehrt jeglicher Logik. Natürlich gibt es eine furchterregende Anzahl von Rassisten in unserer Republik, und eine Menge von ihnen, ewig gestrige Spießbürger, Verschwörungstheoretiker oder Neonazis, neigt dazu, Israel für alles Böse in der Welt verantwortlich zu machen. Denn Israel – das ist für sie: die Juden.


Die Kritik am neuen Kabinett (und an einigen Vorgängerregierungen) richtet sich aber nicht gegen die Juden, auch nicht gegen den Staat Israel und das Staatsvolk, sie richtet sich gegen Politiker mit düsterer Vergangenheit, die aus dubiosem Eigeninteresse alle Versuche sabotieren, doch noch zu einer friedlichen Koexistenz (wenn schon nicht zur Partnerschaft) in einigermaßen gerechten Verhältnissen mit den arabischen Nachbarn und Mitbürgern zu kommen. Schweigen schadet hier nur, denn: wen man nicht kritisieren darf, den nimmt man auch nicht ernst.


Es fühlt sich für die Wenigen, die noch für die Zweistaatenlösung eintreten, derzeit wie ein bitteres Déjà-vu an: als würde Jitzchak Rabin, kein Freund der Palästinenser, aber ein Mann, der den Frieden ehrlich anstrebte, ein zweites Mal erschossen.
01/2023
Dazu auch:
Amnesty am Pranger? Im Archiv der Rubrik Medien (2022)




2022



Gefahr? Welche Gefahr?


Die Meldung hätte einen Schock, zumindest aber einen Aufschrei auslösen müssen, erregte aber beim durchschnittlichen Bundesbürger, der festklebende Umweltschützer am liebsten dauerhaft im Knast sehen und Geflüchtete gern jenseits deutscher Grenzen internieren würde, nur ungläubiges oder desinteressiertes Kopfschütteln: Tausende von Sicherheitsbeamten sicherten in einer flächendeckenden Razzia Beweismittel und nahmen massiver Putschvorbereitungen Verdächtige aus der rechtsradikalen Szene fest. Ein Umsturz in Deutschland? Für die Volksmehrheit war das unvorstellbar – ungefähr so wie ein Halbfinaleinzug Marokkos bei der WM in Qatar.


Untergrundarmee von Einzelkämpfern?


Dass erst jetzt in größerem Ausmaß gegen das gruselige Panoptikum aus Reichsbürgern, ehemaligen (und aktiven) Elitesoldaten und Polizisten sowie militanten Verschwörungstheoretikern und QAnon-Anhängern ermittelt wird, ist das eigentlich Unfassbare. Seit den Umtrieben ehemaliger Nazi-Parteigänger in Publizistik, Justiz und Politik der noch jungen Bundesrepublik, die es bis zum Bundeskanzler (Kiesinger) oder Chef des Bundesnachrichtendienstes (Gehlen)

bringen konnten, weiß man, dass rechtsradikale Schuld verschwiegen oder eher

milde beurteilt wurde. So verwundert es nicht, dass etwa beim braunen Treiben der Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann in Franken beide Augen zugedrückt

wurden, ganz so, als gehörten revanchistische Verbrechen zur deutschen Folklore.


Bis es 1980 zum Oktoberfestattentat kam, bei dem 13 Menschen starben und 211 weitere (zum Teil schwer) verletzt wurden. Als Einzeltäter wurde Gunnar Köhler, Mitglied der WSG Hoffmann, identifiziert, obwohl Zeugenaussagen und Recherchen auf weitere Beteiligte schließen ließen. Drei Monate später erschoss der Theologiestudent und Burschenschaftler Uwe Behrendt in Erlangen den jüdischen Verleger Shlomo Levin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke. Behrendt war Vizechef von Hoffmanns Truppe gewesen, hatte die Tatwaffe und später Geld für die Flucht in den Libanon von diesem erhalten. Dennoch wurde der WSG-Führer Jahre später lediglich wegen mehrerer minderschwerer Delikte zu neuneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, von den Vorwürfen der Mittäterschaft und der Gründung einer terroristischen Vereinigung aber freigesprochen. So konnte man auch Behrendt als Einzeltäter klassifizieren.


Die NSU-Mordserie wiederum schrieben die erstaunlich aufklärungsunwilligen Kriminalbeamten, Verfassungsschützer und auch Juristen letztendlich den drei Einzeltätern Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zu, die sich offenbar zu einem Trio zusammengefunden hatten. Dass die Killer sich in mehreren Großstädten wie Fische im Wasser bewegen konnten, logistisch unterstützt von etlichen Gesinnungsgenossen, ließ bei den ermittelnden Behörden, die sich lieber in der Aktenvernichtung und Türken-Diffamierung übten, keinerlei Verdacht bezüglich neonazistischer Strukturen aufkommen.


Für das passende Klima sorgten in Hoyerswerda, Rostock, Mölln oder später in Hanau auch unorganisierte Rassisten, die sich - aufgeputscht durch rechtsextreme Vordenker – zu Gewalttaten im Alleingang oder im Mob berufen fühlten. Zugleich aber stahlen Soldaten des Kommandos Einsatzkräfte (KSK), der Elitetruppe mit der Lizenz zum Töten, Munition und Waffen in rauen Mengen, fanden im deutschen Forst zuhauf Schießübungen statt, horteten die sogenannten Prepper und Uniter (darunter auch etliche Polizisten aus Sondereinsatzkommandos - SEKs) Kriegsmaterial und Überlebensmittel in etlichen, über das ganze Land verstreuten Verstecken, um sich für den Endkampf gegen die Republik zu  wappnen. Obwohl beispielsweise die taz ausführlich über die Bedrohung aus dem braunen Untergrund berichtete, schliefen die Sicherheitsbeauftragten von Bund und Ländern wohlig in ihren Ämtern. Oder sie hielten zumindest die Augen fest geschlossen.


Viele peinliche Fragen


Aufgeschreckt durch die NSU-Morde untersuchten Kriminalisten nochmals 3.300 in den Asservatenkammern abgelegte Fälle aus den Jahren 1990 bis 2011 auf mögliche Neonazi-Täterschaft. Allein für diesen Zeitraum hatten nämlich Journalisten über 152 Todesopfer rechter Gewalt berichtet. Die Hüter unserer Ordnung jedoch ruhten weiter in sich und verschliefen so auch die Morgenröte der wohl skurrilsten Truppe unter den gewaltbereiten Chauvinisten: Die Reichsbürger schickten sich an, das Rad der Geschichte in ein von Monarchie, Adel und preußischem Militarismus geprägtes Zeitalter zurückzudrehen, da unser heutiger Staat ihren Konstitutionsregeln nicht entspricht.


Laut Innenministerin Nancy Faeser soll es 23.000 dieser Historienzauberer im Land geben, viele davon bewaffnet. So ist es auch nicht verwunderlich, dass beim kriegslüsternen Zusammenschluss der rechtsradikalen Phantasten mit Heinrich XIII., Prinz Reuß, ein Hochadliger, der in ungerechten bürgerlichen Zeiten sein Leben als Immobilienmakler fristen muss, zum Reichsverweser bestellt wurde. Ihm zur Seite steht u. a. die Richterin und ehemalige AFD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, inzwischen sitzt sie allerdings in Haft.


Wie kam es so plötzlich zur Großrazzia und zum Freiheitsentzug für eine Reihe von mutmaßlichen Putschisten, nachdem die Verantwortlichen eine gefühlte Ewigkeit lang das rechte Gefahrenpotenzial weitgehend ignoriert hatten? Nun, es waren Pläne zur Erstürmung des Bundestags sowie zur Bildung von 280 „Heimatschutzkompanien“, deren Aufgaben auch die systematische Liquidierung politischer Gegner beinhalten sollte, ruchbar geworden. Offenbar fürchteten jetzt auch Regierende und Volksvertreter die bunte Truppe, die ein wenig an die Erstürmer des Kapitols in Washington erinnert, mehr aber noch an die frustrierten Kriegsoffiziere, mittellosen Nationalisten, preußischen Krautjunker, um ihre Privilegien fürchtenden Adligen und Restaurationspolitiker, die sich nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zum Putsch gegen die Weimarer Republik zusammenschlossen.


Es fällt schwer, an den Erfolg eines derart bizarren Aufstands zu glauben, doch Attentate, Massaker, Fememorde und Überfälle, die Generierung einer Atmosphäre aus Chaos und Angst also, wären angesichts des Personals und seiner Feuerkraft durchaus denkbar. Und die zuständigen Politiker der letzten Jahre und früherer Dekaden müssen sich einigen peinlichen Fragen stellen:


Die Berliner Koalition und die betroffenen Länderregierungen erklären unisono, die überwältigende Mehrheit der Polizisten und Bundeswehrsoldaten sei loyal. Woher wissen die aufgeschreckten Politiker überhaupt, wie Sicherheitsbehörden und Landesverteidigung mehrheitlich ticken, vor allem in den kampfgeschulten Spezialeinheiten? Bislang haben sie sich jedenfalls nicht um strukturellen Rassismus sowie rechtsextreme Gesinnung auf Polizeirevieren oder kleptomanische Waffenbeschaffung aus den Bundeswehrarsenalen gekümmert.


Könnten nicht V-Leute des Verfassungsschutzes zu den treibenden Kräften bei der Vorbereitung des Aufstands zählen? Wir erinnern uns, dass, als Spitzel in die NPD eingeschleust wurden, um belastendes Material für das Verbot der Partei zu liefern, sie deren Programm mit gestalteten und sich wie Chefideologen gerierten. Das Bundesverfassungsgericht konnte am Ende eine Partei nicht verbieten, deren Richtung maßgeblich von Verfassungsschützern formuliert worden war. Und wie viele Sympathisanten und Zuträger der potentiellen Putschisten waren wohl unter den 3000 Beamten, die ausgesandt wurden um ‚Beweismaterial zu sichern und Straftaten zu vereiteln?


Warum erst jetzt? Wie lange haben die Verantwortlichen den Anfängen zugesehen, denen sie bereits vor Jahrzehnten hätten wehren sollen. Warum wurde eine Bevölkerung, die mehrheitlich rechts, aber nicht unbedingt rechtsradikal und umstürzlerisch denkt, so lange im Unwissen gehalten, dass sie sich jetzt einen Aufruhr von Revanchisten gar nicht mehr vorstellen kann? Und wie glaubwürdig sind die Quellen, aus denen die Informationen über die Putschvorbereitungen stammen?


Der Spott der Rechtspopulisten


Da kein Schuss gefallen ist und kein MdB angegriffen, entführt oder liquidiert wurde, macht sich die publizistische Rechte, die „Phalanx der Verharmloser“ (SPIEGEL), über den vorgeblichen Alarmismus von Nancy Faeser lustig. So verlässt Alexander Marguier, Chefredakteur vom neoliberalen Zentralorgan Cicero den Bereich der Faktenabwägung und spottet ein wenig voreilig:


„Der aufgeregten Medienberichterstattung und den Statements von Politikern und Sicherheitsbehörden zufolge konnte ein bevorstehender Staatsstreich gerade noch verhindert werden. Bei Lichte besehen wirkt der Hype um das Umfeld zweier spinnerter Reichsbürger-Revolutionäre und ihrer Umsturzpläne allerdings reichlich grotesk.“


Herr Marguier sei daran erinnert, dass 2016 in Georgensgmünd bei Nürnberg ein „spinnerter Reichbürger-Revolutionär“ einen Polizeibeamten erschoss und drei weitere verletzte, die seine Waffen beschlagnahmen wollten. Als „grotesk“ wurde der Vorfall damals nicht empfunden.


Auch der frühere Verfassungsschutzchef Maaßen, dem ein gewisses Faible für AfD-Inhalte nachgesagt wird, hält die Razzia natürlich für Unsinn, auf den Punkt bringt es aber Roland Tichy, der Doyen der Rechtsaußen-Kommentatoren, in seinem Einblick:


„Die kindische Inszenierung der Razzia, mit der ein ´Staatsstreich` gerade noch mal verhindert werden konnte, ist eigentlich eher zum Lachen. Dass Beamte, Behörden und Medien mitspielen, ist beschämend – und es zeigt, wie gefährdet unsere Demokratie wirklich ist.“


Doch, die Gefahr ist vorhanden, kommt aber aus einer anderen Richtung, als Tichy denkt, obwohl er doch mit ihr vertraut sein müsste. Wer ist heute noch so fehlsichtig, rechtsextreme Strukturen in Teilen der Polizei, der Bundeswehr oder der Geheimdienste zu leugnen? Und wozu liegt Kriegsgerät tonnenweise in Untergrundverstecken, wird der Kampf mit Schusswaffen im Verborgenen geübt?
Bleibt angesichts der bisherigen Ignoranz oder Ahnungslosigkeit der Berliner (und einst Bonner) Politiker nur zu hoffen, dass die Innenministerin an der richtigen Stelle nachgeforscht hat. Ein Fehlschlag würde in einer Farce wie beim Versuch, die NPD zu verbieten, enden und hätte fatale Auswirkungen für den Schutz vor braunem Geländegewinn.
12/2022
Dazu auch:
Die rechte Haltung (2019) und Braundeutscher Eisberg (2018) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2019)
„Reichsbürger“ (2017) sowie Nazi und Gendarm (2016) im Archiv der Rubrik Medien







Exportschlager Bahn


Um ein uraltes Kulturvolk nicht zu beleidigen, versagen wir uns angesichts einer aktuellen Wirtschaftsnachricht die eigentlich gebotene Abwandlung eines aus gallischen Comics stammenden Kommentars: Die spinnen, die Ägypter! In Kairo  hat die Regierung nämlich den Auftrag vergeben, 15 Jahre lang das künftige Hochgeschwindigkeitsnetz der Staatsbahn auf 2000 km Schienenlänge zu betreiben. Und der glückliche Gewinner ist – bundesrepublikanische Zugreisende werden sich ungläubig an die Stirn fassen – die Deutsche Bahn AG (DB).


Die Siemens-Regimespezis sind schon da


Die DB muss sich nicht allein fühlen in der nordafrikanischen Wüste. Siemens, ein Konzern, der in der Vergangenheit beste Erfahrungen mit lateinamerikanischen Diktatoren und Putschisten gemacht hat, ist schon vor Ort. Für das deutsche Aushängeschild in Sachen Anlagenbau traf es sich ausgezeichnet, dass nach der 2011 durch den Arabischen Frühling inspirierten Revolution vorwiegend junger Menschen und einem kurzen, aber durch Urnengang legitimierten Intermezzo der Moslembrüder der General as-Sisi sich gewaltsam die Macht aneignete, die Medien gleichschaltete, Hunderte von Oppositionellen hinrichten und Abertausende in Gefängnissen verschwinden ließ. In solcher Grabesstille lässt es sich trefflich bauen und Geld verdienen.


Und Siemens nahm die Vorlage dankend an, zumal am Nil die jeweiligen Bundesregierungen den potenten Wirtschaftspartnern in Uniform ihre obligatorische (und folgenlose) Menschenrechtslitanei weitgehend ersparten – auch im Interesse der Rüstungsindustrie, die schließlich Waffen an das Regime in Kairo verkauft, das seit geraumer Zeit einen Vernichtungskrieg im Jemen führt. Die Siemensianer (wie sich die Identitären des Unternehmens stolz nennen), hatten bereits 2015 mit der Errichtung von Gas- und Dampfturbinenkraftwerke sowie von Windkraftanlagen einen Umsatz von acht Milliarden Euro erzielt, diesmal geht es beim Bau von Gleiskörpern und acht Bahnhöfen, der Lieferung von 135 Zügen und zusätzlich 41 Speziallokomotiven noch um ein paar Millionen mehr, schlicht: um den größten Auftrag der Firmengeschichte.


Der Münchner Konzern funktioniert in der Regel und liefert – falls die DB nicht in die Planung eingreifen darf – womöglich auch diesmal nach Begehr. Doch nach Fertigstellung übernimmt die Bundesbahn, und ganz Deutschland fragt sich, was die Ägypter bei deren Beauftragung wohl geritten haben mag.


Kairo 2050 oder erst 2100?


Wir können nur vermuten, dass bislang sehr wenige Menschen aus der drittgrößten Volkswirtschaft Afrikas (und schon gar keine Entscheidungsträger) in den Genuss einer längeren Bahnreise mit der DB gekommen sind. So haben sie nicht miterlebt, dass die Züge unpünktlich sind, weil es im Winter zu kalt ist, im Herbst hingegen das glitschige Laub auf den Schienen für Verzögerungen sorgt (soweit noch kein Problem für das subtropische Ägypten), dass im Sommer sich die Stränge oder Weichen in der Hitze verbiegen, dass ganzjährig Verbindungen wegen Stellwerkschadens völlig ausfallen, weil die Gleiskörper, oft auch die Waggons, manchmal auch beide nicht gewartet wurden, weil es an Personal fehlt, weil entscheidende Reparaturen kostengünstig an Dilettanten outgesourct wurden und weil ungezählte andere Gründe mehr existieren.



Was internationale Strecken angeht, lässt die DB im Osten der Bundesrepublik noch immer Diesel-Dreckschleudern über die Bahndämme keuchen, weil sie die Elektrifizierung verschlafen hat, die erst ab der tschechischen oder polnischen Grenze beginnt. Und das derzeit größte Baudesaster in der BRD, Stuttgart 21, macht Angst für den Fall, dass der Bahnkonzern plant, im Niltal einen unterirdischen Knotenpunkt zu errichten, durch den sich die Fahrtdauer von Kairo über Paris nach Ulm um 20 Minuten verkürzt. Zeitpunkt der Fertigstellung? Unabsehbar. Endkosten? Die Summen des Voranschlags quadriert. Dieses Pannenunternehmen mit abgehalfterten, aber hochdotierten Politikern im Vorstand kann wohl kaum als Exportschlager für aufstrebende Schwellenländer gelten, die deutsche Pünktlichkeit und Qualitätsarbeit einkaufen wollen. Sollte man meinen.


Was aber sind dann die Gründe, ein selbst in seinem Herkunftsland übel beleumundetes Unternehmen mit der Durchführung eines zukunftsweisenden Vorhabens von enormer Tragweite zu betrauen? Möglicherweise setzen Kunden wie Ägypten, Indien oder Kanada auf die DB-Tochter Schenker, die das internationale Geschäft betreibt und Gewinne erzielt, während zu Hause die Steuerzahler die einheimischen Flops finanzieren. Die Infrastruktur der Bahn in Deutschland verrottet, Know-how und Expertise steckt der klamme und gleichzeitig geldgierige halbstaatliche Konzern offenbar lieber in ferne Quellen, die reich sprudeln sollen. Der Bundesrechnungshof formulierte diese Erkenntnis im März 2022 so: „Die Deutsche Bahn hat ihr Kerngeschäft der Eisenbahn in Deutschland zunehmend aus den Augen verloren.“


Oder hat bei der Vergabe des Auftrags die an einen gemächlicheren Orient erinnernde Bakschisch-Mentalität der ägyptischen Armee gespielt, die an allen Großprojekten als stille Teilhaberin mitwirkt? Da wäre dann Partner Siemens ein routinierter Ratgeber der DB gewesen, hat sich dieser Konzern doch schon häufig die Gewogenheit von Militärregimes durch opulente Gefälligkeiten gesichert.


Dennoch würde das lukrative Fremdgehen der DB in Ägypten und anderswo wohl kaum so reibungslos vonstattengehen, hätte nicht ein begabter Klinkenputzer in höchster Funktion allerorten bereits die Türen geöffnet…


Handlungsreisender der Nation


Olaf Scholz hatte früh das ärmliche, vage nach Sozialismus muffelnde  Mäntelchen aus Juso-Tagen abgelegt und das repräsentative Gewand eines Botschafters des hanseatischen Handels- und Geldadels angelegt. Als Bundesfinanzminister wollte er dann die gesamtdeutsche Wirtschaft beglücken, auch die im Schatten. So legte er gemeinsam mit Kanzlerin Merkel bei einem Besuch in Peking der chinesischen Staatsführung den aufstrebenden Wirecard-Konzern dringlich ans Herz, noch ganz kurz vor dessen Implosion. Zudem war er erklärter Fan der Erdgas-Sackgasse Nord Stream 2. Auch als Bundeskanzler mischte er sich als entschlossene Krämerseele in strittige Geschäfte um den Hamburger Hafen ein und sah sich zuallererst als Haustürvertreter der Nation.


Ob China, Indonesien oder Vietnam – stets umgibt sich der Kanzler auf seinen Verkaufstourneen durch die Welt mit den Granden der BRD-Wirtschaft, während allenfalls ein paar Menschenrechtler oder Umweltschützer auf den billigen Plätzen mitfliegen dürfen. Es geht schließlich um Aufträge für deutsche Konzerne, nicht um den Hunger oder die Ungerechtigkeit auf Erden, wie einige skrupulöse Einfaltspinsel immer noch glauben. Als Scholz den Delegierten auf der Weltklimakonferenz in Scharm El-Scheich haarsträubenden Blödsinn über Deutschlands angebliche Erfolge beim Abschied von den fossilen Energieträgern erzählte, weilten seine Gedanken vermutlich ganz woanders: Bereits im Juli hatte er in Berlin den befreundeten Militärdiktator as-Sisi empfangen. Dort wurde wohl der Milliardendeal der DB mit dem ägyptischen Staat festgeklopft, am Rande der Umweltkonferenz verkündeten die Partner ihn jetzt.


Wollen wir nicht hoffen, dass des Bundeskanzlers strahlendes Opportunisten-Image Eintrübungen abbekommt, weil die tumbe DB-Führungsriege stümpert wie daheim, das Mammutprojekt in den ägyptischen Wüstensand setzt und so den stets vollmundig verkündeten deutschen Qualitätsanspruch dem globalen Spott aussetzt.
11/2022
Dazu auch:
Railway to Hell (2022), Stuttgart 25 plus (2021) und Honorige Komplizen (2020) in der Rubrik Politik und Abgrund







Artenschutz à la FDP


In den 1960er und 1970er galt es hierzulande als heilige Pflicht, vor dem Fernseher den Ausführungen und Bildsequenzen eines älteren Herrn mit schütterem Haar und monotoner Stimme zu folgen. Dr. Bernhard Grzimek, oberster Tierschützer der Nation und langjähriger Zoo-Direktor in Frankfurt, referierte über die Not der Fauna in Afrikas Savannen, gewann mit dem Doku-Film „Serengeti darf nicht sterben“ sogar einen Oscar und machte nie ein Hehl daraus, dass ihm der Schutz vor allem der großen Tiere mehr am Herzen lag als das Wohl der indigenen Bevölkerung. In seine Fußstapfen tritt nun Verkehrsminister Volker Wissing, nur sorgt der sich um den Bestand einer ganz anderen Spezies.


Die Liebe der Liberalen zu Porsche


Seit geraumer Zeit ist die innige Zuneigung von FDP-Größen zum Nobelkarossen-Bauer Porsche bekannt. So erfuhr man, dass Finanzminister Christian Lindner nicht nur gern selbst in den windschnittigen Protzmobilen herumkutschiert, sondern auch mal Gefälligkeiten erweist, wenn der

Konzern die Politik ein wenig zu seinen Gunsten ändern will. So prahlte Porsche-Chef Oliver Blume halböffentlich damit, „einen sehr großen Anteil“ an der Aufweichung des Verbots von Verbrenner-Autos ab 2035 gehabt zu haben. Für die höchst umstrittenen E-Fuel-Vehikel, in die das

Unternehmen bereits investiert hat, wurde nämlich eine Ausnahme erwirkt. Blume: „Da sind wir Haupttreiber gewesen, mit ganz engem Kontakt an die Koalitionsparteien. Der Christian Lindner hat mich in den letzten Tagen fast stündlich auf dem Laufenden gehalten.“


Abgesehen davon, dass es sich bei der FDP eher um einen Dienstleistungsbetrieb für Großkonzerne als um eine gesellschaftspolitisch wirkende Organisation handelt, ist eine derart unverblümte Absprache zwischen den Spitzen eines Unternehmens und einer Partei ziemlich selten. Meist schaltet man hartnäckige Interessenvertreter ein, die in den Ministerien durch die Vorzimmer der Spitzenbeamten huschen, selten mit leeren Händen, stets mit der Überzeugungskraft des versierten Klinkenputzers: die Lobbyisten.


Da aber mit der Zeit immer häufiger unterstellt wurde, dass gewichtige  Entscheidungen nicht nach Abwägung des Nutzens für das Gemeinwohl oder fachlicher Expertise, sondern nach Einflüsterungen der Firmenentsandten getroffen werden, sah sich die Bundesregierung genötigt, das „Informationsfreiheitsgesetz“ (IFG) zu verabschieden, das Journalisten und NGOs gnädig Nachfragen gestattet. Das Bundesverkehrsministerium (BMDV), das wohl mehrmals von Porsche-Vertretern heimgesucht wurde, befürchtet nun, dass durch die Information der Öffentlichkeit über Willensbildungen, an deren Ende Steuergeld verprasst und die Umwelt geschädigt werden könnte, die sensible Gattung der Lobbyisten bedroht wird.


Ein Ministerium mauert


Obwohl das IFG etliche Lücken aufweist, vor allem, wenn es um die Regierung und ihre direkten Lobby-Kontakte geht, ermöglichte es der Recherche-Plattform abgeordnetenwatch die Aufdeckung anrüchiger Kontakte. So wurde etwa publik, dass Sigmar Gabriel für Anliegen der Deutschen Bank bei Angela Merkel antichambriert hatte, das Kanzleramt seinerzeit ein Treffen des Wirecard-Drückers Karl-Theodor zu Guttenberg mit der Regierungschefin geheim hielt oder wie der CDU-Parvenü Philipp Amthor einen Parteifreund, den damaligen Wirtschaftsminister Altmaier, für die Zwecke seiner Auftraggeber einspannte.


Nachdem der Deal zwischen Lindner und Porsche ruchbar geworden war, wollte abgeordnetenwatch in Erfahrung bringen, ob der Autokonzern nicht vielleicht auch im von FDP-Mann Volker Wissing geführten Verkehrsministerium antichambriert hatte. Man muss kein fanatischer Naturschützer sein, um zu argwöhnen, dass es bei diesen Begegnungen oft um Vorteilsgewährung für den Petenten aus der Industrie oder Lockerung von Umweltauflagen geht. Somit handelt es sich bei solchen Kontakten um Vorgänge von hohem öffentlichem Interesse – ein Paradebeispiel für die Anwendung des IFG also.


Das Verkehrsministerium sah das anders. Als die NGO im Juli mit Verweis auf das Gesetz sämtliche Unterlagen zu Kontakten des Ressorts mit Porsche anforderte, lehnte das BMDV dies mit einer kuriosen Begründung ab: Diese Dokumente unterlägen dem "Schutzbereich des Kernbereichs der exekutiven Eigenverantwortung" und seien deswegen nicht herausgabepflichtig. Unfreiwillig räumt das Ministerium anschließend den immensen Stellenwert der Lobby-Arbeit für Kabinettsbeschlüsse ein: "Zu diesem Bereich gehört die Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen." Wo wir windige Haustürgeschäfte gemutmaßt hatten, ging es also um inhaltliche Konsultationen zum künftigen Kurs der Koalition!


Lobbyisten brauchen Reservate


In der Begründung des IFG hieß es 2004 allerdings: „Der Zugang zur Information und die Transparenz behördlicher Entscheidungen ist eine wichtige Voraussetzung für die effektive Wahrnehmung von Bürgerrechten.” Doch wo kämen wir hin, wenn Krethi und Plethi alle Entscheidungsprozesse der von ihnen Gewählten nachvollziehen könnten? Ein gewisser Freiraum, in dem die Regierenden und die Unterhändler der Konzerne die Maßnahmen zum Wohle des Volkes ungestört auswürfeln können, sollte schon sein. Und der Mann auf der Straße will ja auch nicht wissen, wie und womit der Metzger die ihm vorgesetzte Wurst hergestellt hat…


Zumindest argumentiert das BMDV so. Die Lobbyakteure würden seiner Ansicht nach von einer Kontaktaufnahme zur Regierung abgeschreckt, wenn ihre Kontakte zum Ministerium bekannt würden. Bei dem Lobbyisten handelt es sich halt um ein (licht)scheues Wesen, das durch Reservate vor dem Aussterben bewahrt werden sollte. Solche Schutzzonen müssen gegen Übergriffe durch neugierige Bürger oder aufdringliche NGOs hermetisch abgeriegelt werden.


In Grzimeks Serengeti-Reservat durften die wilden Tiere unbedrängt von der Außenwelt leben, in den Lobbyisten-Reservaten, wie sie offenbar Minister Wissing vorschweben, können die Insassen hingegen ungestört Pläne, Tricks und Beutezüge aushecken, mit denen das ganze Land außerhalb der Einfriedung zukunftsweisend beackert wird.


Aber vielleicht sehen wir nur zu schwarz. Auf eine schriftliche Anfrage des Linken-Abgeordneten Victor Perli bezüglich der Porsche-Kontakte zum BMDV, antwortete das Ressort mit schonungsloser Offenheit: "Am 2. Mai 2022, 17.15 - 18 Uhr, traf sich der Leiter der Abteilung L mit Daniela Rathe, Leiterin Politik und Gesellschaft der Porsche AG. Gegenstand des Gespräches war ein allgemeiner Austausch."


Ach so, man/frau hat sich nur über Gott und die Welt unterhalten. Als Abteilungsleiter eines Ministeriums, das für die Umweltverschmutzung durch ungezügelten Individualverkehr, das Desaster der Bundesbahn, den maroden Zustand von Straßenbrücken und manches mehr verantwortlich zeichnet, scheint man viel Zeit für gepflegte Plauderstunden zu haben.
10/2022
Dazu auch:
Saubere Regierung im Archiv der Rubrik Medien (2022)







Bräunliches Europa


Heulen und Zähneklappern in der EU – oder zumindest in den Mitgliedsländern, die sich für vorbildliche bürgerliche Demokratien halten: Ein karnevaleskes Parteientrio aus Neofaschisten, Ultranationalisten und korrupten Rechtskonservativen wird demnächst die Regierungsmacht in Italien übernehmen. Warum aber so überrascht? Ein Siegeszug von Gruppierungen mit rechtsradikalem Hintergrund lässt sich in der Union schon seit geraumer Zeit beobachten.

Gefährlich und absurd


Dass Giorgia Meloni, die ihre politische Sozialisation bei den Neofaschisten durchlief und auch heute noch nett vom verblichenen Duce Mussolini denkt, die italienischen Parlamentswahlen haushoch gewinnen würde, hatte sich schon seit Monaten herauskristallisiert. Die Oberschwester der Brüder Italiens (Fratelli d’Italia) wird nun wohl eine Koalition mit zwei kongenialen Polit-Kumpanen eingehen, deren fragwürdiges Auftreten einigen Spott provoziert, die aber gleichzeitig aufgrund ihrer materiellen Ressourcen bzw. ihres menschenverachtenden Eifers als gefährlich für eine bürgerliche Demokratie einzustufen sind.


Matteo Salvini, Führer der Lega, einer Partei, die bei ihrer Gründung noch Norditalien vom Süden abspalten wollte und die sizilianischen oder kalabrischen Landsleute als faule Untermenschen diffamierte, ging als Innenminister in seinem Fremdenhass so weit, dass er überfüllten Rettungsbooten mit schwerkranken und hungernden Flüchtlingen an Bord das Anlegen in den Häfen des Stiefels verweigerte. Deshalb muss er sich bis heute wegen Verstoßes gegen das Seerecht und unterlassener Hilfeleistung vor Gericht verantworten.


Silvio Berlusconi, Il Cavaliere (Der Ritter), wie er sich selbst gern titulieren lässt, und Chef der notorisch korrupten Partei Forza Italia, könnte wegen seiner sagenhaften Eitelkeit, seiner Bunga-Bunga-Partys mit verfügbaren Minderjährigen und der Winkelzüge, durch die er stets der Justiz entkam, vielleicht als illustrer Schelm durchgehen, würde er nicht ein immenses Manipulationspotenzial sein Eigen nennen: Der siebenfache Milliardär orchestriert über ein Imperium von Print- und Funkmedien, das einem Monopol nahekommt, die öffentliche Meinung nach Belieben. Wir sollten uns allerdings davor hüten, Politiker mit Mut zur Lächerlichkeit als Witzfiguren abzutun. Regiert nicht in einem uns sehr gut bekannten Land  ein Bundeskanzler, der zukunftsweisende  Kabinettsentscheidungen im Jargon von Comic- und Landserheftchen kommuniziert („Wumms“, „Bums“, „Bazooka“) und der sich immer dann temporäre Anfälle von Demenz erlaubt, wenn er danach gefragt wird, was er bei Kaffeekränzchen mit des Steuerbetrugs verdächtigen Bankiers zu besprechen hatte.


„Na ja, es ist halt Italien!“ wird mancher überhebliche Resteuropäer den Rückfall der mediterranen Republik in chauvinistische Restauration relativieren wollen. Doch ein Blick in die Mitte, den Osten, den Westen und den Norden der EU wird ihn eines Besseren belehren: Der oberflächliche Liberalismus der Wohlstandsbürger (der sich und seine Schicht als Wahrer der Toleranz deklariert) befindet sich auf dem Rückzug, die nationalistischen Hardliner, gerade noch als exotische Ausnahmen wahrgenommen, könnten demnächst für die Regel stehen.


Rechte Internationale auf Kurs


Nur ein paar Tage vor dem italienischen Sündenfall wählten die Schweden eine Partei zur zweitstärksten Kraft, die einst von Neonazis und Skinheads gegründet wurde. Da zugleich die bislang regierende Koalition aus Sozialdemokraten, Linken und Grünen abgestraft wurde, können nun die Schwedendemokraten die Bedingungen für das nächste Kabinett diktieren, das die konservativen Parteien ohne eigene Mehrheit im Parlament sind. Ob die Rechtsradikalen sich die Duldung einer Minderheitsregierung teuer bezahlen lassen oder auf eigene Ministerämter pochen, ist noch nicht ausgemacht. Undenkbar ist letzteres nicht, hatten doch auch schon im benachbarten Suomi ihre Brüder im Geiste, die Wahren Finnen, in Helsinki bis zur Spaltung 2017 einige Ressorts inne.


Natürlich lässt sich aus Sicht des bürgerlichen Lagers den Radikalnationalisten der Wind aus den Segeln nehmen – indem man sie rhetorisch imitiert und möglicherweise sogar überbietet. Die sozialdemokratische dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen hat das im letzten Wahlkampf erfolgreich demonstriert, als sie dermaßen überzeugend gegen Flüchtlinge hetzte, dass ihre Gegner auf der äußersten Rechten ihre Themen davon schwimmen sahen. So übernehmen peu à peu die arrivierten Parteien die Inhalte der Nationalisten, aus taktischen Gründen, vielleicht aber auch ein bisschen aus klammheimlicher Überzeugung und womöglich dauerhaft.


In Österreich brachte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der den extrem populistischen Pep in die Koalition mit der ÖVP eingebracht hatte, durch sein Faible für Korruption und Mediengleichschaltung, seine selten vulgäre Machtgier und die Tölpelhaftigkeit, mit der in jede von Investigativ-Journalisten gestellte Falle tappte, seine Partei um ihre Regierungsbeteiligung. In Polen ist der Unterschied zwischen der am rechten Rand angesiedelten autoritären PiS-Regierung und einer handfesten nationalistischen Autokratie haarfein. Ministerpräsident Viktor Orban hat in Ungarn diese Demarkationslinie bereits überschritten.


Zieht man noch in Betracht, dass in Frankreich die Chauvinistin Marine Le Pen bei der Präsidentenstichwahl nur wenige Prozentpunkte hinter Emanuel Macron lag, in den Niederlanden der Rechtspopulist Geert Wilders den konservativen Ministerpräsidenten Mark Rutte zu einer immer flüchtlingsfeindlicheren Politik treibt und in Kroatien die nationalkonservative Regierungspartei HDZ im Parlament die stärkste Fraktion stellt und sich zur Mehrheitsbeschaffung auf die an dritter Stelle liegende faschistoide Heimatlandbewegung stützen kann, wird man kaum zu einer positiven Beurteilung der politischen Situation in der EU gelangen können.


Nationalismus von Staats wegen

Überhaupt geht es gerade auf dem Balkan höchst unübersichtlich zu: In Bulgarien und Rumänien kämpfen alte Seilschaften, neue Gangster und Ultra-Nationalisten um ökonomische Macht und politischen Einfluss. Wie auch im Rest der Union fällt auf, dass sich viele der besonders exponierten Rechtsradikalen zum „lupenreinen Demokraten“ (G. Schröder) und Warlord Putin in Moskau hingezogen fühlen. Eine seltsame Erfahrung musste indes EU-Beitrittskandidat Nordmazedonien machen: In manchen Ländern nistet der Nationalismus nicht nur in den Köpfen von Fanatikern, sondern anscheinend auch in Hirnen der obersten Staatsdiener.



Zunächst musste sich der Bittsteller Mazedonien die Vorsilbe „Nord“ selbst verpassen, weil Griechenland damit gedroht hatte, andernfalls den EU-Beitritt per Veto zu blockieren. Die Regierung in Athen wollte sozusagen den Weltenherrscher Alexander, genannt der Große, für sich vereinnahmen, und der war bekanntlich Mazedonier. Beim Versuch, den Weltenherrscher dem griechischen Kulturerbe zuzuschlagen, vergaßen die Helenen allerdings, dass laut gängiger Geschichtsschreibung dessen Vater, König Philipp von Makedonien, der ihre Vorväter unterwarf, von diesen als Barbar angesehen wurde. Kaum war das Problem mittels Nachgiebigkeit der Regierung in Skopje gelöst, musste das frischgebackene Nordmazedonien den östlichen Nachbarn in Sofia besänftigen, der plötzlich die Anerkennung einer bulgarischen Minderheit als eigenständiges Volk forderte, die mazedonische Sprache zum bulgarischen Dialekt herabwürdigte und sich wie eine Zentralmacht, die eine aufmüpfige Provinz schurigelt, aufführte. Immerhin hatten die Bulgaren das mazedonische Gebiet ja schon einmal besetzt – mit Hitlers Hilfe.


Die Marschroute innerhalb der EU tendiert nach rechts, es geht klar in Richtung Nationalismus und Intoleranz. Dass sich die (plötzlich wieder zukunftsfähigen) Ewiggestrigen in der Offensive befinden, ist auch ein „Verdienst“ von konservativen und rechtsliberalen Parteien, die sich selbst durch windige Bündnisse an der Macht halten wollen und damit die Chauvinisten salonfähig machen. Zudem bedienen sich „staatstragende“ Politiker, von Söder bis Macron, gern des nationalistischen Vokabulars. Übrigens gehört die Forza Italia der EVP an, der länderübergreifenden Fraktion der Christdemokraten im EU-Parlament. Ihr Chef, Il Cavaliere Silvio Berlusconi, wird demnächst zusammen mit Rassisten und Neofaschisten Italien regieren.


Und hierzulande darf die AfD angesichts des hilf- und prinzipienlosen Gewurstels der Ampelkoalition und einer latenten Annäherung der Christen-Union (vor allem im Osten) an nationalistische Inhalte auch wieder auf bessere Zeiten hoffen.

10/2022
Dazu auch:

Europa wird braun in der Rubrik Politik und Abgrund (2016)



Hochsaison für Heuchler


Nirgends wird so beredt geschwindelt, Gefühl vorgetäuscht und Anteilnahme geheuchelt wie auf Beerdigungen. Schon im Vorfeld heben alle möglichen Bekannten und Gesprächspartner die Verdienste von verstorbenen Prominenten in den Himmel, auch wenn sie diesen das kühle Grab gönnen und sie in die Hölle wünschen. Vor wenigen Tagen ließen sich solche Stereotypien wieder einmal trefflich beobachten, als kurz hintereinander Hans-Christian Ströbele und Michail Gorbatschow das Zeitliche segneten.


Der letzte Grüne mit Gedächtnis


Es mag an der grünen Basis noch alte Kämpen geben, die den Tod Ströbeles ehrlich bedauern, nicht nur menschlich, sondern auch aus politischen Gründen, war der Berliner Rechtsanwalt doch der Letzte in seiner Partei, der ihre ursprünglichen Inhalte und Anliegen noch bis zum Ende hochhielt. Den Alphatieren seiner Öko-Fraktion im Bundestag war er stets lästig gewesen, löckte er doch hartnäckig gegen den sich immer mehr neoliberal zuspitzenden Stachel der Kollegen.


Der unkonventionelle Linke hatte einst die „Übernahme“ der DDR-Wirtschaft durch die BRD als „größte Landnahme der deutschen Industrie seit den Kolonialkriegen, sieht man mal von der Nazi-Zeit ab“ bezeichnet. Nachdem Ströbele 1998 in den Bundestag eingezogen war, kritisierte er die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens durch die Bundeswehr, die sein Parteifreund Joschka Fischer mit verantwortet hatte, und distanzierte sich von der unsozialen Hartz-IV-Einführung. Das Grünen-Imperium schlug zurück, und Ströbele verlor seinen sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl 2002. Daraufhin trat der renitente Sponti als scheinbar aussichtsloser Direktkandidat für den Wahlkreis Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg an, errang das Mandat und verteidigte es noch dreimal, ehe er 2017 seine Parlamentskarriere beendete.


Während sich andere, vermeintlich linke, Prominente der Öko-Partei, etwa Jürgen Trittin, von machtaffinen internationalen Think Tanks wie der Atlantik-Brücke oder der Bilderberg-Konferenz vereinnahmen ließen, blieb Ströbele ein standhafter Kritiker der deutschen Sozial- und Militärpolitik und ein unerbittlicher Aufklärer in zahllosen Untersuchungsausschüssen. Er besuchte den Whistleblower Edward Snowden in Moskau und unterstützte Julian Assange, dessen inhumane Behandlung für die zur Ministerin gereifte Frau Baerbock plötzlich kein Thema mehr war. Zuletzt wandte sich der streitbare Jurist gegen das Bekenntnis der Grünenspitze zu uneingeschränkten Waffenlieferungen in die Ukraine.


Nun mussten also die führenden Öko-Profis ein paar Krokodilstränen verdrücken und salbungsvolle Worte über den Mann absondern, den sie doch im Bundestag gar nicht haben wollten, obwohl er ihnen als Mitgründer der taz ein publizistisches Forum geschaffen hatte. Ein Freud’scher Versprecher unterlief dabei dem Bundesvorsitzenden der Grünen, Omis Nouripour, der Ströbele als „Ikone des Kampfes für Demokratie und Frieden“ bezeichnete. Was macht man mit einem verstaubten Götzenbild der Orthodoxie, wenn man selbst längst nicht mehr für eine soziale Umgestaltung oder pazifistische Ziele kämpfen will? Man stellt es in die Rumpelkammer (was in diesem Fall ebenso wie die Metapher misslang). Vizekanzler Robert Habeck, der gerade „versehentlich“ Krisengewinnlern in der Energiebranche Extraprofite bescheren wollte, nannte den „Parteifreund“ einen Politiker, „der vielen Menschen imponiert hat - mir auch - wegen seiner Geradlinigkeit, seinem unverrücklichen Einsatz für Bürgerrechte, für soziale Politik". Da sich aber die maßgeblichen Kräfte der Grünen eben nicht „unverrücklich“ für sozialen Wandel und Bürgerrechte einsetzen, kann man die Partei nach dem Tod des letzten Aufrechten, der sich noch an den Aufbruch vor über vierzig  Jahren erinnern konnte, getrost vergessen.


Die Trauer der Lügner


Die historische Bedeutung des Michail Gorbatschow ist sicherlich immens, dennoch fällt die Beurteilung zwiespältig aus: Als er ein verknöchertes bürokratisches, teilweise inhumanes System, das eher staatsdirigistisch als sozialistisch zu nennen war, reformieren wollte, beseitigte er es stattdessen, doch schaffte er es nicht, eine gerechtere gesellschaftliche Utopie zu entwickeln und wenigstens ansatzweise durchzusetzen. Er brachte der Welt einen Augenblick des Aufatmens, der militärischen Deeskalation, doch ließ er sich sowohl von den chauvinistischen Kräften im eigenen Land als auch von den Versprechungen der NATO, die Selbstbescheidung vorgab, aber Expansion plante, täuschen.


Was als Perestroika begann, ist mittlerweile zur auf Oligarchie, Religion und Nationalismus setzenden Autokratie Putins verkommen. Doch auch der jetzige Herr im Kreml, der noch unlängst Gorbatschow als Totengräber Großrusslands diffamierte, hat in einem seltenen Anfall von Pietät angesichts des Ablebens seines Vorgängers offenbar Kreide eingenommen. Der habe ein tiefes Verständnis für die Notwendigkeit von Reformen gezeigt und versucht, eigene Lösungen für drängende Probleme der Zeit zu finden. Klingt wie die Floskel „Hat sich stets nach Kräften bemüht, den Anforderungen gerecht zu werden“ (war aber heillos überfordert) in einem miserablen Arbeitszeugnis. Immerhin trieb Putin, der seine Form des rigiden Staatskapitalismus als „Lösung“ gefunden hat, die Hypokrisie nicht so weit, am offenen Grab zu erscheinen und hemmungslos zu schluchzen.


Kaum an Scheinheiligkeit zu übertreffen ist wieder einmal der deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, der über Gorbatschow psalmodierte: „Deutschland bleibt ihm verbunden, in Dankbarkeit für seinen entscheidenden Beitrag zur deutschen Einheit, in Respekt für seinen Mut zur demokratischen Öffnung und zum Brückenschlag zwischen Ost und West, und in Erinnerung an seine große Vision von einem gemeinsamen und friedlichen Haus Europa." Nachdem die BRD-Regierungen ihre Dankbarkeit sattsam durch aktive Teilnahme an der militärischen Umzinglung der Russischen Föderation bewiesen und damit Putins Chauvinismus Vorschub geleistet haben, säuselt nun der deutsche Häuptling dem betrogenen Verstorbenen hinterher. Der verbitterte Gorbatschow hatte für die Brückenzerstörer im Westen zuletzt nur noch eine Bezeichnung übrig: „Lügner!“


Gäbe es ein  kurzes Leben nach dem Tod - Michail Gorbatschow würde  den  Lobrednern seine Dankbarkeit erweisen.


Rotation in Gräbern


Die Verbreitung von Unwahrheiten, Euphemismen und Geschichtsklitterungen gehört zum politischen Handwerk, so wie Beschönigung, Bigotterie und – heimlich – üble Nachrede zu den Gepflogenheiten bei der Beisetzung auf dem Dorffriedhof zählen. Was aber die Verklärung ihres ungeliebten Parteifreundes durch die grünen Granden, die Steinmeier’schen Halbwahrheiten und Putins vergiftetes Lob für Gorbatschow so penetrant und unerträglich macht, ist die mediale Verbreitung, der man nicht entkommen kann.


Die verstorbenen Opfer können sich ohnehin nicht gegen verlogene Darstellungen ihres Wirkens und ihrer Person wehren. Sie würden sich allenfalls im Grab umdrehen, gäbe es so etwas wie ein Leben nach dem Tod. Ohne Widerspruch und bei entsprechender Präsenz in Presse und Internet verwandelt sich aber der Nachruf-Schwulst in „gefühlte“ Realität.
Man denkt unwillkürlich an den impressionistischen Maler Max Liebermann (dessen Ausspruch zum Fackelzug der Nazis 1933 oft fälschlicherweise Kurt Tucholsky zugeschrieben wird), auch wenn die rhetorische Störung der Totenruhe ein vergleichsweise belangloser Anlass ist: "Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte."

09/2022
Dazu auch:
Grünes Atomfaible im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)






Das ewige Übel
Cartoon: Rainer Hachfeld


Noch wissen wir wenig über den Mordanschlag auf den Schriftsteller Salman Rushdie, doch es dürfte nicht voreilig sein anzunehmen, dass er aus religiösen Motiven begangen wurde. In einer von materieller Gier und imperialem Machtanspruch, also von primitivster Sachlichkeit, geprägten modernen Welt erleben wir wieder einmal, dass die alten, überkommenen Kulte immer noch als Brandbeschleuniger funktionieren. Man könnte fast vermuten, sie seien auf dem Vormarsch: in Amerika, Asien und Afrika vor allem.


Erste Sinnstiftung, letzter Aberglaube


Mag sein, dass der Steinzeitmensch, der sich Naturphänomene sowie Umweltkatastrophen nicht erklären und in seinem ständigen Existenzkampf keinen höheren Lebenssinn erkennen konnte, den Glauben an unsichtbare Mächte benötigte, um nicht zu verzweifeln, aber um abstrakt kreativ zu werden. Vielleicht erschuf er deshalb einen Parallel-Kosmos, der von Dämonen und Göttern bevölkert war, denen er menschliche Züge, Gefühle und Eigenschaften zusprach, wie es einst der Philosoph Ludwig Feuerbach beschrieben hatte.
Spätestens seit der Aufklärung und dem Beginn des technischen Fortschritts hätte man die maßgebliche Verantwortung für das weltweite Geschehen und die geschichtlichen Entwicklungen aber als genuin menschliche erkennen müssen. Dennoch halten sich die Religionen, die Sekten und Propheten, die einen mit geringer werdendem Erfolg, die anderen sogar auf originär säkularen Gebieten wie Politik und Staat expandierend.


Ein Opfer der mit immer größerer Brutalität und mit kriminellen Methoden operierenden Zeloten wurde nun Salman Rushdie, der während einer Lesung in den USA von einem offenbar durch geistliche Propaganda angestifteten Täter niedergestochen und lebensgefährlich verletzt wurde. Der in Bombay (heute Mumbai) geborene Schriftsteller hatte 1988 in seinem Roman „Die satanischen Verse“ die  skrupellosen Rankünen des Religionsstifters Mohammed (Pseudonym: Mahound) beschrieben und zugleich den göttlichen Ursprung des Koran in Frage gestellt. Das Buch reichte in der Qualität bei weitem nicht an die genialen „Mitternachtskinder“ heran, die Rushdie sieben Jahre zuvor verfasst hatte. Für Ajatollah Chomeini, Staatschef in Teheran, war jedoch die Blasphemie Anlass genug, die Fatwa zu verkünden, also zur Tötung des Autors aufzurufen und ein Kopfgeld von einer Million Dollar aussetzen zu lassen.


Auch wenn der Iran inzwischen jede Verbindung zu dem Messerstecher leugnet, bleibt doch der Fakt, dass die Hetze gegen Rushdie vom Mullah-Regime in Teheran ausging, das die Fatwa übrigens nie zurückgenommen hat. Andernorts wird die militante Intoleranz Atheisten, missliebigen Wissenschaftlern oder Menschen mit „abweichenden“ Vorstellungen von Sexualität gegenüber meist von Fundamentalisten an den Rändern der großen Glaubensgemeinschaften gepflegt. Im Iran indes handelt es sich um einen schiitischen „Gottesstaat“, in Radikalität und tödlicher Konsequenz der sunnitischen Wahhabiten-Diktatur in Saudi-Arabien ähnlich.


Weltreligionen mit Dreck am Stecken


Religiöser Fanatismus, der den Frieden zwischen Völkern und das Zusammenleben in einer Gesellschaft bedroht (oder wie in Afghanistan unmöglich macht) ist beileibe nicht nur im Islam zu finden. Die christlichen Kirchen haben in der Vergangenheit systemisch Andersdenkende verfolgt, grausame Machthaber unterstützt – und sie tun es zum Teil heute noch.
Als im Jahr 1099 das multinationale, von Papst Urban II. zum „Heiligen Krieg“ entsandte Kreuzfahrerheer Jerusalem erobert, lässt es die gesamte Einwohnerschaft – egal, ob Moslems, Juden oder Christen – über die Klinge springen. Zur religiösen Hysterie gesellte sich die Habgier der frommen Ritter. Nach der Reconquista in Spanien errichtete die „Heilige Inquisition“ ein Terror-Regime, das Andersgläubige einkerkerte, folterte, hinrichtete und so die Gräuel der Gestapo vorwegnahm. Noch im vorigen Jahrhundert verbündete sich dort der hohe Klerus mit Francos Faschisten, und über den klandestinen Laienorden Opus Dei half die Römisch-Katholische Kirche bei der blutigen Stabilisierung der Diktatur kräftig mit. Gegenwärtig segnet der Patriarch der russisch-orthodoxen Fraktion die Waffen für Putins Angriffskrieg.


Auf protestantischer Seite sieht es nicht besser aus: Der erklärte Antisemit Martin Luther forderte seine Mitmenschen dazu auf, jeden aufsässigen Bauern zu erwürgen. Die Puritaner in New England wiederum wussten, nachdem sie den Indigenen das Land geraubt hatten, nichts Besseres, als Hexen zu verbrennen und die Angehörigen der friedliebenden Quäker-Sekte zu verfolgen, sodass letztere laut Nathaniel Hawthorne in die Wälder zu den „Wilden“ flohen, weil sie von denen nicht umgebracht wurden. Fast könnte man mutmaßen, dass die Wurzeln der rechtsradikalen Gemeinschaft von US-Evangelikalen, allesamt Trump-Unterstützer und Evolutionsleugner, in dieser fernen Vergangenheit zu orten sind.


Wer in die vermeintlich gewaltlose Mythologie der polytheistischen Religionen Asiens eintauchen möchte, ist ebenfalls schlecht beraten.

Indiens Präsident Modi diskriminiert und schikaniert Moslems und Naturvölker derart konsequent, dass nicht wenige Experten ihm unterstellen, er wolle einen rassistischen Hindu-Faschismus etablieren. Auch der als pazifistisch missverstandene Buddhismus, dessen Mönche in Myanmar zu Massakern an den islamischen Rohingya aufriefen, dessen politische Repräsentanten auf Sri Lanka die Unterdrückung von tamilischen Hindus und Moslems forcierten, bildet leider keine rühmliche Ausnahme.
Die vier apokalyptischen Reiter? Nein, nur ein katholischer Kreuzzügler-Kardinal, Hindu-Präsident Modi, Schiiten-Ajatollah Khamenei und der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill auf der Jagd nach Ungläubigen. Der Bauernwürger Luther trabt hinterher.


Das Comeback der Fundamentalisten


Glaube und Religionszugehörigkeit sollten jedermanns/frau Privatangelegenheit sein, politische Einflussnahme auf Seiten der Macht und staatliche Alimentierung sakraler Institutionen sprengen allerdings den gesellschaftlichen Konsensrahmen. Es sei nicht verschwiegen, dass von den großen Religionen bisweilen positive Initiativen ausgehen, etwa wenn die Jesuiten in Kolumbien Slums sanieren (und dabei selbst ins Fadenkreuz rechter Paramilitärs oder der Kokainkartelle geraten), wenn sich Bischöfe für die Rechte der Indigenen engagieren – oder wenn der Hindu Gandhi sich für die Unabhängigkeit seines Landes und die Aussöhnung seiner Glaubensbrüder mit den Moslems einsetzte (weswegen er prompt von einem Hindu-Nationalisten ermordet wurde).


Doch derzeit mehren sich die Anzeichen, dass die religiösen Fundamentalisten überall an Boden gewinnen: Der Anschlag auf Salman Rushdie ist nur die Spitze eines aus Kälte gegenüber Andersdenkenden und tödlichem Eifer im Dienste irgendwelcher Götzen-Stellvertreter auf Erden geformten Eisbergs. Im Jemen stehen die Verbündeten der iranischen Theokratie den Söldnern des wohl rigidesten und mächtigsten Gottesstaates auf Erden, Saudi-Arabien, gegenüber. In Somalia, Nigeria und der Sahelzone marodieren islamistische Terrormilizen, die in Al Qaida und dem Islamischen Staat ihre Vorbilder sehen.


In den USA werden die Evangelikalen des Bible-Belts, die fest glauben, die Welt sei vor ziemlich genau 6000 Jahren erschaffen worden, mit ziemlicher Sicherheit die Aufstellung des republikanischen Kandidaten für 2024 und dann möglicherweise die Wahl des nächsten Präsidenten entscheidend beeinflussen. Ihre Einpeitscher, die geistig schlicht gestrickt sind, aber allerhand von digitaler Meinungsmanipulation verstehen, haben bereits in Lateinamerika erfolgreich missioniert: in Guatemala zum Beispiel oder in El Salvador, wo sie Abtreibungsverbote selbst bei Lebensgefahr für die Schwangere und nach Vergewaltigungen durchsetzten, vor allem aber in Brasilien, wo ihr Glaubensbruder Bolsonaro derzeit in Amazonien die „Schöpfung“ zum Vorteil befreundeter Konzernchefs abfackeln lässt.
In Europa driftet derweil Polen in einen extremen Klerikal-Rechtskonservatismus, als Pressure-Group dient  hierfür die reaktionäre katholische Geistlichkeit. Voltaire hätte sich vor 250 Jahren wohl ebenso wenig wie Tucholsky vor 100 und Simone de Beauvoir vor 40 Jahren vorstellen können, welche eminente Rolle die religiöse Restauration im 21. Jahrhundert noch spielen könnte.


Angesichts solcher Szenarien ist man versucht, in kindliche Muster zurückzufallen und inniglich zu seufzen: „Himmel, hilf!“
08/2022
Dazu auch:
Die Christuskrieger im Archiv von Politik und Abgrund (2015)








Railway to Hell
Wenn viele Bürger unter exponentiell gestiegenen Lebenshaltungskosten oder Abgaben leiden, neigen Bundesregierungen bisweilen dazu, sie irgendwie zu entlasten: häufig durch ungeeignete Boni, etwa Tankrabatte oder Steuererleichterungen, die vor allem Besserverdienenden nützen. Das 9-Euro-Ticket aber stellt ein per se sinnvolles und sogar zukunftsweisendes Angebot dar, nur offenbaren sich gerade dadurch die Versäumnisse der Vergangenheit und es steht zu befürchten, dass im September wieder alles so mies wird wie vor den drei hoffnungsvollen Monaten Juni, Juli und August.


Huch! Passagiere!


Auf so vieles hatte sich die Deutsche Bahn in den letzten Jahrzehnten einstellen müssen: auf die Stilllegung von Nebenstrecken, das Outsourcen von Reparaturarbeiten, die Verknappung des Personals, die (zögerliche und häufig unterlassene) Ankündigung von Verspätungen sowie Zugausfällen, die Überbelegung von Gleisen – und das alles, weil profitabel (oder weniger defizitär) gewirtschaftet werden, ja – in träumerischen Zeiten – sogar der Gang an die Börse vorbereitet werden sollte. Mit einem aber konnten die Eisenbahn-Dirigenten der Nation nun wirklich nicht rechnen, mit einem drastischen Anstieg der Fahrgastzahlen nämlich.


Die Idee, die durch unkontrollierte Energiekostensteigerungen verursachten Nöte der Bevölkerung mithilfe eines preiswerten ÖPNV-Abos zu mildern und dabei gleichzeitig den umweltfreundlichen Wechsel von der Straße auf die Schiene schmackhaft zu machen, war eigentlich gut, wie rund 30 Millionen Nutzer belegen, die Umsetzung aber legt den maroden Zustand des deutschen Bahnsystems bloß.


„Ticket ins Chaos“ hatte der SPIEGEL bereits Anfang Juni getitelt und damit weitgehend Recht behalten. Überfüllte Züge in Corona-Zeiten, Umwege oder lahmgelegte Verbindungen für Berufspendler und Warnungen vor einer Überlastung der Waggons prägen das Geschehen auf und zwischen den Bahnhöfen. Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft, macht die Politik dafür verantwortlich, die den Schienenverkehr kaputtgespart habe. Und tatsächlich investiert die Bundesrepublik pro Bürger nur 88 Euro im Jahr für die Schieneninfrastruktur, in Österreich sind es fast dreimal so viel, der Schweiz ist das für eine ökologisch gestaltete Zukunft unabdingbare Wegenetz der Bahn genau das Fünffache wert. Dementsprechend verkehren in beiden Ländern die Züge bedeutend pünktlicher und störungsfreier als hierzulande.


Deutschland hat sich selbst zum europäischen Primus bei der Bekämpfung der Erderwärmung gekürt und doch bislang alle Klimaziele krachend verfehlt. Spanien und Portugal sind wesentlich weiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien, etliche Staaten haben ein viel dichteres Netz von Fahrradwegen gesponnen als die BRD, und die direkten Nachbarländer zeigen den (vorsätzlichen?) Schläfern in Berlin, wie attraktiver Bahnverkehr funktioniert. In Polen und Tschechien fahren Elektro-Loks westwärts – bis zur deutschen Grenze, dort übernehmen dann schmutzige Diesel-Triebfahrzeuge. Beim internationalen Großprojekt des Brenner-Basistunnels, durch den weite Regionen in den Alpen vom oberirdischen Güterverkehr entlastet würden, haben Italien und Österreich ihre Hausaufgaben erledigt. Es könnte also losgehen, aber in Bayern streitet man sich immer noch um die Trassenführung. Manchmal beschleicht einen naiven Beobachter der Verdacht, die Verlagerung der Frachtgüter von der Straße auf die Schiene und die Reduzierung der Umweltbelastung durch den motorisierten Individualverkehr seien in unserem Autoland gar nicht gewollt.


Bleibt eine humanere Option?


Jahrzehntelang zahlte die Deutsche Bahn ihre Mitarbeiter schlecht, baute Personal ab, vergab die ursächlichen Arbeiten an Fremdfirmen und machte sich selbst mit den LKWs der eigenen Speditionstochter Schenker im Güterverkehr Konkurrenz. Berüchtigte Gestalten wie Hartmut Mehdorn an der Spitze wollten aus dem halbstaatlichen Unternehmen einen strikt kapitalistischen Konzern, einen Augapfel für Spekulanten und Finanzinvestoren, machen. Die Risiken trug der Steuerzahler, die Bahn verlor ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der ÖPNV zum Hoffnungsträger des Umweltschutzes avancierte, rasant an Vertrauen und Bedeutung.


Besonders katastrophal wirkte sich aus, dass die Netz-Infrastruktur völlig vernachlässigt worden war. Nirgends sonst fahren Intercity-Sprinter, Regionalbahnen und Güterzüge auf ein und derselben Schiene, was ständig zu gegenseitigen Behinderungen und zwangsläufigen Verspätungen führt. Der jetzige DB-Chef Richard Lutz rückte bereits 2017 an die Konzernspitze auf, nutzte seine ersten fünf Jahre, um zu der frappierenden Erkenntnis zu gelangen, dass es eben an der Infrastruktur hapere, und kündigt jetzt für 2024 den Start von Überholung und Ausbau des Schienennetzes an. Was etliche Jahrzehnte versäumt wurde, konnte anscheinend auch noch läppische sieben Jahre länger warten.


Dem neuen FDP-Verkehrsminister Volker Wissing, wie seine drei Vorgänger von der CSU eher der Automobil-Lobby zuneigend, versicherte der Netzvorstand der DB, Ronald Pofalla, einstiger CDU-Generalsekretär und Kanzleramtsminister, der sich durch Skandälchen und Entgleisungen selbst demontiert hatte, dass es bestens um die Infrastruktur der Bahn bestellt sei. Dann trat er im April dieses Jahres zurück.


Wie mies es bei der DB tatsächlich um das Schienennetz, die Ausstattung und die Planung bestellt ist, durften Millionen von Berufspendlern, die den Umstieg von der Straße riskiert hatten, gleich zu Beginn der 9-Euro-Kampagne erfahren. Da sie pünktlich an ihrem Arbeitsplatz erscheinen müssen, sind sie wohl dauerhaft für den klimafreundlichen Wechsel zum ÖPNV verloren. Dass Minister Wissing – nicht ganz zu Unrecht - dennoch von einem „großen Erfolg“ sprechen konnte, verdankt sich jenen Ausflüglern und Städtereisenden, die ihr eigenes Land preisgünstig erkundeten und dabei ihre Autos in der Garage ließen.


Doch nun sind die neuen Bahnkunden auf den Geschmack gekommen und wollen mehr, am liebsten die Verlängerung des Spartickets. Wissing stellte freihändig ein neues Angebot – allerdings erst im nächsten Jahr und mit 69 Euro im Monat deutlich zu teuer – in Aussicht. Andere Politiker schlugen 29 Euro als Preis vor, und der unvermeidliche Markus Söder setzte sich mit einem 365-Euro-Jahresticket verbal an die Spitze der Bewegung. Dem bayerischen Ministerpräsidenten war offenbar entfallen, dass soeben seine eigene Partei in Nürnberg ein von der Linken initiiertes Bürgerbegehren mit genau gleichlautender Abo-Forderung für den nordbayerischen Verkehrsverbund VGN aus vorgeblich rechtlichen Gründen abgeschmettert hatte.


Möglich wäre ein solches preisgünstiges Kommunalticket allemal, andere Städte in anderen Ländern (etwa Wien) haben das vorgemacht. Leider hat aber die Umwelt in der deutschen Verkehrspolitik, deren Dirigat SPD und Grüne grob fahrlässig einem Marktliberalen überlassen haben, keine Lobby.


Geld ist da, der Wille womöglich nicht


Straßenbau und Erweiterung von Autobahnen haben bezüglich des  finanziellen Aufwands noch immer Vorrang vor ausreichender Instandhaltung und einem ökologisch notwendigen Ausbau des ÖPNV – obwohl sich doch mittlerweile herumgesprochen hat, dass die Investitionen für den Individualverkehr die Umwelt schwer schädigen und den Klimawandel beschleunigen, während Maßnahmen zur Optimierung der öffentlich-kommunalen Mobilität die Natur und auch die Schadstoffsituation in den Städten entlasten (würden).


Die deutsche Verkehrspolitik scheint sich aber als verlängerter Arm der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer zu verstehen. Das Faible für SUV und „freie“ Fahrt ist nicht nur eine Marotte der FDP, auch die Union und Teile der SPD machen es sich zu Eigen. Selbst in den Gedanken exponierter Grüner, etwa denen des Südwest-Ministerpräsidenten Kretschmann spielen die Bedürfnisse von Daimler & Co eine prominente Rolle. Wenn Geld für die Bahn in die Handgenommen wird, dann für unsinnige Mammutprojekte wie „Stuttgart 21“, nicht aber für umweltverträgliche Verkehrsangebote, die den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen.


Gesetzt den Fall, mittels Einsatzes eines Sondervermögens (das wesentlich sinnvoller wäre als die hundert Milliarden zur Ertüchtigung der Bundeswehr) würde die Bundesbahn in die Lage versetzt, steigende Passagierzahlen zu bewältigen, spräche nichts gegen eine großzügig subventionierte Personenbeförderung. Zum einen blieben uns Schäden an der Umwelt und der Gesundheit, die den Bund später viel teurer zu stehen kommen, erspart, zum andern sind humane Infrastruktur und Daseinsvorsorge (etwa in den Bereichen Verkehr oder Pflege) Pflichten eines Staates, der dafür Steuern und Abgaben einnimmt.


Dass der Markt dies nicht leisten kann, dass Privatisierungen nur Profitinteressen dienen, nicht aber gesellschaftlichen Bedürfnissen, haben die Engpässe in Kliniken während der Corona-Höhepunkte oder das Versagen der Konzerne beim Bahn-Management in Großbritannien hinlänglich bewiesen. Dort musste nicht nur der Schienenverkehr wieder vom Staat übernommen werden, auch die Londoner Metro wurde re-kommunalisiert. Eigentlich könnte man sich künftig solche kostspieligen Irrwege sparen.


Es ist allerdings zu fürchten, dass in der sozialen Lebensvorsorge und der Gewährleistung kollektiver Mobilität der Holzweg in die Privatisierung und Kommerzialisierung auch weiterhin beschritten wird.

07/2022

Dazu auch:

Stuttgart 25 plus im Archiv von Politik und Abgrund (2021)
Deutsche Autofahrer (2017) und Wie tickt der Andi? (2020) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit









Wer darf, wer nicht?


Den russischen Überfall auf die Ukraine als so brutal wie völkerrechtswidrig zu kritisieren und Putin vorzuwerfen, er bugsiere damit die Welt an den Rand einer atomaren Auseinandersetzung, ist durchaus legitim. Die NATO-Regierungen sollten allerdings bei ihren Anschuldigungen auf den Brustton moralischer Überlegenheit verzichten, schweigen sie sich doch über die eigenen Verstöße gegen internationale Vereinbarungen sowie ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit diskret aus.


Krieg im Schatten


Starke Armeeverbände überschritten die Grenze zum Nachbarland und formierten sich in einem Gebiet, das zuvor schon quasi okkupiert worden war, um weiteres Terrain im Norden unter ihre Kontrolle zu bringen und „Terroristen zu bekämpfen“, wie der Präsident verlautbaren ließ.


Nein, das ist kein Frontbericht vom Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar dieses Jahres; der Anlass dieser Meldung vor drei Wochen ist ein Feldzug der türkischen Streitkräfte in Syrien, mit dem erklärten Ziel, die kurdisch-arabischen Selbstverwaltungsgebiete zu erobern und die Bevölkerung zumindest teilweise zu vertreiben, wie es bei früheren Interventionen schon in den Regionen um Afrin und Serekaniye geschehen ist.


Die westliche Staatengemeinschaft, die bei der Identifizierung von internationalen Übeltätern sehr wählerisch vorgeht, schweigt zu diesem Angriffskrieg, den Recep Erdoğan, der Autokrat in Ankara, nach Belieben intensiviert, mal mit der Entsendung von 10.000 Mann in den Nordirak 2011, dann wieder durch systematische Bombardierungen jenseits der eigenen Grenzen. Man braucht den Mann, er soll weiterhin die EU möglichst flüchtlingsfrei halten – und er darf nicht vollends ins Lager seines Kollegen Putin wechseln. Außerdem ist die Türkei Mitglied der NATO, und dieser edle Club begeht keine Kriegsverbrechen; jedenfalls nennt man sie nicht so.


Dass die kurdischen Verbände der YPG und PKK noch vor Kurzem als Verbündete im Kampf gegen den IS gebraucht wurden, dass man sie sogar weltweit feierte, weil sie die Jesiden vor Versklavung und Massenhinrichtung durch die Fundamentalisten gerettet hatten, ist ebenso vergessen wie die Tatsache, dass ihre hart erkämpften Autonomiegebiete so ziemlich die einzig funktionierenden Gemeinwesen auf syrischem Boden sind. Nicht einmal, dass sich viele Christen dorthin geflüchtet haben und jetzt die blutige Rache der im Gefolge der türkischen Armee einfallenden islamistischen Milizen fürchten, interessiert in Washington, Brüssel oder Berlin.


De facto hat Erdoğan angrenzende Gebiete im Nordirak und in Syrien annektieren lassen, in denen seine Truppen Stützpunkte errichtet und mit Straßen verbunden haben. Ein Unterschied zum russischen Vorgehen in der Ukraine ist nicht erkennbar, Sanktionen muss Ankara dennoch nicht fürchten.


Die Leichen im Keller


Etliche Länder haben Putins Invasion in der UN-Vollversammlung verurteilt, schließen sich aber den westlichen Embargo-Maßnahmen aber nicht an. Mag ihre Begründung für dieses zwiespältige Verhalten auch vorgeschoben wirken, sachlich richtig ist sie allemal: Die NATO-Alliierten, insbesondere die USA, hätten in der Vergangenheit Militärinterventionen ohne Mandat der Vereinten Nationen in mehreren Ländern durchgeführt, ohne dass sie dafür durch Sanktionen bestraft oder vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezerrt worden wären.


Tatsächlich haben die westlichen Verbündeten serbische Städte mittels Luftangriffen (auch auf zivile Ziele) in Schutt und Asche gelegt, den Irak nach einer Fake-Kampagne besetzt und entscheidend geholfen, Libyens Infrastruktur und Staatlichkeit nachhaltig zu zerstören. Die fast vier Millionen Toten des Vietnamkriegs und die flächendeckende Verminung des in diesem Konflikt neutralen Laos sind besonders gravierende Beweise für die Skrupellosigkeit, mit der die Interessen Washingtons durchgesetzt werden sollten.


Das Handeln der Westmächte blieb stets ohne Konsequenzen, da sie sich anmaßten, über internationales Recht und Unrecht nach Gusto zu entscheiden. Die Forderung, Putin müsse sich in Den Haag verantworten, ist nur dann glaubwürdig, wenn einige noch lebende US-Präsidenten gleichermaßen dorthin vorgeladen und in die Biographien verstorbener Vorgänger wie Kennedy, Johnson oder Nixon auch die von ihnen verantworteten Kriegsverbrechen aufgenommen würden.


Erstmals erlebt die NATO nun, dass ihr die eigene Doppelmoral wie ein Klumpen Blei auf die Füße fällt. Und wenn ihre bemühten Völkerrechtsexegeten nun beklagen, dass Russland die Zuständigkeit der Richter in Den Haag für seine Rechtsbrüche und eine mutmaßlich inhumane Kriegsführung nicht anerkennt, sollte man sie darauf hinweisen, dass auch die USA für ihre eigenen Bürger und Taten eine Strafverfolgung durch den Gerichtshof in den Niederlanden nicht akzeptieren.


Menschenrecht? Wie es euch gefällt...


Der vehemente Protest in der deutschen Öffentlichkeit gegen Putins Aggression bei gleichzeitigem Schweigen zu Erdoğans Attacken legt den Schluss nahe, ein NATO-Mitgliedsstaat dürfe nach hiesiger Ansicht ein anderes Land angreifen, einem NATO-Gegner hingegen sei dies strengstens verboten. Den Kurden helfen indes solche Spitzfindigkeiten nicht, offenbar auch nicht, wenn sie deutsche Staatsbürger geworden sind.


Auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut antwortete das Auswärtige Amt, dass derzeit 55 Bundesbürger in türkischer Haft säßen, weiteren 49 werde die Ausreise aus der Türkei verwehrt. Zum großen Teil handelt es sich dabei um Deutsche mit kurdischen Wurzeln, die im Internet oder auf Demos das Regime in Ankara kritisiert hatten und bei einem Besuch ihrer alten Heimat festgenommen wurden.


Dass unser NATO-Partner nicht nur in andere Länder einfällt, sondern auch das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit bricht und sich der  Verfolgung deutscher Staatsangehöriger schuldig macht, war dem Bundeskanzler Scholz die lapidare Bemerkung wert, bei diesem Thema gebe es Differenzen. Sofort aber schob Scholz nach, der Zustand der bilateralen Beziehungen sei gut.


So gut, dass Erdoğans Geheimdienst nicht immer die Chat-Gruppen in den sozialen Medien ausspähen muss, um der Regime-Gegner habhaft zu werden. „In einigen Fällen kann die türkische Justiz zudem auf offizielle Unterlagen aus Deutschland zurückgreifen“, wie Susanne Güsten, Korrespondentin für mehrere deutsche Zeitungen sowie die New York Times am Bosporus, unlängst berichtete. Man wird ja wohl noch einem verbündeten Schurkenstaat behilflich sein dürfen…

06/2022

Dazu auch:

Dossier Tatort Indochina in der Rubrik Politik und Abgrund







Ende der Allmacht


Wie waren die Verhältnisse doch schön geordnet in der Blütezeit des Kolonialismus! Europäische Nationen wie Großbritannien, Belgien, Frankreich oder das Deutsche Reich beuteten Länder, die um oft ein Vielfaches größer waren als sie selbst, nach Herzenslust aus. Später, nach den beiden Weltkriegen, schafften es die „zivilisierten“ Staaten, allen voran die USA, dem „unterentwickelten“ Gros der Erdbevölkerung die Regeln für den Warenaustausch, die politische Ausrichtung und das gebührende Wohlverhalten aufzuzwingen. Doch diese Epoche scheint vorbei, überall regt sich Widerstand gegen die westlichen Globalstrategen, begehren Drittweltländer gegen die Bevormundung auf. Diese Entwicklung führt wohl nicht immer gleich zu besseren Lebensverhältnissen, aber sie dürfte unumkehrbar sei.


Rohstoffe stechen die Produktion aus


Jahrhundertelang lief der internationale Handel so ab: Die europäischen Länder, die am weitesten in der Industrialisierung vorangekommen waren, besorgten sich die für ihre Produktion oder Landwirtschaft notwendigen Materialien, vom Salpeter über die Baumwolle bis zum Kautschuk, mit Gewalt oder durch Übervorteilung, auf jeden Fall aber billig. Die daraus gefertigten Erzeugnisse wiederum erzielten auf dem internationalen Markt ungleich höhere Preise, und so kehrten die Rohstoffe, verarbeitet und grotesk überteuert, in ihre Heimat zurück. In Argentinien etwa kauften die Briten zu Niedrigstpreisen Leder sowie Schaffelle ein und sorgten dafür, dass keine einheimische Textilindustrie entstand. Dann lieferten sie die Fertigwaren gegen stattliche Profite wieder nach Südamerika, so dass im 19. Jahrhundert die berühmte Gaucho-Tracht dort von den Stiefeln über die Gürtelschnalle bis hin zum Poncho vollständig aus den Fabriken in Leicester oder Leeds stammte.


Belgien plünderte eine Privatkolonie seines Königs Leopold II., den Kongo, so gründlich, dass der rabiaten Suche nach Kupfer, Elfenbein und Kautschuk rund zehn Millionen Indigene zum Opfer fielen. Das zweite Deutsche Reich wiederum brachte bei seiner kolonialistischen Landnahme in Südost- und Südwestafrika mindestens 500.000 Menschen um und rottete Völker wie die Hereros und Nama nahezu aus. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Abzug der Türken aus der Region zogen Frankreich und Großbritannien im Nahen Osten neue Grenzlinien, die ihre jeweiligen Einflusssphären markieren sollten, wobei es diesmal ums Öl ging. Währenddessen sorgten die USA durch militärische Interventionen oder verdeckte Operation dafür, dass fast überall in Lateinamerika ihnen genehme Diktaturen installiert wurden.


Die Zeiten ändern sich. Mittlerweile sind die industriellen und digitalen Produktionsmöglichkeiten auf einer Stufe angelangt, die der Hightech-Wirtschaft die schnelle und unkomplizierte Herstellung von fast allem, was man braucht oder wenigstens verkaufen kann, ermöglicht, mit Ausnahme des Futters, das Menschen, Maschinen und Roboter am Laufen hält. Und das findet sich meist nicht in den Stammlanden des Kapitalismus, sondern in (einst) eher peripheren Regionen. Ob es sich um Öl, Erdgas, Uran, Kobalt und Lithium handelt oder auch ganz schlicht um Weizen, Mais oder Reis – die Vorkommen und Ernten in der Ersten Welt reichen weder zur Beibehaltung des Fortschrittstempos, noch zur Ernährung der Erdbevölkerung.


Kein Problem, hätten unsere Wirtschaftslenker und ihre Politiker früher gesagt, die Ressourcen holen wir uns für ein Butterbrot. Doch inzwischen haben sich arabische Staaten, die vor noch nicht langer Zeit als willige „Scheichtümer“ galten, mit anderen Erdölländern zur OPEC zusammengeschlossen, einem mächtigen Kartell, das die Fördermengen nach Gusto festlegt und den Kunden seine Preise diktiert; Bolivien, das Land mit den weltweit größten Vorkommen an dem Leichtmetall Lithium, ohne das die E-Mobilität nicht möglich wäre, nimmt nach einem vergeblichen Putschversuch, der wohl in den USA orchestriert wurde, die Vermarktung wieder selbst in die Hand; Putins Überfall auf die Ukraine wird nicht nur für die Erdgasverknappung in Westeuropa, sondern, durch Wegfall von Weizen- und Maisexporten aus der Ukraine und Russland, auch für eine signifikante Verschlechterung der Welternährungslage sorgen. Überall entziehen sich Regierungen den Handelsdiktaten der USA und der EU und treten so selbstbewusst auf, als hätten sich bestimmte Verhältnisse umgekehrt.


Schüler übertreffen ihre Lehrmeister


In LEDs, Lasern oder Akkus stecken die Metalle der sogenannten Seltenen Erden. Die größten Vorkommen dieser für mehrere Industrien überlebenswichtigen Rohstoffe beherbergt die Volksrepublik China. Das bevölkerungsreichste Land der Erde musste ab dem 19. Jahrhundert die bittere Erfahrung machen, dass die westlichen Mächte seiner einheimischen Wirtschaft und einer souveränen Handelspolitik keine Luft zum Atmen ließen, wenn sie die eigenen Profitquellen durch nationale Maßnahmen gefährdet sahen. So zwangen die Briten das chinesische Kaiserreich im Opiumkrieg, das Verbot des Rauschgifts, an dessen Verbreitung sie verdienten, rückgängig zu machen. Später wüteten deutsche Soldaten und US-Marines während des Boxeraufstands in Peking wie Barbaren, um jeden Protest gegen die imperialistische Dominanz der Weißen im Blut zu ersticken.


China benötigt inzwischen zu Ausbeutung, Verarbeitung und Vertrieb seiner Bodenschätze kein westliches Know-how mehr. Wie zuvor Japan hat es sich von den einstigen Lehrmeistern vieles abgeschaut (hinsichtlich brutaler Produktionsmethoden vielleicht sogar zu viel) und sie dann in etlichen Technologiesparten überholt. Mittlerweile werden zahllose Patente von der Volksrepublik angemeldet. Den Ökonomie-Dominatoren der Ersten Welt entgleiten langsam ihre Objekte der Ausbeutung.


Die wachsende Bedeutung vor allem Chinas in der internationalen Wertschöpfung belegen Statistiken, denen zufolge der Anteil des Landes am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit der Jahrhundertwende um 3 Prozent auf 17 Prozent stieg, während die Beiträge der gesamten EU und der USA im gleichen Zeitraum von knapp 26 auf 18 Prozent bzw. von 31 auf 25 Prozent schrumpften. Kein Wunder, dass sich (bisweilen ohne Rücksicht auf ökologische oder kulturelle Verluste) aufstrebende Staaten der Dritten Welt nicht länger von den bröckelnden Industriegesellschaften der ersten Stunde gängeln lassen wollen.


Bemühungen von Entwicklungs- und Schwellenländern, sich aus der Abhängigkeit von den Machtzentren zu befreien, hatte es schon früher gegeben, sogar in konzertierter Form. So gründeten während des Kalten Krieges die Präsidenten von Indien, Indonesien, Jugoslawien, Ägypten und Ghana die „Bewegung der Blockfreien Staaten“, die eine Emanzipation jenseits der beiden damals dominierenden Militärallianzen anstrebten. Dass der Versuch eines dritten Weges scheiterte, war zu einem Teil den divergierenden Partikularinteressen der Mitgliedsländer, zum andern der erfolgreichen Einflussnahme der NATO und des Warschauer Paktes geschuldet.


„Regime Change“ funktioniert nicht mehr


Zu dieser Zeit war es noch leicht für den Westen, das Regime des linken Nationalisten Sukarno in einem blutigen Putsch durch eine mörderische Militärjunta zu ersetzen, in Ägypten die korrupten Nachfolger von Gamal Abdel Nasser auf seine Seite zu ziehen und in Afrika oder Lateinamerika genehme Despoten an die Macht zu bringen. Bereits der Vietnamkrieg markierte einen Wendepunkt, und spätestens nach den Interventionen in Afghanistan mussten sowohl der kollabierende Warschauer Pakt als auch wenig später die NATO erfahren, dass sich „Regime Changes“ mithilfe militärischer Gewalt kaum mehr durchsetzen lassen. Putin dürfte ebenfalls nicht unbeschadet aus „seinem“ Überfall auf die Ukraine hervorgehen.


Inzwischen lassen sich auch viele Menschen in den ärmeren Ländern nicht mehr vom Glamour des „American Way of Life“ blenden oder von Medienkampagnen, die in den USA erdacht wurden, manipulieren, wie die Wahlsiege von linken Kandidaten in Honduras, Chile, Bolivien oder Peru belegen. In Afrika – wie eigentlich fast überall in der Dritten Welt – gewinnt die VR China gegenüber den Europäern an Boden (und das ist angesichts von Pekings Bedarf an fruchtbarem Land durchaus wörtlich zu nehmen), gleichzeitig positionieren sich Schwergewichte wie Indien und Südafrika zunehmend konträr zu den einstigen „Gönnern“.


Nun ist diese Abkoppelung vom Diktat der westlichen Bündnisse nicht als koordinierter oder sogar solidarischer Aufbruch in eine ökologisch verträglichere und sozial gerechtere Zukunft zu verstehen, die Interessen sind zu verschieden, die politischen Intentionen ebenso. Die arabischen OPEC-Staaten als arrogante Ressourcen-Kontrolleure haben unterschiedliche Motive für ihre Widerspenstigkeit als etwa Indien, dessen hindufaschistischer Präsident Modi eine militärische und politische Großmachtrolle für sein Land anstrebt. Linke in Chile oder Mexiko haben ganz andere gesellschaftliche Vorstellungen als die Mullahs im Iran. Eine gemeinsame Vision wie bei den „Blockfreien“ existiert nicht, einig sind sie sich nur im Ungehorsam gegenüber den früheren Taktgebern.


Selbst der Ukraine-Krieg zeigt, dass der Westen seine früher als oft gottgleich empfundene Autorität, die Unterscheidung des Guten vom Bösen vorzunehmen, verloren hat, nur wird das in unseren Medien kaum thematisiert: Als in der UN-Vollversammlung auf Betreiben der NATO- und EU-Staaten Russlands Einmarsch in sein Nachbarland Thema war, verurteilte die große Mehrheit der 193 Mitgliedsstaaten die Aggression. Die deutschen Medien berichteten ausführlich darüber. Dass aber lediglich 48 Länder der vor allem von den USA lancierten Forderung nach umfassenden Sanktionen gegen Moskau nachkamen, wurde hierzulande eher peinlich berührt verschwiegen.


Ein wenig moralische Entrüstung für die Galerie war obligatorisch, doch für die arabischen Ölprinzen kam es ebenso wenig in Frage, ihre guten Wirtschaftsbeziehungen zum Aggressor aufs Spiel zu setzen, wie für Israel, die lateinamerikanischen Staaten, Schwellenländer wie Indien, Indonesien, Südafrika und natürlich China. Die Mehrheit der UN-Mitglieder wollte sich ihr Verhalten wohl auch nicht mehr von Akteuren vorschreiben lassen, deren frühere Übergriffe nie sanktioniert worden waren.

05/2022
Dazu auch:
Völkermord als Test (2018), FREIHEIT und DEMOCRACY und Die Herren des Landes (beides 2014) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund







Putins „Erfolge“


Ungeachtet der traurigen Tatsachen, dass der Krieg gegen die Ukraine immenses Leid über die Zivilbevölkerung gebracht und tausendfach Tod sowie die Flucht von Millionen verursacht hat, zeitigt Putins Überfall für seine russischen Landsleute, die Dritte Welt und auch die Politik hierzulande künftige Konsequenzen, deren Ausmaß noch gar nicht abzusehen ist.


Was wurde erreicht?


Über militärische Erfolge beider Seiten, strategische „Schachzüge“ oder russische Kriegsziele soll hier nicht spekuliert werden – das überlassen wir den Medien, von ARD bis FAZ, deren Korrespondenten und Militärexperten zwar meist fernab von der Front sitzen, aber dennoch pausenlos, vorwiegend auf ukrainische Meldungen vertrauend, das Geschehen so nüchtern kommentieren wie Ultras ein Bundesligaspiel. Mit aller Vorsicht können wir nur vermuten, dass die Invasoren etliche Zivilisten getötet haben, wobei weniger die Propaganda aus Kiew, als vielmehr Putins Taktik der verbrannten Erde in Syrien und der Einsatz der Gruppe Wagner, einer brutalen Söldnertruppe in der Ostukraine, hierfür mögliche Indizien hierfür sind.


Und wir wissen, dass die russische Armee bereits viele Soldaten in der „Spezialoperation“ (offizielle Moskauer Bezeichnung für den Überfall) verloren hat. Unverdächtiger Zeuge ist der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, der nicht nur vage von einer „großen Tragödie“ sprach, sondern in einem Interview mit dem Sender SKY auch „erhebliche Verluste“ der eigenen Truppen beklagte.


Und doch hat Wladimir Putin mit dem von ihm befohlenen Angriffskrieg mehr Wirkung erzielt als jeder andere Staatsmann seit einigen Jahrzehnten, und zwar fernab der Schlachtfelder und mit globalen Folgen. Von positiven Effekten, sowohl für seine mehrheitlich zu großrussischen Chauvinisten mutierten Landsleute als auch für den Rest der Welt, kann jedoch keine Rede sein.


Nicht ohne Grund hatte Putin all die Jahre die aggressive Expansionspolitik der NATO in Osteuropa angeprangert, durch die sein Land von Raketenringen und konventionell hochgerüsteten Nachbarn quasi umzingelt wurde. Doch ging von dieser Drohkulisse bislang keine unmittelbare Kriegsgefahr aus, die Lunte zündete der Kreml-Chef höchstselbst, wahrscheinlich auch in der anmaßenden Hoffnung, das zerfallene Russische Reich zu restaurieren.


Was er erreichte, konterkariert allerdings seine Intentionen und, schlimmer noch, macht die Erde zu einem noch gefährlicheren Ort als sie es ohnehin schon war. Frieden, ökologischer Umbau, gerechte Verteilung der Ressourcen und effektive Hungerbekämpfung scheinen in weite Ferne gerückt.


Optionen ins Gegenteil verkehrt


Putin wollte die zugegebenermaßen arrogante Osterweiterung der NATO stoppen, hat es mit seinem Einmarsch in die Ukraine aber geschafft, dass zwei zumindest formal neutrale Pufferstaaten im hohen Norden, Schweden und Finnland, nun den Beitritt zum westlichen Bündnis erwägen. Damit hätte Russland in Karelien die nächste direkte Grenze mit der NATO, und man darf vermuten, dass Helsinki bald in die Hochrüstung gegen das – wer könnte es jetzt bestreiten? – kriegslüsterne Moskauer Regime einsteigt.


Offenbar schätzten Putin und seine Berater (so er denn auf sie hört) die Stimmungslage in dem Land, das sie teilen oder okkupieren wollten, falsch ein. Die mehrheitlich Russisch sprechende Bevölkerung in ostukrainischen Städten wie Charkiw empfing die Invasionssoldaten keineswegs mit Blumen, sah nicht „Befreier“ in ihnen, sondern Feinde, vor denen sie floh oder gegen die sie sich wehrte. Gleichzeitig widerfuhr der in Kiew herrschenden Politikerkaste, die vorher wegen ihrer Abhängigkeit von unterschiedlichen Oligarchen geschmäht worden war, eine internationale Glorifizierung. Die ziemlich willkürlich agierenden Regierungen waren auch von der EU der Korruption bezichtigt worden, weshalb Brüssel den Beitritt der Ukraine stets abgelehnt hatte. Jetzt gelten deren Protagonisten im Westen als Widerstandshelden.


Die Welt unternimmt – nicht nur, aber vor allem – wegen Putins Krieg eine Rolle rückwärts, was eine umweltverträglichere Energieerzeugung und den Kampf gegen den Klimawandel betrifft: Als hätten einige altvordere Energiekonzerne die Ukraine-Tragödie für ihre Zwecke inszeniert, übertreffen sich Europas Regierungen in ihren Ankündigungen, fossile Brennstoffe wieder ungehemmt zu aufzukaufen, um sich unabhängig von Putins Gas, Öl und Kohle zu machen. Ob es sich um schmutziges Fracking, um Petroleum aus arabischen Diktaturen oder um die Wiederauferstehung deutscher AKW-Leichen handelt – nichts scheint so umweltschädlich oder politisch bigott, dass es nicht zur Versorgung der eigenen Wirtschaft gehamstert wird. Hand in Hand haben nun Putins Hybris und die Unfähigkeit der EU, den Ausbau erneuerbarer Energien in ausreichendem Tempo voranzutreiben, die ohnehin schon miesen Aussichten, den Klimawandel wenigstens zu verlangsamen, noch desparater gemacht.


In großen Teilen der Ukraine kann nicht ausgesät werden, und Mais- sowie Weizenexporte aus Russland werden blockiert oder sind durch Moskaus Ausschluss vom Zahlungssystem SWIFT nicht mehr verkäuflich. Bei uns wird das Brot ein wenig teurer, aber im von Dürre geplagten Afrika kommt das lebenswichtige Getreide überhaupt nicht mehr an. Brav kündigen die staatstragenden Politiker bis hin zu den Grünen an, dass jetzt renaturierte Ackerflächen wieder entrenaturiert werden müssen, Massentierhaltung und Monokulturen gelten plötzlich wieder als systemrelevant, und irgendwann wird Brasiliens Präsident Bolsonaro noch für die Abholzung der Regenwälder zugunsten von Soja-Anbau und riesigen Viehherden gelobt werden.


Auch hier ist Putin nicht allein schuld, aber er hat das Karussell der ökologischen Katastrophen so richtig in Fahrt gebracht. Vielleicht hätten wir auch ohne die osteuropäischen Kornkammern genug Lebensmittel für die Weltbevölkerung; doch was nützt es, wenn diese aufgrund von Terminwetten und anderen Formen der Spekulation mit  Nahrung nicht in die Länder mit Bedarf, sondern in die Hände von Spielern und Meistbietenden gelangen? Auch hier bilden Putins Nationalismus und westlicher Marktliberalismus eine unheilige Allianz des globalen Niedergangs.

Wer redet noch vom Frieden?


Noch in den Zeiten des Kalten Krieges gab es Vereinbarungen zwischen den Blöcken, die nicht perfekt oder per se friedensstiftend waren, aber doch die Erde, insbesondere auch Europa, ein wenig sicherer machten. So setzte das START-Abkommen 1991 zwischen der UDSSR und den USA die hemmungslose atomare Aufrüstung aus, und der INF-Vertrag, sah sogar die Vernichtung der landgestützten Mittelstreckenraketen auf unserem Kontinent vor, bis ihn Trump 2019 kündigte. Obwohl beide Seiten die Regeln ab und zu verletzten, handelte es sich im Großen und Ganzen doch um deeskalierende Maßnahmen.


Und heute? Wehe dem, der hierzulande derzeit von Entspannung oder Abrüstung zu reden wagt! Die Grünen sind ihrem Serbien-Feldherrn Fischer gefolgt und geben sich so militant wie Strauß in seinen besten Zeiten. Olaf Scholz verzieht nicht mal sein Gesicht, wenn er hundert Milliarden Euro für Dinge, die wir hoffentlich nie brauchen werden, ankündigt, dazu zwei Prozent plus X jährlich für eine Bundeswehr, die angesichts ihrer kläglichen Rolle in Somalia, Mali und Afghanistan beten sollte, dass sie sie sich nicht im Krieg und in fremden Ländern bewähren muss.


Keiner erinnert daran, dass es solche Aufrüstungsspiralen sind, die, wenn sie nicht gestoppt werden, Kriege auslösen, dass die NATO-Drohgebärden zumindest in den Augen vieler Russen Putins Aggression rechtfertigen – einen Vorwand dafür haben sie jedenfalls geliefert. Stattdessen gebärden sich Prominente, Publizisten und Moderatoren in unseren Talkshows und TV-Magazinen regelrecht kriegsbesoffen. Niemand weist darauf hin, dass die Bundesregierung ihr eigenes Kriegswaffenkontrollgesetz permanent bricht, indem sie Rüstungsgüter in ein umkämpftes Gebiet liefert; ginge es nach Frau Baerbock, dürfte es sich dabei sogar um ganz dicke Oschis handeln.


Ja, auch das hat Wladimir Putin erreicht: Weltweit verstummen die Mahner und Friedensaktivisten.
04/2022
Dazu auch:
Putin und das Chaos im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2022)








Tod durch Diebstahl

Durch den wahnwitzigen Überfall auf die Ukraine hat es Wladimir Putin nicht nur geschafft, die globale Aufmerksamkeit von den entscheidenden Problemkomplexen der Zukunft wie Klimawandel, Artensterben oder Ressourcenzugang abzulenken, sondern auch noch gegenwärtige Katastrophen, etwa den Krieg im Jemen und den Genozid an den Rohingya, aus dem humanitären Fokus verschwinden zu lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn: Wen interessiert derzeit schon, dass die Menschen in Afghanistan vom Hungertod bedroht sind – nicht zuletzt, weil die einstigen Verbündeten im Westen die Hilfen blockieren und sich die US-Verantwortlichen sogar als Bankräuber betätigen.


Kinder hungern, nicht Taliban


Zugegeben, in Afghanistan wird der Frieden (besser: das Überleben) der gesamten Welt derzeit nicht in solchem Maße bedroht wie in der Ukraine. Deshalb ist es verständlich, dass alle Augen auf Osteuropa gerichtet sind. Falls aber ein nuklearer Schlagabtausch vermieden werden kann, dürfte dort die Zahl der Opfer, die vor allem Putin zu verantworten hat, weit geringer ausfallen als die der Nachkriegskatastrophe am Hindukusch.


Nach UN-Schätzungen sind 8,7 Millionen Afghanen vom Hungertod bedroht, mehr als eine Million Kinder könnten gegen Ende dieses Winters bereits an Auszehrung gestorben sein. Vermutlich werden, wenn in Kiew oder Charkiw bereits die Trümmer weggeräumt sind und der Wiederaufbau begonnen hat, in Kabul, in Herat und in den entlegenen Regionen Afghanistans immer noch Kinder verhungern oder an den Folgen der Mangelernährung verblöden. Zwanzig Jahre lang hat der Westen das Land in wirtschaftlicher Unmündigkeit gehalten, mittels Einfuhren jede nennenswerte einheimische Produktion abgewürgt und die Bevölkerung derart von Nahrungsmittellieferungen abhängig gemacht, dass eigener Ackerbau (mit Ausnahme der Kultivierung von Schlafmohn) sinnlos schien. Nach ihrer Niederlage und Flucht verhängten die NATO-Alliierten strikte Sanktionen und schneiden so das Land von überlebenswichtigen Importen ab.


Während Corona und die anhaltende Dürre die Lage in Südasien noch prekärer machen, nimmt die internationale Spendenbereitschaft ab oder fokussiert sich auf andere Empfänger (etwa die Ukraine). Organisationen wie das UN World Food Programme oder die Welthungerhilfe beklagen, dass sie weder von staatlicher noch von privater Seite genügend ausgestattet werden, um das Elend erfolgreich bekämpfen zu können. Diese humanitäre „Enthaltsamkeit“ und die Sanktionen sind gegen die Taliban gerichtet, treffen aber die Armen, besonders die Kinder.
Dabei wären trotz bescheidener Spendenbereitschaft und des Kapitalabflusses durch die korrupte Ex-Elite Mittel vorhanden, um die Not zumindest zu mildern. Der afghanische Staat selbst könnte aktiv werden, wenn man ihm nicht Gelder vorenthielte, die ihm rechtlich zustehen.


Postkolonialer Rechtsbruch


Die internationale Kampagne United Against Inhumanity (UAI) hat unlängst in einem Offenen Brief Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert, den in Berliner Geldinstituten lagernden Anteil an den afghanischen Zentralbankreserven in Höhe von 2,1 Milliarden Dollar freizugeben. Die nationale Zentralbank DAB hatte aus Vorsicht die Rücklagen des Landes in Westeuropa und den USA auf Banken deponiert. Nun wurden die Gelder „eingefroren“ und stehen nicht zur Verfügung, um gegen die aktuelle Hungersnot  und für den Aufbau zumindest rudimentärer Wirtschaftsstrukturen eingesetzt zu werden.


In den zwei Jahrzehnten der westlichen Intervention waren Unsummen nach Kabul geflossen, und zwar vor allem in die Taschen der Kleptokraten, Warlords und Opiumhändler, die als NATO-Verbündete  galten und pflegeleichte Regierungen stellen durften. Die als zuverlässig geltende DAB dagegen darf jetzt nicht auf Mittel zurückgreifen, die nicht den Taliban, sondern dem Land und damit der Bevölkerung gehören und im Augenblick dringendst benötigt würden. Die Gefahr, dass sich die Islamisten einen Anteil des Geldes sichern würden, ist zwar nicht völlig auszuschließen, doch sei darauf hingewiesen, dass die sunnitischen Eiferer zwar für ihre Intoleranz, Frauen- und Kulturfeindlichkeit, nicht aber für maßlose Korruption berüchtigt sind – ganz im Gegensatz zu den früheren „Freunden“ des Westens.


In postkolonialer Gutsherrenmanier bescheiden aber die europäischen Staaten die Bitten um Freigabe der Reserven negativ, quasi als Retourkutsche für die Unbotmäßigkeit einer von ihnen gegängelten Bevölkerung. Als „Diebstahl“ bezeichnet die UAI-Kampagne folglich diese „Beschlagnahmung“ und Vorenthaltung legitimen Eigentums. Noch bedenkenloser als die EU und die BRD verfahren indes die USA mit den ihnen anvertrauten Devisen.


Biden als Milliardendieb


Einen Schritt weiter in Sachen Beschaffungskriminalität ging Präsident Joe Biden, der am 11. Februar dieses Jahres die in den USA hinterlegte Geldreserven der afghanischen Zentralbank (sieben Milliarden Dollar) konfiszieren ließ und nun die Hälfte davon als Entschädigung an die Angehörigen der Terroropfer vom 11. September 2001 auszahlen will. Für den Amoklauf von Al-Qaida soll also ein ganzes Volk haften, das mehrheitlich in keinerlei Kontakt zu den Tätern stand und auch keinen Anteil an dem Verbrechen hatte. Wenn Biden diesen beispiellosen „Opfer-Opfer-Ausgleich“ umsetzt, werden tatsächlich etliche Afghanen angesichts der grassierenden Hungersnot für die Zerstörung des World Trade Centers teuer bezahlen, nämlich mit ihrem Leben.


Das findet Biden äußerst undankbar: Hungernde Afghanen fordern ihre Ersparnisse von den Freunden und Helfern in den USA zurück.
Schah Merabi, DAB-Vorstandsmitglied und Professor für Wirtschaftswissenschaft am Montgomery College im  Ostküstenstaat  Maryland, beschreibt die durchaus zutreffende Sichtweise vieler Afghanen: Die USA würden wie eine „Kolonialmacht“ handeln, die Diktate aufzwingt und „die Rücklagen der Bevölkerung stiehlt“. In der Tat dürfte Bidens Vorhaben wohl in den meisten Ländern der Erde als strafrechtlich relevanter Tatbestand gewertet werden.


Der römische Sinnspruch „vae victis!“ („Wehe den Besiegten!“) erfährt hier eine absurde Umdeutung: Die in zwanzig Jahren Krieg geschlagenen Westmächte erklären den Taliban  „Wehe euch Siegern, wir hungern euch aus!“, schaffen es aber nur, den ohnehin schon verzweifelten „normalen“ Menschen in Afghanistan die letzte Hoffnung und zugleich die Existenz zu rauben. Sanktionen treffen fast nie die Machthaber, sondern meist die Untergebenen und Unbeteiligten, Diebstahl à la Biden aber versetzt dem Volk endgültig den Todesstoß.

03/2022
Dazu auch:
Die Lehren von Kabul und Dumm oder inhuman? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)







Putin und das Chaos


Viele haben in den letzten Jahren versucht, die Gedanken, Intentionen und Ziele von Wladimir Putin zu begreifen, zu analysieren oder sogar seine Handlungen vorherzusagen. So richtig gelungen ist es wohl niemandem, wie das gegenwärtige Entsetzen über das Geschehen in der Ukraine zeigt. Natürlich wird Geschichte nicht von Einzelnen gemacht, aber ohne bestimmte Personen und ihre (manchmal kriminelle) Energie würde sie anders verlaufen. Daher dieser Versuch einer (natürlich unvollständigen) Bestandsaufnahme der potentiellen Motive und nicht immer verständlichen Begründungen des russischen Präsidenten.


Vergangenheit im Nebel 


Im Nachhinein sei man immer klüger, heißt es gewöhnlich, wenn sich die Dinge in eine andere Richtung als prognostiziert bewegen. Nun, im Ukraine-Konflikt ist alles ziemlich unerwartet gelaufen und doch sind wir im Rückblick kaum weiser als zuvor. Der Kriegsausbruch wirft die Frage auf, warum Putin seine Nachbarschaft, seine Untertanen und – angesichts der nuklearen Overkill-Kapazitäten – die gesamte Welt einem solchen Vernichtungsrisiko aussetzt, doch werden wir eine allgemeingültige Antwort nicht finden, denn die Wahrheit verbirgt sich hinter den Nebeln der jüngeren Vergangenheit, hinter den widerstreitenden Intentionen verschiedener Akteure, von denen einer, eben Putin, nun offenbar durchgedreht ist.


Was niemand mit Sicherheit weiß: Waren Wladimir Putin und seine Polit-Entourage schon vor Jahren oder Jahrzehnten entschlossen, den Machtkampf mit der NATO auf dem Terrain der einstigen Sowjet-Republik Ukraine zu wagen? Manche hiesigen Publizisten haben das immer behauptet, aber viele von diesen waren vor dem letzten Irak-Krieg auch eifrige Multiplikatoren der Legende von den Vernichtungswaffen in Saddam Husseins Besitz, die George W. Bush in die Welt gesetzt hatte.


Oder ist der russische Präsident angesichts der faktischen Einkreisung seines Landes durch westliche Militäreinrichtungen paranoid geworden? Dafür spricht die wirre, völlig absurde Begründung des Angriffs auf die Ukraine durch Putin, dagegen die von etlichen Beobachtern (und auch mir) geteilte Wahrnehmung, dass der Autokrat im Kreml zwar skrupellos, aber stets rational und umsichtig handelte, die möglicherweise doch nicht zutrifft.


Nostalgiker und Realisten – alle daneben


Im Grunde tappen wir alle im Dunkeln bei dem Versuch, das Entsetzliche zu erklären. Selbsternannte Realisten schütteln entweder den Kopf, weil sie in Putin den intelligenten Machtpolitiker, der zur Durchsetzung nationaler Interessen viel riskiert, aber nie hasardiert, sahen, oder erklären, wenn sie eher nach rechts neigen, sie hätten „das alles immer schon gewusst“. Aber Letztere gehören zu denen, die auch stets gewusst haben, dass Deutschland und die NATO Stärke zeigen müssen, ob in Syrien, Libyen oder Mali, egal mit welcher Berechtigung und zu welchen Blutzoll (womit sie tatsächlich nahe bei Putin wären).


Und dann gibt es die Nostalgiker, die Russland in der Nachfolge der UDSSR sehen, die ja schließlich Hitlers Welteroberungspläne vereitelt hatte und während des Kalten Krieges als Widerpart zum kapitalistischen Westen die Neo-Kolonialisierung der Dritten Welt zum Teil aufhalten konnte (wenngleich weniger aus humanistischen als aus machtstrategischen Gründen). Diese Träumer – und es sind nicht wenige Linke darunter – vergessen, dass die sowjetische Staatsbürokratie, so verkrustet und reaktionär sie auch gewesen sein mag, wenigstens noch den Anspruch, eine sozialistische Gesellschaft für Beschäftigte und nicht für Produktionsmittelbesitzer zu sein, aufrechterhielt, während Putins Russland ein krypto-kapitalistisches System ist, das mit seinen rigiden Hierarchien selbst den chinesischen Staatsdirigismus übertrifft.


Stamokap anders herum


Die einst vom linken Rand der Jusos verbreitete Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap), der zufolge ein schwacher Staat als Reparaturbetrieb der Privatwirtschaft fungiert, der immer dann helfend eingreifen darf, wenn sich Investoren und Unternehmer in ihrer ungehemmten Profitsucht verzockt haben, feierte in Russland fröhliche Wiederauferstehung – allerdings mit umgekehrten Prämissen: Eine diktatorische Staatsspitze gewährt den Oligarchen die Lizenz zu gnadenloser Ausbeutung und Bereicherung, solange sie sich für Putins Ziele einspannen lassen.


Natürlich benötigte dieser politische Herrschaftsanspruch eine inhaltlich/ideologische Unterfütterung („Narrativ“ sagt man heute wohl), und Putin lieferte sie – indem er sich rhetorisch den weltweit fabulierenden Verschwörungstheoretikern annäherte. Er gab sich nationalistisch, rassistisch, homophob und entwickelte seine Bedrohungsphantasien wie die Querdenker häufig von einem Fetzen Wahrheit aus, die bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde.


So war es tatsächlich rücksichtslose Machtpolitik, die der Westen betrieb, als er Russland mit NATO-Bastionen umzingelte und ihm modernste Abwehrraketensysteme vor die Nase setzte, statt über weitere Abrüstungsschritte zu verhandeln. Wie man dieser Chuzpe aber sinnvoll begegnet, indem man einen riesigen Flächenstaat überfällt, ohne dass ein Ziel (Strafexpedition, Okkupation, Auslöschung?) begreifbar wird und damit einen globalen Krieg riskiert, bleibt Putins Geheimnis.


Es ist richtig, dass die russischstämmigen Ukrainer benachteiligt wurden. Während Kiew die europäische Metropole gab, malochte der Donbass in Gruben und der Schwerindustrie. Erst im Januar berichtete die FAZ: „In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll.“ Bereits 1991 war Ukrainisch zum einzigen Staatsidiom gemacht worden, sicherlich ein Indiz für kulturelle Diskriminierung. Daraus aber die Mär von einem unmittelbar bevorstehenden Pogrom am russischsprachigen Bevölkerungsteil zu konstruieren, war vielleicht Putins perfidester Coup (während doch sein Geistesfreund Solschenizyn noch die zaristischen Judenpogrome relativiert und bisweilen geleugnet hatte).


Putins Faible für rechtsradikale Politiker im Westen, von Marine Le Pen über die AfD-Knallchargen bis hin zu Donald Trump) und die über Russia Today oder ausgesuchte Social Media verbreiteten Horrorgeschichten aus seiner Propaganda-Küche gewinnen im Nachhinein tiefere Bedeutung. Glaubte der Mann am Ende gar selbst an die Fake News, den Odel, den er via Funk und Netz ausgießen ließ? Angesichts seiner letzten fahrigen TV-Rede an „sein“ Volk vor dem Einmarsch könnte man das vermuten.

Selbstverständlich gibt es vor allem in der Westukraine genügend bekennende Faschisten, die auch eine wesentliche Rolle beim Maidan-Aufruhr 2014 gespielt haben, doch die zugegebenermaßen ziemlich unfähigen Regierungsmitglieder und einen jüdischen Präsidenten an ihrer Spitze pauschal als „Neonazis“ (mit denen Putin international doch recht gut kann) zu verunglimpfen, zeugt von Realitätsverlust oder schlichter Gemeinheit.


Es ist auch richtig, dass die NATO Putin mit den völkerrechtswidrigen Luftangriffen auf Serbien zwecks Abtrennung des Kosovo eine Blaupause für die Annexion der Krim-Halbinsel geliefert hat. In beiden Fällen wurden europäische Grenzen verschoben, weil sich Nationalitäten unter der bisherigen Oberhoheit nicht wohlfühlten (wobei die russische Operation im Gegensatz zur westlichen weitgehend unblutig verlief). Doch ist generell Selbstermächtigung als Retourkutsche international nicht legitim, schon gar nicht, wenn es um die Besetzung eines riesigen Landes wie der Kern-Ukraine mit einer überwiegend widerstrebenden Bevölkerung geht.


Die fürchterlichen Folgen


Was Putin zu solchen beinahe hysterisch wirkenden Verbalinjurien und letztendlich zu einem fatalen Schritt, den offenbar auch seine russischstämmigen „Mitbürger“ in Charkiv, die er heim ins Reich holen will, aber stattdessen mit Tod und Zerstörung überzieht, nicht verstehen und billigen, getrieben hat, werden wir möglicherweise nie erfahren. Aber die desaströsen Folgen der Invasion und deren düstere Weiterungen für die Zukunft sind jetzt schon in Umrissen sichtbar.


Hunderte, demnächst vielleicht Tausende von Ukrainern und etliche russische Soldaten zahlen für Putins „Machtdemonstration“ mit dem Leben, das UN-Flüchtlingshilfswerk rechnet mit bis zu vier Millionen Flüchtlingen. Die Infrastruktur in den Städten wird zerbombt, die Wirtschaft ist weitgehend lahmgelegt. Selbst wenn Putins Armee zu einem bislang nicht erkennbaren Zweck siegen sollte, wird auch die russische Bevölkerung aufgrund von Sanktionen und Isolation zu leiden haben.


Im Westen, allen voran in Deutschland, schießen an den Börsen die Kurse der Rüstungsaktien durch die Decke, und Bundeskanzler Scholz jubiliert regelrecht wie ein Musterschüler, die Erhöhung des Wehretats werde mehr als die von den USA so lange vergeblich geforderten zwei Prozent betragen, und beschwört eine „Zeitenwende“, auf die wir durchaus verzichten könnten. FDP-Wirtschaftsminister Lindner, dem kritische Geister nicht einmal die Aufstellung eines Zinnsoldaten-Heeres zutrauen würden, schwadroniert von einer „der schlagkräftigsten Armeen in Europa“, die man sich jetzt mit hundert Milliarden Euro zusammenkaufen werde. Da geht der leise Einwand der Linken-Vorsitzenden Janine Wissler, dass aktuell eine besser ausgerüstete Bundeswehr in der Ukraine überhaupt keinen Unterschied gemacht hätte, im Kriegsgeschrei unter. Peace is out, Europa soll fit gemacht werden für den Showdown.


Die Bemühungen, den Hunger in der Welt, die Umweltzerstörung, den Klimawandel wirksam zu bekämpfen, treten dank Putin ins zweite Glied zurück. Friedensbewegung, Fridays for Future, Energiewende und viele andere Initiativen mehr bleiben auf der Strecke. Nur wofür? Mit Brecht könnte man räsonieren: „Alle zehn Jahre ein großer Mann/Wer bezahlte die Spesen?/So viele Berichte,/So viele Fragen.“

03/2022








Impfgegner züchten


Halbwahrheiten, Zahlentricksereien, windige Prognosen, voreilige, dann wieder verspätete Maßnahmen – was uns Politiker und auch einige Wissenschaftler in den letzten zwei Jahren zugemutet haben, siedelt zum großen Teil außerhalb der Grenzen von Logik und Sachverstand. Diese Mixtur trifft in Pandemie-Zeiten auf ein Gebräu aus Corona-Leugnung, Verschwörungstheorien und rechtsextremen Putschphantasien und wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Das operative und rhetorische Versagen der Verantwortlichen bereitet erst den Boden für die irrationale Totalverweigerung jeglicher gesellschaftlichen Rücksichtnahme, liefert fanatischen Impfgegnern jede Menge Scheinargumente.


Was halbwegs gesichert erscheint


Wohl jede/r von uns fühlte sich eine Zeit lang ziemlich umfassend über die Gefährlichkeit, die Verbreitungsdeterminanten und die Krankheitsfolgen von Covid-19 sowie über den Stand der Impfforschung oder die internationalen Strategien zur Seucheneindämmung informiert. Nach bestem Wissen und Gewissen diskutierten wir Verhaltensmaßregeln und entwarfen private Generalstabspläne für die weltweite Gesundung – bis uns Corona lehrte, dass wir in Wirklichkeit reichlich wenig wussten über das Virus und dass unser selbstgebasteltes Prinzip Hoffnung ein ums andere Mal trog.


Was wir nach zwei Jahren Stoffsammlung und Beobachtung als gesichert annehmen können, ist nicht gerade viel: Die wichtigsten Vakzine helfen, zwar nicht immer gegen eine Infektion, aber doch gegen einen schweren Krankheitsverlauf. Wo weniger geimpft wird, sind die Inzidenzzahlen höher und es sterben mehr Menschen. Während schwere Schäden nach der Immunisierung äußerst selten auftreten, leiden etliche Corona-Patienten ohne Schutz unter gefährlichen Krankheitsverläufen und gravierenden Spätfolgen.  Immer wenn das Virus erschöpfend erforscht zu sein scheint, bildet es neue Mutationen aus, denen unsere Forschung hinterher hecheln muss. Immerhin fällt die letzte Variante, die auf den Namen Omikron hört, harmloser aus als die Vorgänger-Viren, was bedeuten könnte (aber nicht muss), dass sich die Pandemie in einer Sackgasse erschöpft.


Aus diesen bescheidenen Erkenntnissen lässt sich eigentlich nur die Verpflichtung zur flächendeckenden Impfung, wo immer möglich, ableiten. Doch wie sieht es hierzulande aus? Zieht man Personen, die gemäß medizinischer Indikation zu hohe Risiken bei einer Immunisierung gegen Corona eingehen würden, und Menschen, die aufgrund von Behinderung, hohem Alter oder fehlendem Equipment Probleme mit Registrierung und Anmeldung haben, von der Gesamtzahl der jetzt noch Ungeimpften ab, bilden vielleicht fünfzehn Prozent der deutschen Bevölkerung den stattlichen Rest der Vakzin-Verweigerer aus Überzeugung. Deren fanatischen Wortführern fällt es leicht, ihre Gefolgsleute bei der Stange zu halten, denn die staatlichen und fachlichen Entscheidungsträger servieren ihnen mit ihren Euphemismen, Falschbehauptungen, Verdrehungen oder tollpatschigen Handlungen die toxischen Argumentationshilfen ja geradezu auf dem Silbertablett der Unzulänglichkeit.


Stoff für Verschwörungstheoretiker


Häufig beschleicht einen das Gefühl, bei Debatten oder Interviews ginge es gar nicht vorrangig um die Pandemie-Bekämpfung, sondern vielmehr um Eigen-, Parteien- oder Produktwerbung. Da wird vorlaut Vakzinen wie Biontech und Moderna eine 95-prozentige Immunisierung gegen Corona zugeschrieben und später leise eingestanden, dass der Schutz wohl eher gegen 60 Prozent tendiert. Zwar ist dies nach WHO-Kriterien immer noch ein guter Wert für einen Impfstoff, doch goss die vorherige Prahlerei Wasser auf die Mühlen der Impfgegner. Da soll Astrazeneca wegen seltener, aber schwerer Nebenwirkungen zunächst nicht an Senioren, sondern nur an junge Menschen – und wenig später nur an Senioren und keinesfalls an Jüngere verimpft werden. Da lobt der Gesundheitsminister (damals noch der berüchtigte Jens Spahn) das reichlich vorhandene Moderna über den grünen Klee, sichert aber den Abgeordneten und Mitarbeitern des Bundestags die raren Biontech-Dosen, ganz so, als wolle er sein Faible für selektierende Klassenmedizin demonstrieren.


Da werden in hohen Kreisen lukrative Geschäfte mit schadhaften Masken getätigt, während in Bayern Markus Söder kurzerhand Todesopfer mit ungeklärtem Immunisierungsstatus zu Ungeimpften erklärt und so locker auf übertriebene Sterbezahlen für die Vakzin-Abstinenten kommt (obwohl deren höhere Mortalität auch ohne Zahlenspielerei belegt werden kann).


Überhaupt wirkt der bayerische Ministerpräsident wie ein trojanisches Pferd zwischen den Mauern offizieller Pandemiebekämpfung, ein Gaul der sich menschenfreundlich und verantwortungsbewusst gibt (wenn es denn PR-Punkte bringt), dann aber plötzlich bockt und auskeilt, jäh die Richtung wechselt und schließlich im Kreis galoppiert. Söder ist da beileibe nicht der einzige Selbstdarsteller im Land, aber der lauteste und perfideste.


Erst das Ego, dann die Seuche


Als Österreich im Frühjahr 2020 Maskenpflicht und Abstandsregeln einführte, tönte Söder, in Bayern brauche es solche Regeln nicht. Vierzehn Tage später ordnete er genau diese Vorsichtsmaßnahmen für den Freistaat an. Einen Lockdown wie in Austria werde es in Bayern nicht geben, verkündete er wenig später, nur um, erneut nach zwei Wochen Schamfrist, ähnliche Kontaktbeschränkungen zu verhängen, und zwar so scharf und sinnfrei, dass am Anfang selbst Menschen, die, allein auf einer Parkbank sitzend, ein Buch lasen, mit Bußgeldern belegt wurden. In der Folge gab er sich als der konsequenteste Wegsperrer oder als der schnellste Lockerer in Deutschland, abhängig davon, wo er die Volksmeinung vermutete.


Söder, der kein Mikro und keine TV-Kamera links liegenließ, mahnte stets ein einheitliches Vorgehen aller Bundesländer an, um immer wieder als Erster auszuscheren. Er war zunächst gegen die Impfpflicht, wurde, durch Umfragen geläutert, zu deren radikalstem Befürworter – und will sie jetzt wiederum nicht einmal mehr für Pflegekräfte umsetzen. Das Publikum hat Probleme, seinen zahllosen Volten und Rollen rückwärts zu folgen, und mancher fragt sich, ob solch chronisch irritierendes Verhalten nicht einem geistigen oder psychischen Defekt entspringt.


Wäre Markus Söder noch Pennäler, würden Psychologen ihm vermutlich ADHS (Aufmerksamkeits-Defizitäts-Hyperaktivitäts-Störung), gepaart mit krankhaftem Narzissmus und galoppierendem Realitätsverlust attestieren. Aber er ist Ministerpräsident eines Freistaates, und Menschen, die den Impfkampagnen sowie den mal sinnvollen, mal unlogischen Kontaktvorschriften von vornherein verunsichert bis misstrauisch gegenüberstehen, halten ihn (und seine Kollegen) schlicht für wenig glaubwürdig.


Es mutet absurd an, aber viele Impfunwillige glauben eher an Räuberpistolen von per Impfstich unter die Haut verpflanzten Chips, von Bill Gates‘ geplanter Weltherrschaft dank Corona oder vom Great Reset, den die Reichen und Mächtigen mit Hilfe von Covid-19 zur kompletten globalen Umgestaltung nach ihrem Gusto vornehmen (als könnten sie nicht mit der jetzigen Weltordnung hochzufrieden sein), als an den Sermon, den Politik und Medien in den Zeiten der Pandemie verbreiten.


Die zahllosen Inkorrektheiten, Vorteilsnahmen, Falschbehauptungen, die diffusen Hypothesen oder opportunistischen Wendungen, die seit dem Corona-Ausbruch auf staatlicher Seite zu beobachten waren, haben dazu beigetragen, dass noch krudere Dystopien und Horrormärchen plötzlich plausibel erscheinen. Wer zu lange und zu oft Fakten filtert oder missdeutet und das eigene Interesse auf Kosten der Allgemeinheit pflegt, züchtet die Impfgegner und Verschwörungstheoretiker selbst heran.

02/2022
Dazu auch:
Verblödungstheorien und Zeit der Peinlichkeit im Archiv der Rubrik Medien (beide 2021)







Hilfe zum Untergang


Die Folgen der Intervention in Afghanistan, die vor einem halben Jahr mit der Flucht der West-Alliierten aus Kabul endete, werden noch Jahrzehnte spürbar bleiben. Die Zwischenbilanz von UN-Organisationen und NGOs fällt aber dermaßen düster aus, dass die internationale Öffentlichkeit sich jetzt mit der wohl hoffnungslosesten Lage, in der sich das Land seit Jahrhunderten befindet, beschäftigen müsste: Nicht die Verluste der NATO-Truppen und deren partieller Verrat an den einheimischen Helfern stehen dabei im Vordergrund, sondern die Situation beträchtlicher Bevölkerungsteile, die zu verhungern drohen, weil sie nichts weiter als vernachlässigbare Manövriermasse in strategischen Spielen um Macht und polit-ökonomischen Einfluss darstellen.


Es kommt nichts Besseres nach


In seiner jüngeren Geschichte musste das Land am Hindukusch zunächst die Invasion der sowjetischen Armee 1979, die den Staatsbürokratismus Moskauer Prägung in die Dritte Welt exportieren sollte, erdulden. Es folgten die vom Westen alimentierten Mudjahedin, islamistische Kriegsherren mit einem gewissen Hang zum Banditentum, welche ihrerseits von entschlosseneren Zeloten, den von Pakistan ausgebildeten Taliban, hinweggefegt wurden. Diese wiederum errichteten einen geist- und menschenfeindlichen Gottesstaat, in dem Frauen zu entpersönlichten Schattenwesen degradiert und Kunst, intellektuelle Auseinandersetzung oder gar Kritik als Blasphemie geächtet wurden.


Schlimmer könnte es nicht mehr kommen – dachte man/frau. Doch dann beriefen die USA eine Kriegsallianz ein, die sich für 9/11, die Mega-Attentate durch Al-Qaida-Terroristen, denen die Taliban Gastrecht gewährt hatten, rächen wollte. Dass es auch um die Sicherheit der westlichen Handelswege ging, wie Bundespräsident Köhler ausplauderte, ebenso um Bodenschätze und strategische Stützpunkte, sei nur am Rande vermerkt. Eine multi-nationale Streitmacht marschierte in Afghanistan ein, traf zunächst auf wenig Widerstand, beherrschte das Terrain (zumindest bei Tag und in befestigten Städten), zerschlug archaische, aber auf niedrigem Level einigermaßen funktionierende Wirtschafts- und Sozialstrukturen und oktroyierte dem  unterentwickelten Land das westliche System auf wie ein gesellschaftliches Puzzle, bei dem aber leider die meisten Teile fehlten.


Es sei nicht verschwiegen, dass es in einigen Regionen und Siedlungen den Menschen zunächst besser ging, bekamen dort doch Frauen und Mädchen einen Zugang zu rudimentärer Bildung, wie sie ihn seit den Tagen der sowjetischen Intervention nicht mehr erlebt hatten. Auch Künstler konnten sich aus dem Untergrund wagen, und Angehörige religiöser Minderheiten durften sich eine kurze Zeit lang sicherer fühlen. Diese positiven Änderungen wurden maßgeblich von unabhängigen Hilfsorganisationen angestoßen, waren aber nicht von Dauer. Die Besatzungsmacht war indessen damit beschäftigt, eine Regierungskoalition aus Warlords, Drogenhändlern und Kriegsgewinnlern zu schmieden sowie eine Schein- und Almosenwirtschaft aufzubauen, während die Taliban langsam, aber unaufhaltsam wiedererstarkten.


Als die Alliierten nach zwanzig Jahren Besatzung, nach Abertausenden durch Bombardierungen, Drohnenangriffe und Racheakte getöteten Zivilisten (Lesart: „Kollateralschäden“) ihr Scheitern durch einen fluchtartigen Blitzrückzug beendeten, kehrten die islamistischen Fanatiker zurück und übernahmen ein materiell wie ideell in Trümmern liegendes Land, dessen Elend weltweit allenfalls noch mit dem des Jemen, der das Schlachtfeld eines Vernichtungskriegs ist, verglichen werden kann. Weder nach dem Abzug der Sowjets 1988 noch nach der Entmachtung der Taliban 2001 waren die ökonomischen Grundlagen für das Überleben der Afghanen so gründlich zerstört gewesen wie nach der Niederlage der westlichen Invasionstruppen.


Zwei Prozent haben genug zu essen


In den zwanzig Besatzungsjahren ging es mit der Landwirtschaft in Afghanistan weiter bergab, natürlich abgesehen vom Opiumanbau. Hilfslieferungen aus dem Ausland wurden zur lebensrettenden Norm, die jetzt aufgrund von US-Sanktionen weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Das UN-Welternährungsprogramm gibt an, dass derzeit 98 Prozent der Bevölkerung nicht genug zu essen haben; eine Hungerkatastrophe – bleiben wir in der Diktion der christlichen Okkupanten – biblischen Ausmaßes (denn einen ähnlichen Mangel haben weltliche Chronisten noch nie gemeldet) steht unmittelbar bevor. Die Hilfsorganisation International Rescue Committee spricht von über 24 Millionen Menschen, die von extremer Unterernährung bedroht sind. Laut der NGO Save the Children benötigen 13 Millionen Kinder humanitäre Hilfe, fast vier Millionen davon könnten in Kürze dem Hungertod zum Opfer fallen.


Im Jahr 2007 galt ein Drittel der afghanischen Bevölkerung als arm. Nur elf Jahre später waren es bereits knapp 55 Prozent, ein Trend, der sich in den letzten Jahren der Besatzung fortgesetzt haben dürfte. Je länger die uniformierten „Helfer“ im Land waren, desto rascher verelendeten die Menschen dort. Für die amerikanischen, britischen, australischen oder deutschen Truppen und deren administrative Entourage wurde hingegen eine ordentliche Infrastruktur bereitgestellt, was vorübergehend Jobs im Dienstleistungssektor generierte. Gleichzeitig wurde im agrarisch geprägten Afghanistan die ohnehin schwach entwickelte Industrieproduktion ebenso vernachlässigt wie Ertragssteigerung und effektivere Versorgung durch die Landwirtschaft. Jetzt sind die Fremden weg, und niemand benötigt mehr Kellner, Köche, Friseure oder Gärtner.


Wie die Weltbank konstatierte, flossen so viele Hilfs- und Fördergelder nach Afghanistan, dass sie 43 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachten – Mittel, die dem wenig motivierten einheimischen Militär zugutekamen oder in den Taschen der hofierten Kleptokraten in Kabul verschwanden, während angesichts des Imports fast aller wichtigen Güter, an dem westliche Unternehmen prächtig verdienten, die einheimische Wirtschaft praktisch überflüssig wurde.


Die Gelder aus dem Ausland fließen nicht mehr. Die Äcker liegen brach, die Maschinen stehen still, Verwaltung und Gesundheitswesen sind quasi inexistent, und die Taliban erweisen sich als unfähig, die Korruption zu stoppen und ein einigermaßen funktionierendes Rechtswesen (wozu die Scharia nicht zu zählen ist) zu implementieren. Seit der Intervention 2001 hing Afghanistan am Tropf des Westens, jetzt wurden die Schläuche durchschnitten und die Bevölkerung siecht dahin. Um den Untergang zu beschleunigen, haben die USA umfassende Sanktionen verkündet – eine Strategie, die zwischen entwickelten Staaten zu Duellen um die ökonomischen Vormacht führt, die aber für bitterarme Länder tödliche Folgen zeitigt.


Die Rache der Verlierer


Der Weltsicherheitsrat hat deshalb im Dezember vorigen Jahres humanitäre Hilfe für Afghanistan von allen Sanktionen freigestellt, die USA haben also kein Veto gegen diesen Beschluss eingelegt. Dennoch gelten ihre umfangreichen Sanktionsgesetze – von wenigen Ausnahmen abgesehen – weiter. Dies bedeutet nicht nur, dass keine Waren, Ersatzteile oder Medikamente aus den Vereinigten Staaten mehr ins Land gelangen, es hält auch Unternehmen, Organisationen und Banken aus anderen Staaten davon ab, Afghanistan zu beliefern oder den Handel pekuniär abzusichern. Überhaupt ist das Land mittlerweile völlig vom internationalen Finanzverkehr abgeschnitten.  Niemand möchte sich im Labyrinth der US-Boykottpolitik verirren und als vermeintlicher Sanktionsbrecher selbst in Washingtons Bann geraten.


Die Konflikte der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass Wirtschaftssanktionen gegen autokratisch regierte Staaten nie die Machthaber trafen, sondern stets nur die Bevölkerung – und dass sie höchst selten zum intendierten regime change führten. Auch wenn die USA den Iran vom Nachschub für Wartungstechnik oder Venezuela von der Versorgung mit Lebensmitteln und Pharmazeutika abschnitten und die West-Alliierten zur Nachahmung nötigten, die Mullahs und auch Maderos Pseudo-Revolutionäre blieben an der Spitze. Saddam Hussein konnte ebenfalls erst durch einen per Fake vom Zaun gebrochenen Krieg beseitigt werden, mittels Aushungerung des irakischen Volkes gelang das nicht.


Auch jetzt werden die Sanktionen nicht die Taliban brechen, sondern einer ohnehin schon moribunden Bevölkerung den Rest geben. Der US-Administration aber ist das Festhalten an ihrem Racheprinzip wichtiger als das Überleben von Menschen irgendwo in Asien. Es war die Außenministerin Madeleine Albright, von der Joschka Fischer heute noch in höchsten Tönen schwärmt, die 1996 im TV auf die Frage, ob die US-Sanktionsziele den Tod einer halben Million irakischer Kinder rechtfertigen würden, lapidar antwortete: „Wir denken, sie sind diesen Preis wert.“


Nach uns das Chaos


Nach einem fünfwöchigen Aufenthalt am Hindukusch erklärte Paul Spiegel, Direktor des humanmedizinischen Instituts an der John-Hopkins-Universität, in der „Washington Post“: „Ich kann klar feststellen, dass, wenn die USA und die anderen westlichen Regierungen ihre Sanktionspolitik gegen Afghanistan nicht ändern, mehr Afghanen wegen der Sanktionen sterben werden als von Händen der Taliban.“


Das ist also das Ergebnis von zwanzig Jahren eines Krieges, der Besetzung eines Landes, eines Versuchs, ein Volk zu domestizieren, an dem auch die deutsche Bundeswehr teilgenommen hat - nicht erfolg- oder siegreich, aber immerhin der Widerlegung einer perversen Militärdoktrin dienlich. Doch es scheint, als wolle man nichts lernen, in Berlin und in London oder Paris nicht, und erst recht nicht in Washington. Die damalige Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer fasste nach dem panischen Rückzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan kurz und wirr zusammen, was außer ihr niemand erkennen konnte: Die Bundeswehr habe ihren vom Parlament erteilten Auftrag erfüllt. Bestand der etwa darin mitzuhelfen, ein Land ins Chaos zu stürzen? Noch konfuser äußerte sich ihr amerikanischer Amtskollege Anthony Blinken, der den US-Einsatz als „Erfolg“ bezeichnete, weil es gelungen sei, die Drahtzieher von 9/11 zur Strecke zu bringen. Auf Kosten Hunderttausender, langfristig vielleicht von Millionen, deren Leben oder zumindest Perspektiven zerstört wurden…


Weder das Scheitern in Afghanistan, noch das in Libyen, im Irak oder gegenwärtig in Mali kann die Interventionsfanatiker der NATO von ihren Beherrschungsphantasien abbringen. Manchmal erinnern die bewaffneten Ausflüge westlicher Truppen an einschlägige militaristische Brettspiele: Man besetzt ein Land, zerstört dort gewissenhaft die Lebensgrundlagen, zieht ab, wenn es brenzlig wird – und sucht sich dann den nächsten Fleck auf der Weltkarte.

01/2022
Dazu auch:
Die Lehren von Kabul und Dumm oder inhuman? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2021)





 
Der doppelte Olaf


Immer wieder ist in der Kunst, in der Psychiatrie oder der Forensik vom rätselhaften Aufeinandertreffen diametral entgegengesetzter Verhaltensweisen, Handlungen oder Phantasien, die sich in ein und derselben Person manifestieren, die Rede: Schwarz und Weiß wechseln jäh ab, das Gute gewinnt für einen Augenblick die Oberhand, nur um  gleich danach dem Bösen weichen zu müssen, und diese Phasen folgen rasend schnell aufeinander, treten beinahe gleichzeitig ein. Oft liegen einem solchen Zusammenprall widerstrebender Kräfte seelische Syndrome, etwa eine Persönlichkeitsspaltung, zugrunde, manchmal wird er aber auch von einem Beruf begünstigt, zum Beispiel dem des Politikers. So ist unser neuer Bundeskanzler Olaf Scholz geradezu ein Musterexemplar für extreme Bipolarität in einem ansonsten eher schlichten Menschenwesen.


Die Ampel und die gute Absicht


Gegen Ende des letzten Jahres bestimmte die unversöhnliche Rivalität zwischen friedensbewegter Abrüstung und lukrativem Waffenhandel die Agenda des Hanseaten. Diese Quadratur des Kreises hätte andere an den Rand des Wahnsinns getrieben, Scholz aber konnte sich auf sein bekannt schlechtes Gedächtnis verlassen und in aller Unschuld die beiden unversöhnlichen Seiten beinahe simultan bedienen, d. h. zusammen mit alten Regierungskumpels ein Gesetz brechen, das er kurz zuvor mit seinem neuen Kabinett energischer durchzusetzen, ja sogar neu etikettiert, zu verschärfen versprach. Und das ging so:


Meldungen, denen zufolge die hundert größten deutschen Waffenschmieden während der Corona-Krise ihre Exporte, zum Gutteil in dubiose Länder und Krisengebiete, enorm gesteigert hatten, lösten bei Teilen der Grünen und der SPD offenbar lange unterdrückte pazifistische Impulse aus. Sie ließen in den Koalitionsvertrag der drei Ampel-Parteien schreiben, dass künftig die Waffen-Ausfuhren erschwert würden, und fügten erstaunlicherweise hinzu: "Wir setzen uns für ein nationales Rüstungsexportkontrollgesetz ein."


Das gibt es aber eigentlich schon seit 1961, im Juni 2021 zuletzt modifiziert, es nennt sich nur ein wenig anders. Im Paragrafen 6 des Kriegswaffenkontrollgesetzes wird nämlich unmissverständlich festgelegt, dass Rüstungsexporte nicht genehmigt werden dürfen, wenn „die Gefahr besteht“, dass sie „bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere einem Angriffskrieg, verwendet werden“. Damit wäre auch das wohl konkreteste Verdikt im Koalitionsvertrag bereits abgedeckt: "Wir erteilen keine Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter an Staaten, solange diese nachweislich unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind."


Kann ja mal passieren, dass die Mitglieder des neuen Kabinetts mit der herrschenden Gesetzeslage nicht so vertraut sind (zumal die Vorgänger diese ebenfalls kontinuierlich ignorierten), aber einer der Ihren ist ein alter Fuchs und scheinbar mit allen toxischen Wassern der Umgehung geltenden Rechts gewaschen. Olaf Scholz gehört als einer von sieben Ministern dem Bundessicherheitsrat an, der letztendlich über den Handel mit Massenvernichtungsmitteln entscheidet, und er verhinderte nicht, dass die erklärten guten Absichten der Ampel-Koalition Anfang Dezember von dem erlesenen Gremium, in dem vornehmlich bereits Abgewählte saßen, brutal ad absurdum geführt wurden.


Deal auf den letzten Drücker


Erst durch die Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen kam ans Tageslicht, dass die Regierung Merkel in den letzten neun Tagen ihrer Amtszeit, somit in jener Periode, die dazu dienen sollte, die Ministerien besenrein zu übergeben, Rüstungsexporte für fast fünf Milliarden Euro genehmigt hatte. Der Löwenanteil daran geht nach Ägypten, also an eine Militärdiktatur, die im Jemen als Kriegspartei auftritt und in einer von Saudi-Arabien geführten Allianz die Infrastruktur eines bettelarmen Landes derart effektiv zusammenbombt, dass UN-Organisationen von der zurzeit schlimmsten humanitären Krise weltweit sprechen. Hauptnutznießer der großzügigen Lizenz zur Beihilfe zum Massenmord sind übrigens die einschlägig berüchtigten Konzerne Thyssenkrupp und Diehl.


Und nicht nur dabei, sondern mittendrin war Olaf Scholz, der sich soeben erst im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet hatte, solche Schweinereien zu verhindern. Er drängte nicht auf Verschiebung der Entscheidung, zumal das Kabinett nur noch geschäftsführend (somit ohne Richtlinienkompetenz) im Amt war, er wandte sich nicht mit der Bitte um Prüfung an die Justiz und er informierte schon gar nicht die Öffentlichkeit. Vielleicht wollte er der Rüstungsindustrie signalisieren, dass es für sie mit ihm als Kanzler schon nicht so schlimm und friedliebend kommen werde; womöglich ist das Verhalten in dieser Angelegenheit aber auch ein weiteres Symptom für eine rätselhafte Persönlichkeitsstörung.


Dr. Jekyll und Mr. Scholz


Schon immer standen Äußerungen und Handlungen des früheren deutschen Finanzministers, Hamburger Bürgermeisters und Juso-Funktionärs unter mittelschwerem Schizophrenie-Verdacht: Da fordert er mit Inbrunst die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro (was auch nicht zur Gründung einer Familie und für die Miete in einer soliden Wohnung reicht) und geriert sich als Bewahrer von Arbeitsplätzen – nicht lange nachdem er bei Steuerhinterziehern aus dem hanseatischen Geldadel zum Tee war und ihnen Rückzahlungen ersparen wollte. Da setzt er sich für eine sozialere Republik ein und lässt die Cum-Ex-Betrüger jahrelang ihr Unwesen treiben, auf dass Milliarden an Steuergeldern für soziale und medizinische Einrichtungen fehlen. Und wer hätte dem kecken Junglinken einst zugetraut, dass er später in Amt und Regierung einen Gangsterkonzern wie Wirecard protegieren würde?


Auf seine Verfehlungen angesprochen, führte Scholz gern seine umfassende Vergesslichkeit als Entschuldigungsgrund an, eine in Deutschland weitverbreitete Eintrübung des Langzeitgedächtnisses. Anderswo verhindert eine solche Einschränkung des Intellekts das Aufrücken in höchste Positionen, hierzulande prädestiniert sie geradezu dafür. Der letzte Fauxpas, nämlich Letal-Exporte zu erlauben, während man gleichzeitig nach ihrer Unterbindung schreit, legt allerdings nahe, dass wir es mit einem psychotischen Syndrom zu tun haben, bei Scholz scheint es sich um eine gespaltene Persönlichkeit zu handeln, wobei die beiden Hälften ohne innere Auseinandersetzung kontrovers agieren.


Was dieses Phänomen, bezeichnen wir es als Fall „Doppelter Olaf“, von Beispielen aus der psychiatrischen Praxis, aber auch von literarischen Vorbildern wie der biblischen Pauluswerdung des Saulus oder Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ unterscheidet, ist das Fehlen jeglichen emotionalen Konflikts, der seelischen Pein des Kranken. Bei Scholz lässt sich kein verzweifeltes Ringen von Gut und Böse beobachten, die beiden antagonistischen Pole scheinen eher eine gewisse Teamfähigkeit entwickelt zu haben. Der soziale Verantwortung propagierende Kanzler und sein skrupelloses Pendant geben einander die Klinke in die Hand, als vollzögen sie einen ganz normalen Schichtwechsel in der täglichen Arbeit.
01/2022
Dazu auch:
Üble Deals mit Kalkül im Archiv der Rubrik Medien (2018)





2021


 


Rostiges Werkzeug

 

Die neue Bundesregierung will offenbar ein uraltes Instrument der politischen Disziplinierung und Ächtung wiederbeleben, den Radikalenerlass. Die Überprüfung opportunen Bürgerverhaltens soll erneut dem schwer vorbelasteten Verfassungsschutz obliegen. Der wiederum wird von einem Bundestagsausschuss kontrolliert, dem ausgerechnet der AfD-Mann Martin Hess hätte vorsitzen sollen. Verantwortlich für diese absurde Konstellation wären die Grünen gewesen. Mit vereinten Kräften und ein wenig Trickserei wurde die Bestellung des Rechtsextremen zum Vorsitzenden doch noch verhindert.


Grüne Bescherung für die AfD?

Es gehört zu den Gepflogenheiten so ziemlich aller im Bundestag vertretenen Parteien, verdienten Mitgliedern wichtige Posten zuzuschanzen, und zwar ohne Rücksicht auf persönliche Eignung oder inhaltliche Schwerpunkte. Bei dieser schönen Übung ist den Grünen nun ein Lapsus unterlaufen, weswegen sich die AfD für kurze Zeit lang über ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk freuen durfte.

Anton Hofreiter, langjähriger Vorsitzender der Grünen-Fraktion, wollte Verkehrsminister werden, doch dieses Ressort überließen die Öko-Realos den SUV-Fetischisten von der FDP. Als gelernter Biologe hätte sich der Bayer auch mit dem Landwirtschaftsministerium zufriedengegeben, aber das schnappte ihm der fachfremde Parteifeind Cem Özdemir weg. Nun sollte es wenigstens der Vorsitz eines parlamentarischen Ausschusses für den leidgeprüften Hofreiter sein. Mithilfe eines solchen Gremiums, in dem alle Parlamentsparteien vertreten sind, kontrolliert der Bundestag die Arbeit der Regierung und der ausführenden Organe.

In der Hitliste rangiert der Haushaltsausschuss ganz oben, denn es geht ums Geld. Er steht traditionell der wichtigsten Oppositionspartei, diesmal also der Union, zu. Die SPD sicherte sich den Auswärtigen Ausschuss, dann hatten die Grünen als drittgrößte Fraktion die Wahl zwischen Innen-, Verteidigungs- oder Europaausschuss (in der Reihenfolge der Bedeutung). Hofreiter, die ehrliche Haut, dachte sich wohl, von Innenpolitik verstehe er zu wenig (ein Umstand, der den Kollegen Özdemir nicht vom Agrar-Ministerium abgehalten hatte), und entschied sich für das Europa-Gremium. Da sich die FDP schon frühzeitig auf den Verteidigungsausschuss festgelegt hatte, wäre die Leitung der Parlamentskommission, die der Regierung und den Sicherheitskräften auf die Finger schauen und die Verfassungsmäßigkeit von Entscheidungen sowie Praktiken prüfen soll, ausgerechnet an die fünftstärkste Fraktion, die AfD eben, gegangen, deren Grundgesetztreue in erheblichem Zweifel steht.

Rechter Leumund der Verfassungsschützer

Der Polizist Martin Hess, Spezialist der AfD für die Aushebelung des Asylrechts und für Verbotsanträge gegen linke Gruppen, hätte im Bundestag die Versuche, das kollektive Versagen der Sicherheitsdienste bei der Aufklärung der NSU-Morde zu erhellen, oder mit einer möglichen Untersuchung rassistischer wie neonazistischer Umtriebe in seiner Polizei wie auch in Spezialkommandos der Bundeswehr zu durchleuchten, orchestrieren sollen. Zudem wäre er wortführend für die Ausländer- und Asylpolitik zuständig gewesen. Die neutrale und objektive Funktion des Ausschussvorsitzenden, die der Gesetzgeber vorschreibt, hätte Hess sicher auf eine ganz eigene Art interpretiert.

Nur wurde der erklärte Waffenfreund nicht gewählt, denn die Ampelparteien brachen gemeinsam mit der Union und der Linken mit dem alten Brauch, den Kandidaten der Fraktion, die das Vorschlagsrecht hat, durchzuwinken. Auch die AfD-Aspiranten für den Vorsitz von zwei weiteren Ausschüssen fielen durch. Bevor sich aber nun die rechten Ultras in der Rolle der von „Eliten“ und Linken verfolgten Märtyrer einrichten, sollten sie erst einmal die Statements der Koalitionspartner zur inneren Sicherheit und zu deren Wächtern prüfen. Die deuten nämlich die Renaissance eines Kontrollinstruments an, das in der Vergangenheit stets gegen Rote, Anarchisten, Spontis oder Aufrüstungsgegner angewandt wurde, nicht gegen militante Nationalisten und Neonazis.

Im Koalitionspapier sprachen die neuen Regierenden den bundesdeutschen Nachrichtendiensten ihr „vollstes Vertrauen“ aus: also dem BND, der andere Regierungen bespitzelte und im Irak Bombenziele für die US-Streitkräfte ausspähte, obwohl die BRD (offiziell) gar nicht am Krieg teilnahm; dem MAD, der erst von französischen Militärs erfuhr, dass ein Elite-Soldat in Verkleidung als arabischer Flüchtling Terrorakte plante, und der heute noch nicht weiß, wo Rechtsradikale die ganzen der Bundeswehr geklauten Waffen und Geschosse verstecken.

Und natürlich dem  Verfassungsschutz im Bund und in den Ländern: Einst von Hans-Georg Maaßen, einem veritablen Rechtsaußen in Nadelstreifen, geführt, investierte das Bundesamt fast seine gesamte Energie in den Kampf gegen die linke und autonome Gefahr. Zuvor schon waren in der Behörde NSU-Akten geschreddert worden, was eine lückenlose Aufklärung der Neonazi-Mordserie beinahe unmöglich machte. Und noch früher, sozusagen in der Jugend dieser Republik, sorgten frühere Hitler-Gefolgsleute dafür, dass der neue Dienst auf strikt rechten Kurs einschwenkte (und wenig deutet bis heute darauf hin, dass von der Richtung abgewichen wurde).

Das aktuelle Koalitionspapier macht mit einem weiteren Paukenschlag deutlich, dass die politische Amnesie hierzulande beinahe epidemische Ausmaße erreicht hat: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“  Nur, wer soll die erwähnte Aversion gegen das Grundgesetz definieren und feststellen? Die Befürchtungen, dass es jene schwer vorbelasteten Verfassungsschützer sein werden, von denen einer einem NSU-Mord beiwohnte, ohne die Schüsse zu hören und das Opfer zu bemerken, während andere als V-Leute das Parteiprogramm der NPD mit entwarfen, werden durch einen Passus zur „inneren Sicherheit“ in den Ampel-Absichtserklärungen bestätigt: „Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.“

Da wird er wieder beschworen, der Geist des guten alten „Radikalenerlasses“, der einst eine Ära der Gesinnungsschnüffelei, der Ächtung linker und pazifistischer Gedanken sowie der Vernichtung beruflicher Karrieren einleitete und einen Hauch von McCarthy-Nationalismus aus Hollywood über den großen Teich nach Deutschland brachte.

Wieder mit der SPD gegen links?

Der „Radikalenerlass“ war 1972 von der SPD/FDP-Regierung unter dem Sozialdemokraten Willy Brandt verabschiedet worden. Sollte er nun fünfzig Jahre später neu implementiert werden, würde das auch wieder unter einem SPD-Kanzler, dem nachgewiesenermaßen sehr vergesslichen Olaf Scholz, geschehen. Nur weltfremde Lämmer können annehmen, der Überwachungsmechanismus diene dazu, die Umsturzvorbereitungen der militanten Rechten zu stoppen – sind doch die zuständigen Controller in den Sicherheitsbehörden allzu oft deren Sympathisanten.

Der „Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote“ charakterisiert völlig zurecht den Erlass des Brandt-Kabinetts und seine fatalen Auswirkungen folgendermaßen: „Er hat nicht nur Tausende von Linken diffamiert, ausgegrenzt und ihre Lebensperspektiven zerstört, sondern vor allem die gerade erst im Wachsen begriffene demokratische Kultur dieses Landes schwer beschädigt. Rechte blieben von der damaligen Hexenjagd so gut wie vollständig verschont.“

„Ausgerechnet der tief in die rechte Szene verstrickte Inlandsgeheimdienst“ (Anm.: der Verfassungsschutz) würde vorschlagen, wer als „Verfassungsfeind“ anzusehen und zu behandeln sei. Grundgesetz und Strafrecht reichten nach Ansicht der Ausschuss-Sprecher völlig aus, um rechte Netzwerke in Polizei, Militär und Justiz zu bekämpfen. Dies ist insofern richtig, als Neonazis, sogenannte Reichsbürger und militante Nationalisten zwangsläufig auf kriminelle Methoden zurückgreifen und so die Polizei zur Ahndung ausreicht, ohne dass auf großflächige Überwachung und Gesinnungskontrolle, die ohnehin vorrangig linke Kritiker treffen würden, rekurriert werden müsste.

Wie kurz muss das Gedächtnis der einst als links geltenden Grünen sein, wenn sie mit den verrosteten Werkzeugen der konservativen Polit-Inquisition liebäugeln, ohne daran zu denken, dass vor einigen Jahrzehnten ihre Gründer selbst zu Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes wurden und der eine oder andere friedensbewegte Pädagoge unter ihnen seine Stelle als Referendar nicht antreten durfte. Vielleicht trösten sie sich jetzt damit, dass bei einer Neuauflage der anti-sozialistischen Hexenjagd wenigstens nicht der AfD-Experte für Law, Order and Arms, Martin Hess, die Richtung der Debatte vorgibt. Nein, um die Rechtfertigung der neuen alten Maßnahmen werden sich die Ampel-Demokraten schon selbst bemühen müssen…
12/2021
Dazu auch:
Doofe Spione? (2014) und Im Zweifel rechts (2018) im Archiv der Rubrik Medien




 



Abgang der Nieten


Nach der Bundestagswahl und den ersten Verhandlungen der drei Koalitionspartner in spe schwante manchem Übles: Christian Lindner, das nette Gesicht des bedenkenlosen Neoliberalismus, als künftiger Minister? Kinderbuchautor Robert Habeck darf dem Volk vom Kabinettstisch aus Märchen erzählen? Gemach, ihr furchtsamen Seelen. Frohlockt doch erst einmal darüber, dass eine stattliche Anzahl ausgewiesener Nullen die Berliner Komödienbühne verlassen muss. Nicht, dass uns diese Clowns mit ihren Fehlleistungen keinen Anlass zu herzlichem Gelächter geliefert hätten, doch fielen die Rechnungen, die uns für diese Vorstellung präsentiert wurden, doch etwas zu hoch aus.


Der Hüter des Anstands


Damit sich die Abgeordneten im deutschen Parlament nicht wie ungezogene Gören verhalten, hat der Gesetzgeber einen Posten geschaffen, der in der nationalen Rangliste gleich nach dem des Bundespräsidenten kommt. Nun sollte man meinen, dass die Nummer 2 im Lande, der Bundestagspräsident als Hüter des parlamentarischen Anstands sozusagen, eine Person von untadeligem Ruf sei. Warum dann aber gerade das CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble zum Zuchtmeister berufen wurde, bleibt ein Geheimnis schwarzer Politik.


Schließlich war Schäuble dick in den Spendenskandal um Kanzler Helmut Kohl verwickelt, und hat wohl auch hunderttausend Deutschmark an illegaler Zuwendung persönlich empfangen. Viel teurer kam die Republik seine Zeit als Bundesfinanzminister zu stehen. Sieben Jahre lang sah er untätig zu, wie Finanzhaie und Pseudo-Investoren mittels Cum-Ex-Tricks den deutschen Fiskus um bis zu 42 Milliarden Euro erleichterten, ehe er sich 2016 dazu herbeiließ, nach mehreren lange unbeachteten Warnungen untergebener Beamter die betrügerischen (Schein)Geschäfte zu stoppen.


Transparenz blieb Schäuble auch als Parlamentspräsident suspekt, weshalb er in Sachen Lobby-Kontrolle und Ahndung finanziellen Fehlverhaltens von MdBs stets die Bremsen betätigte. Da die Christen-Union nun ein wenig dezimiert in den neuen Bundestag einzog und immer die stärkste Fraktion den Abgeordneten-Chef stellen darf, wurde Schäuble aus dem hohen Amt gespült.


Der sich gern diktieren ließ...


Wenn sich einer in der letzten Legislaturperiode mit Wirtschaftslobbyismus und dessen segensreichem Wirken auskannte, dann Peter Altmaier. Der übernahm eins zu eins den Vorschlag für eine neue Einfuhrregelung im Medikamentenhandel, den ihm Mitarbeiter eines Branchenriesen diktiert hatten. Die „Experten“ der Importfirma Kohlpharma verkomplizierten die Berechnungen so geschickt, dass weder Bundestag noch Bundesrat bemerkten, dass sie bei ihrer Zustimmung vor allem ein Unternehmen begünstigten: Das Unternehmen hieß „Kohlpharma“ und war im Wahlkreis von Peter Altmaier angesiedelt.


Dass der Noch-Wirtschaftsminister trotz solcher Heimatpflege sein Direktmandat in Saarlouis verlor, werden die Pharma-Lobbyisten als schreiende Ungerechtigkeit empfinden. Was uns aber nachdenklich stimmt: Der gemütliche Peter unterlag ausgerechnet dem bisherigen ewigen Verlierer und unerträglichen Außenminister-Parodisten Heiko Maas. Und den müssen wir jetzt weiter in der einen oder anderen Funktion ertragen.


Ein Mann des Wortes, nicht der Tat


Neben Markus Söder wird Jens Spahn als großer Mahner und Ankündiger in die Annalen der Corona-Ära eingehen. Immer ein bisschen spät, immer aktionistisch, auf mangelhafte Logistik gestützt, geleitete er uns durch die Seuchenjahre. Dabei vergaß er Freunde und potentielle Wähler nie: Seinen alten Freund Markus Leyck machte er ganz ohne Ausschreibung zum Chef-Digitalisierer des nationalen Gesundheitswesens. Wie der Zufall so spielt, hatte Spahn dem Kumpel zuvor eine luxuriöse Wohnung in Berlin-Schöneberg zu günstigen Konditionen abgekauft.


Über einen wahren Geldsegen durften sich die deutschen Apotheker freuen: Deren Verband wurde vom Gesundheitsminister (trotz Vorbehalten der eigenen Beamten) eine halbe Milliarde Euro pauschal zum Vertrieb von FFP2-Masken zur Verfügung gestellt. So musste der Steuerzahler für 6 € pro Larve aufkommen, während nur 1,50 € fällig geworden wären, hätten die Apotheker den FFP2-Schutz selbst bestellt.


Sein Meisterstück aber lieferte Spahn ab, als er vor der vierten Pandemie-Welle warnte und flehentlich flächendeckendes 3G anmahnte, aber beinahe zeitgleich die Impfzentren schließen ließ und das kostenlose Testen abschaffte. Nun muss auch ein Mann von solcher Effektivität gehen, aber Jens ist mit 41 Jahren noch jung und enorm ehrgeizig. Die noblen Gefälligkeiten und die großen Worte in den Zeiten der Corona müssen ihn doch irgendwann die Karriereleiter ganz nach oben stolpern lassen.


Die Schutzpatronin des Status quo


Ein Herz für ihre bevorzugte Klientel bewies auch die einstige Weinkönigin und immer noch geschäftsführende Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Das sonnige Gemüt aus der Pfalz gönnte den geplagten Großbauern weiterhin ihr Glyphosat und ihre Subventionen, flirtete öffentlich mit dem aggressiven Nahrungsmittel-Multi Nestlé, wollte dem Öko-Landbau Pestizid-Einsätze genehmigen, wohl um ihn zu desavouieren, verhinderte die Ampel-Kennzeichnung von Produkten, durch die Verbraucher vor zu viel Salz, Fett und Zucker gewarnt werden sollten, und bekämpfte die Massenviehhaltung ebenso tapfer wie unmerklich durch ein unklares und unverbindliches Etikett namens Tierwohl.


Vier Jahre lang wurde ein klimafreundlicher Umbau der Landwirtschaft gewissenhaft verschlafen. Wo der Boden in der Republik nicht schon zubetoniert oder asphaltiert war, durften ihn die agrarischen Großgrundbesitzer mittels Monokulturen auslaugen und gleichzeitig das Grundwasser durch Überdüngung versauen. Sie werden der fröhlichen Julia doch die eine oder andere Träne nachweinen.


Das Trio Infernale aus dem Süden


Ein bayerisches Dreigestirn sollte den Ruhm der CSU in die weite Welt hinaus bis nach Berlin tragen, nun wird es unverrichteter Dinge am politischen Firmament verblassen. Da präsentierte sich Dorothee Bär, Staatsministerin für grundlosen Frohsinn und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung, in bester Dauerlaune. In Erinnerung werden von ihr ein paar Show-Auftritte bleiben sowie in puncto Netztechnologie und Modernisierung … ähem, eigentlich nichts.


Horst Seehofer, abgesägter Ministerpräsident des Freistaats, wurde von Markus Söder - wie rostiges Eisen auf den Schrottplatz – als Polit-Opa ins Berliner Kabinett entsorgt. Er bewies beträchtlichen Altersstarrsinn, etwa als er sich über die Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen in einen Krieg, den die Bundeswehr gerade verlor, freute oder als er eine Untersuchung rassistischer Strukturen in der Polizei kategorisch ablehnte, weil es für ihn nichts gab, was nicht sein durfte.


Über den Dritten im Bunde ist so viel gesagt und geschrieben worden, dass hier des Sängers Höflichkeit zu seinen zahllosen Fehlleistungen schweigt und stattdessen bang fragt: Was wird der Scheuers Andi machen, wenn er nicht mehr Automobil-Minister dieses Landes sein darf? Werden sich seine Vorgesetzten bei VW, Daimler und BMW dankbar zeigen und ihm einen Job samt SUV-Dienstwagen anbieten? Oder glauben sie, dass sich Scheuers Pannenserie in ihren Unternehmen dann fortsetzen würde? Es muss ja nicht gleich der Aufsichtsrat sein, als Pförtner oder Hausmeister kann man doch nicht so viel falsch machen.


Die Nachfolger müssen sich ranhalten


Notorischen Pessimisten, die angesichts der bemerkenswert emotions- und substanzlosen Ampel-Koalitionsgespräche raunen, die nächste Gurkentruppe stünde schon in den Startlöchern, sei ans Herz gelegt, sich doch erst mal über das Scheiden der erwähnten Nieten (und die bildeten nur die Elite der Insuffizienz) zu freuen.


Wer allerdings glaubt, die Nachfolger des abtretenden Gaukler-Kabinetts könnten dessen Inkompetenz kaum toppen, sollte sich die künftigen Personalien näher ansehen. Einer der Versager aus dem verblichenen Bündnis hat sich nämlich in die neue Koalition herübergerettet: Cum-Ex-Olaf, der Freund und Gönner des Hamburger Geldadels, wird sogar an der Spitze der aktuellen Hoffnungsträger stehen. Und was der so über Corona oder die Klimakrise faselt, gibt Anlass zu den schönsten Befürchtungen…
11/2021
Dazu auch:
Leuchtturm im Sumpf (2021), Der Gnadenlose und Zwei trübe Tassen (2020), Guter Pharma-Onkel (2019) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit
Tierischer Todernst im Archiv der Rubrik Medien (2019)





Klassenprimus?


So viel Klimaschutz war nie: Erst diskutierten die G20-Regierungschefs in Rom, dann kamen die Verantwortlichen aus aller Welt nach Glasgow, um feierlich zu beschwören, am auf der Pariser Vorläuferkonferenz 2015 beschlossenen Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, festzuhalten. Während viel elaborierter Lärm um wenig Greifbares gemacht wird, scheint der Globus eher einem 3-Grad-Fieber entgegen zu taumeln. Die Schuld trifft viele Verantwortliche überall, aber nirgendwo lügen diese sich so eloquent in die eigene Tasche wie hierzulande.   


Die G20-Versager


Kurz vor dem Weltklimagipfel in Glasgow teilte die scheidende Umweltministerin Svenja Schulze der staunenden Erdbevölkerung mit, dass die Bundesrepublik bis 2045 klimaneutral sein wolle (ohne zu erklären, wie das gehen soll), dass sie solche Zusagen auch von anderen Staaten wünsche und dass diese sich das deutsche Modell zum Vorbild nehmen könnten. Am Wesen eines Landes, das Dörfer und Wälder dem auslaufenden Braunkohle-Tagebau opfert, das Monokulturen, Überdüngung sowie Massentierhaltung subventioniert, das jeden Tag einen Streifen Natur vernichtet, den ÖPNV vernachlässigt, aber seiner Automobilindustrie den Bau rasend schneller Dreckschleudern gestattet, soll also die Welt genesen? Da sei der Himmel vor!


Nehmen wir allein die weltweiten CO2-Emissionen: Die Deutschen pusten zwei Prozent des globalen Ausstoßes in die Luft, obwohl sie nur ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Das bedeutet, dass ein Bundesbürger doppelt so viel heile Atmosphäre kontaminiert wie ein durchschnittlicher Erdling. Und tatsächlich übertreffen nur sehr wenige Staaten in Relation zu ihrer Bevölkerungszahl die deutschen Emissionen, energieverprassende Fossil-Fans wie die USA, Kanada oder Australien etwa, das rücksichtslos produzierende Japan oder das industriell rückständige Russland. Doch selbst das oft gescholtene China oder das Brasilien des Öko-Feindes Bolsonaro liegen unter den Schadzahlen des „Umweltschutz-Vorbilds“ Deutschland. Das Argument, es werde hierzulande ja auch sehr viel produziert, gefahren und geliefert, zählt nicht, denn gerade als wirtschaftlich und technologisch hochentwickeltes Land hätte die BRD längst das Know-how zur Emissionsverminderung entwickeln und einsetzen müssen - wenn es denn gewollt gewesen wäre.


In Rom kamen kurz vor Glasgow die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) zusammen, um über die geeigneten Maßnahmen zum Klimaschutz zu streiten und unverrichteter Dinge auseinanderzugehen. Eine Studie, die Daten der Weltbank, der OECD und der Internationalen Energieagentur auswertete, kam zu dem Ergebnis, dass die G20-Bemühungen völlig unzureichend seien, zumal die Emissionen von Treibhausgasen in allen Mitgliedsländern entgegen der Beteuerungen von Paris 2015 weiter gestiegen waren.


Deutschland wird ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: Die BRD müsste ihren Ausstoß bis 2030 um 72 und nicht, wie angepeilt, um 65 Prozent reduzieren – schon diese Vorgabe wird sie wohl ohnehin verfehlen. Andere Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder Italien hätten sich weitaus ambitioniertere Klimaziele gesetzt als der angebliche Vorreiter, kommentierte die NGO Germanwatch.   


Deutschland nicht gerade vorn


Wie „toll“ Deutschland im internationalen Vergleich beim Klimaschutz performt, sollte man nicht den sehr selektiven Verlautbarungen der Bundesregierung bzw. des Umweltschutzministeriums entnehmen, sondern der weltweit umfassendsten Untersuchung der gegenwärtigen Situation in 57 Ländern der Erde. Den Climate Transparency Report 2021 haben Experten von 16 NGOs aus den G20-Staaten (darunter auch Germanwatch) soeben veröffentlicht, und er räumt der Bundesrepublik einen mäßigen 19. Rang im Effektivitätsranking ein, für das als die vier essentiellen Kriterien der Ausstoß von Treibhausgasen, der Stand beim Ausbau der erneuerbaren Energien, der Energieverbrauch insgesamt sowie die nationale Klimapolitik untersucht wurden.


Die ersten drei Plätze in der Rangliste von 1 bis 61 ließen die Fachleute frei, weil kein sich kein Land eine durchgehend positive Note verdient hatte. Angeführt wird danach die Liste von Schweden, dem u. a. drei weitere skandinavische und zwei baltische Staaten sowie relative Habenichtse wie Marokko und Chile folgen. Von den G20-Mitgliedern liegen Großbritannien und Indien (!) vor dem selbsternannten Klima-Weltmeister Deutschland als Neunzehntem, vor dem noch insgesamt acht Staaten der EU und die Gemeinschaft als Ganzes rangieren. Auf allen vier Untersuchungsgebieten scheidet die BRD nur durchschnittlich ab.


Diese Ergebnisse sollte man in Erinnerung behalten, um die vollmundigen Erfolgsmeldungen sowie die an den Rest der Welt gerichteten Belehrungen durch deutsche Politiker relativieren zu können. Offenbar wird in Berlin gern Mittelmaß mit Spitzenposition verwechselt. Und die sogenannten Sondierungen der drei potentiellen Koalitionspartner unter Führung des Wirtschaftslobbyisten Christian Lindner lassen vermuten, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird.


Weltspitze in Absichtserklärungen


Es kommt nicht viel Besseres nach. Diese pessimistische Prognose drängt sich nach den ersten Sondierungsgesprächen der in der mutmaßlich nächsten Regierungskoalition vertretenen Parteien auf. Richtig konkret wurde es eigentlich nur, wenn sich die FDP erfolgreich gegen die für die Realisierung der Umweltziele notwendige Finanzierung oder die Einschränkung von Yuppie-Fun stemmte: keine Wiedereinführung der Vermögenssteuer für Reiche, keine Aussetzung der Schuldenbremse (was in der Zeit des billigen Geldes durchaus sinnvoll gewesen wäre) und schon gar kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen!


Wo sich die Grünen durchsetzten (oder eher durchschlängelten?), sind die Ergebnisse sinngemäß meist im Optativ, dem Konjunktiv des Wünschens, festgehalten: „Zur Einhaltung der Klimaschutzziele ist auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung nötig. Idealerweise gelingt das schon bis 2030." Leider sind Ideale nicht von dieser Welt. Auf neuen Privathäusern sollen Solardächer „die Regel werden“. Leider gibt es dazu keine Verpflichtung. Den CO2-Preis auf Kraft- und Brennstoffe, den schon die große Koalition eingeführt hatte, will das neue Trio an die europäischen Klimaziele anpassen. Leider bleibt der Passus ohne weitere Konkretisierung. Der Sprit muss also teurer werden, nur drücken sich FDP und SPD vor einer klaren Aussage, statt nach einem sozialen Ausgleich für wirtschaftlich Schwächere, die auf den PKW angewiesen sind, zu fahnden.

Auch von der dringend gebotenen Intensivierung des ÖPNV liest man nichts.


Kritik kam von den Umweltverbänden und von Luisa Neubauer, der deutschen Frontfrau von Fridays for Future, die twitterte: "Wenn man das Papier an dem misst, was wir in den letzten 16 Jahren an Klimapolitik erlebt haben, dann ist das ein Schritt nach vorne. Aber das ist nicht der Maßstab. Der Maßstab ist das, was getan werden muss, um Lebensgrundlagen zu erhalten und 1,5-Grad-Zusagen einzuhalten."

Mit anderen Worten: Was von vier Regierungen verschlafen worden ist, lässt sich nicht mit Trippelschrittchen aufholen, vor allem dann nicht, wenn die Klimakatastrophe in Sieben-Meilen-Stiefeln voranschreitet und uns kaum mehr Zeit bleibt, sie auch nur zu verlangsamen. Es steht zu erwarten, dass die Bundesrepublik auch unter der nächsten Regierungskoalition im jetzigen Status quo verharrt, hilflos gegenüber dem Klimawandel, aber Weltspitze in Ankündigungen und Belehrungen.

11/2021

Dazu auch:

Krieg gegen die Natur in der Rubrik Politik und Abgrund sowie Freie Fahrt für niemand im Archiv derselben Rubrik (2021)



 


Befleckt ins Amt


Wir hatten uns daran gewöhnt, dass die Inhaber politischer Spitzenpositionen in Deutschland irgendwann von den Sünden ihrer Vergangenheit, ob es sich nun um Vorteilnahme, Täuschung oder andere Kellerleichen handelte, eingeholt wurden – und zwar während oder kurz nach ihrer Amtszeit. Dass aber der künftige Regierungschef in einer überaus schmuddeligen Weste seinen Posten antritt und dies in der Öffentlichkeit höchstens erwähnt, aber kaum beanstandet wird, ist neu. Ein Zeichen für eine lauere Moral, die den höchsten Volksvertretern eine gewisse Fehlbarkeit im Umgang mit fremden Geldern zugesteht?


Altnazis und Lügner in hohen Ämtern


Schon Kurt Georg Kiesinger, von 1966 bis 1969 Bundeskanzler, konnte bei seinem Amtsantritt keineswegs auf eine unbelastete Vergangenheit zurückblicken. Bereits 1933 war er der NSDAP beigetreten und hatte der Partei bis Kriegsende aufopferungsvoll gedient, mal als Blockwart, dann wieder im NS-Kraftfahrkorps, vor allem aber ab 1940 als stellvertretender Leiter der Rundfunkabteilung, also des wichtigsten Propagandamediums der Nazis. Über seine Schutzbehauptung, er sei in die Hitler-Partei eingetreten, um Exzesse zu verhüten und ihre Ideologie zu verändern, schütteln Historiker heute noch die Köpfe. Solche haarsträubenden Euphemismen waren in der BRD-Frühgeschichte an der Tagesordnung gewesen, weswegen die Information zu Beginn seiner Kanzlerschaft weitgehend unbeachtet blieb. Kiesingers Pech war nur, dass während seiner Regierungszeit die 68er Bewegung aufkam und das braune „Narrativ“ entlarvte, so dass er die Folgen bösen Tuns spüren musste, als ihm Beate Klarsfeld eine Ohrfeige verabreichte.


Dass der laut Dramatiker Rolf Hochhuth  „furchtbare Jurist“ Hans Filbinger, im zweiten Leben baden-württembergischer Ministerpräsident wie zuvor auch Kiesinger, als Marinestabsrichter vier Männer an den Galgen gebracht hatte, wobei er sich sogar die Mühe machte, mildere Urteile der Vorinstanz in Todesstrafen umzuwandeln, wurde erst Ende der 1970er Jahre ruchbar. Die öffentliche Diskussion danach führte – zumindest einmal ein Hauch von Konsequenz! – zum Rücktritt des reuelosen braunen Landesvaters.


Honorige Herren wie Bundeskanzler Helmut Kohl, der ehemalige Multi-Minister Wolfgang Schäuble oder Roland Koch, seinerzeit hessischer Ministerpräsident, sorgten zwischen 1980 und der Jahrtausendwende auf krummen Wegen dafür, dass der CDU das Geld nie ausging, doch ihre Verstrickungen in Skandale wegen illegaler Spenden, schwarzer Kassen oder erfundener Erbschaften wurden erst während ihres Dienstes am Volk bekannt, nicht davor.


Nur in Bayern war es immer schon wurscht, ob und wann ein Spezi sündigte. Wo die CSU mehr als ein halbes Jahrhundert die Uhren anders stellte, konnten schräge Vögel wie Friedrich Zimmermann oder Otto Wiesheu auch nach ihren Fehltritten noch auf weitere Karriere hoffen. Old Schwurhand (bajuwarischer Spott) wachte später als Innenminister über die Sicherheit der BRD und der schwer alkoholisierte Todesfahrer Wiesheu durfte nach einer gewissen Karenzzeit Verkehrsminister im Münchner Kabinett werden – kein Wunder bei einem Übervater wie Franz Josef Strauß, dessen ununterbrochene Affärenserie im Freistaat gefeiert wurden wie einst die Taten des Wildschützen Jennerwein. Mittlerweile aber scheint die Bundesrepublik zu verbayern – würde sonst ein Olaf Scholz, dessen Versäumnisse, Fehler und ehrenrührige Kontakte hinlänglich dokumentiert sind, von den öffentlichen Moralrichtern ohne großes Aufheben ins Kanzleramt durchgewinkt werden?        


Ein Platz für Betrüger und Geldwäscher


Da war zum einen der Wirecard-Skandal. Zwar hatte sich das halbe Bundeskabinett, allen voran Kanzlerin Merkel, vom Freiherrn K. T. zu Guttenberg (dessen Titel-Erschleichung übrigens auch erst aufgedeckt wurde, als er bereits das zweite Ministeramt innehatte) vor den Lobbyisten-Karren der Betrugsfirma spannen lassen, doch die Fachaufsicht oblag dem Finanzminister Scholz und seiner Bankenkontrolle BaFin. Zwei Milliarden Euro verschwanden aus den Bilanzen von Wirecard, und obwohl es zahlreiche Hinweise auf gigantische Unregelmäßigkeiten gegeben hatte, griff der kühle Hanseat nicht ein.


Obwohl Olaf Scholz die von Vorgänger Schäuble geerbte Financial Intelligence Unit des deutschen Zolls personell ausbaute, wie er sich selbst ohne Unterlass zugutehält, verzichtete sein Ministerium meist darauf, die strafrechtliche Verfolgung der von dieser Task Force für Geldwäsche gemeldeten Verdachtsfälle in Gang zu bringen. Der SPIEGEL forderte „eine lückenlose Aufklärung“ dieser Ungereimtheiten „im Verantwortungsbereich von Finanzminister Scholz“. Das Magazin verlieh der Bundesrepublik, die gerne mit dem tadelnden Finger auf die Cayman-Inseln oder Panama zeigt, den Ehrentitel „Paradies für Geldwäscher“.


Apropos Panama: Die „Pandora Papers“ brachten unlängst an den Tag, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) über ihre Tochter, die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) im Rahmen der Hilfe für ärmere Länder in den letzten sieben Jahren Kredite von insgesamt 250 Millionen Euro an elf Banken der mittelamerikanischen Steueroase vergeben hatte. Die Geldinstitute hätten das Geld an kleine und mittelständische Betriebe weitergeleitet, verteidigte sich die DEG, konnte aber kein einziges Kleinunternehmen, das bedacht worden wäre, konkret benennen. Regelrecht heiter klingt die zweite Erklärung: Mit den Mitteln seien „Tausende von Arbeitsplätze im Bankensektor von Panama“ geschaffen worden. Wir Unbedarften hatten stets geglaubt, der dortige Devisenumlauf brauche allenfalls flinke Briefkasten-Leerer, doch nun wissen wir dank DEG, dass solide Geldwäsche ausreichend Fachkräfte benötigt. Die KfW und damit auch die DEG unterstehen der Rechtsaufsicht des Bundesfinanzministeriums, Olaf Scholz hätte also im eigenen Haus aufräumen müssen.   


Wie beim Wirecard-Desaster konnte Scholz auch bei der Cum-Ex-Langzeitkatastrophe argumentieren, er sei nicht der einzige Finanzminister gewesen, der den grenzüberschreitenden Steuerbetrug trotz klarer Erkenntnisse hatte weiterlaufen lassen. Es ist richtig, dass auch die Vorgänger Steinbrück und Schäuble tatenlos zusahen, wie dem deutschen Fiskus etliche Milliarden regelrecht abgenommen wurden, nur hatten sich beide in ihrer Funktion nicht persönlich kompromittiert. Als Hamburger Erster Bürgermeister aber traf sich Scholz mit den Inhabern der Warburg-Bank, worauf denen kurz danach die Rückzahlung von 47 Millionen durch Cum-Ex erbeuteter Euro von den Finanzbehörden erlassen wurde. Dumm nur, dass unser Regierungschef in spe sich bei Befragungen und vor Ausschüssen als Mann, der nichts sagt, nichts weiß und – vor allem – sich an nichts erinnert, präsentiert.


Politikerkrankheit Amnesie


Nun sind Scholzens Gedächtnislücken ja nichts besonders Originelles im Politikerreigen. Der Abwehrmechanismus der Verdrängung scheint bei unseren Mandatsträgern besonders rigoros zu greifen, wenn es um Unangenehmes, speziell: eigenes fragwürdiges Handeln, geht. Weder Kohl noch Schäuble konnten sich daran erinnern, warum sie hunderttausend Mark von einem Waffenhändler bekommen hatten und wohin das Geld verschwunden war. Schon Hans Filbinger waren die vier Todesurteile, die er als Militärrichter beantragt oder verhängt hatte, glatt entfallen. Und CSU-Größe Friedrich Zimmermann schwor in der „Spielbankenaffäre“ einen Meineid vor Gericht, weil sein Gedächtnis ihn im Stich gelassen hatte, worauf ihm die Medizin zur Seite sprang und den Fauxpas seinem erhöhten Blutzuckerspiegel zuschrieb. Der Mann hat also nicht gelogen, er war nur krank, nicht krank genug allerdings, als dass er nicht später als Bundesinnenminister erste Wahl gewesen wäre.


Nun also Olaf Scholz. Ein Pläuschchen, das er als Hamburger Bürgermeister mit den Eigentümern der „kriminellen Privatbank“ (German-Foreign-Policy) M. M. Warburg gehalten und das mutmaßlich dazu geführt hatte, dass diese ihre Cum-Ex-Beute zunächst nicht zurückzahlen mussten, war ihm, gezielt darauf angesprochen, schlicht nicht mehr präsent. Da aber die Union sich selbst zerlegte und ihr kleinere, aber spektakulärere Missgriffe, etwa die Masken-Skandale oder Spahns dubiose Immobilienkäufe angelastet wurden, darf sich der Mann mit dem kurzen Gedächtnis jetzt berechtige Hoffnungen auf den Einzug ins Kanzleramt machen. „Dreck am Stecken haben sie ja alle“, meint der Volksmund, in diesem Falle nicht ganz danebenliegend.


Und prompt offenbarte Olaf Scholz frische Erinnerungslücken. Bei den Sondierungsgesprächen mit FDP und Grünen vergaß er die Kernforderungen der SPD-Basis, nämlich die Wiedereinsetzung der Vermögenssteuer und die weitere Aussetzung der Schuldenbremse, um den Ausbau der sozialen Infrastruktur und den Kampf gegen den Klimawandel in einer Zeit, in der Kredite niedrigst verzinst werden, zu finanzieren. Vielleicht war ihm die Besteuerung der Reichen wegen der guten Beziehungen zum Hamburger Geldadel peinlich, womöglich wollte er aber auch nur seinen neuen Taktgeber Christian Lindner nicht verärgern. Oder er hat seinen Auftrag wirklich vergessen…

10/2021

Dazu auch:

Der Fisch darf stinken (2021) und Rettet Panama! (2020) im Archiv von Politik und Abgrund

Peers teures Erbe im Archiv von  Helden unserer Zeit (2020)







Stuttgart 25 plus


Bis ins letzte Jahr hinein löste die bloße Erwähnung des Flughafens Berlin Brandenburg (BER) in Kabarettprogrammen und Nachrichtensendungen bereits Lachsalven im Publikum aus. Schier endlose Verzögerungen und Pannen beim Bau, Sicherheitslücken und exorbitante Kostensteigerungen erheiterten kopfschüttelnde Bürger. Immerhin ging der Airport nach „nur“ vierzehn Jahren Fertigstellung in Betrieb. Ein anderes Mega-Projekt aber müsste schon dem Namen nach heuer noch schlüsselfertig übergeben werden, doch wann in den Bahnhof Stuttgart 21 Züge einfahren, wie viele Milliarden sein Bau dann verschlungen haben wird und ob er überhaupt sicher ist, steht in den Sternen – und scheint zurzeit auch niemanden zu interessieren.


Die Bahn und der Umweltschutz


Als 1994 erstmals das Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Neuordnung des „Eisenbahnknotens Stuttgart“ (volkstümlich: Stuttgart 21) vorgestellt wurde, staunten die Bürger über das gigantische Vorhaben, das anstelle der dringend notwendigen Renovierung des alt-ehrwürdigen  Kopfbahnhofs in Szene gesetzt werden sollte: Vier neue Stationen für den Personenverkehr, elf neue weitgehend unterirdisch verlegte Strecken von insgesamt 57 km und ein komplett neuer Hauptbahnhof für den Durchgangsverkehr. So viele Novitäten riefen bald ein heterogen zusammengesetztes Kritikerheer auf den Plan.    


Geologen hielten die örtliche Bodenbeschaffenheit für nicht stabil genug und fürchteten um Mineralwasservorkommen in der Tiefe, Verkehrsplaner warnten, dass ein Prestigeprojekt, das vor allem für Fernzüge angelegt schien, um reiselustige Schwaben ein paar Minuten schneller nach Paris zu bringen, den Schienennahverkehr beeinträchtigen würde und forderten stattdessen einen „Kopfbahnhof 21“. Tatsächlich bietet der Untergrund so wenig Platz zum Rangieren, dass es nicht nur für S-Bahnen eng werden dürfte, sondern auch der ambitionierte Zeittakt für Züge nach Zürich oder in relativ nahe Großstädte wie Mannheim oder Nürnberg nicht einzuhalten sein wird.


Besonders enttäuschend aber waren für den DB-Vorstand die Reaktionen der Umweltschützer, hatte er doch damit argumentiert, mehr Menschen von der Straße auf die Schiene bringen zu wollen. Die Ökologen aber bemängelten die Bedrohung gefährdeter Tierarten und geplante Fällung von fast 11.300 größeren Bäumen, darunter rund 300 uralte Stämme allein im Mittleren Schlossgarten. Dort kam es zu den erbittertsten Massenprotesten gegen Stuttgart 21, worauf quasi als symbolischer Akt wenigstens einige der Riesen umgepflanzt wurden.


Zeit, Sicherheit, Geld? Lappalien!


Nun beginnen die Ähnlichkeiten mit dem Berlin-Brandenburger Schildbürgerstreich: Bei Baubeginn 2010 wurde die Fertigstellung von Stuttgart 21 für 2019 prognostiziert, bereits drei Jahre später rechnete der Lenkungskreis der Bahn mit einer Verschiebung auf 2022, kommunizierte in der Öffentlichkeit aber ein fristgerechtes Bauende bis 2021. Jenes Jahr schreiben wir gerade, von einem neuen Stuttgarter Hauptbahnhof ist aber nichts zu bemerken, denn inzwischen wird die Eröffnung für 2025 erwartet, ohne dass die sechsjährige Verspätung bundesweit größeres Aufsehen erregen würde. Für Running Gags und Comedy-Sketches eignen sich die Irrungen und Wirrungen biederer Württemberger anscheinend nicht so gut wie die großschnäuziger Berliner.


Bereits 2009 schied der Architekt Frei Paul Otto, der bis 2006 an der Planung von Stuttgart 21 beteiligt gewesen war, ganz aus dem Projekt aus. Er wolle die weitere Mitarbeit nicht mehr verantworten, da der der Bahnhof überschwemmt werden könnte. Es bestehe „Gefahr für Leib und Leben“. Drei Jahre später kritisierte die Stuttgarter Branddirektion, dass 14 von 16 Punkten eines Forderungskatalogs noch offen seien. So würden etwa 45 Minuten vergehen, ehe bei einem Feuer Löschwasser im Tunnel zur Verfügung stünde. Auch fehle es an Entlüftungsmöglichkeiten bei starker Rauchentwicklung.


Die Planer gingen noch 2003 im Katastrophenfall von 10.000 zu rettenden Menschen aus, das Eisenbahn-Bundesamt rechnet inzwischen mit über 16.000 Menschen bei einem Unglück, allein bis zu 6000 auf einem der vier Bahnsteige. Wenn die Sicherheitsvorkehrungen nicht ausreichen, kann man immer noch die Zahlen anpassen, sagten sich die Bahnverantwortlichen daraufhin wohl. Der DB-Brandschutzbeauftragte Klaus-Jürgen Bieger kalkuliert infolgedessen mit höchstens 6500 zu evakuierenden Personen insgesamt und der Projektsprecher Wolfgang Dietrich im „worst case“ mit 2530 Menschen auf einem Bahnsteig. Wie schon das BER-Debakel zeigte, scheint die Sicherheit der Passagiere und Mitarbeiter angesichts der erhofften glamourösen Eröffnung vernachlässigbar zu sein.


Was natürlich für die Finanzen weniger gilt. Im März 2009 schätzte die Deutsche Bahn die Gesamtkosten für Stuttgart 21 auf drei Milliarden Euro, im Dezember desselben Jahres waren es schon vier Mrd. Bis 2019 stiegen die Kalkulationen auf über acht Milliarden Euro, der Bundesrechnungshof indes geht bis 2025 von zehn Mrd. aus. Selbst wenig Phantasiebegabte können sich durchaus vorstellen, dass auch dies nicht reichen wird.

Doch nicht nur die Steuerzahler mussten ein Opfer für Stuttgart 21 erbringen (und müssen es noch): Bei Massenprotesten gegen Baumfällungen im Schlossgarten griff die Polizei 2010 derart brutal ein, dass 400 Demonstranten verletzt wurden, darunter der Ingenieur Dietrich Wagner, der sein Augenlicht fast vollständig verlor.


Das diskrete Milliardengrab


Trotz zahlloser Planungs- und Baufehler, der Zweifel am Projektnutzen, der Verschwendung öffentlicher Gelder, einer bizarren Zeitüberschreitung und einer dubiosen Sicherheitspolitik geriet Stuttgart 21 nach den anfänglichen Widerständen nie mehr zum Objekt bundesweiter Erregung. Man/frau schien sich eben seit dem Flughafen-Desaster damit abgefunden zu haben, dass auf höchster technischer Ebene hierzulande nichts verlässlich ist und dass Geld wie Zeit als volatile Werte bei vollem Bewusstsein vergeudet werden können – irgendwelchen Baukonzernen und Zulieferern werden diese Freigebigkeit und Duldsamkeit ja sicher nutzen. In der Öffentlichkeit wird Stuttgart 21 als müdes Remake der BER-Show „Pleiten, Pech und Pannen“ rezipiert.


Umso erstaunlicher ist der fast kindliche Glaube des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner an die Allmacht deutscher Planungs- und Ingenieurskunst. Der würde er nämlich gern den Kampf gegen den Klimawandel übertragen, wie er im Wahlkampf äußerte. Er ist also nicht nur ein Fundamentalist des freien Marktes, er hegt auch die Überzeugung, dass nur mit Konzerninteressen innig verwobenes technologisches Know-how made in Germany die Umwelt retten kann, obwohl in diesem Fall wohl nicht nur um flache Südsee-Atolle, sondern mittelfristig auch um die Niederlande und Hamburg gebangt werden müsste.


Tatsächlich könnten sich zu den teuren Marathon-Konstrukteuren von Berlin und Stuttgart noch die findigen Experten von VW, Daimler oder BMW vom Fachgebiet „Emissionsmanipulation“ gesellen, die vielleicht die Resultate nicht beschleunigen, verbessern oder verbilligen werden, sie aber so zurecht frisieren können, dass die Erderwärmung glaubhaft zur Generierung einer Wohlfühloase umgedeutet wird.


Aber im Ernst: Der Umstieg reisender oder pendelnder Menschen von PKW und Flugzeug auf die Bahn und die Verlagerung von Gütern auf die Schiene und – damit verbunden – die Entlastung der Anwohner und der Umwelt sollte nicht Polit-Technokraten, Konzernchefs und neoliberalen Dogmatikern anvertraut werden. Dies ist die einzige Lehre, die sich aus BER und Stuttgart 21 ziehen lässt.

10/2021

Dazu auch:

Vorname: Bahnchef (2017) und Scheitern als Weg (2014) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit 





Freie Fahrt für niemand


Der Bundestagswahlkampf war geprägt vom Schaulaufen der KanzlerkandidatInnen sowie von Schlagworten, etwa Afghanistan, Corona-Krise oder Klimawandel. Dass sich solche Mega-Begriffe komplexe Probleme, unzählige Sichtweisen und diverse Lösungsansätze beinhalten, dass beispielsweise nach der gescheiterten Mission am Hindukusch die Falken „bigger“ und die Pazifisten kleiner denken wollen oder dass die Pandemie viele Fragen zu den Themen Gesundheitsversorgung, Pflegenotstand bzw. gewinnorientiertes Betreiben von Kliniken aufwirft, geht im propagandistischen Gedöns unter. So spielte zuletzt auch die Umgestaltung des Verkehrs als wichtiger Teil einer neuen Öko-Strategie kaum eine Rolle.


Entwicklungsland Bundesrepublik


Die Bemühungen, den Personenverkehr umwelt- und damit menschenschonender zu organisieren, erschöpfen sich hierzulande im Bau einiger Fahrradwege, der Einführung von E-Scootern, mit denen Betrunkene oft zu dritt auf einem Roller Unfällen entgegensteuern, und die, quer über dem Gehsteig liegend, im Dunkeln schon so manches Mütterchen zum Straucheln gebracht haben, und im Umstieg auf Kfz-Elektromotoren, zu der die zaudernden Autokonzerne mit goldenem Handschlag überredet wurden.


Gerade aber das letzte Beispiel zeigt, dass kein grundlegendes Umdenken in der Politik stattgefunden hat, dass der Bevölkerung statt Konzepten planerische Flickschusterei vorgesetzt wird: E-Autos verstopfen die Städte genauso wie Dieselschleudern oder Benziner, benötigen die gleiche Anzahl an Parkplätzen, somit an öffentlichem Raum, und sind ebenso unfallträchtig, zumal auch diese sanften Vehikel oft hochtourig konstruiert sind und wie Rammpanzer daherkommen. Nicht „Andere Autos!“ müsste die Devise lauten, sondern „Weniger Autos!“


Kopenhagen und Wien machen vor, wie man durch Verkehrsberuhigung, systematische Planung von Fahrradrouten und kostengünstigen ÖPNV eine City zu einem freundlichen Ort, in dem nicht der SUV, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht, machen kann.  Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, hat nun Tempo 30 in der ganzen Seine-Metropole durchgesetzt. Für Unfallopfer macht es oft einen lebenswichtigen Unterschied, ob sie mit 30 km/h oder mit 50 km/h angefahren werden, Kinder leben sicherer, laut Gutachten des Umweltbundesamtes von 2016 sinkt die Schadstoff- und Lärmbelastung der Umgebung beträchtlich. Auch ist zu erwarten, dass „ausgebremste“ PKW-Fahrer eher auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen oder sich aufs Fahrrad schwingen.


Schauen nun die Verantwortlichen in Berlin auf Paris, sollten deutsche Städte (und nicht nur ein paar Nordseeinseln) diesem Beispiel folgen? Mitnichten, gilt doch hierzulande die Forderung „Freie Fahrt für freie Bürger!“, die vor allem das Recht „gefühlter“ Formel-I-Piloten auf höchstmögliche Geschwindigkeit verteidigt. Die Bundesrepublik ist, von zehn untermotorisierten Staaten, etwa Nordkorea, Haiti oder Mauretanien, abgesehen, das weltweit einzige Land, das kein generelles Tempolimit auf Autobahnen kennt. Man darf also mit Fug und Recht behaupten, dass Deutschland in Sachen urbaner Mobilität sowie des Schutzes von Bürgern und Umwelt ein Entwicklungsland ist.  


Jenseits zivilisatorischer Infrastruktur


Welche Freiheit aber genießt ein Bürger, der auf dem Dorf in einer strukturschwachen und dünn besiedelten Gegend lebt und aus Altersgründen bzw. aus Überzeugung keinen Führerschein oder aus finanziellen Gründen kein Auto besitzt? Vielleicht kommt der Schulbus zweimal am Tag vorbei, häufig nicht einmal das. Der Weg zum Einkaufen, zum Arzt oder zur Sparkasse wird zum Abenteuer, wichtige Besorgungen können nicht getätigt werden. Der Mensch wird zum Gefangenen seines Wohnorts, statt frei zu planen, ist er auf Gefälligkeiten der Nachbarn angewiesen.


Es geht auch anders: In Südtirol (ähnlich auch in einigen betuchten oberbayerischen Touristengemeinden) fährt der Verkehrsverbund tagsüber jede Stunde jedes Dorf an, bei geringerem Bedarf mit Kleinbussen. Für alte Bergbäuerinnen dort ist es kein Problem, in den Städten Bozen oder Brixen shoppen zu gehen, eine Option, von der die Bewohner der deutschen Provinz nur träumen können.


In den Großstädten wiederum ist es für viele ein regelrechter Luxus, den ÖPNV zu nutzen, weil die Fahrpreise viel zu hoch sind. Die Nürnberger Verkehrsbetriebe werden nun ein 365-Euro-Jahresticket für Azubis, Schüler und Studenten einführen – weil der Stadtrat einem von der Linken initiierten Bürgerbegehren nachgeben musste. Andere kommunale Betreiber in Bayern folgen. Prompt setzte sich Ankündigungsweltmeister Markus Söder an die Spitze der Bewegung und stellte ein solches Jahresticket für alle in Aussicht. Großzügig genehmigte er den städtischen Verkehrsverbünden, das Billig-Abo auf den Weg zu bringen, nur wird von seiner Landesregierung kein müder Euro an die klammen Kommunen fließen, um die Einnahmeeinbußen zu kompensieren, woran letztendlich alles scheitern kann.


Der Fehler liegt im System. SPD, Grüne und Linke haben in ihre Wahlprogramme eine „Mobilitätsgarantie“ für alle Bürger geschrieben. Klingt gut, ist auch richtig, nur leider nicht durchsetzbar, wenn nicht die Verwendung des Steueraufkommens von Bund, Ländern und Kommunen beinahe revolutionär umgekrempelt wird. Weniger (teils verdeckte) Subventionen an die Industrie und die agrarischen Großbetriebe, nur noch 0,2 statt der nach der Blamage von Kabul stillschweigend anvisierten 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Rüstung und eine Wiedereinsetzung der Vermögenssteuer – und schon wäre Geld für eine nachhaltige und menschenfreundliche Verkehrspolitik vorhanden, und für noch vieles andere mehr.


Privatisierung und andere Idiotien


Während das eine oder andere mit der SPD und den Grünen zu machen wäre – allerdings bei weitem nicht alles (Stichwort Verteidigungshaushalt) - , blocken die besonders rechten Parteien jede substanzielle Veränderung zugunsten des Klima- und Naturschutzes kategorisch ab. Die AFD „unterstützt und fördert den motorisierten Individualverkehr als beliebteste Möglichkeit der Fortbewegung“. Um die Städte noch konsequenter zu autogerechten Stein- und Asphaltwüsten mit permanentem Durchgangsverkehr aufzurüsten, fordert die Partei den „Erhalt und Ausbau von innerstädtischen Fahrspuren und Parkraum“. Und natürlich sind die Rechtsextremen gegen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen.

Vom Bleifuß auf dem Gaspedal scheint das giftige Schwermetall auch bei den Liberalen und Unionspolitkern ins Hirn gelangt zu sein, denn auch sie wollen trotz aller Studien, die den Wert der Geschwindigkeitsbegrenzung für Leib, Leben und Atmosphäre belegen, auf dem Recht zu hemmungsloser Raserei bestehen.


Besonders toxisch wirkt dabei das Wahlprogramm der FDP. Die würde vieles zulassen, Diesel-Dreckschleudern und überhaupt Verbrennungsmotoren bis in alle Ewigkeit, das menschliche Wohl und den Schutz der Umwelt hingegen würde sie dem Markt anvertrauen. Der sollte per Emissionshandel die Sache schon schaukeln. Und tatsächlich handelt er munter mit Zertifikaten, so dass „Verschmutzungsrechte“ von Firmen, die weniger Dreck als zugeteilt ausstoßen, gewinnbringend verkauft werden können. Kommen diese Lizenzen die Erwerber recht teuer, können sie ja die Produktpreise erhöhen. Der Profit wird dabei schon nicht weniger, die CO2-Belastung der Luft allerdings auch nicht.


Und natürlich möchte die FDP den Betrieb der Bundesbahn privatisieren, während das Streckennetz im Besitz des Bundes verbleiben soll, damit die teure Wartung nur den Steuerzahlern, nicht aber künftigen Aktionären aufgebürdet wird. Wie sich die Überführung öffentlichen Verkehrseigentums in Konzernmanager- und Investorenhände gestaltet, hat sich in Großbritannien gezeigt. Die auf schnellen Profit und positive vierteljährliche Börsenberichte erpichten neuen Besitzer ruinierten die Eisenbahn und die Londoner Subway, auf perspektivische Planung angewiesene Verkehrsbetriebe, so gründlich, dass beide re-verstaatlicht werden mussten.   


Die Union hingegen setzt bei der Bundesbahn auf Hochgeschwindigkeitszüge und schnelle Verbindungen in europäische Metropolen. Was den langsameren ÖPNV betrifft, für den die DB ja auch eine wichtige Rolle spielt, fallen ihr im Wahlprogramm nur vage Verbesserungen für Fußgänger und Radfahrer ein. Ansonsten outen sich CDU und CSU als unerschütterliche Fans des motorisierten Individualverkehrs: „Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin die besten Autos der Welt produziert werden – und zwar mit allen Antriebsformen.“  Und in allen SUV-Varianten und ohne Rücksicht auf die Umwelt!


Zählt die gute Absicht?   


Einzig die Linke hat die auch von SPD und Grünen propagierte Mobilitätsgarantie präzisiert: So sollen alle Gemeinden untereinander und das jeweils nächste städtische Zentrum im Stundentakt von 6.00 bis 22.00 Uhr angebunden werden. Ein guter Plan, dem auch die Sozialdemokraten und die Öko-Partei zustimmen könnten. Doch vermutlich wird es nach der Wahl nicht zu einer Koalition dieser drei Parteien kommen.


Es wäre ohnehin ein fundamentaler Paradigmenwechsel nötig, durch den der überbordende individuellen Autoverkehr nicht nur als ein Problem für die Luftreinhaltung gesehen wird, sondern auch als Faktor, der die Städte unwirtlich macht, der nach einem Netz aus neuen oder erweiterten Autobahnen, Bundes-, Land- und Umgehungsstraßen verlangt, das unsere Wälder sowie Moore zerschneidet und das spärlich vorhandene grüne Land versiegelt und parzelliert.


Nur ein Nahverkehr mit hoher Frequenz, der die Geduld der Bürger nicht auf allzu harte Proben stellt, könnte Verkehrsteilnehmer von der Straße zur Bahn oder aus dem eigenen Auto in den Bus locken. Dass dies möglich ist, haben andere Länder vorgemacht. Aber es ist zu bezweifeln, dass mit der SPD, die den Banken- und Industriekumpel Scholz an die Spitze gehievt hat, ja selbst mit den Grünen, die in Kretschmann einen zum Freund von Daimler und Konsorten gewandelten Saulus in ihren Reihen haben, eine solch radikale, aber notwendige Umverteilung der Steueraufkommen möglich wäre. Mit ihren mutmaßlichen Partnern nach dem Urnengang sowieso nicht…

09/2021

Dazu auch:

Deutsche Autofahrer im Archiv von Helden unserer Zeit (2017) 





Die Lehren von Kabul


Der Zwanzigjährige Krieg endete im Chaos auf dem Flughafen von Kabul. Als besonders unfähig und verantwortungslos zeigten sich dabei die Verantwortlichen in der Bundesregierung. Welche Lehren aber zieht die Politik aus der Niederlage, wie wird ein sinnloser, aber folgenschwerer Auslandseinsatz der Bundeswehr analysiert und welche Schlüsse werden für die Zukunft daraus gezogen? Bereits jetzt zeichnet sich ein realitätsfernes Weiter so! ab.


Das Resümee eines Menschenfeindes


Die letzten Bundeswehrmaschinen flogen noch deutsche NGO-Mitarbeiter und „Ortskräfte“ aus, da traten Außenminister Heiko Maas, Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Horst Seehofer als Chef des Innenressorts vor die Mikrofone und gaben sich tief zerknirscht. Sie hätten den schnellen Zusammenbruch der afghanischen Armee und die blitzartige Machtübernahme der Taliban nicht vorhersagen können, jammerten sie und ließen so ihr Publikum über die sich in dieser Situation aufdrängende Frage grübeln: „Wie kann es sein, dass wir von solchen Dumpfbacken regiert werden?“


Dass sich das Ende der bodenlos gescheiterten Intervention der westlichen Streitkräfte so oder so ähnlich abspielen würde, hätten alle Berliner Regierungspolitiker gut zehn Jahre lang aus den Berichten der Korrespondenten vor Ort, den Analysen von Beobachtern, den Warnungen des Botschaftspersonals in Kabul und sogar diversen Beiträgen auf dieser Homepage herauslesen können. Doch selbst, als die Provinzen wie reife Früchte in die Hände der Islamisten fielen, schob die Berliner Regierung noch munter afghanische Flüchtlinge in ihr erodierendes Heimatland ab. Halten wir uns nicht mit Kopfschütteln oder Empörung über diese Mischung aus Ignoranz und Menschenverachtung auf, fragen wir stattdessen, welche Schlüsse die deutsche Politik aus dem Desaster zieht.


Lassen wir zunächst die rechtsextreme Opposition zu Wort kommen. Die chauvinistische Hybris der AfD, die den Bundeswehreinsatz in Afghanistan aus ganz anderen Gründen als Linke und Pazifisten abgelehnt hatte, wurde durch Alexander Gauland glänzend offenbart: „Um Geschlechtergerechtigkeit in die muslimische Welt zu tragen, mussten deutsche Männer dort ihr Leben lassen. Wie viele afghanische Frauen in höchsten Ämtern oder Mädchen in Schulen wiegen eigentlich einen deutschen toten Soldaten auf?“


In ähnlicher Diktion wies Kaiser Wilhelm II. das Expeditionskorps, das 1900 Unabhängigkeitsbestrebungen im Reich der Mitte blutig unterdrücken sollte, in seiner berüchtigten Hunnenrede an, die grausamen Methoden des Nomaden-Königs Attila anzuwenden: „… so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“ Es gehörte zu den abstoßendsten rhetorischen Kennzeichen der Nazis, aber zuvor auch des preußischen Militarismus, die teutonische „Rasse“, ja selbst einzelne ihrer Recken, über den Rest der Welt zu erheben. Was zählen Völker, Ethnien oder die Bewegungsfreiheit und Unversehrtheit von Millionen afghanischer Frauen angesichts eines toten deutschen Kameraden?


Mehr Waffen, mehr Geld?


Während Außenminister Maas nach dem Fall von Kabul recht kleinlaut eigene, vor allem aber alliierte Fehleinschätzungen zugab, versuchte Annegret Kramp-Karrenbauer, auf der Veranstaltung „Neue Weltunordnung“ der Körber-Stiftung und des SPIEGEL die Scherben zusammenzukehren und einen noch größeren Elefanten in den Porzellanladen der westlichen Machtpolitik zu treiben.


Nach den üblichen Trauerbekundungen forderte sie, die militärische Handlungsfähigkeit der EU-Mitglieder zu stärken. Dies sei „ein langer und steiniger Weg. Auf diesem befinden wir uns gerade. Auf ihm gehen wir, ohne die NATO und den Westen klein zu reden.“ Dazu brauche man „ein Deutschland, ein Europa und eine atlantische Gemeinschaft, die sich selbst die Mittel geben, entschlossener, leistungsfähiger und auch langfristig durchhaltefähiger für den Westen einzutreten, für ihn zu streiten und ihn zu verteidigen“. Noch entschlossener als auf der Flucht aus Kabul? Aber vielleicht haben da auch noch ein paar Steuermittel gefehlt. Mit Hubschraubern, die fliegen, Panzern, die fahren und Gewehren, die nicht um die Ecke schießen, hätten die Europäer die Taliban nach Kramp-Karrenbauers exklusiver Meinung sicherlich ganz alleine in Schach gehalten.


Außerdem benötigen wir „eine tiefere Ehrlichkeit in unserer Sicherheitspolitik“ (was nahelegt, dass die Bürger bislang mit Halbwahrheiten abgespeist wurden) und über „die Mittel, die wir dafür brauchen“ (viel mehr Geld für die Rüstung also). Wenn man sich durch den verbalen Schwulst der Kriegsministerin nicht in den Schlaf wiegen lässt, erfährt man, welch großes Ziel sich die Loser von Kabul als nächstes vorgenommen haben:  „Deutschland steht ein für Demokratie und Menschenrechte, für Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft. Für individuelle Freiheit und individuelle Verantwortung. Für Multilateralismus und Völkerrecht. Sie haben ja eben die Fregatte Bayern erwähnt: Ihre Fahrt in den Indo-Pazifik ist ein Symbol genau dafür.“


Die Bundeswehr soll sich demzufolge mit der VR China anlegen, die sich mit ein paar Nachbarn aus durchaus fragwürdigen Gründen um unbewohnte Inseln streitet, sich aber vor allem gegen die von den USA orchestrierte Einkreisungspolitik wehrt. Und rein symbolisch schickt Deutschland schon mal ein erstes Kanonenboot vorbei. Nachdem es gegen die unfair, da asymmetrisch kämpfenden Taliban nicht geklappt hat, sucht Berlin offenbar nun nach einem würdigen Gegner in einer anderen Größenordnung.


Vom Sinn militärischer Exkursionen


Auch mit mehr Soldaten und besseren Waffen wären die westlichen Interventionstruppen in Afghanistan wohl nicht dauerhaft erfolgreich gewesen. Wer ein Land nicht kennt, seine Kultur nicht versteht und emanzipatorische Teilerfolge in ein paar Städten für den großen Durchbruch in einem Land ohne gewachsene staatliche Strukturen hält, muss scheitern. Auch schon während der Besetzung durch Sowjettruppen, die sich gegenüber der Realität im Land ebenfalls völlig verständnislos zeigten, gingen junge Frauen auf die Unis. Die vom Westen finanzierten Mudschahedin machten bald klar, was sie davon hielten. Sie wurden dann von den noch rigoroseren Taliban, die Pakistan und unsere Partner von der arabischen Halbinsel trainierten und alimentierten, verdrängt. Ihr Sieg kann niemanden, der auf sozialen Fortschritt und kulturelle Befreiung hofft, freuen. Doch archaische Bewegungen sind nicht von modern ausgerüsteten, aber ortsfremden Allianzen, für die der eigene strategische Vorteil, die Ausbeutung von Bodenschätzen und die Sicherung „ihrer“ Handelswege im Vordergrund stehen, zu bezwingen.


Derzeit scheint sich das deutsche Versagen in der aktuellen Außenpolitik mit militärischen Mitteln zu wiederholen, und zwar in Mali. Zu einer Partnerschaft mit den französischen Ex-Kolonialherren, denen es vor allem um die Uranvorkommen im Norden des Landes ging, aufgerufen und mit einem schwachen UN-Mandat ausgestattet, sehen nun knapp 1000 Bundeswehrsoldaten in der östlichen Provinz Gao bei ethnischen Säuberungen durch Regierungstruppen zu, während in der Hauptstadt Bamako korrupte Oligarchen und Putschmilitärs einander an der Staatsspitze abwechseln und in der Wüste Tuareg-Rebellen sowie Islamisten wieder an Boden gewinnen. Ein Ende wie in Afghanistan, wenn auch vielleicht nicht so spektakulär, scheint vorprogrammiert. So ist das eben, wenn man ohne einen Plan und ohne Vorkenntnisse der Geschichte und gesellschaftlichen Strukturen eine bewaffnete Exkursion in ein fremdes Land unternimmt.   


Sollte es ausnahmsweise eine gut vorbereitete Blauhelm-Mission mit valider Unterstützung geben, um einen Genozid oder ein regionales Massaker an einer Bevölkerungsgruppe zu verhindern (was bekanntlich in Ruanda, Srebrenica, in der Zentralafrikanischen Republik und anderswo nicht gelang), dann könnte man sich eine kleine deutsche Eingreiftruppe als Bestandteil des UN-Einsatzes vorstellen. Ansonsten haben Bundeswehrsoldaten, schon aufgrund der militärspezifischen Vergangenheit Deutschlands auf fernen Kriegsschauplätzen nichts zu suchen. Sie werden dort auch von niemandem sonderlich vermisst.

09/2021

Dazu auch:

Dumm oder inhuman? im Archiv von Politik und Abgrund (2021) 






Dumm oder inhuman?


Die vernichtende Niederlage der westlichen Militärallianz und ihrer einheimischen Verbündeten in Afghanistan lässt vor allem drei Folgerungen zu: Die neo-koloniale „Sicherheitspolitik“ der Großmächte ist gescheitert, die prognostischen Fähigkeiten von Militärs und Geheimdiensten tendieren gegen Null, und die deutschen Politiker reagieren auf humanitäre Krisen unverantwortlich bis skrupellos.


Regime Change missglückt


Zwanzig Jahre lang dauerte der Versuch des Westens, aus Afghanistan einen braven Staat mit ein paar Einsprengseln bürgerlicher Demokratie zu machen, zwei Dekaden, die zur Ära der falschen Propheten, unfähigen Planer und Fake-Spreader mit Regierungsposten wurden, und nun in die kopflose Massenflucht aus Kabul mündeten. Nach Tausenden Toten, darunter nicht wenige Soldaten der Interventionstruppen, aber viel mehr Zivilisten (deren Ableben teilweise als „Kollateralschäden“ verbucht wurden), nach einer vergeudeten Billion Dollar, die anderswo Hunger oder Corona-Leiden spürbar hätten lindern können, stehen die USA und ihre Verbündeten vor dem Nichts – oder, genau gesagt, wieder am Anfang, mit demselben Gottesstaat als Gegenüber, den sie hatten zermalmen wollen.

„Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt“, hatte 2007 der SPD-Verteidigungsminister Peter Struck kategorisch festgestellt. Der Mann ist 2012 gestorben, und so können wir ihn heute nicht mehr fragen, welche Bollwerke zum Schutz unseres Landes er mittlerweile bemannen würde. Mali vielleicht, oder gleich die umstrittenen Inseln im Chinesischen Meer?


Die Vereinigten Staaten aber hatten die Invasion Afghanistans von vornherein aggressiver interpretiert, sie wollten Rache für 9/11, die Al-Qaida als für die Attentate verantwortliches Netzwerk zerstören und in einem Aufwasch auch gleich einen Regime Change in Kabul bewerkstelligen. So hatten sie in Lateinamerika etliche unbotmäßige Regierungen gestürzt und – teils durch direktes Eingreifen – durch  ihnen gewogene Militärdiktaturen ersetzt. Doch die Strategie scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein: In Libyen und dem Irak scheiterte Washington damit, und in Afghanistan führte die einst erfolgreiche Vorgehensweise zu einem beispiellosem Desaster. Nur dort, wo sie nicht direkt intervenierten, in Ägypten nämlich, gelangte der befreundete Putsch-General as-Sisi an die Macht.


Irrtümer und andere Lügen


In der Bundesrepublik weigerten sich die Verteidigungsminister und Truppeninspekteure lange, überhaupt von einem Krieg am Hindukusch zu sprechen. Als Karl-Theodor zu Guttenberg endlich das böse K-Wort in den Mund nahm, hatte das Schlachtfest schon eine Halbzeit hinter sich, und es begann sich abzuzeichnen, dass es als erzwungene „friedliche Übergabe“ an die Taliban enden würde.


In der Rangliste der Fehleinschätzungen standen die Meinungen der beiden US-Präsidenten Trump und Biden ganz oben, die eigenen Truppen könnten sich vom Acker machen, ohne dass das ganze Land von den Islamisten überrannt würde. Auch die deutsche Bundeswehrführung ging (zumindest in der Öffentlichkeit) davon aus, ihre Ausbilder hätten einheimische Sicherheitskräfte so trefflich instruiert, dass die Gotteskrieger auf ihnen gewachsene Gegner treffen würden. Diszipliniert zeigten sich die mit Multi-Millionen Aufwand trainierten Verteidiger der Demokratie allerdings nur während der reibungslos ablaufenden Kapitulation.


US-Außenminister Antony Blinken, der aus dem Potpourri der hanebüchenen Analysen, Tatsachenverdrehungen und Euphemismen stets die absurdesten Einschätzungen fischte, gab den Afghanen selber die Schuld am Debakel: „Fakt ist, dass die afghanischen Streitkräfte nicht in der Lage waren, das Land zu verteidigen. Und das ging schneller, als wir erwartet haben." Die Interventionsstreitkräfte überließen es also ihren einheimischen Verbündeten, ganz allein gegen eine Guerilla zu kämpfen, mit der sie selbst nicht fertig geworden waren. Nun hat niemand den Afghanen jemals Feigheit vor dem Feind vorgeworfen, britische und russische Invasoren können ein Lied von ihrer Tapferkeit singen. Doch damals kämpften die Krieger für ihre Familien, ihre Clans, ihr Volk oder ihre Unabhängigkeit, für ein ihnen aufgezwungenes korruptes Regime in Kabul aber mochten ihre Enkel nicht sterben.


Zwei Tage vor den dramatischen Ereignissen auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt lobte Antony Blinken, wie umsichtig sein Präsident auf alle Eventualitäten vorbereitet sei, so dass es keine panische Flucht wie die im Jahre 1975 aus Vietnam geben werde. „Das ist nicht Saigon“, tönte dieser moderne Schmalspur-Nostradamus, und hatte damit sogar partiell recht: Seinerzeit hängten sich Verzweifelte an die Kufen des letzten abhebenden Army-Hubschraubers, in Kabul dagegen waren es Flugzeuge, an die sich die Menschen mit letzter Anstrengung klammerten.


Wie ein Comedy-Gag mutete Blinkens Versuch an, die Niederlage zum Triumph umzudeuten. Anders als einst in Vietnam sei diesmal der US-Einsatz ein Erfolg gewesen, weil das Ziel, die Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 zur Strecke zu bringen und dafür zu sorgen, dass aus Afghanistan keine weiteren Attentate mehr geplant würden, erreicht worden sei. Nun ja, die Al-Qaida-Terroristen wurden tatsächlich sehr schnell in die Berge vertrieben, wo sie sie sich in Ruhe reorganisieren konnten, um anschließend in etlichen Ländern wieder loszuschlagen. Doch hätte es danach quasi als Zugabe einer Intervention von zwanzig Jahren bedurft, die Zehntausende von Menschen das Leben kostete, ein Land ins Chaos stürzte und nun in wilder Flucht endete?


Unterlassene Hilfeleistung und Vorsatz


Was die deutsche Regierungspolitik während der letzten Tage der afghanischen Katastrophe anbelangt, so müsste sie eigentlich Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen sein. Dass Verteidigungsministerium und Innenministerium mehr als 7000 Ortskräften in den Einsatzprovinzen der Bundeswehr alle Möglichkeiten einer Registrierung für die Einreise nach Deutschland sowie des Transportes nach Kabul verweigerten, dass sie ihre Übersetzer, Köche, Wäscher und Wachdienstleute der Rache oder Gnade der Taliban überließen, dass sie sogar Helfer in Privatfirmen outsourcten, um ihnen das Anrecht auf Asyl verweigern zu können, dürfte den Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung erfüllen.


Als die US-Geheimdienste bereits unkten, Kabul werde in 30 bis 90 Tagen in die Hände der Taliban fallen (tatsächlich reichte eine gute Woche), wurden immer noch afghanische Flüchtlinge, darunter viele Azubis, Gesellen und anderweitig beruflich wie sozial Integrierte, in ihre todesgefährliche Heimat abgeschoben. Die Star-Politiker Seehofer, Maas, Laschet und Scholz bildeten eine Große Koalition der Unmenschlichen, die bis zehn Tage vor der Übergabe von Kabul an den Abschiebungen festhielt. Heute werden die Herren vermutlich auf Dummheit und Unwissenheit plädieren, damit man ihnen nicht mit Vorsatz, billigender Inkaufnahme von oder Beihilfe zu Freiheitsberaubung, Körperverletzung oder gar Tötung kommen kann.


Zum Thema „Menschenrechte“ sollte das scheidende Bundeskabinett in den ihm verbleibenden Wochen unisono das Maul halten. Seine Mitglieder haben den letzten Rest an Glaubwürdigkeit in dieser Sache verloren.

08/2021

Dazu auch:

Afghanisches Roulette in der Rubrik Medien

Chronik des Versagens (2020) Afghanische Orakel (2019) im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

Die Niederlage im Archiv der Rubrik Medien (2013)






Der Fisch darf stinken


Nehmen wir eine fiktive Behörde an: Die Beamten in den Abteilungen müssen alle Kontakte, die sie mit Kunden, Antragstellern oder Gönnern haben, genau dokumentieren. In der Amtsleitung indes geben sich Interessenvertreter die Klinke in die Hand, erhalten Privataudienzen und dürfen sogar an Verordnungen mitschreiben, die ihre Auftraggeber betreffen, ohne dass diese Vorgänge festgehalten werden und die Öffentlichkeit davon erfährt. Geht nicht und gibt’s auch nicht, werden manche sagen. Funktioniert aber genau so, und zwar im Umfeld von Parlament und Bundesregierung.


Transparenz in homöopathischer Dosis


Dass der gemeine MdB seine Kontakte zur Industrie und zu Interessenverbänden offenlegen solle, war nach der Amthor-Affäre noch weitgehender Konsens der Koalitionsparteien. Dass aber Parlamentarier nur als Türöffner dienen können und die eigentliche Lobbyarbeit in den Entscheidungsgremien, der Bundesregierung und ihren Ministerien also, stattfindet, wollte vor allem die Union nonchalant ignorieren. Und so wurde der Entwurf eines Lobbyregisters konsequent verwässert. Offenbar hatten vor allem die Minister Braun (Kanzleramt), Seehofer (Innenressort), Altmaier (Wirtschaft) sowie Kanzlerin Merkel selbst erkannt, welche Sprengkraft Fakten haben, wenn sie erst einmal ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. In einer Vorlage für Kanzleramtschef Helge Braun wird auf diese Gefahr hingewiesen:


Ursprünglich war im Entwurf der Formulierungshilfe ein sog. exekutiver Fußabdruck der BReg enthalten, der laut Entwurf insbesondere zu mehr Transparenz führen soll „betreffend die Art und Weise, in der hochrangige Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger innerhalb der Bundesregierung Kontakt mit Interessenvertreterinnen und Interessenvertretern und sonstigen Dritten haben, die die gesetzgeberischen Tätigkeiten der Regierung zu beeinflussen suchen“.


Aber „ursprünglich“ heißt ja nicht „endgültig“, und so entschärften die Unionschristen sorgsam den Entwurf, schränkten den Kreis der zu outenden Lobbyisten ein, und zwar auf jene, die Kontakt zu den obersten Entscheidern (Kanzlerin, Minister, Staatssekretäre) suchen. Ihre eigentliche Effizienz entfalten die Einflüsterer aus der Wirtschaft aber auf der Referatsebene, wo sie weiterhin anonym an Gesetzesentwürfen mitschreiben dürfen. Auch der „exekutive Fußabdruck“, der eine Nachverfolgung des externen Einflusses auf Regierungsmitglieder und -entscheidungen ermöglicht hätte, blieb außen vor. Die SPD setzte dem schwächlichen Widerstand entgegen und stimmte letztlich im März 2021 dem kastrierten Lobbyregister zu.


Mauscheleien an der Spitze


Wie ungeniert sich die Emissäre der Wirtschaft in den Büros des Bundeskabinetts einnisten, belegt das Beispiel des Chefasphaltierers der Republik und großen SUV-Freundes Andreas Scheuer: Seit seinem Amtsantritt im März 2018 gewährte der Bayer laut Abgeordnetenwatch den Interessenvertretern der Autokonzerne achtzig Audienzen, den wichtigsten Umweltverbänden aber nur eine.


Angela Merkel wiederum lud zu sich den Brachial-Lobbyisten und Kopier-Fachmann Karl-Theodor zu Guttenberg gar ins Kanzleramt ein, um von ihm für ihre Chinareise gebrieft zu werden. In Peking warb sie nämlich höchst engagiert für die damals schon auffällig gewordene Gangsterfirma Wirecard, eifrig sekundiert von Finanzminister Olaf Scholz, der sein versagendes Kontrollinstitut Bafin offenbar nicht im Griff hatte. Zuvor war er als Hamburger Bürgermeister schon dem Charme der Cum-Ex-Betrüger von der Warburg Bank erlegen.


Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der sich als oberster Gönner der Konzerne geriert, pfuschte wiederum seinem Kollegen Jens Spahn, der die Importförderklausel für Medikamente ändern wollte, ins Handwerk und setzte durch, dass ein von Lobbyisten der in seinem Wahlkreis ansässigen Firma Kohlpharma verfasster Gesetzesentwurf von A bis Z übernommen wurde.


Im Alibi-Lobbyregister werden zwar einzelne Kontakte von Bundestagsabgeordneten zu Wirtschaftsvertretern auftauchen, nicht aber solche klandestin in den Referaten vereinbarten Gunstbeweise der Politik auf höchster Ebene. Der Fisch müffelt vom Kopf her, und er soll auch weiter stinken dürfen.


Der Zufall bringt es an den Tag


Dass wir von den aufgeführten Beispielen und unzähligen anderen Durchstechereien, die unser bürgerlich-demokratisches System fortlaufend ad absurdum führen, überhaupt wissen, haben wir nicht dem Aufklärungseifer der Politik zu verdanken. Kritischen NGOs und investigativ arbeitenden Journalisten gelang es immer wieder, den schönen Schein zur Makulatur werden zu lassen. Abgeordnetenwatch macht des Weiteren eine höhere Macht für das Gros an Wahrheitsfindung verantwortlich: „An die Öffentlichkeit kommen die einseitigen Lobbykontakte meist nur durch Zufall.“


Gemäß einer von Transparency International in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage glauben zwei Drittel aller Menschen in Deutschland, die Bundesregierung werde durch die großen Lobbyakteure gesteuert. Ein gewisses Gefühl für die eklatanten Verwerfungen im politisch-wirtschaftlichen Komplex ist den Bürgern also nicht abzusprechen. Aber welche Schlüsse ziehen sie aus ihren durchaus plausiblen Wahrnehmungen?


Eine Minderheit wandert ins AfD-Lager mit seiner Verquickung von rigidem Kapitalismus und faschistoider wie rassistischer Ideologie ab, die meisten aber schütteln sich, verscheuchen den Eindruck von schmutzigen Händen und fleckigen Westen aus dem Bewusstsein und wählen am Ende genau die Politiker wieder, die diese Bilder überhaupt erst haben entstehen lassen.

08/2021

Dazu auch:

Er ist wieder da (2020) und Guter Pharma-Onkel (2019) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

Lobbykratie BRD im Archiv von Politik und Abgrund (2013)






Covid-Kolonialismus


Zum Wesen des Kolonialismus zählte es, dass die imperialen Mächte den „Eingeborenen“ diktierten, was diese produzieren und liefern sollten, und ihnen umgekehrt unnütze Waren verscherbelten. Diese im 19. Jahrhundert entwickelte Form des Welthandels lebt in den Zeiten der Pandemie wieder auf: Die Dritte Welt soll nicht eigenständig Vakzine produzieren. Tut sie es doch, werden diese Seren als minderwertig klassifiziert, aber dennoch „großzügig“ an die armen Länder verteilt, weil man die eigenen Edelprodukte hortet.


Entstehung von Varianten


Wieder einmal wurde Afrika im Stich gelassen, trotz vollmundiger Solidaritätsbekundungen aus Brüssel und Berlin, und obwohl Wissenschaftler warnen, dass sich auf dem unter der Covid-19-Krise besonders stark leidenden Kontinent die nächste verheerende Infektionswelle anbahnt, dass dort eine Epsilon- und dann eine Zeta-Variante entstehen könnte.


Zwar hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Organisation COVAX, die für die Versorgung aller Staaten mit Vakzinen sorgen soll und von den Industrienationen finanziert wird, mit initiiert, doch blieben die vermeintlichen Edel-Impfstoffe Biontech, Moderna oder Johnson & Johnson für die Dritte Welt außer Reichweite, denn die westlichen Industriestaaten reservierten sie für die eigenen Bürger. Die aber sind mittlerweile „impfmüde“ geworden, sodass die teuren Substanzen zu vergammeln drohen.


Während nun in den USA und der EU teils materielle Anreize geschaffen werden, um die Menschen an die Nadel zu bringen, per Gutscheine, Freibier oder - wie in New York - sogar Joints, warten die Afrikaner vergebens auf die versprochenen COVAX-Lieferungen. Gerade einmal 18 Millionen Dosen wurden bis Mai bereitgestellt – für 1,3 Milliarden Menschen! China, das bislang die Dritte Welt immerhin mit 400 Millionen Dosen eigener Impfstoffe unterstützt hat, muss sich dagegen von den Europäern vorwerfen lassen, es nütze die Pandemie aus, um die eigene geostrategische Position zu stärken. Als hätten die NATO-Staaten bei ihren „Hilfsaktionen“ je etwas anderes im Sinn gehabt.


Das Beispiel Indiens hätte Warnung genug sein können: Dort sahen die wirtschaftlich starken Staaten des Westens zu, wie sich Abermillionen infizierten, verhinderten aber zunächst, dass das Land sich selbst mit der Produktion von Vakzinen helfen konnte, indem sie die Patente nicht freigaben. Diese wirtschaftsfreundliche Politik begünstigte die Entstehung der Delta-Variante auf dem Subkontinent, eine verhängnisvolle Entwicklung, die – welch salomonische Gerechtigkeit! – nun auch uns erreicht hat.


Die wählerischen Experten


Die EU, die Pharma-Konzerne und anfangs auch die USA hatten sich bei der Weigerung, den Patentschutz für Vakzine aufzuheben, hinter der fadenscheinigen Behauptung verschanzt, in der Dritten Welt existierten kein Know-how und keine Kapazitäten für die diffizile Produktion – als hätten nicht die riesigen Arzneimittelfabriken in Indien seit geraumer Zeit die halbe Welt mit Generika versorgt.


Dann durfte das Serum Institute of India wenigstens AstraZeneca, dem aus Konkurrenzgründen unter den westlichen Impfstoffen die Rolle des Parias zugesprochen wird, herstellen. Ein Teil der Produktion wurde an COVAX geliefert, und die Organisation versorgte damit ärmere Länder. Dies sah nach gedeihlicher internationaler Kooperation aus, doch eine europäische Institution fand ein Haar in der Suppe menschlichen Wohlverhaltens.


Die EMA (European Medicines Agency) lässt chinesische und russische Vakzine für die Europäische Union aus unterschiedlichen Gründen nicht zu. Nun hat sie dieses Verdikt auch auf das in Indien hergestellte AstraZeneca ausgedehnt. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Kompatibilität internationaler Impfpässe. So kann Menschen, die zwar vollständig, aber nicht mit einem von der EMA anerkannten Vakzin, geimpft wurden, die Einreise in die EU verwehrt werden. Dies droht neben Afrikanern und Asiaten auch Serben oder Albanern, Bürgern aus Staaten also, in denen mit Seren aus chinesischer, russischer oder eben indischer Fabrikation immunisiert wurde.


Das scheinbar Absurde an dieser Situation ist, dass COVAX gerade von EU-Staaten mit Geldern ausgestattet wurde, um das indische AstraZeneca unter die bedürftigen Völker zu bringen, damit die Edel-Vakzine in der Ersten Welt verbleiben konnten. So schafft man Geimpfte zweiter Klasse, denen man bei Bedarf den Zutritt in den europäischen Salon untersagen kann. Gleich mehrere Gründe für dieses perfide Vorgehen sind denkbar, und einer ist inhumaner als der andere…


Impfschrott für die Armen?


Der Schutz der großen Konzerne ist den Politikern im Westen eine Herzensangelegenheit. Der russische Impfstoff Sputnik V hat nach Analysen der in Großbritannien erscheinenden Wissenschafts-magazine Nature und Lancet – die beiden gelten als die renommiertesten medizinischen Publikationen der Welt - eine mindestens ebenso hohe Wirksamkeit wie Biontech oder Moderna. In Serbien, Argentinien und den Vereinigten Emiraten, wo er eingesetzt wurde, konnten keine fatalen Nebenwirkungen, etwa Thrombosen, festgestellt werden. Sputnik V ist somit ein ernstzunehmendes Konkurrenzprodukt für die Vakzine des deutschen Top-Startups Biontech und seines US-Partners Pfizer oder von Johnson & Johnson. Selbst der MDR attestierte dem russischen Serum: „Die Impfung schützt offenbar gut.“ Menschen vor der Seuche zu bewahren, ist eine Sache; das profitable Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft zu pflegen, eine andere – und die scheint wichtiger zu sein.


Die chinesischen Vakzine sind wohl weniger wirksam als Sputnik V, gleichwohl lässt sich mit ihnen die Seuche in unterversorgten Ländern einigermaßen effizient bekämpfen. Dennoch trifft auch sie der Bannstrahl der EMA (und mit den Seren auch die mit ihnen geimpften Menschen). Vermutlich will die EU so den wachsenden Einfluss Chinas in vielen Weltregionen eindämmen.


Warum aber verweigert die Impfkommission der EU den in Indien produzierten Vakzinen und den mit ihnen vorgenommenen Immunisierungen die Anerkennung, obwohl sie diese doch über COVAX in die Dritte Welt geliefert hat? Alle mutmaßlichen Erwägungen zeugen von kalter Berechnung:


-     Die zur Einreise zwingend notwendige Anerkennung von

Impfpässen (im Verein mit dem Ausschluss bestimmter

Impfstoffe) könnte so ein effektives Werkzeug zur Unterbindung

von Migration und legaler Einreise Asylsuchender werden.

-     Die EU möchte suggerieren, dass Indien nicht in der Lage ist,

hochwertige Vakzine herzustellen und deshalb die von der Dritten

Welt und den NGOs geforderte Aufhebung des Patentschutzes

einen Irrweg darstellt.

-     Oder die EMA hat tatsächlich herausgefunden, dass AstraZeneca

aus Indien nicht den medizinischen Anforderungen entspricht.

Dann aber wäre es grob fahrlässig, Impfschrott in die armen

Länder zu liefern. Wer dieses Szenario für unmöglich hält, sei an

den deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn erinnert, der

minderwertige Schutzmasken an behinderte Menschen ausgeben

wollte. Übrigens ließen sich die mit dem indischen Vakzin

versorgten Länder auch trefflich als abgeriegelte Versuchslabore

nutzen.


Der European Council on Foreign Relations (ECFR) grämte sich bereits im Mai, die EU stehe wegen unterlassener Hilfeleistungen, was Masken oder Vakzine betrifft, gegenüber China in Sachen „Covid-Diplomatie“ ohnehin schlecht da, und warnte vor „diplomatischen Verwicklungen“, wenn etwa Bürgern aus den südöstlichen Nachbarstaaten die Einreise verweigert würde, weil sie mit dem „falschen“ Vakzin geimpft wurden. Solche Maßnahmen würden „das Ansehen der EU in diesen Ländern wohl kaum verbessern“.


Indessen wird vor allem auf dem schwarzen Kontinent die nach außen paternalistische, tatsächlich aber knallhart neoliberale Rolle der Europäischen Union immer heftiger kritisiert. Die Afrikanische Union erklärte, das Vorgehen der EU setze die „gleichberechtigte Behandlung“ geimpfter Afrikaner aufs Spiel. Die kritische Netzplattform German-Foreign-Policy zitierte Madagaskars Gesundheitsminister Rakotovao-Hanitrala mit den Worten „Wie kann es sein, dass sie uns jetzt erzählen, diese Impfstoffe seien nicht gültig“. Man frage sich jetzt, „ob es etwa einen Impfstoff für Afrikaner gibt und einen anderen für Europäer“. Die kenianische Wochenzeitung The East African indes fand die passende Einordnung für die Pandemie-Bekämpfung der EU: „Impfstoff-Apartheid“.

07/2021

Dazu auch:

Patent vor Leben unter Medien und Triple-Moral im Archiv derselben Rubrik (2020)







Ende des Regenbogens


Da schien Deutschland mal voranzugehen in Sachen Toleranz und Humanität: Der Münchner OB Reiter hatte vor dem EM-Spiel der DFB-Elf gegen Ungarn bei der UEFA beantragt, das überdimensionierte Schlauchboot namens Allianz-Arena in Regenbogenfarben beleuchten zu dürfen, als Zeichen der Sympathie für die Queer Community – und wohl auch, um Viktor Orbán, der gerade in Budapest ein homophobes Gesetz durchgepeitscht hatte, zu ärgern. Die Korruptionsspitze des europäischen Fußballs untersagte dies wegen des Gebots „politischer Neutralität“, worauf die Deutschen andere Stadien in buntes Licht tauchten und sich wieder einmal als die Guten fühlen durften. Nüchtern betrachtet, handelte es sich aber bei der Goodwill-Aktion um eine billige Geste, die kaum etwas mit der Realität im Lande zu tun hat.


Symbolpolitik und Arroganz


Ja, es wäre schön, in einer inklusiven Gesellschaft zu leben, in der jede/r unabhängig von der sexuellen Ausrichtung, ethnischen Zugehörigkeit oder seiner physischen und psychischen Tauglichkeit für unser Produktions- wie Marktsystem glücklich werden darf. Insofern müsste man es doch begrüßen, wenn Manuel Neuer, Spielführer der deutschen Nationalmannschaft, eine regenbogenfarbige Kapitänsbinde trägt. In einer Live-Diskussion des BR kritisierte ein Zuhörer allerdings, dass Neuer mit dem bunten Armbändchen vor dem Logo des Sponsors seines Vereins Bayern München posiert hätte, des Emirats Qatar also, in dem Homosexuelle unbarmherzig verfolgt, Frauen die Rechte verweigert und ausländische Arbeiter bis ins Grab ausgebeutet werden.


Der Mann hatte vollkommen recht: Ein bisschen visualisierte Symbolpolitik darf nicht davon ablenken, dass Toleranz nicht teilbar ist und auch nicht nur temporär geübt werden darf, dass also ein Söder, der sich bei dieser Gelegenheit (d. h. in der Nähe von Mikro und Kamera) als großer Versteher der queer people outete, sein Wohlwollen auch auf Flüchtlinge ausdehnen muss. Es ist jene fast obligatorische Scheinheiligkeit, die mit rhetorischem Schwulst die nationale Arroganz verbrämt, welche solchen (oberflächlichen) Gutmensch-Vorstößen gegenüber misstrauisch macht.


Nur am Rande sei gefragt, warum es hierzulande schwule Spitzen-Kicker noch immer nicht wagen, sich zu ihrer sexuellen Identität zu bekennen.

Die EM dauert ein paar Tage, danach herrscht wieder Normalität, geprägt von der üblichen Intoleranz und vor allem jener Ignoranz, die uns vergessen lässt, dass uns seit Jahren fürchterliche Nachrichten aus Nordafrika, von den griechischen Inseln und den süditalienischen Küsten erreichen, die noch nie einen Bürgermeister zu einem Farbspektakel angeregt haben. Dann wird sich auch wieder zeigen, dass in der EU Diskriminierung existiert, nicht nur Migranten gegenüber, sondern auch zwischen den einzelnen „Bruderstaaten“.


Zynische Fake-News aus Brüssel


Die Verträge von Dublin, die von Deutschland und Frankreich, zwei weitab von den Migrationsbrennpunkten liegenden Ländern, durchgesetzt wurden, regeln, dass Asylbewerbern praktisch kaum mehr legale Möglichkeiten offenstehen, in die Mitte Europas zu gelangen. Es sind die Staaten mit „prekären“ Küsten und Grenzen, also in erster Linie Italien, Spanien und Griechenland, die Flüchtlinge aufnehmen und ihre Anträge prüfen müssen. Die wohlhabenden Mittel- und Nordeuropäer sind außen vor, da ihre Territorien weit weg von der türkischen Grenze liegen, auch nicht am Mittelmeer, Afrika gegenüber. Und sie lassen die südeuropäischen „Partner“ mit maroden Sammellagern wie dem griechischen Moria, überfüllten Inseln wie dem italienischen Lampedusa oder Logistikproblemen wie auf den Kanaren allein.


So ganz stimmt das allerdings auch nicht. Zwar helfen die Wortführer in Berlin, Paris und Brüssel den Südeuropäern bei den gegenwärtigen Problemen höchstens mit solidarischen Lippenbekenntnissen, während den xenophoben Regierungen in Warschau oder Budapest der Schwarze Peter zugeschoben wird, doch unternehmen sie Anstrengungen, alle Migranten (die oft genug wegen der EU-Handelspolitik auf der Flucht vor dem Hunger sind) von ganz Europa fernzuhalten. Und sie suchen sich dazu merkwürdige Verbündete.


So werden mit dem Autokraten Erdoğan milliardenschwere Verträge geschlossen, damit er seine Grenze zu Griechenland schließt und abgewiesene Flüchtlinge von dort zurücknimmt. Zu den Mordmilizen von Darfur wird Kontakt aufgenommen, um den Transit Verzweifelter durch den Sudan nach Norden zu verhindern, doch die bizarrsten Helfershelfer der EU in Afrika sind jene schwerbewaffneten Banditen, die euphemistisch als „libysche Küstenwache“ firmieren.


Frontex, das berüchtigte Kommando zum Schutz der europäischen Außengrenzen, überwacht die Gewässer zwischen dem Wüstenland und Italien aus der Luft und meldet jedes Flüchtlingsboot der italienischen, maltesischen – und eben der libyschen Küstenwache. Während die erstgenannten Einsatzkräfte nicht eingreifen, verschleppt letztere die Migranten in ihre gefürchteten Internierungslager, mehr als 14.000 allein in diesem Jahr.


Jetzt schlugen die in den Camps arbeitenden französischen Ärzte ohne Grenzen (MSF) Alarm. In mehreren Lagern beobachteten sie, wie Insassen willkürlich misshandelt wurden. Die MSF erheben weitere schwere Vorwürfe: Angehörige der Küstenwache hätten mit Schnellfeuergewehren in die Menge geschossen, Massenvergewaltigungen seien an der Tagesordnung. Die Flüchtlinge hätten kaum Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung, würden unzureichend ernährt und lebten in qualvoller Enge. Ähnliches wurde auch schon in den letzten Jahren u. a. von den Vereinten Nationen aus den Internierungslagern, die vom Innenministerium in Tripolis betrieben werden, gemeldet, aber fortgesetzter Horror stumpft ab, wenn er einen nicht unmittelbar betrifft. Und was die EU angeht, wird sie doch nicht den Frontex-Alliierten, die Europa das Flüchtlingsproblem ein Stück weit vom Hals schaffen, in den Rücken fallen.


Der Europäische Auswärtige Dienst freute sich laut ARD-Tagesschau denn auch in einem internen Bericht über die zupackende Art: „Die Effektivität der libyschen Küstenwache konnte gesteigert werden und hervorragende Ergebnisse erzielen.“ Nach dieser Logik ist nur ein Flüchtling, der umkommt, weggesperrt oder – wie in Libyen üblich – versklavt wird, für Europa ein guter Flüchtling.


Mittäterschaft der EU


Die Völkerrechtlerin Nora Markand von der Uni Münster sieht die Sache anders. Sie hält die Mitwirkung von Frontex für „mit dem Völkerrecht unvereinbar“, es handle sich „im Grunde um Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen“. Die Grenzschutzagentur, die auch an der Ausbildung der libyschen Milizionäre zu „Küstenwächtern“ beteiligt war, steht wegen etlicher schwerer Anschuldigungen in der öffentlichen Kritik.


Vor dem Europäischen Gerichtshof haben drei NGOs Klage eingereicht, weil Frontex in der Ägäis im Rahmen eines Pushbacks hilflose Bootsflüchtlinge ohne Wasser und Nahrung ihrem Schicksal überlassen haben soll. Derweil ermittelt die EU-Antibetrugsbehörde Olaf gegen den Chef der Agentur, Fabrice Léggeri, weil der Treffen mit Lobbyisten der Rüstungsindustrie verschwiegen hat. Frontex beantwortet Fragen nach Verstrickung in Menschenrechtsverletzungen grundsätzlich nicht und scheint mittlerweile ähnlich selbstherrlich zu agieren wie seine dubiosen Verbündeten in Libyen. Europas Schutz ist in schmutzigen Händen…


Unterdessen lud Außenminister Heiko Maas die Bürgerkriegsparteien und ihre Unterstützer zur zweiten Libyen-Konferenz nach Berlin ein. Man einigte sich darauf, dass Söldner und fremde Truppen aus dem Land abgezogen werden und am 24. Dezember Wahlen stattfinden müssten. Maas feierte das Ergebnis als Erfolg, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass er auf der Konferenz nur den Frühstücksdirektor spielte. Das Sagen hatten Russland und die Türkei, der Westen war lediglich für die Zerstörung des Landes verantwortlich gewesen. Über die rund 900.000 Flüchtlinge in Libyen wurde kein Wort verloren.   


Um das Schicksal dieser Menschen nicht völlig in Vergessenheit geraten zu lassen, hätte man die Allianz-Arena schwarz färben lassen können – aber dafür würde Markus Söder wohl keine Sympathiepunkte gesammelt haben, und die UEFA hätte es ohnehin nicht erlaubt.

07/2021

Dazu auch:

Die Erpressung im Archiv dieser Rubrik (2015)

Die Welt ist sicher… im Archiv der Rubrik Medien (2016)





Wer darf? Wer nicht?


Alexander Lukaschenko zählt sicherlich zu den unangenehmsten Figuren in der europäischen Politik. Dass der belarussische Diktator ein Ryanair-Flugzeug zur Landung zwingen und einen Passagier festnehmen ließ, ist ein Verstoß gegen die internationalen Luftfahrtregeln. Dass der Westen unisono und scharf deswegen protestierte, war zu erwarten und per se nicht falsch. Doch das Gedächtnis in den Haupt-städten Wien, Paris oder Washington ist kurz, und so war den Verantwortlichen dort nicht mehr präsent, dass sie einst ganz ähnlich wie der Despot von Minsk gehandelt hatten.


Fadenscheinige Begründung


Dass der Jet der irischen Billiglinie vom belarussischen Militär aus purer Sorge um die Griechenland-Urlauber zur Landung in Minsk gezwungen wurde, bezweifelten nicht nur die neuen Kalten Krieger des Westens (wobei hierzulande der unvermeidliche Heiko Maas und die grüne NATO-Freundin Annalena Baerbock am lautesten in die Bütt stiegen). Zu unglaubwürdig klang die nachgeschobene Begründung, man habe Kenntnis von einer Bombendrohung der Hamas erhalten, zumal die Palästinenser umgehend dementierten. Es ist auch schwer, die Tatsache, dass in dem Urlaubsflieger auf dem Weg von Athen ins litauische Vilnius mit Roman Protasewitsch einer der führenden belarussischen Exil-Oppositionellen saß, als glücklichen Zufall zu deuten, durch den der treusorgende Landesvater Lukaschenko – quasi als Lohn für seine gute Tat – einen der schärfsten Gegner auf dem Tablett serviert bekam.


Nein, es spricht alles für einen Coup, durch den der Autokrat von Minsk den vor allem nach Litauen geflohenen Dissidenten signalisieren will, dass sie nirgendwo sicher vor seinem Zugriff sind. Dass der Westen lautstark protestiert und Sanktionen verhängt, ist allerdings nicht nur der Gefährdung der zivilen Luftfahrt geschuldet, sondern auch dem Umstand, dass er im belarussischen Machtkampf auf Seiten der Opposition mitmischt und mittels regime building strategisch noch näher an Putins Reich heranrücken will. Die im Brustton moralischer Entrüstung vorgetragenen Anschuldigungen gegen Lukaschenko erweisen sich aber zumindest teilweise als Heuchelei, wenn man ins Kalkül zieht, dass die Achse des Guten vor acht Jahren ähnliche Methoden anwandte, um eines gewissen Edward Snowden habhaft zu werden.


Der Coup von Wien


Der Whistleblower hatte den europäischen Regierungen das Ausmaß der Bespitzelung durch den US-Geheimdienst NSA enthüllt. Dankbar zeigten sie sich nicht, denn als Snowden vor den Rachegelüsten der amerikanischen Behörden floh, bot ihm keines der von ihm aufgeklärten Länder Asyl an, so dass er sich in Moskau bei Wladimir Putin in Sicherheit bringen musste. Im Juli 2013 nahm eben dort der bolivianische Präsident Evo Morales an einer Konferenz teil. Westliche Geheimdienste kolportierten fälschlicherweise, Morales habe Snowden an Bord seines Flugzeugs genommen und werde ihm Asyl in dem Andenstaat anbieten. Als die Präsidentenmaschine in Moskau abhob, sperrten auf Geheiß der USA die NATO-Staaten Frankreich, Italien, Spanien und Portugal den Luftraum. Morales musste in Wien, Hauptstadt des eigentlich neutralen Österreich, zwischenlanden. Der Jet wurde dort durchsucht – von Snowden fehlt jede Spur.


Dieser Akt staatlicher Luftpiraterie mochte in der Ausführung weniger gefährlich gewesen sein als sein Pendant in Minsk, was allerdings den Bruch internationalen Rechts betraf, wog er schwerer, weil die diplomatische Immunität eines Staatsoberhaupts und die Souveränität eines Landes missachtet wurden. In den deutschen Zeitungen wurde die Sache eher als Kavaliersdelikt abgehandelt: Die „Jagd auf Snowden“ treibe „seltsame Blüten“, wunderte sich die FAZ, während die SZ den Übergriff lediglich „taktlos, undiplomatisch, peinlich“ fand. Dass es Snowden, wäre er ergriffen worden, in einem der berüchtigten US-Gefängnisse kein bisschen besser ergangen wäre als jetzt Protasewitsch im belarussischen Knast, hätte wohl kaum markige Proteste seitens der Bundesregierung oder der EU-Kommission zur Folge gehabt.


Der Engel und des Teufels Taten


„Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe.“ Diese Erkenntnis des altrömischen Komödiendichters Terenz hat in der Außenpolitik ihre Gültigkeit behalten. Dass die weltumspannende Ökonomie und die globale Machtpolitik von Gleichberechtigung gekennzeichnet seien, wird allenfalls noch ein scheinheiliger Sonntagsredner behaupten. Doch auch das verbriefte internationale Recht wird nach Belieben ausgelegt, dem Belieben von Imperien, in unserem Fall dem der USA und der NATO.


Der in Minsk inhaftierte Oppositionelle Protasewitsch ist für die NATO ein As im Machtpoker um die Anrainerstaaten Russlands, der Whistleblower Snowden hingegen hat die Machenschaften der Geheimdienste im eigenen Lager aufgedeckt und gilt deshalb als Nestbeschmutzer. Der Luftraum über Belarus darf ebenso wenig verletzt werden wie die Flugrechte von Ryanair, das Flugzeug eines Drittwelt-Präsidenten indes lädt regelrecht zur Razzia ein. Nun handelte es sich bei Morales nicht nur um den ersten indigenen Staatschef eines südamerikanischen Landes, er hatte auch westlichen Konzernen die Übernahme der bolivianischen Wasserversorgung und die exklusive Ausbeutung der Bodenschätze verweigert. Angesichts solcher Impertinenz darf er sich nicht wundern…


Das Franklin D. Roosevelt zugeschriebene Schweinehund-Prinzip wird von den Vereinigten Staaten bis heute angewandt und ist längst auch Maßstab westeuropäischen Handelns. Assad ist Putins Schweinehund, Gaddafi war ein ziemlich autarker Köter – folglich mussten beide bis zur weitgehenden Zerstörung ihrer Länder bekämpft werden. Der Massenmörder Duterte auf den Philippinen und der brasilianische Faschist Bolsonaro sind unsere Schweinehunde (wie auch etliche afrikanische Putschisten, dazu früher noch Pinochet und die ganze glänzende Gilde lateinamerikanischer Militärdiktatoren), sie haben also allenfalls laue Ermahnungen, aber keine Sanktionen zu fürchten.


Wenn Russland das Völkerrecht ein wenig beugt und die Krim, zu der es allerdings stärkere historische Bindungen hat als die Ukraine, annektiert, treibt ein Pawlowscher Reflex den NATO-Sprechern den Wutschaum auf die Lippen. Wenn die nordatlantische Allianz aber ohne UNO-Mandat einen Angriffskrieg mit Bombardierungen ziviler Ziele gegen Serbien entfesselt, wird das euphemistisch als humanitäres Eingreifen bezeichnet.

Kein Zweifel, die Machtblöcke, handle es sich um die NATO, Russland oder die VR China, stehen einander in nichts nach, was Skrupellosigkeit und Erweiterung der Einflusszonen betrifft. Aber nur die Chefpropagandisten des Westens maßen sich im Stil bigotter Sektenprediger das Monopol auf Objektivität und Moral an. Und die eher untergeordneten Referenten wie Maas oder von der Leyen scheinen einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein, die sie nur noch den Balken im Auge des Anderen erkennen lässt, nach dem Motto: Macht euch die Erde untertan und beutet sie kräftig aus, aber redet dabei unaufhörlich von Nächstenliebe, Partnerschaft und Gerechtigkeit.


Ein paar Sanktionen gegen Lukaschenko könnten an sich nicht schaden, doch müssten sie von ähnlichen Maßnahmen gegen die USA, Brasilien, Saudi-Arabien, die EU etc. begleitet werden. Ansonsten wäre es im Namen der Wahrheit besser, den Mund zu halten – oder das eigene Handeln kritisch zu überprüfen.

06/2021

Dazu auch:

Schweinehund-Theorien (2016) und Dem Vieh verboten (2014) im Archiv der Rubrik Medien





Hilfe durch Landraub?

 

Wortreich beklagen deutsche Politiker die Vertreibung kleiner bäuerlicher Betriebe in der Dritten Welt durch internationale Agrarkonzerne. Doch wie verschiedene NGOs jetzt nach-weisen, investiert die BRD-Entwicklungshilfe selbst in die Aneignung fruchtbarer Böden durch die Multis und deren wenig nachhaltige Nutzung zur Bedienung des europäischen Marktes und zur Steigerung der Unternehmensgewinne. Die redundante Beschwörung einer Partnerschaft mit armen Ländern durch die Bundesregierung gerät so zu einer zynischen Phrase, mit der Gier beschönigt und Komplizenschaft verschleiert werden soll.

 

Kauft euch Afrika!

 

Beispiel Sambia: Das Aktionsnetzwerk FIAN wirft Deutschland vor, das sogenannte Land Grabbing (Landraub) in dem südafrikanischen Land zu fördern. Seit 2018 haben dort in drei Distrikten die großen Agrarkonzerne Zambeef und Agri in Kooperation mit Toyota etliche Kleinbauern von ihren fruchtbaren Böden vertrieben, um Soja und Mais in Monokulturen anzubauen und bevorzugt nach Europa zu exportieren. Zunehmend müssen die kleinen Felder der bäuerlichen Betriebe, die bislang 90 Prozent der Bevölkerung ernährten, den kurzzeitig profitablen Mega-Plantagen weichen, wobei die Einheimischen auf karge Ländereien umgesiedelt werden.

 

Während sich das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Berlin über Jahrzehnte hinweg offiziell gegen Landkonzentration aussprach, kofinanzierte es in allen drei sambischen Regionen eben diese Monopolisierung des Grundbesitzes. FIAN bezeichnete es als „makaber“, dass die deutsche Entwicklungshilfe „durch die Kredit-vergabe an Agrarinvestoren auch noch Kasse“ mache.

 

Beispiel Sierra Leone: In dem westafrikanischen Staat war wie in Sambia die Deutsche Entwicklungsgesellschaft (DEG) tätig geworden. Sie konnte auf einen Betrag von 1,5 Milliarden Euro zurückgreifen, um „unternehmerische Initiativen in Entwicklungs- und Schwellen-ländern“ zu fördern, die ein „nachhaltiges Wachstum und bessere Lebensbedingungen“ anstoßen sollten. Die DEG stellte in Sambia Zambeef 25 Millionen Dollar zur Verfügung, um 100.000 Hektar Ackerland aufzukaufen und subventionierte den Schweizer Konzern Addax Bioenergy, der in Sierra Leone auf 44.000 Hektar die traditionellen bäuerlichen Strukturen beseitigte und Monokulturen, vor allem das den Boden auslaugende Zuckerrohr, anbaute. Aus der Biomasse sollte Ethanol hergestellt werden, wohl vor allem für Billig-Sprit in Europa. Das Projekt scheiterte kläglich, die Folgen waren heruntergewirtschaftete Felder und weitere Verarmung in der Region. Die Hilfsorganisation Brot für die Welt benennt die Mitschuldigen: „Vor dem Hintergrund ihrer Standards müssten sich auch die Entwicklungsbanken dafür verantwortlich zeigen.“

    

Seltsame Bauern mit guten Freunden

 

Die Experten der UN-Welternährungsorganisation FAO weisen immer wieder darauf hin, dass es in der Dritten Welt die kleinen bäuerlichen Betriebe sind, von denen die Versorgung der Bevölkerung abhängt. Diese pflegen die traditionellen Anbaumethoden, die den Boden nicht veröden lassen, nutzen Mini-Kredite zu sinnvollen Verbesserungen, stärken die Stellung der Frauen und bieten den Familienmitgliedern sowie anderen Dorfbewohnern Arbeit. Die Agro-Giganten hingegen verwandeln nach wenigen Ernten riesige Humusflächen in Wüsten und benötigen daher immer mehr Land – um mit moderner Technik und wenigen Helfern die Produkte zu erzeugen, die in der Ersten Welt benötigt werden, und sei es als Wettobjekte an den Terminbörsen.

 

Die Regenwaldabholzung in Brasilien erregt allerorten die Gemüter, wer aber weiß schon, dass allein im benachbarten Paraguay jährlich 150.000 Hektar Land von Großfarmen okkupiert werden, dass die eigentlich von unserem Entwicklungshilfeministerium kontrollierte DEG fünfzehn Prozent der Anteile an der Investmentfirma PAYCO S.A. hält, die wiederum zweitgrößter Grundbesitzer in dem bettelarmen Land ist. Seltsame Großbauern sind aus Deutschland aufgebrochen, um sich große Teile der Erde im Tropengürtel untertan zu machen: Neben der DEG möchten auch der Versicherungskonzern Munich Re und die Ärztepensionskasse Westfalen ihre Schäflein ins Trockene bringen, indem sie Indigenen und Campesinos systematisch die Lebensgrundlage entziehen. Die Welthungerhilfe berichtet, dass Olam International, mit drei Millionen Hektar Nutzfläche einer der weltgrößten Grundherren, inzwischen als Partner des Berliner Ministeriums „umfangreich von der bundeseignen KfW-Bank finanziert“ werde.

    

Derzeit stehen den 2,5 Milliarden Kleinbauern global, die als das „Rückgrat“ der Ernährungsstrategien in der Dritten Welt gelten, nur noch drei Prozent des urbaren Landes zur Verfügung. Deutsche Entwicklungshilfe sorgt mit dafür, dass sie bald noch weniger zu bebauen haben…

 

Bevor es der Chinese tut…

 

Natürlich hat auch die VR China in das Rennen um Acker- und Weideböden eingegriffen, vor allem in Afrika und Lateinamerika. Die Regierung in Peking sichert sich die Nutzungsrechte riesiger Areale, auf denen sie ein chinesisches Verwaltungs- und Obrigkeitssystem installiert, fast so rigide, wie es die westlichen Champions United Fruit Company, Brands und dann Nestlé vorexerzierten. Und die Volksrepublik gewährt korrupten Politikern wie putschwilligen Militärs freigiebig Kredite ohne moralische Appelle, um Einfluss zu erlangen oder zu bewahren. Der Westen hingegen schmiert die Kleptokraten stillschweigend und ermahnt sie ebenso wohltönend wie folgenlos, irgendwelche Menschenrechte einzuhalten.

 

Anklagend zeigen nun die EU und die USA auf die Macht- und Einflussambitionen der chinesischen Staatskapitalisten und unterschlagen dabei, dass diese nur alten Spuren folgen. In der Blütezeit des Kolonialismus hatten die damaligen Weltmächte, allen voran das britische Empire, Rohstoffe zu Niedrigpreisen aus dem globalen Süden importiert, Fertigprodukte überteuert dorthin verkauft und mit Drohungen, Boykott oder Militäraktionen dafür gesorgt, dass sich keine nennenswerte Produktion in den armen Staaten entwickeln konnte. Zudem nahmen sich weiße Siedler Land, wo immer sie wollten.

 

Mittlerweile ist eine neue Stufe des technologischen Fortschritts erreicht, die industrielle Massenfabrikation ist old school (und kann wegen der erbärmlichen Arbeitslöhne ruhig der Dritten Welt überlassen werden), die Zukunft gehört der Cyber-Ökonomie, zu der die Habenichtse der Welt nur spärlichen Zugang haben. Da die Menschen, auch in der Ersten Welt, aber weiterhin ernährt werden müssen, übernehmen die Agrarindustrie, die Handelsriesen wie Nestlé und die Chemie-Giganten wie Bayer das Steuer und erwerben nicht ein Stück Land, sie kaufen und unterwerfen sich das ganze Land.

 

Dieses Vorgehen sichert die Versorgung der Bevölkerung – in der EU, in Japan oder den USA. Es zerstört gleichzeitig die traditionelle nachhaltige Landwirtschaft in den heimgesuchten Staaten, pulverisiert die Lebenskultur der Menschen, macht den Boden unfruchtbar. Bevor man aber die riesigen Überschüsse an Nahrungsmengen, die mit dieser Tabula-rasa-Methode erzeugt werden, Hungernden und Flüchtlingen zukommen lässt, feilscht  man um sie auf den Agrarrohstoffmärkten, jongliert mittels Futures und Terminkontrakten mit ihnen, macht lebensnotwendiges Getreide zu einem abstrakten Katalysator für noch größere Profite. „Börsenspekulation auf Nahrungsmittel tötet Menschen“, sagte der Schweizer Jean Ziegler, Mitglied des UNO-Menschenrechtsrats.

 

Unser (wenn auch ungerecht verteilter) Wohlstand basiert auf dem Elend einer Mehrheit der Weltbevölkerung. Unsere Entwicklungshilfe soll vorgeblich für mehr globale Gerechtigkeit sorgen, zementiert aber in Wirklichkeit mit vielen Maßnahmen und Subventionen den jetzigen Status quo. 

05/2021 

Dazu auch: 

Die Erpressung (2015), Die Herren des Landes (2014) und 

Vorsicht: Hilfe! (2014) im Archiv dieser Rubrik

 

 

 

  


Machiavellist Haseloff

 

Noch vor zwei Wochen fieberte die Republik mit beim großen Kandidatenduell der beiden Unionschristen aus NRW und Bayern. Dabei ging fast unter, dass ein Mann aus der Mitte Deutschlands in einer stringenten Entschlossenheit für Markus Söder Stellung bezog, wie sie seit den Zeiten der Renaissance von keinem politischen Taktiker oder Strategen mehr an den Tag gelegt wurde. Die frappierende Gradlinigkeit seiner Argumente stellt Reiner Haseloff, Landesfürst von Sachsen-Anhalt, in eine Reihe mit den großen Staatstheoretikern der Vergangenheit – und unter diesen besonders mit dem Florentiner Machiavelli.

 

Brüder über Raum und Zeit hinweg

 

Nun liegt Sachsen-Anhalt im internationalen Sympathie-Ranking nicht ganz auf der Höhe der Toskana, und Halle oder Magdeburg sind ein bisschen weniger berühmt als Florenz, doch verwandte Geister mögen über fünfhundert Jahre und gut tausend Kilometer hinweg miteinander korrespondieren können. In einem Gespräch mit dem SPIEGEL deutete Reiner Haseloff an, dass er voll und ganz in der Tradition des italienischen Staatsphilosophen Niccolò Machiavelli steht, dessen Anleitung zur berechnenden und skrupellosen Machtausübung, Il Principe („Der Fürst“) dem kleinen Markus Söder schon sehr früh statt der üblichen Gutenachtgeschichten vorgelesen worden sein könnte.

 

Pläne für die globale Zukunft, Gestaltung der Sozialsysteme oder Schutz von Klima und Umwelt – das sind alles olle Kamellen, die jeder schon mal im Mund gehabt hat. Nein, Haseloff erklärt, was wirklich Sache ist: „Leider geht es jetzt nur um die harte Machtfrage: Mit wem haben wir die besten Chancen?“  Dem stimmt Machiavelli, der sich mal als Berater, mal als Gegner mit den in Florenz herrschenden Medici, französischen Königen, dem bigotten Klerus und deutschen Söldnern auseinandersetzen musste, gerne zu. Sein Fürst darf quasi alles, auch lügen oder Grausamkeiten verüben, solange er seine Chancen intelligent nutzt und nicht über die Stränge schlägt. Letzteres ist beim gereiften Söder nicht zu erwarten, und wenn der ehemalige Nationalpark-Verhinderer heute Bäume umarmt, so nicht, weil er das Wahlvolk schnöde beschwindeln möchte, sondern weil er gerade wieder einmal seine Meinung höchst flexibel an den Zeitgeist angepasst hat. So einer hat halt die besten Chancen.

 

Haseloff zählt auch gewissenhaft auf, welche Wesensattribute seiner und des toskanischen Niccos Meinung nach eher hinderlich sind, um an die Spitze zu gelangen: „Es geht nicht um persönliche Sympathie, Vertrauen oder Charaktereigenschaften. Es hilft nichts, wenn jemand nach allgemeiner Überzeugung absolut kanzlerfähig ist, aber dieses Amt nicht erreicht, weil die Wählerinnen und Wähler ihn nicht lassen.“ Empathie, Verlässlichkeit oder Integrität kann man vergessen, vielmehr muss man das Ohr am Puls der WählerInnen haben, selbst wenn die vielleicht lieber zwischen Günther Jauch und Dieter Bohlen (oder Helene Fischer als Kanzlerin) entscheiden möchten.

 

Programme sind Krampf – im Wahlkampf

 

Haseloff schwimmt wacker in einem globalen Trend mit. Fachkenntnisse, Programme und perspektivisches Denken sind im Zeitalter von Social Media obsolet, auf den schrillen Auftritt, die Lautstärke der Plattitüden, die Performance also, kommt es an. Niccolò Machiavelli bewies beinahe seherische Begabung, als er betonte, dass bezüglich des moralischen Verhaltens des Fürsten zuallererst der Schein zähle und dass Wortbruch und Lüge unumgänglich für den Erfolg seien. Da hat jemand vor einem halben Jahrtausend bereits die Bedeutung von Fake-News und angewandtem Populismus begriffen.

 

Sich selbst hat Haseloff wohl eher als graue Maus der Bundespolitik gesehen, weshalb er sich einem Kandidaten mit brachialer Durchsetzungskraft, der nötigen Verschlagenheit und von einem alle Prinzipien zerstäubenden Opportunismus als Wahlhelfer andiente. Dabei hat der mitteldeutsche Ministerpräsident doch auch selbst einiges an rechtem Gedankengut zur im Osten besonders beliebten Überfremdungsdebatte beizutragen.

 

Haseloff wuchs in der DDR auf, einem Staat, der seine Bürger nicht aus dem Land ließ. Das gefiel dem Mann aus dem anhaltinischen Bülzig nicht. Dass aber Ostberlin seine Grenzen hermetisch abriegelte, um „Republikflucht“ zu verhindern, muss ihm imponiert haben. Nur sollte nach seinem Wunsch, niemand mehr in die Republik flüchten, da sein Bundesland unter einem Ausländeranteil von fünf Prozent ächzte. Folgerichtig formulierte er 2015 sein Schlagbaum-Credo: „Wenn ein nicht funktionierendes System wie Schengen dazu beiträgt, Europa zu spalten, müssen wir die nationale Grenzsicherung wieder einführen, um Europa zusammenzuhalten.“

 

Hier haben wir ein wahres Meisterstück rabulistischer Logik (Vereinigung durch Separation und Abschottung), doch reicht eine Schnapsidee noch nicht zum ganz großen Wurf, etwa zur Kanzlerkandidatur. Also erkor Haseloff das populistische Gesamtkunstwerk Markus Söder zu seinem Idol oder Principe.

 

Nicco Haseloffs Polit-Charts

 

Den ungehemmten Drang zur Macht, das Talent zur permanenten Tatsachenverdrehung und die Brutalität jeglicher Opposition gegenüber offenbaren gegenwärtig etliche Staatenlenker, von Trump über Bolsonaro bis Putin. Selbst Johnson in London, Macron in Paris und die Spitzen der AfD bei uns zu Hause erfüllen zumindest einige Verhaltenskriterien, die Machiavelli „geborenen Führern“ zuschrieb.

 

Allerdings wäre die Art und Weise, wie diese modernen Thronaspiranten  ihre Ansprüche anmelden, dem gebildeten Florentiner wohl zu laut, zu durchsichtig und zu ungehobelt gewesen.

Auch einem Markus Söder leuchtet bei jedem neuen Schwenk, bei jeder raschen Anpassung an die gerade vorherrschende Volksmeinung die Unglaubwürdigkeit aus den Augen und schwingt in den plötzlich so mitfühlenden Reden mit. Früher galt er allerorten tatsächlich als machtgieriger Polit-Rowdy – bis Corona kam. Inmitten einer aufgeregten Kakophonie verunsicherter Politiker, Mediziner und Journalisten verkaufte er seinen erratischen Kurs in der Krise als alternativlos. Zudem eiferte Söder in der Personalpolitik Machiavelli nach, der postuliert hatte, der Fürst solle nur solche Mitstreiter akzeptieren, die nach seinem Vorteil strebten und keinerlei eigene politischen Interessen verfolgten; eine Riege gehorsamer und wenig begabter Subalterner also – was einen spontan an unterbelichtete Gestalten wie Huml, Dobrindt oder Scheuer denken lässt. Das alles muss Reiner Haseloff so sehr imponiert haben, dass er in dem Franken das Modell für einen aktuellen Principe sah.

 

Markus Söder ist an der Zähigkeit eines unbeliebten, aber schlauen Aacheners gescheitert, aber er ist nicht von der Bildfläche verschwunden. Er lauert im Hintergrund, schwört Treue, sät gleichzeitig in Interviews Zweifel an der eigenen Union, und er ist jung genug für einen zweiten Angriff auf die Kanzlerschaft. Ob er aber gut damit beraten wäre, sich Reiner Haseloff als Wegbereiter und Ratgeber zu erwählen, ist nicht so sicher. Der Stadtstaat in der Toskana jedenfalls war es mit Machiavelli nicht immer: Mal setzte der auf die französische Karte und brüskierte damit die erwachende Weltmacht Spanien, mal machte er sich den Papst zum Feind, und als er sich kurz vor seinem Tod in der neu konstituierten Republik Florenz um eine Stelle als Sekretär bewarb, erhielt er nur 12 von 567 Stimmen, weil man in ihm einen Mann des alten Systems sah. 

05/2021 

Dazu auch:

Halt ein, Haseloff im Archiv von Helden unserer Zeit (2015)

  

 

 

   

 

In die Ferne schweifen

 

Wenn Amnesty International (AI) den Bericht über die Menschenrechtslage im vergangenen Jahr veröffentlicht, gehen deutsche Politiker gern die Resümees zur Situation in anderen Staaten durch und prangern deren Verletzungen internationaler Standards im Brustton moralischer Empörung an. Was AI am Status quo in Deutschland höchst bedenklich findet, ficht die Musterknaben des demokratischen Savoir-vivre (Selbstporträt) nicht weiter an und wird auch in den Medien hierzulande meist unterschlagen. Das ist schade, liegt das Böse doch allzu nah.

 

Eine ungesunde Atmosphäre

 

AI ist eine bürgerlich-humanistische NGO, die akribisch gesellschaftliche Verwerfungen in fast allen Staaten der Welt auflistet und so international bekannt macht. Sie untersucht nicht die systemischen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen an sich, etwa die Steuerung der globalen Lebensverhältnisse durch ungehemmte Marktmacht und die durch Politik abgesicherte Kapitalmehrung, aber sie prangert deren Folgen und Exzesse gewissenhaft an, liefert somit gesichertes Material für Kritik und potentielle Ansätze der Veränderung.

 

Auch im Jahresbericht 2020 kommt die Bundesrepublik gut weg, was direkte, von oben angeordnete Repression betrifft: Es gibt keine politischen Gefangenen, die systematisch gefoltert würden, und die Medienfreiheit wird eher von den Verlegern und Internet-Magnaten bedroht als von der Regierung. Dennoch konstatiert AI eine beunruhigende Atmosphäre, ein Klima wachsender Intoleranz in unserem Land. Als negativer Höhepunkt von Rassismus wird das Attentat von Hanau genannt, wo ein Rechtsradikaler neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss, als Beleg für eine „offizielle“ Geringschätzung des Lebens zitiert die Organisation auch den Beschluss der Landesinnenminister, Personen, die straffällig geworden waren, nach Syrien abzuschieben, „obwohl dort ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit bedroht war.“ Hier hätte man ergänzen können, dass dies ähnlich auch für Afghanen gilt, die sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen, sondern als Schüler, Azubis oder Gesellen ein „integriertes Dasein“ bestritten.

 

Unter der Kapitelüberschrift „Diskriminierung“ werden dann die konkreten Missgriffe einer die Grenzen, die Grundgesetz und Menschenrechtskonvention setzen, überschreitenden Obrigkeit aufgeführt: „ Zivilgesellschaftliche Organisationen berichteten weiterhin über diskriminierende Personenkontrollen von Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten durch die Polizei.“ Fügt man die in nüchternem Duktus zusammengetragenen Fakten zum Verhalten der von der Politik in Schutz genommenen Ordnungshüter zu einem Puzzle zusammen und komplettiert dieses mittels zusätzlicher, nur sporadisch ans Licht kommender Informationen, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass wir in einer labilen Gesellschaft leben, deren Exekutive gerade in beträchtlichen Teilen aus dem Ruder läuft.

 

Die Hüter rechter Ordnung

 

Berichte über rechtsextreme Aktivitäten in der Polizei und anderen Sicherheitskräften lösten 2020 Besorgnis aus, was den Schutz der Menschenrechte von Minderheiten betraf.“ So beginnt der AI-Bericht, und die prominente Platzierung des Sujets legt nahe, dass die internationalen Beobachter speziell der Situation von Migranten in der BRD viel Aufmerksamkeit widmen, mehr jedenfalls als deutsche Politiker. Tatsächlich fühlen sich Menschen mit dunkler Hautfarbe bei Begegnungen mit Ordnungshütern zunehmend verunsichert bis bedroht. Es wird auf die Forderung der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz an die hiesigen Behörden hingewiesen, diskriminierende Personenkontrollen (Racial Profiling) durch die Gendarmerie zu untersuchen. Innenminister Seehofer lehnte dieses Ansinnen im Einklang mit Konservativen und Polizeigewerkschaftern strikt ab; es gilt im rechten Mainstream als chic, sich ungeachtet aller Ungereimtheiten vor die Beamten zu stellen.

 

Die rechtsradikalen Auswüchse im Dienst kulminierten laut AI in den mehr als hundert Drohschreiben, die von 2018 bis zum Jahresende 2020 an engagierte Anwältinnen oder linke Politikerinnen versandt wurden. Die Adressen entstammten polizeilichen Datenbanken, unterzeichnet waren sie zumeist mit Nationalsozialistischer Untergrund 2.0. Eine schier unendliche Kette von Pannen bei Ermittlungen im rechtsradikalen Milieu, vom Oktoberfest-Attentat bis zur NSU-Mordserie, hatte schon früher den Verdacht reifen lassen, dass Neonazis, Rassisten und rechte Terroristen auf etliche Sympathisanten in Polizeiuniform rechnen konnten. Insofern bezieht sich AI lediglich auf ein aktuelleres Indiz für eine unheilvolle Entwicklung. Inzwischen wurde bekannt, dass Einsatzkommandos in Sachsen und Bayern heimliche Schießtrainings mit gestohlener Dienstmunition durchführten, nach dem Vorbild von Spezialisten in der Bundeswehr und mit der gleichen eindeutig rechtsradikalen Intention.

 

Denn auch an anderer Stelle brennt es auf dem Terrain der bundesdeutschen Sicherheitskräfte, wie AI meldet: „Zudem ermittelte der Militärische Abschirmdienst (MAD) gegen mehr als 500 Angehörige der Bundeswehr wegen der Verwendung verbotener nationalsozialistischer Symbole und Verbindungen zu gewaltbereiten rechtsextremen Netzwerken. Die Ermittlungen richteten sich insbesondere gegen die Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK).“ Die am intensivsten ausgebildeten Kämpfer der Bundeswehr klauen Munition und üben damit heimlich für den Bürgerkrieg (gegen Linke, Moslems und missliebige Politiker). Dann dürfen sie einen Teil des Diebesgutes wieder zurückgeben, bleiben straffrei, und die Verteidigungsministerin weiß angeblich nichts davon.

 

Die meisten deutschen Bürger schüttelten ungläubig den Kopf, als die Bilder von durchgeknallten Trump-Anhängern und weißen Verschwörungstheoretikern, die bewaffnet den US-Kongress stürmten, durch die Medien gingen. Wie überrascht wäre diese Bevölkerungsmehrheit, dränge in ihr Bewusstsein, dass es zu dem Milizen-Panoptikum in Washington ein besser trainiertes und getarntes Pendant aus Uniter-Paramilitärs, Preppern und anderen Apokalyptikern hierzulande gibt, das sich zum Großteil aus regulären Polizei- und Bundeswehreinheiten rekrutiert?

 

Besorgniserregend, aber folgenlos

 

Weiter moniert der AI-Bericht unter anderem, dass die Bundes-regierung zwar per Monitoring herausgefunden hatte, dass lediglich 13 bis 17 Prozent der deutschen Unternehmen im Ausland „ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in hinreichendem Maße nachkamen“, der Zugang zur Justiz aber blieb für die ausländischen Opfer des stattlichen Rests „weiterhin beschwerlich“. Was nützen ein Lieferkettengesetz oder Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, wenn ihre Zuwiderhandlungen während der Produktion zu Hungerlöhnen in der Dritten Welt folgenlos bleiben.

   

So wie dies auch bei den „unverantwortlichen Rüstungsexporten“ (AI) zutrifft. Trotz aller Lippenbekenntnisse, vornehmlich von SPD-Ministern, wurden – mit Ausnahme von Saudi-Arabien – die Länder der Kriegsallianz, die den Jemen derzeit in Schutt und Asche legt, mit Waffen made in Germany versorgt. Damit die deutsche Rüstungsindustrie in Riad nicht ganz in Ungnade fällt, darf sie weiterhin Bauteile für gemeinsame europäische Rüstungsprojekte an die Saudis liefern.

 

Neu ist das alles (zumindest für wache Bürger) nicht, pflichtschuldig besorgt zeigen sich viele Politiker, Konsequenzen zeitigt dies aber nicht. Der strukturelle Rassismus in der Polizei wird nicht untersucht, weil ihn der zuständige Innenminister einfach als nicht existent erklärt. Soldaten dürfen in ihrer Freizeit den blutigen Putsch gegen die bürgerliche Demokratie simulieren, weil Annegret Kramp-Karrenbauer nichts Beunruhigendes hören und sehen will. Und Politiker wie Heiko Maas schweifen lieber in die Ferne, wenn es um den Schutz der Menschenrechte geht. Nun, der Mann ist Außenminister, ihn scheint es also nichts anzugehen, wenn eine über jeden Zweifel erhabene Instanz wie Amnesty International auf die Bedrohung im Inneren aufmerksam macht. 

04/2021 

Dazu auch: 

Die rechte Haltung im Archiv von Politik und Abgrund (2019)

Nazi und Gendarm im Archiv der Rubrik Medien (2016)


 

  



Söderdämmerung?

 

Unaufhaltsam schien er an die Spitze der Republik zu stürmen, weder Mikrofone noch Kameras ließ er aus, um als omnipräsenter Oberlehrer sein Volk von seiner triumphalen Corona-Strategie zu überzeugen. Mal im getragenen Moll des besorgten Landesvaters, dann wieder mithilfe alberner Wortspielchen („Dauerwelle“) erklärte er bis zur Erschöpfung redundant, dass es in der Krise nur einen Weg geben könne: seinen; dass nur einer das Land mit eiserner Disziplin zu retten verstehe: er! Als aber Wähler und Journalisten sich bereits an die permanente Selfmade-Apotheose gewöhnt zu haben schienen, als der Griff zur Kanzlerschaft überall erwartet wurde, holten Markus Söder die mafiöse Vergangenheit und die zweifelhafte Gegenwart seiner Partei ein.

 

Das neue Image voller Löcher

 

Um schon zuvor eine gesunde Skepsis zu entwickeln, hätte man eigentlich nur die unzähligen Ankündigungen des Nürnberger Zampanos in der Covid-19-Ära mit den zahllosen Fehlern bei der Umsetzung abgleichen müssen. Immer etwas spät, dafür aber umso lauter hatte Söder auf die Bedrohung durch die Seuche reagiert, gestützt auf ein bayerisches Kabinett, dessen Unfähigkeit nicht einmal dadurch abgemildert werden konnte, dass die beiden profiliertesten Versager, Scheuer und Seehofer, vorsorglich nach Berlin weggelobt worden waren. Doch auch ohne sie häufte das Münchner Gesundheitsressort unter der unbedarften Melanie Huml Pannen, Pech und Pleiten an, fuhr das Kultusministerium einen Schlingerkurs, der Schulkinder wie Eltern verunsicherte und die Lehrkräfte ungeschützt, rat- und hilflos zurückließ.

 

Doch Söder präsentierte seinen Freistaat in der Krise als Muster-Bundesland, obwohl die Infektionszahlen bis heute über dem deutschen Durchschnitt liegen, und seine CSU als Elite-Truppe der Corona-Bekämpfung – bis plötzlich vermeintliche Helden über selbst gespannte Fallstricke stolperten und solide Grundmauern des vorgeblichen Anstands wie Dominosteine purzelten. Ausgerechnet Liechtenstein, der alpine Miniaturstaat, einst als Asylparadies für flüchtiges Geld bekannt, informierte in dem Bestreben, seine Reputation aufzuhellen, die deutschen Strafverfolgungsbehörden davon, dass mysteriöse Summen aus Bayern im Fürstentum marodierten.

 

Als sollte Söders Bild von der strahlenden Regierungspartei in einem perfekten Bundesland vorsätzlich in den Schmutz der Realität getunkt werden, stellte sich heraus, dass die CSU-Funktionsträger Nüßlein und Sauter den Maskendeal eines chinesischen Herstellers und einer hessischen Firma mit drei Ministerien, darunter dem bayerischen Gesundheitsressort, eingefädelt hatten – nicht aus Hilfsbereitschaft, sondern gegen Honorar, sogar sehr viel Honorar. Und während die mutmaßliche Korruptionsaffäre weitere Kreise und noch mehr schwarze Funktionäre in ihren Sog zog, wurde ruchbar, dass um ein Haar noch mehr Geld geflossen wäre.

 

Für Georg Nüßlein wurden erst einmal 660.000 Euro fällig, für den Rechtsanwalt Alfred Sauter und dessen im Familienbesitz befindliche Firma Pecom gar 1,2 Millionen. Der Jurist hatte einen Vertrag zwischen Händlern und Ministerien entworfen, der wohl trotz des einfachen Geschäftsvorgangs (Schutzmasken auf Rechnung) derart kompliziert gewesen sein muss, dass seine Fleißarbeit entsprechend üppig entlohnt wurde. Bei solchen Provisionen ist es auch nicht verwunderlich, dass allein der Freistaat 14 Millionen Euro für läppische 3,5 Millionen Larven aufwenden musste. Übrigens hatte die hessische Handelsfirma die Honorare für Pecom und Nüßlein über eine Adresse in der Karibik und ein misstrauisch werdendes Liechtensteiner Finanzinstitut laufen lassen.

 

Diese exotischen Überweisungswege machen Sauters Einlassung, er habe sein Honorar ohnehin spenden wollen, gelinde gesagt ein wenig unglaubwürdig. Um zu demonstrieren, dass er ein Mann von Ehre ist, ließ der schwäbische Ex-Minister der gemeinnützigen Bürgerstiftung Günzburg 470.000 Euro zukommen. Die Transaktion erledigte sein Adlatus Manfred Krautkrämer, Schatzmeister des dortigen CSU-Kreisvorstands und Pecom-Treuhänder. Vorsitzender des Stiftungs-rates der so großzügig bedachten caritativen Körperschaft ist übrigens: Manfred Krautkrämer.

 

Gleichzeitig geriet ein weiterer CSU-Bundestagsabgeordneter in Verruf und demissionierte: Tobias Zech soll für „Beratung“ und eine Wahlkampfrede zu Gunsten der nordmazedonischen Regierungspartei von ihr eine fünfstellige Summe erhalten haben. Engagiert setzte er sich für den ultra-rechten Ex-Regierungschef Nikola Gruevski ein, der wegen Bespitzelung der Opposition zurücktreten musste und zwei Jahre später wegen Korruption zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Angesichts dieser personellen Kahlschläge ging beinahe unter, dass die neuerdings so pingeligen Liechtensteiner Banker eine Restzahlung in Höhe von 540.000 Euro an Georg Nüßlein gestoppt hatten. Der hätte bei dem Maskengeschäft dann mit 1,2 Millionen dieselbe Summe eingestrichen wie sein Parteifreund Sauter.

 

Mein Name ist Markus, ich weiß von nichts

 

Söder wäre nicht Söder, würde er sich angesichts der bedrohlichen Schmutzlawine nicht sofort als Chef der Putzkolonne präsentieren, ähnlich dem messianischen Namensgeber seiner Partei, der bekanntlich die Händler und Profitgeier aus dem Tempel fegte. Mit jener Schläue, die in Bayern politischen Intellekt ersetzt, und dem untrüglichen Instinkt des Populisten wittert er, dass die Einschläge näherkommen und ein Absturz der CSU auch ihn selbst und seine Ambitionen in den Abgrund reißen könnte.

 

Zwei Umstände erschweren es ihm, sich wieder einmal nach eleganter Metamorphose als Lichtgestalt mit reinen Händen zu zeigen (so wie nach dem Artenschutz-Volksbegehren, als er eine radikale Kehrtwende vollzog, sich an die Spitze der Öko-Bewegung setzte und die Inhalte verwässerte): Es sind keine Hinterbänkler der bayerischen Staatspartei, die sich in der Masken-Affäre bekleckert haben, sondern ihm wohlbekannte Mandatsträger; und er muss sich fragen lassen, warum ihm bis vor Kurzem nicht aufgefallen war, dass Gefälligkeiten, Vorteilnahme und Bereicherung seit etlichen Jahrzehnten zu den Ur-Prinzipien der CSU-Machtausübung in Bayern gehören.

 

Bis zu seinem Austritt aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vor wenigen Tagen war Georg Nüßlein deren stellvertretender Vorsitzender, also neben Landesgruppenchef Dobrindt der wichtigste Parlamentarier der bayerischen Regierungspartei in Berlin. Alfred Sauter wiederum galt noch vor zwei Wochen als graue Eminenz des CSU-Bezirksverbands Schwaben, ein Mann mit reicher Posten-Vergangenheit: JU-Vorsitzender, Staatssekretär, bayerischer Justiz-minister, MdB, Landtagsabgeordneter, jüngst noch Mitglied des CSU-Präsidiums etc. Als ihn 1999 Edmund Stoiber für die Millionen-verluste der Wohnbaugesellschaft  LWS verantwortlich machte und als Justizminister entließ, griff Sauter den Landesherren offen an – und schaffte es trotz Insubordination, seinen Einfluss und wichtige Ämter in der Partei zu behalten.

 

Viele in der CSU kannten und fürchteten Sauters Talent zur Intrige und zur Bereicherung, auch Markus Söder, aber niemand mochte sich mit ihm anlegen oder ihn bloßstellen, wie die Süddeutsche Zeitung beschreibt: „Beim großen Strippenzieher Sauter wussten alle, dass genaues Hinschauen womöglich unschöne Eindrücke nach sich ziehen könnte. Also schaute man lieber nicht hin.“

 

Nun hat der Ehrenausschuss der CSU per Videoschaltung mit Söder, Landtagsfraktionschef Thomas Kreuzer, Alexander Dobrint und Angelika Niebler (EU-Parlament) zwei Mal getagt, um der Partei ein moralisches Korsett zu verpassen. Sieben Jahre lang war das Gremium kein einziges Mal zusammengekommen. Man könnte auch schlicht feststellen, dass die Partei sich 70 Jahre lang um solche Werte wie Unbestechlichkeit, Integrität oder Verantwortung keinen Deut geschert hat. Es war der an die Cosa Nostra gemahnende Wahlverein eines käuflichen Generalsekretärs Gerold Tandler, eines korrupten Amigo-Ministerpräsidenten Max Streibl und des in zahllose Skandale verstrickten Franz Josef Strauß. Dessen Bild hat nach eigenem Bekunden bereits im Kinderzimmer des kleinen Markus gehangen, aber von den systemischen Verfehlungen des Häuptlings wie des Clans will Fan Söder auf seinen einzelnen Sprossen seiner Karriereleiter nichts mitbekommen haben.

 

Und dieser vorgeblich Naive dekretiert nun, dass alle Abgeordneten und Kandidaten der CSU eine Integritätserklärung abzugeben hätten und keinerlei Nebentätigkeiten mehr ausüben dürften, wenn sie Führungsaufgaben im Parlament ausüben wollten. Sie müssten sich überlegen, „wem man mehr dient – dem Amt oder dem Geld“. Markus Söder spielt die Unschuld aus der fränkischen Provinz, der erstaunlicherweise entgangen war, dass seine Nürnberger Partei-freundInnen Dagmar Wöhrl und Sebastian Brehm zu den Spitzen(neben)verdienerInnen im Bundestag gehörten und laut Abgeordnetenwatch keine andere Partei prozentual so viele professionelle Geldscheffler als Hobby-Volksvertreter nach Berlin entsandte wie die CSU. Sauter, der binnen zwei Jahren als Land-tagsabgeordneter schon mal rund 800.000 Euro im Vorbeigehen mitgenommen hat, wird aber nun zur Gefahr für Söders Karriere. Kein Wunder, dass der große Wandelbare unter Deutschlands Spitzenpolitikern sich plötzlich alle jene Forderungen von NGOs wie Transparency International zu eigen macht, die er und seine Partei jahrelang abgeblockt hatten.

   

Glücklich ist, wer vergisst…

 

Die Nebeneinkünfte der Abgeordneten bilden das eine Einfallstor von Lobbyismus und Korruption in den hiesigen Parlamentarismus, das andere ist aus Parteispenden zusammengebaut. Und die klammert Söders Ehrenerklärung schlicht aus. Weiterhin werden also Konzerne verdeckt, auf Umwegen und penibel in 9999 Euro gestückelt (damit nichts veröffentlicht werden muss, wie Jens Spahn das auch den spendablen Teilnehmern seines Corona-Dinners nahelegte), dafür sorgen, dass bestimmte Wege der „Willensbildung“ in Regierung und Bundestag unauffällig bleiben, aber bequem gepflastert sind.

 

Was persönliche Bereicherung betrifft, wird man Söder nichts vorwerfen können, schon weil er nie ein Zubrot nötig hatte. Seine Familie betrieb ein kleines Handwerksunternehmen, und er heiratete in die steinreiche Industriedynastie Baumüller ein. So mag er sich jetzt als persönlich schuldlosen Patron eines etwas schmierigen Clans sehen – doch so ganz kann auch er nicht von den Praktiken und Arrangements der Strauß- und Amigo-Ära in der allmächtigen CSU lassen, wie die Affäre um das neue Zukunftsmuseum in Nürnberg belegt. Als in seiner Heimatstadt für die wahnwitzige Pacht von 100 Millionen Euro bei gut zwanzig Jahren Laufzeit ein Gebäude für diese Dependance des Münchner Deutschen Museums vom Besitzer, dem CSU-Mäzen Schmelzer, unter dubiosen Umständen angemietet wurde, drängte Söder den eigentlich zuständigen damaligen Kultusminister Spänle einfach beiseite und ließ sich als Gönner und väterlichen Freund der Wissenschaften und Schönen Künste feiern.

 

Eigentlich müsste die gesamte Führung der Partei nach dem Skandal um die Maskengeschäfte mit der Not der Bürger dauerhaft desavouiert sein. Doch Söder wird eine Ahnungslosigkeitsvermutung zugebilligt, die wiederum nicht für das Finanzgebaren vieler CSU-Spitzenkräfte gilt. Dabei aber hat er zugeschaut und geschwiegen – und auf die Vergesslichkeit der Menschen gesetzt. Wer will denn noch die ollen Kamellen über die schwarzen Stammtischpolitiker hören, die sich Land und Gut wie eine von Gott vergebene Pfründe untereinander aufteilten?

 

Weil das Erinnern und Nachdenken in der neuen Medienwelt nicht gerade Hochkonjunktur hat, darf sich Söder auch ungestraft auf seinen Vorgänger Edmund Stoiber berufen, der 1993 allen Kabinettsmitgliedern lukrative Nebengeschäfte untersagt hat. Die wurden dann einfach im Ministeramt angebahnt und in die Zeit nach der Demission verlegt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass der Unfallfahrer Otto Wiesheu in den Vorstand der Deutschen Bahn einrückte und der Ex-Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer als einfacher MdB zwischen 2017 und 2020 fast 900.000 Euro an Aufsichtsratstantiemen kassierte? Das war natürlich ein Klacks gegen die rund elf Millionen, die der Rechtsaußen in Bayerns schwarzer Familie, Peter Gauweiler, laut SZ während seiner sieben Jahre im Bundestag von dem Milliardär August Baron von Finck erhalten hat.

 

Mal sehen, wie geschickt Söders Parteifreunde künftig den neuen Ehrenkodex umgehen… 

03/2021 

Dazu auch:

Ein Museum für Markus im Archiv der Rubrik Medien (2021)

System Bayern I und II im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2013)

 

 

 

   

  

Krieg gegen die Natur

 

Rhetorisch ist Deutschland weltweit Spitze im Kampf gegen den Klimawandel und für die Natur. Das Verfahren, das die EU nun gegen Berlin anstrengt, die unzähligen Versäumnisse, Pannen und Sünden wider den Schutz der Umwelt aber legen eher nahe, dass die Bundesrepublik einen Krieg gegen die ökologische Vernunft sowie die lebenserhaltende Ressourcensicherung führt.

 

Die Wiederholungstäter

 

Es scheint in Brüssel doch einige Politiker und Beamte zu geben, die beim Thema Umwelt nicht zuallererst die Interessen der Wirtschaft gefährdet wähnen und sogleich deren omnipräsente Lobbyisten durch die Entschärfung von Vorschriften sowie laxe Handhabung von Kontrollen beruhigen wollen. Nur so ist zu erklären, dass es jetzt einem notorischen Schurkenstaat, der sich stets als ökologischen Musterknaben unter den Nationen ausgibt, an den Kragen gehen soll: Die EU-Kommission reichte jedenfalls Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen jahrelanger Verstöße gegen geltendes Naturschutzrecht ein.

 

Deutschland habe die Naturschutzvorgaben aus Brüssel und vor allem die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie zur Erhaltung natürlicher Lebensräume sowie zum Schutz wild lebender Tiere und Pflanzen nicht umgesetzt, lautet die Beschuldigung. Zudem habe die BRD „immer noch nicht eine bedeutende Anzahl von Gebieten als besondere Schutzgebiete ausgewiesen“, um den Artenbestand zu schützen oder wiederherzustellen.

 

Schon 2015 hatte die EU-Kommission ein „Vertragsverletzungs-verfahren“ gegen Berlin eingeleitet, weil die Bundesregierung und die Länder keine „hinreichend detaillierten und quantifizierbaren Erhaltungsziele“ für alle 4606 „Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung“ festgelegt hatten. Die Deutschland dafür eingeräumten Fristen waren teilweise schon seit über zehn Jahren abgelaufen. Die Bundesregierung hatte der EU offenbar einen Flickerlteppich aus ökologisch interessanten Landschaften als Alibi-Reservate präsentiert, ohne zu konkretisieren, was dort wie geschützt oder wiederangesiedelt werden sollte. Wer vage bleibt, hat später weniger Probleme damit, die Holzwirtschaft oder den Straßenbau ins „Biotop“ zu lassen.

 

Dass die Bundesrepublik wegen Umweltsünden und Versäumnissen auf der Anklagebank Platz nehmen muss, überrascht in Brüssel niemanden mehr, sind doch noch weitere vierzehn EU-Verfahren anhängig, weil Richtlinien zum Naturschutz nicht pünktlich bzw. ordnungsgemäß umgesetzt wurden, ob es nun den Verpackungsmüll oder die Überdüngung der Felder betraf. Seit etlichen Jahren loben sich die verschiedenen Merkel-Regierungen selbst als Vorreiter im Klimaschutz und ökologischen Wandel über den grünen Klee (zwischen den Betontrassen). Wissenschaftler und Experten von NGOs aber weisen nach, dass die BRD an allen neuralgischen Punkten die Intentionen von Industrie, Handel und Makro- Landwirtschaft über die Erfordernisse der Ökologie und somit der Erhaltung einer lebenswerten Umgebung gestellt hat.

 

Flora, Fauna, Wasser? Egal!

 

Warum sollte man eine Landschaft schützen und bewahren, wenn man ohnehin etwas anderes, Lukrativeres, mit ihr vorhat? Dies scheint die vorherrschende Meinung in deutschen Ministerien zu sein. Da werden in Hessen alte Wälder dem Straßenbau geopfert, der grüne Regierungsvize Al-Wazir aber wäscht seine Hände in Unschuld und macht den Bund dafür verantwortlich, statt sich (etwa nach EU-Recht) auf eine Notstandssituation zu berufen. Da weigert sich der bayerische Ministerpräsident Söder, die einzigartigen Buchenhabitate des Steigerwaldes zum Nationalpark zu erklären, obwohl selbst der ehemalige CSU-Landrat Günther Denzler diese Aufwertung durch Ausweisung des Schutzgebietes auf den Weg gebracht hatte. Ohne Unterlass beschwören Merkel und Söder eine „grüne Agenda“ der Zukunft, doch während die Kanzlerin ihrem Autobauer-Lobbyisten Scheuer freie Hand bei der Betonierung der Republik lässt, überantwortet Söder die für die Luftqualität wertvollsten Baumbestände der Holzindustrie und den großen Waldbesitzern, unter denen sich im Freistaat viele Adlige und noch mehr Mitglieder seiner eigenen Partei tummeln.

 

Während die Versiegelung der Böden durch die Ausweisung überflüssiger Gewerbegebiete oder die Ansiedlung von Amazon-Logistikzentren unaufhaltsam fortschreitet, stagniert die Renaturierung der trockengelegten Moore, die zu den wichtigsten natürlichen CO 2-Speichern gehören. Und die Landwirtschaft wandelt sich unaufhaltsam zur Domäne von Agro-Oligopolen mit Monokulturen und Massentierhaltung sowie Chemie-Riesen, wobei die zuständigen Bundesminister in den letzten Jahren als willige Vollstreckungsgehilfen dienten: Christian Schmidt von der CSU verhinderte (eine Übereinkunft des Berliner Kabinetts ignorierend) das EU-weite Verbot von Glyphosat, und seine CDU-Nachfolgerin Julia Klöckner kämpft beherzt für den weiteren Einsatz anderer Insektenkiller, wenn sie nicht gerade für den Lebensmittel-Multi Nestlé posiert oder ein ebenso herziges wie unzureichendes Tierwohl-Label propagiert.

 

Die aussterbenden Kerbtiere mögen sich damit trösten, dass es ihren größeren Vettern und Cousinen in der deutschen Fauna auch nicht besser ergeht: So gelten in der gesamten EU 53 Prozent der Wildvogelarten als mehr oder weniger gefährdet, in der BRD sind es 69 Prozent. Das Bundesamt für Naturschutz meldet in seinem jüngsten Bericht, dass ein knappes Drittel der heimischen Säugetiere im Bestand bedroht ist. Dieselbe Behörde rechnete 2017 vor, dass ganze 6,3 Prozent der Fläche Deutschlands als „Naturschutzgebietsfläche“ ausgewiesen seien (wobei stolze Flächenländer wie Bayern oder Baden-Württemberg unter dem Durchschnitt liegen). Im vorigen Jahr hatten die Umweltminister auf ihrer Tagung in Luxemburg verkündet, dass die Naturschutzflächen in der EU bis 2030 von 18 auf 30 Prozent gesteigert werden sollten. Wie soll der selbsternannte Primus BRD, der bereits jetzt weit nachhinkt, das schaffen? Weist Scheuer demnächst die Mittelstreifen aller Autobahnen als Biotope aus, oder braucht Deutschland nicht so viel Wildnis, weil ohnehin keine schützenswerten Tiere und Pflanzen mehr da sind?

 

Spaßbremse Emissionskontrolle

 

Nach langem Zögern und massivem Druck der EU hat sich Deutschland endlich bereitgefunden, zumindest eine Folge der intensiven und bedenkenlosen Landwirtschaft abzumildern: Es darf der Boden nicht mehr mit so viel Gülle vergiftet werden wie bisher. Doch die Großbauern-Lobby macht mobil. Statt das Grundwasser vor der permanenten Überdüngung zu schützen, möchte sie an Orten, die sie selbst aussucht, nochmals messen lassen.

 

Das hat sie wohl von den Rabulisten im Kabinett Söder gelernt: Als die Stadt München 2018 alte Diesel-Fahrzeuge wegen der durch sie verursachten hohen Feinstaubbelastung aus der Innenstadt verbannen wollte, zweifelte die bayerische Staatsregierung zunächst die Validität der Ergebnisse an und untersagte ihrerseits dann das Fahrverbot für die Dreckschleudern. Sie blieb auch dann noch bei diesem Verdikt, als das Münchner Verwaltungsgericht der Stadt Recht gab und zahlte lieber Zwangsgeld. Das stammte ja nicht aus den Taschen der Regierenden, sondern vom Steuerzahler. Wie der Freistaat intern, verhielt sich auch die ganze Republik in der Europapolitik, als sie in Brüssel die Einführung schärferer Emissionsbeschränkungen zum Wohle der drei Betrugsspezialisten VW, Daimler und BMW stoppte.

 

Der zivile Panzer namens SUV und der freie Speed für kranke Bürger auf Autobahnen gehören nun mal zum unverzichtbaren Kulturgut einer gewissen Gesellschaftsschicht, die bestimmten Parteien sehr nahesteht, wenn sie nicht sogar bei ihnen maßgeblich mitmischt. Und noch der winzigste Fingerzeig der Automobil-Lobby hat für einen bundesdeutschen Verkehrsminister mehr Gewicht als die Expertisen sämtlicher Umweltschutzverbände. Dass angesichts geschäftsschädigender Forderungen von vermeintlichen Öko-Fanatikern die Berliner Regierung die „systemrelevanten Konzerne“ wie eine Glucke ihre Küken schützt, können auch die großen Energieversorger bestätigen.

 

Damit sie sich nicht so abrupt von ihrem Geschäft der gut bezahlten Umweltverschmutzung mittels fossiler Energien verabschieden mussten, wurde ihnen erlaubt, für die letzte Tonne Braunkohle noch einmal Wälder und Dörfer plattzumachen. Und damit sich nicht alle Konsumenten in Richtung dezentraler Versorgung mit erneuerbaren Energien fortmachen konnten, vereinbarte man den Bau einer umweltschädlichen Pipeline in der Ostsee, damit das gute alte dreckige Erdgas profitabel aus dem sinistren Russland nach Deutschland flösse. Auftrat eine andere finstere Macht mit der Doppelbesetzung Trump/Biden an der Spitze und bedrohte nach Herzenslust die an Nord Stream 2 werkelnden Firmen mit Sanktionen, da sie ihr eigenes noch unsaubereres Fracking-Gas auf dem deutschen Markt verhökern wollte.

 

Bundesfinanzminister Olaf Scholz war es gleich, woher die Umweltverschmutzung importierte wurde. Um das Alterswerk seines Parteigenossen Gerd Schröder im Gazprom-Vorstand zu retten, bot er den USA in einem inoffiziellen Brief an, mit deutschen Steuergeldern in Höhe von einer Milliarde Dollar Terminals für amerikanisches Fracking-Gas an der Nordsee zu subventionieren, wenn im Gegenzug Nord Stream 2 toleriert würde. Die vielbeschworene Energiewende scheint gemäß dieser Enthüllung durch die Deutsche Umwelthilfe darin zu bestehen, dass man künftig Dreck aus allen Ländern nach Deutschland holt, solange er denn bestimmte Kassen füllt.

 

Verbrechen, keine Vergehen oder Fehler

 

Die dunkle Dystopie der Berliner Umweltbilanz wird allenfalls von zarten, aber medial aufgepeppten Lichtern durchbrochen. Dass wieder Maifischlein im Rhein schwimmen, hat aber die EU-Kommission nicht davon abgehalten, Deutschland dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass es verschwindend wenig für die Biodiversität und den Erhalt der Arten tut und dass es seinen freiwillig eingegangenen, aber bindenden Verpflichtungen nicht nachkommt. Dabei geht es nicht um ein paar Schutzzonen für seltene Tiere oder bedrohte Wälder, sondern um den globalen Abwehrkampf gegen eine systemische Plünderung von Ressourcen und eine raubgierige Zerstörung der Rahmenbedingungen, die vielen Menschen die bloße Existenz, anderen ein sinnerfülltes Leben sichern.

 

Es ist nicht nur eine sich am Horizont abzeichnende Gefährdung unserer Existenzgrundlagen, wie die EU-Kommission argumentiert, wenn sie von den Auswirkungen für künftige Generationen spricht, es ist eine reelle Bedrohung, die bereits jetzt unser Leben ärmer und uns selbst kränker macht. Insofern wünschte man sich, die Verantwortlichen könnten unmittelbar vor Gericht angeklagt werden und müssten selbst die Konsequenzen ihres verantwortungslosen Handelns tragen.

 

Das Verfahren gegen Deutschland wird sich lange hinziehen. Und  wenn es am Ende aller Logik nach zum Schuldspruch kommt, werden die politischen Versager gerügt und die Strafgelder vom deutschen Staat, also von den Bürgern, eingezogen werden. Da hätte der Gedanke, man könne die EuGH-Ebene verlassen und nach den Maßstäben einer nationalen Strafjustiz über die ertappten Politiker in persona urteilen, einen enormen Charme: „Im Namen der Völker ergeht … wegen fahrlässiger und vorsätzlicher Körperverletzung (in vielen Fällen mit Todesfolge), unterlassener Hilfeleistung, mehrfachen Betrugs, Tierquälerei, Veruntreuung, Meineids beim Amtsantritt, Vorteilsnahme, passiver Bestechung etc. kein mildes Urteil.“ 

02/2021 

Dazu auch: 

Verbieten verboten im Archiv dieser Rubrik (2020) 

Back dir ein Gesetz! im Archiv der Rubrik Medien (2020)

 

  



Grünes Atomfaible 

 

Analysiert man die Entwicklung der Parteien in der Bundesrepublik, fällt durchgängig die Abkehr von einstigen Prinzipien – man könnte von einer beinahe lustvollen Umwertung aller Werte sprechen – binnen relativ kurzer Zeit auf. Die Grünen aber haben den Sprung aus der friedensbewegten Basisdemokratie in die rüstungsaffine Avantgarde mit einer derart eleganten Kehrtwende geschafft, dass selbst die gewieftesten Opportunisten der anderen Wahlvereine ihren Neid kaum verbergen können.

 

So viel Paulus war nie

 

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. … Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“ Wer verstieß mit diesen verfänglichen Sätzen gegen das in Stein gemeißelte Erste Gebot unseres Gesellschaftssystems „Du sollst keine Alternative haben neben mir!“? Richtig, die CDU war es im Ahlener Programm 1947, doch taten die Unionschristen in der Folge kräftig Buße, sorgten dafür, dass der Staat die Wirtschaft, in Sonderheit die großen Konzerne, fürderhin schützte, förderte und im Notfall alimentierte.

 

Den Demokratischen Sozialismus wiederum propagierten die Genossen von der SPD in der Frühzeit unserer Republik, fanden aber bald heraus, dass sich im bequemen, eigens für sie hergerichteten Bett der Wirtschaftskapitäne mithilfe einiger kleiner Modifizierungen trefflich von der Macht träumen lässt. Zum Dank für die gastfreundliche Aufnahme im Kreis der Oberen setzte der lupenreine Sozialdemokrat Gerd die lästige Vermögenssteuer aus.

 

Eine kuriose Schlangenkurve nahm die FDP. Zunächst profilierte sie sich als Sammelbecken für Alt-Nazis sowie als wetterwendische Mehrheitsbeschafferin für Regierungskoalitionen, dann gerierte sie sich als Hüterin der bürgerlichen Freiheiten (vor allem der unternehmerischen), bis sie neoliberale Wirtschaftsprogramme entwarf, die bald der AfD mit Neonazis im Schlepptau als Vorlage dienen sollten.    

 

Gut, das waren bürgerliche Parteien, denen das Hemd der schnellen Vorteilsnahme immer näher war als die Hose der inhaltlichen Auseinandersetzung – aber die Grünen entstammten doch der Öko- und Friedensbewegung, verstanden sich als den der Basis verpflichteten Stachel im faulen Fleisch des Systems. Und nun scheint die mittlerweile arrivierte Partei plötzlich ihr Faible für militärische Stärke und sogar nukleares Vernichtungspotential entdeckt zu haben. Hatte nicht Petra Kelly, die zur ersten grünen Lichtgestalt werden sollte, 1979 ihren Austritt aus der SPD in einem Brief an Helmut Schmidt damit begründet, dass sie „eine neue Form der politischen Vertretung“ anstrebe, „wo der Lebensschutz und der Frieden endlich Priorität erhalten werden“. War sie 1981 nicht führend an der Friedensdemo im Bonner Hofgarten gegen atomare Aufrüstung beteiligt gewesen?

 

Und nun feiern maßgebliche Köpfe und Gremien der Grünen „nukleare Teilhabe“ als „Kernelement der strategischen Verbindung“ zwischen den USA und der Bundesrepublik, fordern eine substanzielle Erhöhung des Verteidigungshaushalts“ (beides in einem Aufruf der Heinrich-Böll-Stiftung) und propagieren eine Verschiebung von Gesprächen über atomare Abrüstung mit Moskau auf ein „window of opportunity“, das sich „2030 oder 2035“ ergeben könnte (Grünen-Obmann Tobias Lindner im Verteidigungsausschuss des Bundestags).

 

Aus dem friedensbewegten Saulus grüner Gründungszeiten scheint ein den Strategen rechter Militärdoktrin und den Managern deutscher Rüstungsunternehmen sehr genehmer Paulus geworden zu sein. Kelly hat zu ihrem Glück schon lange das Zeitliche gesegnet und muss das nicht miterleben.       

 

Atomenergie nein, Atomkrieg vielleicht

 

Jede Partei hat die Stiftung, die sie verdient. Die der Grünen wurde nach dem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll benannt, was dieser nicht mehr rückgängig machen kann, da auch er vor der geistigen Wende der Partei starb (1985). Es ist aber stark anzunehmen, dass sich der Pazifist Böll gegen die gefährlichen Überlegungen, die, nun mit seinem Namen verbunden, von den Vordenkern der Bonner Stiftung veröffentlicht werden, verwehrt hätte. Auch dürfte den Autor, der den Zweiten Weltkrieg als Soldat „miterleben“ musste, sicherlich verwundert haben, dass die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock forsch erklärt, zum Auftrag der Bundeswehr gehörten gegebenenfalls „robuste Militäreinsätze“. Nach dem Motto: Wird man doch wohl noch sagen dürfen, nachdem man 75 Jahre stillgehalten hat.

 

An ihrem lobenswerten Nein zur nicht beherrschbaren und hochgefährlichen Atomenergie haben die Grünen bis heute festgehalten. Aus irgendwelchen Gründen scheinen sie aber neuerdings das nukleare Vernichtungspotential in den Händen von Militärs für weniger brisant zu halten und offenbaren dabei einen zumindest partiellen Gedächtnisverlust.

 

Da ihnen die konventionelle Option für die präventive Friedenserzwingung offenbar nicht ausreicht, fordern die grünen Kriegsexperten im Papier der Böll-Stiftung zusätzlich, „dass Deutschland an der nuklearen Teilhabe festhalten und nötige Modernisierungsschritte umsetzen muss“. Dabei sehen sie sich vermutlich als knallharte Realpolitiker, outen sich aber tatsächlich als geltungsbedürftige Träumer. Die einzige Verantwortung, die das Pentagon der Bundeswehr rund um die Nuklearbasen auf deutschem Boden übertragen würde, betrifft Lieferdienste in mögliche Abwurfgebiete und Hausmeistertätigkeiten. Weder für die Bestückung noch die Einsatzkriterien oder die Zielauswahl sind Rat und Zustimmung Berlins notwendig oder auch nur erwünscht. Doch die Grünen, die einst alle Atomwaffen von deutschem Boden entfernen wollten, scheinen der Meinung zu sein, dass es sich ohne eigene Mitbestimmung laut und folgenlos für die Galerie schwadronieren lässt.

 

Dabei übersehen die wehrtüchtigen Grünen, dass es im Augenblick (auch Biden) darum geht, die Irritationen und Vertragsbrüche durch die Trump-Administration wieder zu korrigieren. Dass eine „Modernisierung“ der Nuklearwaffenarsenale eine Aufrüstung mit präziseren Systemen von eingeschränkter Reichweite bedeuten würde, um die Kapazität zum „chirurgischen“ Erstschlag zu erhöhen. Und sie scheinen zu vergessen, dass, wie minimalinvasiv ein erstes atomares Kräftemessen auch immer ausfallen würde, Deutschlands blühende Landschaften ziemlich am Anfang in strahlenden Müll verwandelt würden.

 

Auch wenn man dem Autokraten Putin alle möglichen Schweinereien und Winkelzüge, um die persönliche Macht, aber auch den Einfluss Russlands zu bewahren, unterstellen darf, sollte man ihm doch genügend gesunden Menschenverstand attestieren, nicht gegen zahlenmäßig überlegene und sowohl in konventioneller als auch atomarer Waffentechnik besser ausgerüstete Streitkräfte, die an etliche Grenzen seines Reiches vorgerückt sind, loszuschlagen.        

 

Neue Musterschüler des Systems

 

Als die Grünen im Laufe der Jahrzehnte an Mandaten und bürgerlicher Akzeptanz zulegten, blieben ihre Mitbegründer, die Spontis, unorthodoxen Linken, Öko-Anarchisten oder Ostermarsch-Pazifisten, auf der Strecke. Wer sich von den „Alten“ nicht anpasste wie ein Trittin oder eine Kühnast, wurde mitsamt aller latenten Skrupel entsorgt, spätestens als Außenminister Joschka Fischer 1999 einen völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz der Bundeswehr in Jugoslawien mitverantwortete. Inzwischen sind die Grünen angekommen – nein, nicht in der Mitte, sondern in den Villenvierteln der Gesellschaft. Neuere Statistiken belegen, dass ihre Wähler im Schnitt über ein höheres Einkommen verfügen als die der FDP.

 

Wer aus den subversiven Wohngemeinschaften in die Beletage aufgestiegen ist und sich zu den Säulen des Systems zählen darf, muss natürlich gewisse Abstriche machen, selbst wenn es um die ansonsten geheiligte Umwelt geht. Ministerpräsident Kretschmann in Baden-Württemberg und Verkehrsminister Al-Wazir in Hessen fügen sich – der eine als Daimler-Freund leichten Herzens, der andere als Kahlschlagdulder eher kleinlaut – den Bedürfnissen und Wünschen der Automobilindustrie. Einen entscheidenden Vorteil aber bringt die frische Zugehörigkeit zur politischen Elite dieses Staates mit sich: Grüne sind plötzlich als Gäste der halb-klandestinen Thinktanks, die das Schicksal der Welt nach ihrem Gusto gestalten wollen, hochwillkommen. Sie dürfen auf den Treffen der Atlantik-Brücke, der Bilderberg-Konferenz oder des Aspen Institute am Kamin mit Elder Statesmen, Großindustriellen oder milliardenschweren Spekulanten plauschen. Und mit emeritierten NATO-Generalen. Seltsamerweise färbte das Chlorophyll ihrer Öko-Vergangenheit weniger auf diese Gesprächspartner ab als deren Uniform-Khakibraun auf die eigene Naturwolle. Und siehe da, die Bewahrer der Umwelt beginnen plötzlich, in militaristischen Zungen zu reden.

 

Der Aufruf der Böll-Stiftung will die NATO „nicht nur als militärisches, sondern auch als politisches Bündnis stärken“. Und weil diese noble Organisation es so zielsicher geschafft hat, nach dem Ende der UDSSR durch Bruch verbindlicher Vereinbarungen und Ausdehnung gen europäischen Osten einen neuen Kalten Krieg in Europa loszutreten, soll sie das Gleiche nun auch im Fernen Osten versuchen, nämlich „in aller Welt strategische Partner enger an den Kern des Westens zu binden“, vor allem „Australien, Japan und Südkorea“. Die Grünen möchten also mit deutschem Furor auch gleich noch die Volksrepublik China das Fürchten lehren, nach der neuen Universaldevise NATO ante portas.

01/2021 

Dazu auch:        

Grünes Vergessen im Archiv dieser Rubrik (2018) 

  



Internationale der Irren

Militante Rechte in Deutschland und den USA

 

Sturm der Corona-Leugner auf den Berliner Reichstag, Invasion des Kapitols in Washington durch Trump-Fanatiker – ein wenig ähnelten sich Bilder und Schlagzeilen aus den beiden Hauptstädten, was deutsche Politiker von Präsident Steinmeier bis Außenminister Maas zu waghalsigen Vergleichen verführte. Doch abgesehen davon, dass vor dem Bundestag ein Stürmchen von drei Polizisten auf der Treppe abgefangen wurde, während es bei der Besetzung des US-Kongresses Tote gab, existieren trotz einiger Handlungsparallelen und etlicher inhaltlicher Übereinstimmungen auch erhebliche Unterschiede zwischen den rassistisch-nationalistischen Militanten beiderseits des Atlantiks. Eine griffige Etikettierung  mag medial ein paar Punkte bringen, ersetzt aber keine differenzierte Analyse eines Phänomens mit diversen Ausprägungen in verschiedenen Ländern. Einige Gedanken hierzu:

 

Rekruten fürs Gemetzel

 

Weitgehend scheinen sich Rechtsextremisten in den USA und Europa der gleichen Organisationsformen, Kommunikationsmittel und Aktionsmethoden zu bedienen. Sie gründen paramilitärische Vereine, halten untereinander über die sozialen Netzwerke Kontakt und nutzen diese auch zu systematischer Hetze, Verbreitung von Fake-News oder Drohungen, sie mobilisieren online Gleichgesinnte zu Kundgebungen, Blockaden und Angriffe auf politische Gegner. Vor allem die militanten Aktivisten unter ihnen wurden nicht selten in den nationalen Streitkräften oder Spezialeinheiten der Polizei ausgebildet. In den USA finden sich auffallend viele Ex-Marines unter den gewaltbereiten Chauvinisten, in Deutschland sind es ehemalige oder aktive Angehörige von Spezialeinheiten der Bundeswehr (KSK) und der Gendarmerie (SEK). Da die potentiellen rechtsradikalen Kombattanten wie auch ihre Unterstützer weltweit bestens vernetzt sind, könnte man von einer Internationale der Irren sprechen, allerdings unterscheiden sie sich in ihrem Auftreten und nationalen Eigenheiten.

 

Während in den Vereinigten Staaten die auf einen Bürgerkrieg spekulierende Szene, die in etliche Milizen mit insgesamt fast 200.000 Mitgliedern aufgesplittert ist, offen agieren, operieren in Deutschland und umliegenden Ländern die rechten Aufruhraspiranten, etwa die Prepper oder Uniter, eher klandestin, horten heimlich Kriegsgerät, tauchen nach gelegentlichen Verboten ihrer allzu deutlich auf Nazi-Spuren wandelnden Gruppierungen kurzfristig ab. Die rechten Paramilitärs in Übersee präsentieren hingegen ihre Schnellfeuergewehre aufgrund der überaus toleranten US-Waffengesetze ebenso stolz in der Öffentlichkeit wie ihre kruden Rassentheorien und Ausrottungspläne – Tatbestände, die in einem Land, dessen Justiz mehrmals erwischte (nichtweiße) Ladendiebe bisweilen ohne irgendeine Aussicht auf ein Haftende hinter Gitter schickt, vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt werden.

 

Der fürchterlichste Terroranschlag, den die Vereinigten Staaten außer 9/11 je erlitten, war vor 25 Jahren von dem rechten Milizionär Timothy McVeigh auf das Regierungsgebäude in Oklahoma City verübt worden und 168 Menschen das Leben. Doch die deutsche extremistische Rechte hinterließ ebenfalls eine Blutspur, die sich durchs ganze Land zog. Hanau und Halle sind noch in Erinnerung, die neun NSU-Opfer ebenso, doch es waren bis heute wohl über 200 Menschenleben, die der faschistische Terror insgesamt forderte, wenn man die Rechercheergebnisse von ZEIT und Tagesspiegel , die an der Verharmlosung von Tatmotiven durch Ermittlungsbeamte bei zahlreichen vor 2011 begangenen Tötungsdelikten zweifelten, in die Aufstellung mit einbezieht. Man erinnere sich etwa an das Jahr 1980, als beim Oktoberfestattentat dreizehn Menschen und im Dezember der jüdische Rabbiner Shlomo Lewin sowie seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in Erlangen ermordet wurden. Die (angeblichen) Einzeltäter kamen aus dem Dunstkreis der fränkischen Wehrsportgruppe Hoffmann – auch das eine "typische" rechte Miliz.

 

Nazi-Erbe und Wilder Westen

 

Das Fußvolk der braunen Organisationen ergeht sich in von Hass und Ressentiments geschürtem Allmachtswahn, der fremdes Leben als minderwertig oder belanglos erscheinen lässt, und das ohne rabulistische Rechtfertigung und raffinierte Ideologie, ja ohne längeres Nachdenken. Das lässt sich von ihren Anführern nicht immer behaupten. Deren Hybris gründet sich – wie einst bei Hitler – auf rückwärtsgewandte Selfmade-Mythologien, in Deutschland gerne mit dem Mittelalter oder dem Germanentum der Spätantike als pittoreskem Fundament.

 

Schon die romantischen Dichter schwärmten von der übersichtlichen Welt der Vorfahren, den klar hierarchisch geordneten gesellschaftlichen Zusammenhängen, die von der Aufklärung durcheinander gebracht worden waren: Menschen von edler Abstammung oder zumindest Gesinnung strebten nach hehrer, oft keuscher Liebe, opferten sich für die schlichte, aber schöne Heimat, übten Lehensgefolgschaft und blinden Gehorsam gegenüber dem gottgesalbten Adelsherrn. Das in Wirklichkeit finstere und geistfeindliche Mittelalter, diese Dystopie mit Recken, die tatsächlich Schlächter waren, oder einem Meuchelmörder namens Hagen von Tronje als Ideal eines treuen Vasallen, fungierte als Vorbild für eine Gesellschaft, in der die Ehre des Mannes noch auf dem Schlachtfeld erprobt wurde und nicht an der Börse.

 

Ein solcher Blick zurück in die archaische Vergangenheit gefiel den Nazis, allen voran Hitler, der in „Mein Kampf“ den ständigen Krieg aller gegen alle mit dem Endsieg des Stärksten (natürlich aus der nordischen Rasse) prophezeite, und lieferte ihnen die Symbole und Ornamente für ihre krude Mystik, jene altgermanischen Schriftzeichen, Retro-Kunstwerke und Kitschmonumente, die in gewissen Kreisen wieder en vogue sind. Die einfachen Geister ließen sich mit diesem Brimborium von der nüchternen Überlegung ablenken, dass weder der Führer, noch Goebbels oder Göhring dem idealisierten Ariertyp im Entferntesten ähnlich sahen. Die Faszination für die Armageddon-Verkünder hält an, wie gegenwärtig die Tätowierungen auf den Armen und Hakenkreuze auf den Jacken von Pegida-Aktivisten, rechten Rockern oder Verschwörungstheoretikern zeigen. Aber auch andere Außenseiter klammern sich an restaurative Schnapsideen, die Reichsbürger etwa, die sich zurück in ein von den Hohenzollern zusammengeraubtes deutsches Vaterland sehnen, damit zwar eher ein mitleidiges Lächeln hervorrufen, aber Waffen für die Realisierung ihres imperialen Traums sammeln und sie – wie bereits geschehen - auch mit tödlichem Ergebnis einsetzen.

  

Die Rechtsradikalen in den USA können sich die Versatzstücke ihrer Blut- und-Boden-Ideologie nicht aus den Zeiten von Ritterehre und Götterdämmerung klauben, es ist schließlich kaum vierhundert Jahre her, dass ihre puritanischen Vorfahren sich einigermaßen fest an der Ostküste Nordamerikas etablierten. Das hält einzelne Organisationen wie den Ku-Klux-Klan, dessen Mummenschanz-Rituale aus Druiden-Opern abgekupfert scheinen, aber bis heute letale Folgen für Afroamerikaner zeitigen, oder die White Aryan Resistance nicht davon ab, sich mit germanischen Runen zu schmücken. Und auch die US-Fantasy, als unerschöpfliche Quelle für sadistische Machtspiele von verklemmten Extremisten geschätzt, ist vorzugsweise in fiktiven Gegenden und Epochen angesiedelt, die an die blutrünstigsten Szenerien der älteren europäischen Geschichte erinnern. Doch für die meisten Anhänger des weißen Faustrechts dient der Wilde Westen, die gewaltsame Landnahme, als das Mittelalter der Neuen Welt, auf dessen leichtverständliche Moral man sich bezieht.

 

Im Gegensatz zu deutschen Militärs, Adligen und Nationalisten, die schon die Hereros auf dem Gebiet des heutigen Namibia ausrotten wollten und dies dann später während des Holocausts beinahe mit den europäischen Juden geschafft hätten, planten die britischen Invasoren nicht die Liquidierung der indigenen Völker in toto – solange diese vernünftig genug waren, betrügerische Verträge zu unterschreiben, in Reservaten dahinzusiechen oder sich zumindest von ihrem fruchtbaren Land in unzugängliche Wüsten oder Hochgebirge zu flüchten. Niemand sollte sich dem protestantischen Erwerbsstreben und Landhunger entgegenstellen. Damals wurden Menschen zu Legenden, gegen die Siegfried-Mörder Hagen wie ein Ehrenmann gewirkt hätte.

 

Zu dem noch heute gefeierten Trupp, der während der Eroberung von Texas (nach Vertragsbruch, versteht sich) einer zahlenmäßig überlegenen, aber miserabel bewaffneten mexikanischen Streitmacht in Alamo eine Zeit lang standhielt, gehörten Abenteurer, Sklavenhalter und flüchtige Mörder. Aber sie gelten denen als Helden, die einer Zeit nachtrauern, in der ein Mann sich mit der Waffe in der Hand seinen Weg bahnte, keine Rücksicht auf braunes, rotes oder schwarzes Gesindel nehmen musste und sich von der Obrigkeit wie von der Regierung, diesem Verein undurchsichtiger Geldsäcke und Lobbyisten, nichts verbieten ließ. Für die Leute, die das Kapitol besetzten, bedeutet auch heute noch Freiheit die Möglichkeit, sich ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verantwortung und Interessenabwägung den Weg freizuschießen. Auf beiden Seiten dieses schnurgeraden, mit Leichen gepflasterten Weges lauern üble Machenschaften, nehmen gruselige Verschwörungen Gestalt an.

        

Der strahlende Pate

 

Alle faschistischen oder nationalistischen Bewegungen haben das Führerprinzip gemeinsam. Die deutschen Rechtsextremen tun sich da schwer, denn sie verfügen mit der AfD zwar über eine parlamentarische Repräsentanz, aber deren Spitzenleute wie Gauland, Weidel oder Meuthen wirken altbacken, geradezu hilflos, und der dynamischer auftretende Höcke verzettelt sich ständig mit internen Intrigen und im Kleinkrieg gegen die mediale Öffentlichkeit. Kein Duce derzeit in Sicht…

 

Eigentlich dürfte es der Chauvinistenfront in den USA noch schwerer fallen, sich hinter einem Caudillo zu vereinen, allzu heterogen ist ihr Spektrum, das vom White Trash, wie etablierte Zyniker die hellhäutige Unterschicht nennen, über evangelikale Südstaatler bis hin zu smarten Thinktank-Vordenkern und News-Managern reicht, zu unübersichtlich das riesige Land und zu groß das Misstrauen gegenüber eloquenten Politikern. Donald Trump aber verstieß nicht nur gegen alle in Washington gepflegten Etikette, gegen die Regeln des guten Geschmacks und der staatsmännischen Vernunft, er verstand es auch, sich als Kämpfer gegen das Establishment, die Eliten darzustellen und er agierte ebenso wirr, willkürlich und wutgetrieben, wie die vaterlosen Extremisten das von sich selber kannten. Ein Paradoxon ward geboren: Weiße Hinterwäldler, die den Staat und die Reichen hassten, begannen, einen Multimillionen schweren Staatsmann zu verehren.

  

So wurde ein gieriger Immobilienhai zum Paten einer – vorsichtig ausgedrückt – faschistoiden Massenbewegung, ungeachtet der antikapitalistischen Stimmung, die rechtsradikale Organisationen von Beginn an immer so lange verbreiten, bis sie sich zum Zweck der Machtergreifung mit dem Kapital verbünden. Um den Schwenk sich selbst und anderen Armen im Geiste plausibel zu machen, bemühten sie die abstrusesten Verschwörungstheorien, von denen einige zu uns über den Atlantik schwappten und auch von den Erstürmern der Reichstagstreppe geteilt wurden. Dabei unterschlugen sie alle, dass Trump zu keinem anderen Club gehört als ihr Hauptschurke Gates.

Jeder Lapsus Trumps wurde in einen geschickten Schachzug des Präsidenten umgedeutet, der gegen einen Päderasten-Geheimbund der Demokraten, dem Obama, Clinton und natürlich Biden vorstanden, kämpfte. Die US-Post soll bei der Wahlfälschung ebenso mitgewirkt haben wie Gouverneure, Beobachter und Auszähler. Der mysteriöse Irre, der hinter QAnon steckt und auch unter deutschen Rechtsextremen Anhänger hat, erhob Trump gar in den Rang eines Messias. In den USA können Gerüchte schnell zu maßlosen Phantasmagorien mutieren; hierzulande arbeiten wir ebenfalls schon daran. 

 

Nun hat es immer schon Verschwörungstheorien gegeben. Die Mär von den irakischen Vernichtungswaffen, die George W Bush in die Welt setzen ließ, um einen Krieg zu rechtfertigen, gehörte dazu, der von den Nazis behauptete Angriff polnischer Streitkräfte auf die Wehrmacht 1939 ebenso. Die folgenschwersten dieser mit Kalkül konstruierten Tatsachenverdrehungen waren wohl die gegen die Juden gerichteten: Es hat nie ein von Herodes befohlenes Massaker an kleinen Kindern gegeben, doch so war es in der „heiligen“ Bibel nachzulesen, und das machte die Söhne Abrahams in der damals bekannten Welt zu Ausgestoßenen. Im Mittelalter hetzten interessierte Kreise den Pöbel mit Gerüchten, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und so die Pest auf die Menschheit losgelassen, zu furchtbaren Pogromen auf. Und die gefälschten Protokolle der Weisen von Zion, die das Streben der Juden nach der Weltherrschaft belegen sollten, schürten den Antisemitismus und halfen, den Boden für den Holocaust zu bereiten.

    

Hauptsache rassistisch

 

Verschwörungstheorien richten sich nicht nur gegen politische Gegner oder militärische Feinde, allzu oft heizen sie Ausländerfeindlichkeit bis hin zum Rassismus an. Standen nach den NSU-Morden nicht zunächst die Angehörigen und Landsleute der Opfer, denen kriminelle Machenschaften angedichtet worden waren, unter Verdacht? An die Öffentlichkeit gelangten diese Fakes nicht über durchgeknallte Querdenker oder fiese Neonazis, sondern durch Polizei-Sokos und Journalisten. Auf die Mühlen der xenophoben Nationalisten wirkte das wie Wasser, das auch nach Aufklärung der Morde und reuiger Rehabilitation der betroffenen Familien nicht mehr abfloss.

 

Mögen die gewaltbereiten Rechten in Deutschland und den USA sich bezüglich ihrer Erscheinungsformen bisweilen krass unterscheiden – hier dumpfer Kadaver-Gehorsam in Nazi-Manier, dort das anarchisch wirkende Gebaren der Milizen -, der größte gemeinsame Nenner für sie alle ist der Rassismus. Hier dienen die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten als Hassobjekte, dort die Latinos und Indigenen. Und beiderseits des Atlantiks spricht man jüdischen und dunkelhäutigen Bürgern das Menschsein ab.

 

Joe Biden hat nicht viel Gescheites gesagt in den letzten Wochen und Monaten, aber mit einer rhetorischen Frage nach dem Sturm aufs Kapitol traf er ins Schwarze: Wie hätten sich die recht lax wirkenden Sicherheitskräfte, die das Parlament schützen sollten, wohl verhalten, wenn statt der rechtsextremen Trump-Fans Mitglieder der Black-Lives-Matter-Bewegung in die heiligen Hallen eingedrungen wären? 

01/2021 

Dazu auch:

Nazi und Gendarm (2016) und Blind mit System (2014) im Archiv der Rubrik Medien 

  



2020


Berliner Gewissen

 

In Krisenzeiten wie dieser hoffen die Menschen auf die starke Hand. Sie beginnen plötzlich, einer Regierung zu vertrauen, die sie zuvor für unfähig oder böswillig gehalten haben, nur weil ein paar Maßnahmen in die Wege geleitet wurden. Mögen diese teilweise auch als widersprüchlich, verspätet oder fragwürdig empfunden werden, was zählt, ist der Eindruck, dass die da oben sich kümmern. Die unerwartete Kür zur moralischen Instanz nutzt die Bundesregierung offenbar, um sich ein paar Flecken von der weißen Weste zu wischen, etwa im Fall der Rüstungsexporte. Hat sie zuvor Todesgerät leichthändig in alle Welt ausführen lassen, brüstet sie sich jetzt damit, Saudi-Arabien von der Empfängerliste zu streichen – ein Selbstlob, das einem Fake recht nahekommt.

 

Wiederentdeckung eines Gesetzes

 

Kurz vor Weihnachten, Fest der Liebe und des Friedens, entschloss sich die Bundesregierung, die ihr ansonsten heiligen Profitinteressen der deutschen Waffenschmieden ein bisschen hintanzustellen und verlängerte den Rüstungsexportstopp für Saudi-Arabien um ein Jahr. Ja, sie setzte noch eins drauf und widerrief bereits erteilte Genehmigungen, „die auf Eis lagen“, wie eine Regierungssprecherin der dpa mitteilte. Ein kleines Hintertürchen ließ das Berliner Kabinett den brüskierten Konzernen allerdings offen: Gemeinschaftsproduktionen mit europäischen Partnern seien von dem Embargo nicht betroffen. Krauss-Maffei Wegmann, Thyssenkrupp oder Airbus Defence, die allesamt Kooperationen mit französischen oder britischen Unternehmen betreiben, können militärische Komponenten über diesen Umweg also weiter an die Saudis verdealen.

 

Es ist, als hätten Union und SPD das Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffG), das im Paragraphen 6 Ausfuhren untersagt, wenn „die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung … verwendet werden“, aus der hintersten Schublade des Aktenschrankes hervorgekramt und sogar gelesen. Unter den Wirtschaftsministern Gabriel und Altmaier war das Dokument zur lex non grata verkommen – es ging schließlich um deutsche Gewinne und die tiefempfundene Besorgnis um ein paar deutsche Arbeitsplätze.

 

Allerdings drängen sich ob der unerwarteten guten Tat zwei Fragen auf: Lag nicht das letale Business mit dem Wahhabiten-Regime in Riad, das mit der Ermordung des Kritikers Kashoggi und einer völkermörderischen Kriegsführung im Jemen selbst geneigte westliche Politiker schockiert hatte, ohnehin danieder, nachdem die Saudis erklärt hatten, keine Waffen aus Deutschland mehr beziehen zu wollen, waren doch eine von Trump eingefädelte 100-Milliarden-Dollar-Aufrüstung durch die USA und die wenig skrupulösen Lieferanten in Paris und London in der Hinterhand. So dürften die derzeit eingefrorenen Rüstungsgeschäfte im Wert von einer Milliarde Euro ohnehin die letzten (rein-deutschen) Aufträge gewesen sein. Die Industrie lamentiert indes und fordert bereits Kompensation. Ob sich da aus den Corona-Hilfsfonds nicht ein Scherflein abzweigen lässt?

 

Weit interessanter aber wäre eine plausible Antwort auf die zweite Frage, warum nur ein einziger Staat, nämlich Saudi-Arabien, mit einem vorübergehenden Waffenembargo belegt wird. Zwar führt Riad die Kriegskoalition an, die 2015 im jemenitischen Bürgerkrieg intervenierte und bis heute Kliniken, Schulen und Wohngebiete  in Schutt und Asche legte, Söldner ins Land schickt und die Bevölkerung vom Nahrungsmittel- und Medikamentennachschub abschneidet, doch in einer Koalition ist man nie allein…

 

Die „vergessenen“ Länder

 

Eine ganze Reihe von sunnitisch geprägten Ländern kämpft im Jemen gegen die schiitischen Huthi-Rebellen, die wiederum mit dem saudischen Erzfeind, dem Iran, kooperieren. Und wie der Zufall (oder besser: das Geschäftsgebaren der hiesigen Rüstungskonzerne) es will, können die meisten dabei auf die Wertarbeit deutscher Waffentechniker zurückgreifen. Auf jeden einzelnen dieser Invasionsstaaten wäre das KrWaffG ebenso anzuwenden wie auf Saudi-Arabien, doch scheinen der Bundesregierung bei ihrem moralischen Kraftakt die Namen der anderen Kriegsteilnehmer abhanden gekommen zu sein, und das, obwohl der eine oder andere Koalitionspartner auch noch aus anderen Gründen übel beleumundet ist.

 

So gelten Kuwait und Jordanien nicht gerade als Wiegen der Demokratie, in Bahrain konnte sich die Monarchie nur mithilfe saudischer Eingreiftruppen gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit an der Macht halten, und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) mischen, ähnlich dem Herrscherhaus in Riad, bei so ziemlich allen Konflikten im Nahen und Mittleren Osten mit, mal durch Entsendung von Söldnern, mal mittels Waffenlieferungen. Und all diese guten Geschäftspartner Deutschlands verwüsten derzeit den Jemen unter Zuhilfenahme modernster Rüstungstechnik made in Germany. Hinzu käme noch Qatar, das sich zwar 2017 nach Querelen mit den Saudis aus diesem Krieg zurückzog, aber in anderen Konflikten die vom Rhein und aus den Isargauen stammenden Vernichtungsinstrumente ausprobieren lässt, etwa in Libyern.

 

 

Überhaupt Libyen. Auch in der nordafrikanischen Wüste herrscht Krieg, und wir finden fast alle der oben aufgeführten Player auch dort wieder, dazu noch den mittlerweile wichtigsten Handelspartner der deutschen Todesindustrie, Ägypten. Dort regiert der Militärdiktator as-Sisi mit eiserner und auch blutiger Hand. Die Gefängnisse sind voll mit Kritikern und Journalisten – das verspricht stabile Verhältnisse und gute Geschäfte. Bereits 2019 erhielt die ägyptische Armee Gerät im Wert von über 800 Millionen Euro aus dem nach eigener Diktion friedliebenden Deutschland, in diesem Jahr dürfte es um einiges mehr sein. Und wenn die Marine des Landes am Nil demnächst mit drei von Stahlbau-Nord in Bremerhaven gebauten Hightech-Fregatten hochgerüstet wird, fließen allein dadurch weitere 1,5 Milliarden Euro in den hanseatischen Säckel.

 

Skrupel, die man sich leisten kann

 

Selbstredend gehört auch Ägypten der mörderischen Allianz im Jemen an und versucht, sich in Libyen als Widerpart zu Erdoğans osmanischem Expansionismus aufzubauen. Solche bellizistischen Aktivitäten qualifizieren das aggressive Regime in den Augen der Berliner Minister noch lange nicht für Sanktionen gemäß dem KrWaffG  - wer wird schon seinen besten Kunden verprellen?

 

Auch die Türkei hat keine Engpässe bei den deutschen Know-how-Transfers, die sie für ihre kriegerischen Abenteuer in Syrien und Libyen braucht, zu befürchten; schließlich ist der eurasische Staat ja NATO-Freund. Da er derzeit allerdings immer wieder in die Küstengewässer der beiden anderen NATO-Freunde und Abnehmer Zypern und Griechenland eindringt, könnte es bald zu friendly fire aus deutschen Rohren von allen Seiten kommen.

 

Was den Jemen betrifft, bleibt nach Meinung des Greenpeace-Abrüstungsexperten Alexander Lurz die Bundesregierung "auf halbem Weg stecken". Das Embargo dürfe sich nicht auf ein Land beschränken, sondern müsse auf alle Kriegsparteien ausgedehnt werden.

 

So sind die Saudis, die längst deutsche Waffensysteme in Lizenz nachbauen, die einzigen, die unter dem jäh erwachten Gewissen der Bundesregierung zu leiden haben. Das Gedächtnis der Minister und der Kanzlerin, die im Bundessicherheitsrat geheim über die fraglichen Exporte entscheiden, hält aber offensichtlich nicht Schritt mit den vorweihnachtlichen Skrupeln, sonst müssten ihm noch ein paar andere Schurkenstaaten bzw. Handelspartner geläufig sein. Man kann nicht umhin (will man keine böse Absicht unterstellen) dem Berliner Gewissen Demenz in fortgeschrittenem Stadium zu attestieren. 

12/2020 

Dazu auch:

Krieg geht immer im Archiv dieser Rubrik (2020) 

 

 

 

 

 

Chronik des Versagens

 

Noch-Präsident Trump will mit letzten Anordnungen die in Afghanistan stationierten US-Truppen bis Mitte Januar nächsten Jahres fast halbieren und die letzten GIs im Mai 2021 abziehen – viel schneller, als dies im Abkommen vom letzten Februar mit den Taliban vereinbart war. Dabei dürften weniger Sorgen um amerikanische Menschenleben eine Rolle gespielt haben als vielmehr die Einsicht des totalen Scheiterns der Militärintervention – und der Wunsch, dem Nachfolger Biden einen Scherbenhaufen in puncto Bündnistreue zu hinterlassen. Während sich also die US-Administration kriegsmüde zeigt, offenbaren deutsche Politiker, darunter auch die prominenteste Grüne, eine erstaunliche Abenteuerlust.

  

Truppenübungsplatz Afghanistan

 

Der australische Premier Scott Morrison bekundete „tiefste Trauer“ über das vorzeitige Ableben von 39 Zivilisten in Afghanistan. Was war geschehen, so weit weg vom fünften Kontinent? Eine Untersuchungskommission hatte herausgefunden, dass australische Elitesoldaten, die zusammen mit Truppen aus den USA, aus Deutschland und anderen europäischen Staaten die islamistischen Taliban bekämpften, zwischen 2005 und 2016 die unbewaffneten Zivilisten, darunter auch Frauen, ermordeten. Vor allem jüngeren Soldaten galt das von Offizieren befohlene Blooding als Mutprobe, als Bluttaufe, mit der die Befähigung zum professionellen Liquidieren ohne jede Frage zum Sinn und zur Schuld der Opfer unter Beweis gestellt werden konnte.

 

Von den deutschen Verbündeten sind solche handgemachten Schlächtereien nicht überliefert. Allerdings wies 2009 der Oberstleutnant der Bundeswehr, Georg Klein, nahe Kundus amerikanische Flugzeuge an, Bomben auf Dorfbewohner abzuwerfen, die Treibstoff von zwei gestohlenen Tanklastwagen abzweigten. Mindestens 91 der von Armut getriebenen Diebe, etliche von ihnen Frauen und Kinder, kamen um. Während die australischen Killer jetzt auf ihren Prozess warten, wurde Klein vier Jahre nach seinem fatalen Befehl zum Brigadegeneral befördert. Die US-Army wiederum schien darauf spezialisiert, große Hochzeitsgesellschaften aus der Luft zu liquidieren und Gefangene zu Tode zu quälen, offenbar mit dem Wissen und der stillschweigenden Billigung von Bundeswehrsoldaten, wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel in seinem Buch „Deutsche Krieger“ berichtete.

 

Für die Afghanen, speziell die Landbevölkerung, mochte es letztlich kaum einen Unterschied machen, ob sie von fanatisierten Taliban, westlichen, zu ihrer Rettung herbeigeeilten, aber recht willkürlich agierenden Truppen oder den mit letzteren verbündeten Warlords mit der Auslöschung bedroht wurden. Doch trotz aller „Kollateralschäden“ hielten die Politiker hierzulande an den hehren Zielen des Bundeswehreinsatzes fest, nämlich „die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch“ zu verteidigen (Ex-Verteidigungsminister Struck) oder – etwas ehrlicher – „um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege…“ (Ex-Bundespräsident Köhler).

 

Und nun machen sich die obersten Verteidiger einer reichlich amerikanisch definierten universalen Freiheit als Erste aus dem Staub, kappen quasi die Schnüre, an denen sie ihre Marionetten in Kabul führten mit einem raschen Schnitt und lassen selbst so versierte Dampfplauderer wie Bundesaußenminister Heiko Maas (fast) sprachlos zurück. Doch Donald Trump folgte nur den Erkenntnissen, zu denen vor den USA die Sowjetunion und bei seinen Kolonisierungsversuchen auch das britische Empire schmerzhaft gelangen mussten: Die Vielvölkerregion Afghanistan zerfällt in etliche Interessen- und Kultursphären, und die Bewohner scheinen nur darin übereinzustimmen, sich nicht von fremden Mächten und Invasoren ein bestimmtes Politik-, Wirtschafts- und Wertesystem überstülpen zu lassen.

 

Die Bundeswehr stets fehl am Platze

 

Was man Trump allenfalls vorwerfen kann, ist die Hast, mit der er die US-Truppen aus einem Krieg zurückpfeift, den Washington selbst begonnen hat, dass die notorischen Kollaborateure in Kabul ebenso wie gutwillige einheimische Medienleute, Wissenschaftler, Lehrer Sportlerinnen und Schülerinnen den Taliban zum Abschuss freigegeben werden und dass er seine NATO-Alliierten nicht einmal vorwarnt, sodass diese plötzlich fürchten müssen, ihre Soldaten hätten unter Verlusten das Licht im Land auszuknipsen. Heiko Maas nennt es „fatal“, „all das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben“, mit einem voreiligen Abzug zu gefährden.

 

Und was wurde nicht alles erreicht! In einer Untersuchung der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) ist von 220.000 Kriegstoten allein zwischen 2001 und 2015 die Rede. Hilfsorganisationen warnten laut Handelsblatt, dass der Anteil der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Afghanen bis 2017 auf 54,5 Prozent gestiegen sei, im Zuge der Covid-19-Pandemie drohe inzwischen 13 Millionen eine Hungerkatastrophe. Für all das war das Expeditionskorps der Bundeswehr, das jetzt noch 1200 Soldaten umfasst, nicht ursächlich verantwortlich, einen Sinn hat sein Einsatz allerdings nie gemacht.

 

Die Bundeswehr sicherte sich ihre Operationsbasen im angeblich befriedeten Norden des Landes, doch kaum waren die Posten bezogen, sickerten dort auch schon die Taliban ein. Die deutsche Truppe hatte die Instruktion einheimischer Soldaten und Polizisten übernommen, kam aber mit der „hohen Zahl an Fahnenflüchtigen“ und  der „massiven Korruption“ und der „Abneigung gegen die Ratschläge der Ausländer“ nicht zurecht, wie man in der FAZ nachlesen konnte. Wenn man schon nichts bewirkt, will man wenigstens selbst mit heiler Haut davonkommen, also wurden für jeden Bundeswehrausbilder drei bis vier Leibwächter eingestellt, um seine Ermordung durch die eigenen Schüler zu verhindern.

 

Das erinnert an den Bundeswehreinsatz 1993/1994 im Rahmen der internationalen Operation UNOSOM 2 in Somalia, die - vom Weltsicherheitsrat genehmigt - unter Führung der US-Streitkräfte für eine Waffenruhe und die Versorgung der Bevölkerung sorgen sollte. In einer relativ sicheren Region hatten die insgesamt etwa 3000 deutschen Soldaten u. a. die Aufgabe, den Nachschub eines  Kampfverbands indischer Blauhelme zu sichern. Dumm nur, dass die Inder nie nach Somalia kamen. Die logistische Vorbereitung der Stationierung von 4000 UN-Soldaten erwies sich ebenfalls als obsolet, weil wegen immer heftigerer Kämpfe die ganze Somalia-Operation wenig später abgeblasen wurde. Die deutschen Soldaten hatten im Laufe eines Jahres enorme Ressourcen, etwa an Treibstoff, Nahrungsmitteln und Wasser, verbraucht und zogen danach unverrichteter Dinge wieder ab. Immerhin waren sie in ihrem Camp auf der sicheren Seite: Vor möglichen Angriffen wurden sie von einer italienischen Kampftruppe geschützt.

 

Was die Bundeswehr derzeit in Mali treibt, ist auch höchst unklar. Im Grunde flankiert sie die von Paris entsandte Interventionsarmee, die vor allem den französischen Zugriff auf die Uranreserven des Landes sichern soll. Zwar gelang es zunächst, den frontalen Angriff der Islamisten und ihrer Tuareg-Verbündeten zurückzuschlagen, doch versinkt Mali derzeit erneut in ein Chaos aus Hunger, Bürgerkrieg und Willkür, und bei „ethnischen Säuberungen“, die immer häufiger stattfinden, greifen die europäischen Truppen erst gar nicht ein.

  

Sie lernen nicht

 

In Mali arrangierten sich die „Friedenstruppen“ zuerst mit einem korrupten Präsidenten, akzeptierten dann einen Militärputsch, ergreifen nun aus dubiosen Gründen Partei in ethnischen Konflikten und scheinen sogar Massaker an Minderheiten hinzunehmen. In Somalia wurden die lokalen Warlords nach dem Abzug der UN-Streitkräfte von den wesentlich gefährlicheren Shabaab-Milizen, mit dem IS verbündeten Islamisten, verdrängt. Das Land existiert de facto nicht mehr als staatliche Einheit. Afghanistan wird in absehbarer Zeit an die Taliban und die Drogenkartelle fallen. Bei den Interventionen in allen drei Ländern ging es nie um die Menschen, die dort leben, sondern um wirtschaftliche und strategische Interessen, im letzten Fall auch noch um Rache für 9/11. Überall in der Dritten Welt war die Bundeswehr dabei, nicht kostenlos, aber völlig umsonst.

 

 

Im Grunde müssten die Regierenden in Berlin Konsequenzen ziehen und der Bundeswehr Einsätze in Ländern, deren Kultur, Sprache und spezifische Krisenproblematik die Soldaten nicht verstehen, ersparen, um sie, aber auch die jeweilige Bevölkerung vor oft tölpelhaften, oft aber auch lebensgefährlichen Interaktionen zu bewahren. Doch die deutschen Politiker träumen wieder einmal von einer Teilhabe an der globalen Macht, die sich auch auf die Gewehrläufe und sogar auf Atomwaffenpotentiale erstreckt.

 

Dabei belegte erst jüngst ein Vorfall, wie hilflos die Bundeswehr angesichts von NATO-Verstrickungen im Ernstfall ist: Boote ihrer Kriegsmarine sollen vor Libyens Küste im UN-Auftrag verhindern, dass Waffen über das Meer in das Bürgerkriegsland gelangen. Als ein Boarding-Team einen türkischen Frachter kontrollierte, musste es die Durchsuchung auf Intervention Ankaras abbrechen. Einen Bündnispartner filzt man nicht – auch wenn er als Kriegspartei in Libyen aktiv ist. Vielleicht war die Bundesregierung aber auch klammheimlich froh, hätten die Fahnder doch durchaus deutsche Exportwaffen auf dem Weg ins Gemetzel finden können.

 

Früher hätte man die fixe Idee, Weltgeltung durch Präsenz eigener Truppen zu beanspruchen, rechten Granden der Union und SPD zugesprochen. Doch die Grünen haben seit Joschka Fischers Engagement für die von der UNO nicht genehmigten Bombenangriffe auf Serbien mächtig aufgeholt. Damit nicht wieder jemand behaupten kann, durch die Militärschläge wäre internationales Recht gebrochen worden, forderte die geteilte Fraktionsvorsitzende der Partei, Katrin Göring-Eckardt, laut dpa, dass die Frage, ob legal oder illegal, künftig mit scheißegal zu beantworten sei. 

 

Sie sprach sich für weitere „Kriegseinsätze der Bundeswehr“ aus, notfalls auch ohne völkerrechtliches Mandat. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ein Mandat der Vereinten Nationen blockiert werden kann und dann wichtige Hilfe in Kriegsregionen mitunter nicht möglich wäre.“ Im Klartext: Weg mit den Mehrheiten in der UN-Vollversammlung und mit dem Weltsicherheitsrat und seiner Veto-Option! Angesichts solch nationaler Hybris könnte die AfD grün vor Neid werden.

 

Mit Erstaunen nimmt man wahr, wie glatt eine Partei, die einst aus der Öko- und Friedensbewegung entstand, vom Pazifismus ohne Umweg über den Kalten Krieg in die heißen Konflikte unserer Zeit steuert. Hat Göring-Eckardt denn gar kein Mitleid mit unserer schon von vergleichsweise läppischen Missionen überforderten Bundeswehr?

11/2020

Dazu auch:

Tödlicher Sehfehler im Archiv dieser Rubrik (2017)

 

 

 

  



Vom Frieden reden…

 

Was hat Honduras der Bundesrepublik voraus? Das kleine mittelamerikanische Land ist zwar arm und hat außer Südfrüchten und Maya-Kultur wenig zu bieten, aber immerhin ist es der fünfzigste Staat, der den Atomwaffenverbotsvertrag (AWV) der Vereinten Nationen unterschrieben hat. Damit wurde das Quorum erreicht, durch das er ab 22. Januar 2021 völkerrechtlich verbindlich wird. Die Ratifizierung durch Deutschland, das sich sonst regelmäßig die Rolle des internationalen Musterknaben anmaßt, steht weiterhin aus.

 

Kein Verzicht auf die nukleare Option

 

Honduras war das Land, auf das erstmals in den 1930er Jahren der abschätzige Begriff „Bananenrepublik“ angewandt wurde. Bis heute hat es sich nicht aus dem Würgegriff global agierender Lebensmittelgiganten (früher United Fruit Company, heute u. a. Nestlé) und der allzu nahen USA befreien können. Honduras hätte weder die wirtschaftlichen noch die technologischen Kapazitäten, eine Atombombe zu bauen. Man könnte also die Unterzeichnung des UN-Verdikts als rein symbolischen Akt abtun, wäre da nicht jene Ambivalenz der nuklearen Bedrohung, die potentielle Täter, die neun Staaten im Besitz der Vernichtungswaffen, und die möglichen Opfer, den wehrlosen Rest der Welt sozusagen, gleichzeitig zum Handeln für eine Erde ohne Damoklesschwert zwingen sollte.

 

Die Idee, Massenvernichtung quasi per Gesetz zu ächten, stammte von NGOs wie der Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (ICAN), die 2017 den Friedensnobelpreis erhielt. Für die Unterzeichnerstaaten bedeutet der UN-Vertrag nicht nur den Verzicht auf Nuklear-Rüstung, sondern auch das Verbot von bestimmten Finanzgeschäften, darunter die Kreditvergabe durch einheimische Banken an Hersteller von Atomsprengköpfen oder Trägersystemen.

Bislang haben sich 122 Länder für den AWV ausgesprochen, darunter allerdings keins der neun Mitglieder im Club der A-Bomben-Besitzer und – mit Ausnahme der Niederlande – kein einziger NATO-Staat.

 

Stellt sich die Frage, warum die BRD, die ohne Unterlass mit ihrer Forderung nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat nervt, künftig internationale Normen unterlaufen wird, weil sie nicht daran denkt, einen Vertrag, der übrigens auch die Entschädigung der Opfer von Atomwaffentests in der Südsee, in den US-Wüstenstaaten oder in Kasachstan vorsieht, zu ratifizieren. Glaubt man in Berlin defätistisch, die Welt wanke mit oder ohne solche humanitären Initiativen dem nuklearen Untergang entgegen? Möchte man die NATO-Partner in Washington, London und Paris, die alle auf unterschiedlich große rote Knöpfe drücken können, nicht vergraulen? Oder will man sich die Option offenhalten, selbst ein atomares Drohpotenzial aufzubauen und im Notfall auch ein wenig an der Vernichtung der Menschheit mitwirken zu können?

 

Nichts ist unumkehrbar

 

Die Versuchung ist groß, die Zukunft unseres Globus für ziemlich kurz befristet zu halten. Nicht nur depressive Pessimisten und Fans globaler Dystopien weisen darauf hin, dass nach Donald Trumps Aufkündigung des Start-Abkommens zwischen den USA und Russland, das Anzahl und Reichweite von Atomwaffen in Mitteleuropa begrenzt, eine nukleare Auseinandersetzung wieder ein Stückchen wahrscheinlicher geworden ist. Und wenn in Indien die derzeit regierenden Hindu-Faschisten, in Pakistan korrupte Islamisten am Dücker sitzen und beide Länder wegen Kaschmir kurz vor einem weiteren Krieg stehen, muss es auch jedem friedensbewegten Beobachter bange werden.

 

Aber es gibt Beispiele dafür, dass sich solche Entwicklungen aufhalten oder sogar umkehren lassen – wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen. Als Argentinien (1983) und Brasilien (1985) ihre Militärdiktaturen überwanden, stoppten die zivilen Regierungen die in beiden Ländern laufenden Programme zum Bau von Atombomben, was zehn Jahre später auch Algerien tat. Gaddafis Libyen und das Mullah-Regime im Iran ließen unter internationalem Druck von der nuklearen Aufrüstung ab, was ihnen aber von den USA nicht gedankt wurde.

 

Als einziges Land, das – mit israelischer Hilfe – bereits zur Atommacht aufgestiegen war, zerstörte Südafrika 1991 seine sechs Kernwaffen, als sich das Ende der Apartheid bereits abzeichnete. Nicht immer gebärden sich selbst autokratische Regimes und skrupellose Machthaber so unvernünftig, wie es Katastrophentheoretiker voraussetzen.

  

Klammheimliche Machtträume

 

Insofern haben die Vereinten Nationen mit dem AWV ein symbolisches Zeichen gesetzt und gleichzeitig praktische Regelungen impliziert, die bereits global tätige Banken zur Überarbeitung ihrer Richtlinien veranlassen. Zudem geschieht dies zu einem Zeitpunkt, da die finanziellen Mittel der Staaten gegen einen (nicht militärischen) Feind eingesetzt werden müssen. Lars Pohlmeier, Vorstandsmitglied der deutschen Sektion von Ärzte gegen den Atomkrieg in der Frankfurter Rundschau: „Während wir als Ärztinnen und Ärzte im Kampf gegen die Corona-Pandemie stehen und unter größten Anstrengungen Impfstoffe und Therapien entwickeln, die dann der Weltgemeinschaft solidarisch zur Verfügung gestellt werden müssen, werden Ressourcen für eine sinnlose Militärdoktrin in unvorstellbarem Ausmaß verschwendet.“

 

Doch in der BRD hat es immer schon eine heimliche Lobby für die Entwicklung eigener Nuklearwaffen gegeben. So plante Franz Josef Strauß schon 1955 als damaliger Bundesminister für Atomfragen den technologischen Anschluss an die Großmächte. Doch eine Dekade nach Hitlers Krieg und Auschwitz war die Zeit für ein deutsches Kernwaffenprogramm wohl noch nicht reif. Immerhin verfügt die Bundesregierung zumindest auf dem Papier über eine Teilhabe an dem US-Nuklearmaterial, das auf Waffenträgern der Bundeswehr eingesetzt wird. Dass die BRD 1969 den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat, hindert die Bundeswehr nicht daran, gegenwärtig den Transport schmutziger, da strahlender US-Sprengköpfe zum Abwurfort im Osten zu üben.

 

Das scheint manchen nicht zu reichen. Sie richten begehrliche Blicke auf das französische Vernichtungspotential und bringen eine deutsche Mitsprache beim Einsatz zur Sprache. Andere träumen von einer germanischen Dominanz in Europa, die sich auch auf die Bundeswehr stützt. So fordert Wolfgang Ischinger, Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, eine „deutsche Führungsrolle“ in der EU und von seinen Landsleuten „gesellschaftliche Unbefangenheit“ im Umgang mit den Streitkräften. Während Ischinger das A-Wort vermeidet, postuliert das ARD-Magazin Panorama ganz ungeniert „Nuklearwaffen in nationaler Verfügungsgewalt“, um Moskau abzuschrecken. Fast gleichlautend verlangt die AfD in ihrem Militärprogramm von der NATO, Deutschland die „Verfügungsgewalt“ über „Nuklearwaffen“ zu gewähren; und zwar zackig! Nicht wenige in der Union und FDP sowie einige in der SPD könnten sich dem problemlos anschließen.

 

Und die Bundesregierung? Möchte nicht aus der gen Osten ausgerichteten Phalanx der NATO ausscheren. Will nicht durch die Unterzeichnung des AWV gezwungen werden, der deutschen Finanzwirtschaft und den Rüstungskonzernen per Gesetz lukrative Geschäfte im Graubereich atomarer Aufrüstung und Proliferation zu verbieten. Will sich vielleicht auch ein Hintertürchen für einen (nuklear-)militärischen Paradigmenwechsel offenhalten. Vom Frieden sollte man allerdings trotzdem viel und oft reden. Das verpflichtet zu nichts.

 

Und so kommt es, dass das bescheidene Honduras inzwischen, zumindest was Abrüstung und Friedenserhaltung betrifft, ein wertvolleres Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft ist als das präpotente und vorlaute Deutschland.

11/2020

Dazu auch:

Zur Bombe drängt im Archiv dieser Rubrik (2017)

Bürger zu den Waffen im Archiv der Rubrik Medien (2019)

 

  



Endlich Perspektive!


Den Fridays For Future (FFF) wird gern jugendliche Naivität unterstellt. Sie sollten doch „die Profis“ machen lassen, wenn es um die Umwelt gehe, hatte FDP-Lindner, der gerade seine Partei professionell in den Untergang steuert, vorgeschlagen. Der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wiederum wird vorgeworfen, ihre Aktivität erschöpfe sich gleich der des gesamten DGB in Tarifrunden und Verhandlungsritualen. Im September haben sich die Öko-Pioniere und die Arbeitnehmervertreter auf gemeinsames Handeln in der Verkehrspolitik geeinigt – eine gute Nachricht für das ganze Land.


Nach Corona wird wie vor Corona


Dem Bündnis für einen Paradigmenwechsel auf Deutschlands Straßen und Schienen haben sich noch der BUND und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) angeschlossen. Eigentlich müssten alle Politiker in irgendeiner Verantwortung dem Ruf der Partner nach einer essentiellen Stärkung des ÖPNV sofort folgen, könnten doch nur so die marktschreierisch verkündeten Klimaziele erreicht werden. Und endlich einmal begreift eine Gewerkschaft den notwendigen ökologischen Wandel nicht als Gefahr für Arbeitsplätze. Doch Bund und Kommunen wollen die Chance, die sich durch das in der Corona-Krise aufgekommene Umdenken ergibt, gar nicht nützen, denn jeder Anfang kostet zunächst viel Geld und erfordert eine revolutionäre Neuverteilung der Mittel.


Zu Beginn der Pandemie, als die neue Situation die Verantwortlichen vorsichtig und die Bevölkerung nachdenklich machte, war viel von einem Neubeginn nach Corona die Rede, von einer umweltverträglichen Rekonvaleszenz der deutschen Wirtschaft. Kurze Zeit später fand die Politik ins alte Fahrwasser zurück, mit einem fröhlichen Weiter so! wurde Umwelt- und Steuersündern wie der Lufthansa unter die Arme gegriffen (ohne sich im Gegenzug den Erhalt der Arbeitsplätze oder die Tarifbindung garantieren zu lassen), und bald hob auch wieder das Betrugskartell der Automobilindustrie sein hässliches Haupt, um weitere Abwrackprämien und Befreiung von angeblich strengen Emissionsnormen zu fordern. Umsichtig begleitet wurde dieses Rollback von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, der gern ein grünes Wort auf den Lippen und das Wohl der rein profitorientierten alten Schmutzproduktion im Herzen führt.


Eine Gewerkschaft schert aus


Die Monate der erst anschwellenden, dann abflauenden Corona-Welle waren eine schwere Zeit für die von der Schwedin Greta Thunberg gegründeten FFF. Das allgemein einsetzende Besinnen auf perspektivische Werte wich der Angst vor dem Virus, aktionistischen Profilierungsaktionen von Politikern und wenig später hedonistischen Ausbruchsversuchen weiter Kreise, dem Verlangen nach Reisen, Suff und Partys. Für den Klimawandel schien sich niemand mehr zu interessieren, schon gar nicht für Maßnahmen dagegen.


Mitten in dieser Phase scheinbarer Normalisierung (kurz vor der zweiten Phase) nahm Verdi die anfangs geschockte und allen Helfern dankbare Gesellschaft beim Wort und forderte für die 2,3 Millionen überwiegend schlecht bezahlten Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen bescheidene 4,8 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 150 Euro im Monat (um die unteren Tarifgruppen ein wenig näher ans mittlere Niveau heranzuführen). Die kommunalen Arbeitgeber aber schwadronierten von leeren Kassen (kein Hindernis für so manches Prestigeprojekt) und legten erst einmal gar kein Angebot vor, statt von der Bunderegierung eine Umleitung des Stroms der Hilfsgelder von privaten Aktiengesellschaften zur infrastrukturellen Basis des Landes zu fordern.


Nirgendwo wurden die Warnstreiks so schmerzhaft empfunden wie im öffentlichen Nahverkehr, wo es Verdi nicht nur um mehr Geld, sondern auch um bessere Arbeitsbedingungen sowie einen bundesweiten Tarifvertrag für Bus- und Tramfahrer ging. Während einige vergessliche Pendler die Streikenden, die noch vor wenigen Monaten als Helden des Alltags beklatscht worden waren, beschimpften, sprangen die FFF-Aktivisten der Gewerkschaft bei, wobei ihre Rechnung einfach und logisch war: Ohne ÖPNV keine Verkehrswende, ohne Verkehrswende kein Erreichen irgendwelcher Klimaziele, ohne eine attraktivere Ausgestaltung der Jobs aber kein dringend benötigter Fahrernachwuchs – und damit nicht mehr, sondern weniger Busse und Bahnen auf Straße und Schiene.


Dass eine Gewerkschaft mit ihren Forderungen nicht nur den Status ihrer Mitglieder, sondern auch die Nachhaltigkeit im Auge hat und mit ökologischen Gruppierungen koaliert, ist nicht selbstverständlich. Die beiden anderen großen DGB-Organisationen IG Metall, und IG BCE jedenfalls hatten sich zuletzt in Fragen der Auto-Produktion, der Rüstungsexporte oder des Braunkohle-Tagebaus auf die Seite der Konzerne gestellt. Insofern ist die Suche von Verdi nach neuen Partnern eines der wenigen hoffnungsvollen Zeichen in den Zeiten von Corona. Könnte es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen organisierten Beschäftigten und Öko-Aktivisten, die damit das Ein-Thema-Ghetto verlassen würden, werden?


Die Zukunft ist öffentlich


Helena Marschall von FFF erklärte in Berlin: „Wir werden uns den Streiks der Beschäftigten anschließen … Die Klima- und Verkehrswende bedeutet gute Jobs.“ Nachdem auch BUND und der ökologisch orientierte VCD die Kooperation mit Verdi verkündet hatten, schrieben die vier Partner einen Offenen Brief an das Verkehrsministerium, in dem sie monierten, dass beim „Autogipfel“ der Bundesregierung die Verbrennungsmotoren im Mittelpunkt gestanden hätten und es sinnvoller gewesen wäre, einen ÖPNV-Gipfel zu veranstalten.


Doch der Adressat ist leider sattsam bekannt, und der Bundesverkehrswegeplan auch. Andreas Scheuer ist ein fanatischer Straßenbauer und ein devoter Freund der Autokonzerne. Natürlich weiß er, dass bei einer Fahrt mit dem ÖPNV mindestens 50 Prozent der Emissionen gegenüber der Passage im eigenen PKW eingespart werden, wie die Verdi-Fachbereichsleiterin Christine Behle vorrechnet, aber das ficht ihn nicht an. Er will freie Fahrt für mutwillige Bürger, ohne Tempolimit  - und bei größtmöglicher Profitmaximierung für die SUV-Hersteller. „Scheuer und die Regierung haben komplett versagt“, stellt die BUND-Vertreterin Antje von Brook denn auch summarisch fest.


Philipp Kosok vom VCD weist darauf hin, dass es bei Bussen und Bahnen seit dreißig Jahren Stagnation gebe, obwohl eine Offensive für den ÖPNV „ein Konjunkturprogramm für alle Branchen“ wäre. „Die Straße wurde bei Investitionen stets bevorzugt“, kritisiert er die bundesdeutsche Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte. Ob die Politik während und nach Corona daran aus freien Stücken etwas ändern wird, ist zu bezweifeln, waren die Landes- und Bundesregierungen doch stets damit beschäftigt, das Wunschkonzert der Konzerne aufzuführen.


Trotz vollmundiger Absichts- und Solidaritätserklärungen hat die Politik auch in dieser Krise wieder die Interessen der Wirtschaft über die Bedürfnisse der Menschen gestellt, Profi-Fußballspieler gegenüber Schulkindern bevorzugt, Großbetrieben rasch und üppig, kleinen Selbständigen aber zögerlich und dürftig (wenn überhaupt) geholfen. Auch in ökologischem Sinn ist kein Wandel eingetreten: Dörfer und Wälder werden weiterhin dem Abbau fossiler Brennstoffe, der Parzellierung der Landschaft in neue Autobahnen oder Gewerbegebiete, die niemand braucht, geopfert. Alles wie gehabt.


Es ist wahrlich an der Zeit, dass der gesamte DGB das, was von seinem einstigen Einfluss noch übrig geblieben ist, in Allianzen mit Umweltschützern und anderen sich dem kapitalhörigen politischen Mainstream widersetzenden Organisationen einbringt. Gewerkschaften, die nicht nur für Prozente und bessere Konditionen in ihrer jeweiligen Branche kämpfen, sondern sich auch für den Umweltschutz engagieren, an der Seite von Öko-NGOs, die sich endlich mit Produktionsbedingungen und Arbeitnehmerrechten beschäftigen – das wäre mal eine gute Nachricht in diesem schlimmen Jahr.

10/2020 

Dazu auch:

DGB am Scheideweg im Archiv dieser Rubrik (2018)    

 

 




Gelehrtenrepublik BY

 

Wir schreiben die Gegenwart. Halb Deutschland wird von den Quartiersuchern für endlos strahlenden Atommüll bedroht. Halb Deutschland? Im Süden wehrt sich geschlossen ein ganzes Bundesland gegen diese Zumutung. Bayern lehnt eine Endlagerung des tödlichen Schrotts auf eigenem Gebiet ab, schon weil die anscheinend aus Wissenschaftlern rekrutierte Regierung in München den Freistaat als möglichen Standort kategorisch ausschließt und weil man dahoam nichts duldet, was man dort nicht haben will.

 

Geldgeile Zauberlehrlinge

 

Auf eine Technologie zu setzen, die endlos Energie bereitstellt, aber zugleich nicht zur Gänze beherrschbar, somit gefährlich ist und deren hochkontaminierte Hinterlassenschaften nie entschärft werden können, erinnert an die Goethe-Ballade vom Zauberlehrling: Der Nachwuchsmagier soll den Badezuber seines Meisters mit Wasser füllen und verwandelt einen Besen in einen stummen Diener, der Eimer für Eimer vom Fluss herbeischleppt. Doch kennt der Junior nicht den Zauberspruch, mit dem er seinen Hilfsroboter stoppen sowie zurückverwandeln kann und so verursacht er eine veritable Überschwemmung.

 

Ähnlich erging es den Energiekonzernen, den damals regierungsverantwortlichen Parteien (SPD, Union, FDP) und voreiligen Nuklearwissenschaftlern ab den 1960er Jahre mit ihrer Planung und Errichtung von Atomkraftwerken: Meiler hinstellen, Strom erzeugen, Nachschub sichern und hohe Profite generieren – um den gefährlich strahlenden Müll würde man sich später kümmern.

Dann entlarvte die Katastrophe von Tschernobyl die Mär von der sauberen, billigen und risikolosen Energiegewinnung als Zweckoptimismus geldgeiler Manager und ihrer Verbündeten in Politik und Forschung. Später wurden Brennstäbe, die man ins Ausland exportiert hatte, wieder nach Deutschland zurückgeholt, durch die Gegend gekarrt, und das Zwischenlager in Asse, die Schachtanlage eines aufgelassenen Salzbergwerks, erwies sich als instabil und löchrig wie Nachbars alte Garage. Schließlich zeigte der Tsunami von Fukushima die Grenzen der Sicherheitstechnik auf, verseuchte Menschen, Dörfer und Ackerböden radioaktiv, und Kanzlerin Merkel machte ihren Rücktritt vom von Grünen und SPD durchgesetzten AKW-Stopp entsetzt wieder rückgängig. Das kam uns alle sehr teuer, denn die Energiekonzerne mussten mit einem goldenen Handschlag aus der Haftung für ihren hochgefährlichen Schutt entlassen werden.

 

Die Bundesrepublik ist kein riesiger Flächenstaat wie die USA, wo der Atommüll bedenkenlos im Souterrain von Einöden oder Indianerreservaten verbuddelt wird, also suchte man in begrenztem Terrain nach der dringend benötigten todsicheren Endlagerstätte – und stieß auf die Salzstöcke des niedersächsischen Gorlebens. Die ansässigen Bauern, AKW-Gegner aus der ganzen Republik und Geologen demonstrierten gegen das Vorhaben, riefen die Gerichte an und verwiesen auf Gutachten, denen zufolge sich das Salz von Gorleben keineswegs als fester Tresor für die ewige Aufbewahrung der tückischen Uranreste eigne. Mit dieser Schlussfolgerung hatten sie recht, wie sich jetzt herausstellte. Gorleben jedenfalls wurde gekippt.

 

Bayerische Wissenschaft

 

Die von allen Länderregierungen (also auch der Bayerns) mit der „ergebnisoffenen“ Suche nach der ultimativen Mülldeponie beauftragte Bundesgesellschaft für die Endlagerung (BGE) präsentierte jetzt in einem Zwischenbericht eine Vorauswahl, die 90 Gebiete mit insgesamt 54 Prozent der Fläche Deutschlands als potentielle Standorte ausweist. Die infrage kommenden Flächen wird man in den nächsten Jahren eingrenzen und 2031 die endgültige Entscheidung treffen. Gorleben wird nicht mehr unter den Kandidaten sein, die BGE hält die dortigen Salzstöcke für zu wacklig.

 

Ob Granit oder Ton, im Freistaat liegen vom fränkischen Fichtelgebirge über den Bayerischen Wald bis zum Chiemgau etliche Regionen mit für die Endlagerung interessanten Gesteinsformationen. Die Wissenschaftler und Experten der BGE müssen unvoreingenommen alle Optionen prüfen. Laut Söder aber könnten sie sich die Suche im Süden sparen.

 

Von den Ausbildungen des bayerischen Ministerpräsidenten wussten wir bislang nur, dass er mit einer recht mäßigen Dissertation zum Rechtsdoktor wurde, ohne je als Leuchte der Jurisprudenz zu glänzen, und auch nach dem Journalistenvolontariat keine publizistischen Bäume ausriss. Nun scheint es so, als habe er heimlich auch Geologie, Mineralogie oder Atomphysik studiert, beurteilte er doch mit der Souveränität des erfahrenen Fachmanns Bayern als gänzlich „ungeeignet“ für die Endlagerung des problematischen Mülls, den man in den Reaktoren von Grafenrheinfeld, Gundremmingen oder Ohu/Isar I und II fleißig produziert hatte. Und er ging auch ins Detail: Die Gesteinsschichten mit Ton seien in Bayern viel dünner als anderswo, und die bajuwarischen Granitregionen könnten von vornherein ausgeschlossen werden, weil sie zu „zerklüftet“ seien. Fachlichen Beistand erhielt Söder von seinem Umweltminister Thorsten Glauber, einem Freien Wähler und Architekten, dem man anhört, dass er nebenbei Facility Management, also gehobene Hausmeisterei, studiert hat. Glauber erklärte, mit Gorleben gebe es einen „gut erkundeten Standort für ein sicheres und fast schlüsselfertiges Endlager“.

 

Den Wissenschaftlern von der BGE aber erschien es wohl nicht sicher genug, was wiederum Söder wurmt. Außerbayerische Wissenschaft ist aus Sicht der Münchner Elite stets mit Skepsis zu betrachten, gilt im Freistaat bestenfalls als zweitrangig, vor allem wenn sie eigenen Interessen widerspricht. So nimmt es nicht Wunder, dass der Ministerpräsident die Endlagersuche durch landsmannschaftlichen Sachverstand in die richtige Richtung lenken will. Er kündigte an, auch „eigene wissenschaftliche Expertise bayerischer Wissenschaftler“ in den bis 2031 geplanten Entscheidungsprozess mit einfließen lassen zu wollen.

 

Der große Schriftsteller Arno Schmidt beschrieb in seinem dystopischen Kurzroman „Die Gelehrtenrepublik“ auf satirische Weise eine Insel, auf der sich nach einem Dritten Weltkrieg Wissenschaftler aus allen Lagern reichlich kurzsichtig mit der Zukunft der Erde beschäftigen. Trotz seiner ausufernden Phantasie wäre aber nicht einmal er auf den Gedanken gekommen, nach dem bayerischen Landesoberhaupt und seinen Ministern auch noch den Delegierten der CSU und der Freien Wähler wissenschaftliche Kompetenz in einer zwischen Alpen und Main angesiedelten Gelehrtenrepublik zuzuschreiben. Letztere hatten nämlich in ihrem Koalitionsvertrag die im Auftrag der BGE allzu zögerlich und penibel suchenden restdeutschen Experten düpiert und ein Teilergebnis der Endlagersuche in bajuwarisch-fachmännischem Einvernehmen einfach vorweggenommen: Man sei überzeugt, dass Bayern kein geeigneter Standort für ein Atomendlager sei. Basta!

 

St. Florian M. Söder

 

Nun reißt sich kein Bundesland darum, die Castor-Behälter mit den radioaktiven Brennelementen für die nächsten Millionen Jahre in der eigenen Natur zu bunkern – schon gar nicht die stolze bayerische Staatsregierung, die ökologische Juwelen sonst gerne Luxus-Bauherren, kaum genutzten Gewerbeparks oder der Holzwirtschaft opfert, aber um die touristische Attraktivität der Restidylle bangt und den Zorn des Volkes fürchtet, müsste dieses quasi in enger Nachbarschaft mit dem strahlenden Kehricht des vermeintlichen Fortschritts hausen.

 

Zwar hat der Freistaat mit allen anderen Bundesländern gemeinsam die Suche in ganz Deutschland auf den Weg gebracht, doch nimmt er für sich in Anspruch, die Regeln zu ändern, wenn er selbst betroffen sein könnte. Grünen-Chef Robert Habeck wettert, die bayerische Landesregierung wolle sich wegducken und zerstöre so ein Verfahren, dem sie selbst zugestimmt habe.

 

Vielleicht fühlt sich Markus Söder aber auch nur der bayerischen Folklore verpflichtet, in der ein Schutzheiliger angerufen wird, bei Feuersbrunst eher das Nachbargut als das eigene Gehöft abzufackeln: Heiliger Sankt Florian/ Verschon‘ mein Haus/ Zünd and’re an!

 

Sollte Markus Söder wider alle Lippenbekenntnisse bereit sein, zur Kanzlerkandidatur „überredet“ zu werden, ist noch nicht abzusehen, ob ihm solche Haltung in der außerbayerischen Republik eher nützt oder schadet. Der kümmert sich nur um die eigene Sippe, werden die einen murren, während andere hoffen, dass der fränkische Macher die ganze Verursacherrepublik ausspart und den strahlenden Schutt irgendwo in Timbuktu bei den Negern verklappen lässt – wie man es schon immer gemacht hat. 

10/2020 

Dazu auch:

Von Bayern lernen in dieser Rubrik

System Bayern I und II im Archiv von Politik und Abgrund (2013)


 

  


 

Die Gottgleichen

 

Eins haben die Verschwörungstheoretiker mit ihren kruden Schauermärchen immerhin erreicht: Wer sich kritisch mit dem angeblich humanitären Wirken von Bill Gates auseinandersetzt, wird von der Öffentlichkeit in die Ecke gestellt, aus der die üblen Gerüchte über den Corona-Erfinder und Impfdiktator krochen. Und wer Zweifel an der Selbstlosigkeit des „Philanthropen“ George Soros hegt, gerät in den Verdacht, ein Fan des ungarischen Autokraten Viktor Orbán zu sein. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob die Entscheidung über das Schicksal unserer Welt tatsächlich am besten bei ein paar rücksichtslosen Mega-Kapitalisten liegen sollte.

 

Ein Pakt mit dem Teufel für das Gute?

 

Bill Gates gilt mit einem geschätzten Vermögen von 110 Milliarden US-Dollar als einer der drei, vier reichsten Menschen der Welt. Der Gründer und einstige Lenker des beinahe allmächtigen Software-Konzerns Microsoft hat sich zwar aus dem operativen Geschäft zurückgezogen, hält im Hintergrund aber immer noch die Fäden in der Hand. Da klingt es doch gut, wenn der Superreiche ein Drittel seines Geldes in eine Stiftung mit hehren Zielen, die Bill & Melinda Gates Foundation, einbringt und ankündigt, bis zu seinem Lebensende sollten es 95 Prozent sein, damit die Welt ein besserer Ort werde.

 

In der Tat engagiert sich die Stiftung in Bereichen, deren Status quo für Milliarden von Menschen eines Frage des Überlebens ist und in denen die viel beschworene, aber selten anzutreffende internationale Solidarität nottäte. Neben einem auf die USA beschränkten Bildungsprogramm für mittellose Schüler konzentriert sich die Foundation vor allem auf die globale Entwicklung, speziell die Unterstützung der Landwirtschaft in Drittwelt-Regionen wie Afrika oder Südasien, und auf die Bekämpfung sowie Behandlung von epidemischen Krankheiten und die Entwicklung (Aids, Malaria, TBC) bzw. Bereitstellung (Kinderlähmung, Diphterie, Gelbfieber) von Seren. Letztere Aktivitäten machten Gates zur Zielscheibe geistig fanatischer Impfgegner, die ihm ganz im „Brunnenvergifter“-Jargon des Mittelalters unterstellten, Seuchen wie Covid-19 selbst in die Welt gesetzt zu haben, um dann als „Retter der Menschheit“ die Macht an sich zu reißen.

 

Lässt man solchen Verschwörungsunsinn außer Acht, müsste man das Wirken der Stiftung rundum als löblich bezeichnen, und doch bleiben einige bohrende Fragen zur Umsetzung:

 

Wie ist es zu erklären, dass sich die Bill & Melinda Gates Foundation bei der Unterstützung agrarischer Strukturen und der Entwicklung resistenter Getreidesorten ausgerechnet mit Monsanto (heute Bayer) zusammentut, jenem Unternehmen, das für die Pestizid-Vergiftung der Plantagen und eine Politik der Saatgutpatentierung, die allein in Indien Zehntausende von Kleinbauern in den Selbstmord trieb, verantwortlich zeichnet? Ist die moderne Caritas sozusagen einen Bund mit dem Satan zur Rettung der Welt eingegangen?

 

Kann es Zufall sein, das die großzügige Stiftung vor allem die Arbeiten und Vorhaben von Pharmakonzernen, an denen sie Aktien hält, unterstützt? Ist es statthaft, dass sie die Beiträge von 210 Millionen Dollar jährlich zum Budget der WHO (womit sie übrigens mehr spendet als jeder Staat) dazu nutzt, der UN-Organisation vorzuschreiben, welche Programme oder Impfkampagnen mit welchen Produkten sie durchzuführen hat? In diesem Zusammenhang warf der Arzt David McCoy der Foundation vor, weder soziale Gerechtigkeit noch nachhaltige Entwicklung anzustreben und ihr Geld ohne Ethikstandards anzulegen.

 

Nun gehört es nicht gerade zu den Grundbedürfnissen eines Multimilliardärs, Chancengleichheit für alle herzustellen und sein Marktfaible einer ökonomisch und ökologisch sinnvollen Paradigmenwende zu opfern, doch muss er sich schon fragen lassen, ob er nicht gottgleich und in eigener Machtvollkommenheit Aufgaben beackert, denen Staaten nicht gerecht werden können, weil er ihnen die Finanzmittel durch Steuerverkürzung vorenthalten hat. Das gilt nicht nur für Bill Gates, sondern auch für den Großinvestor Warren Buffett, der etliche Milliarden als Co-Spender in die Foundation gesteckt hat, und für den ganzen Club bedenkenloser Raubkapitalisten, die sich jetzt als Philanthropen feiern lassen…

   

Mäzen mit schmutzigen Händen

 

Mit Einlagen von fast 50 Milliarden Dollar ist die Bill & Melinda Gates Foundation die größte private Stiftung der Welt. Auf dem zweiten Rang folgt ein Konglomerat gemeinnütziger Organisationen, das einer der berühmtesten und berüchtigtsten Hedgefonds-Manager, Investoren und Zocker im Spielcasino des internationalen Kapitals zusammengeschweißt hat. Die Open Society Foundations (OSF) wurden von dem gebürtigen Ungarn und heutigen US-Amerikaner George Soros gegründet, um vor allem in Osteuropa die Ideologie des ungezügelten Waren- und Finanzmarkts zu verbreiten, und mit etwa 18 Milliarden Dollar ausstaffiert.

 

In der Ukraine mischten die OSF munter bei der Entstehung der heutigen Kleptokratie mit, wobei sie sich offen für eine pluralistische Gesellschaft einsetzten und eher verdeckt rechte Oligarchen-Milizen mit Geld, Waffen und Ausrüstung versorgten. In Russland wurden die Soros-Stiftungen bereits 2015 vom Innenministerium zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, während die ungarische Regierung die OSF 2018 zwang, ihre Central European University, eine Art akademische Talentschmiede für den kapitalistischen Nachwuchs, nach Wien zu verlegen.

 

Wenn Autokraten wie Putin und Orbán die Soros-Einrichtungen attackieren, können diese doch gar nicht so falsch liegen, sollte man meinen. Tatsächlich klingen einige Forderungen der OSF, etwa die nach der Stärkung von Migrantenrechten, in den Ohren russischer und ungarischer (oder deutscher) Nationalisten hässlich, in denen aufgeklärter Bürger aber eher angenehm. Auch nimmt sich die Förderung des investigativen Journalismus, allerdings nur in systemtreuem Rahmen, auf den ersten Blick sympathisch aus. Doch muss man sich die Biographie des Wohltäters George Soros näher ansehen, um zu erkennen, dass in seinem Handlungsschema dem demokratischen Zuckerbrot stets die Peitsche elitärer Verfügungsgewalt über Finanzinstrumente und Produktionsverhältnisse folgt – und die wird vor allem für das Recht Weniger auf skrupellose Spekulation eingesetzt.

 

In der Wochenzeitung der Freitag schrieb Georg Rammer über Soros: „Mit seinen philanthropischen Aktivitäten in Osteuropa verbindet er geschickt andere Ziele, die als neoliberaler Umbau der Gesellschaft charakterisiert werden können: offene Märkte, Deregulierung, Privatisierung.“ Auch der in New York lehrende Professor Nicolas Guilhot warnt in einer Studie davor, dass philanthropische Stiftungen die Kontrolle über die Sozialwissenschaften anstrebten, um diese zu entpolitisieren und eine kapitalistische Sicht der Modernisierung zu implementieren. Der scheinbare Radikalismus von Soros‘ OSF sei nur ein Mittel zur Verschleierung der kapitalistischen Ordnung, deren grundlegende Regeln niemals wirklich infrage gestellt oder „geöffnet“ würden.

 

Man kann auch einfacher zu Zweifeln am Gutmenschentum des Mäzens Soros gelangen, indem man schlicht die Leichen, die er bei seinem Aufstieg zurückließ, zählt. Im Herbst 1992 wettete Soros mit einigen Kumpanen gegen die britische Währung, in dem er sich etliche Milliarden Pfund lieh und sie sofort gegen fremde Devisen eintauschte. Der Wert des Pfund fiel enorm, worauf sich Soros mit genügend Sterlings eindeckte, um seine nun wesentlich geringer gewordenen Schulden zu begleichen. Innerhalb eines Monats „verdiente“ er mit diesem Hütchenspieler-Trick 1,5 Milliarden Dollar, während britische Banken und Sparer das Nachsehen hatten. Ein Jahr später spekulierte er auf ähnliche Weise gegen die Deutsche Mark.

 

Sein größter Coup aber war 1997 die Wette gegen den thailändischen Baht zusammen mit Komplizen in New York und London. Die Notenbank in Bangkok musste die Währung gegenüber dem Dollar bis auf Ramschniveau abwerten, was etliche andere Länder der Hemisphäre mitriss und die größte Finanzkrise aller Zeiten in Asien auslöste. Die Staaten konnten Gläubiger nicht mehr bedienen, es fehlte ihnen an Mitteln für dringend benötigte Importe von Lebensmitteln, Medikamenten oder Investitionsgütern. Die Wirtschaft halb Asiens wurde um Jahre zurückgeworfen, die Menschen verloren ihre Jobs wie Ersparnisse, und Abertausende von Existenzen wurden vernichtet. Der Philanthrop Soros aber stieg zu einem der reichsten Männer der Welt auf.  

 

Der Herr nahm es, der Herr gab es

 

Wenn die Nabobs dieser Welt Mittel locker machen, um Seuchen auszurotten oder Impfstoffe entwickeln zu lassen, wirkt dies zunächst positiv und altruistisch. Nach und nach aber relativiert sich die allgemeine Freude: Warum sind die Länder von privatem Gönnertum abhängig, obwohl sie doch für solche Aufgaben öffentliche Gesundheitsdienste geschaffen haben? Wieso sind diese wiederum finanziell und personell so dürftig ausgestattet? Nutzen die generösen Spender ihr Engagement nicht vielleicht auch zur Ankurbelung der eigenen Geschäfte? Und last not least: Entziehen sie den Staaten nicht langsam die Kontrolle über die infrastrukturelle Versorgung der Bevölkerungen und zementieren damit eine eigene absolute Zuteilungsmacht?

 

Überlegungen, woher das Geld stammt, das die superreichen Menschenfreunde zum Wohle des Globus zu spendieren gedenken und woher sie die Legitimation ableiten zu entscheiden, womit wo was für die Zukunft getan werden soll, werden allzu oft von gläubiger Bewunderung überlagert. Mögen die Politiker in unseren Ländern zögerlich, unfähig und bisweilen korrupt sein, so haben sie doch irgendwann zumindest ansatzweise ein Mandat von der Gesellschaft erhalten, über die Gestaltung der ökonomischen wie geistigen Rahmenbedingungen zu entscheiden. Oligarchen aber, die auf mehr oder weniger dubiose Weise an ihre materielle Macht gekommen sind, maßen sich selbst die Omnipotenz an, aufgrund der sie nur die wissenschaftliche Expertise, die ihnen in ihren göttlichen Plan passt, akzeptieren und nur jene Bedürfnisse der Bevölkerung, die ihren Geschäftszielen nicht zuwiderlaufen, befriedigen oder zumindest anerkennen müssen.

 

Soros mag ein besonders abstoßendes Beispiel für menschenverachtende Trickserei sein, aber auch Bill Gates kam vor allem durch die Ausbeutung von Mitarbeitern auf allen Kontinenten, an Steuerbetrug grenzende Vermeidung von Abgaben und bedenkenlose Manipulation von Märkten und Ländern zu seinem Reichtum. Die beiden haben ebenso wie Warren Buffett und andere freigiebige Konsorten in allen Industrienationen den Regierungsverantwortlichen und Sozialpolitikern (und ihren Beschäftigten) die Mittel vorenthalten, mit denen sie nun die Welt nach ihrem Gusto modellieren wollen.

 

Es geht bei der Kritik an ihren Handeln nicht um eine Abwertung individueller Mildtätigkeit, es geht um den letzten Rest an Volksbeteiligung, möglicherweise auch um das faktische Ende der bürgerlichen Demokratie. 

09/2020   

Dazu auch:

In Ungnade bei Wiki (2020) und Goldenes Schweigen (2019) im Archiv der Rubrik Medien

 

 

  



Irre Träume der SPD

 

Eine Partei träumt davon, ganz neue Wege einzuschlagen – und kürt einen Mann, der für das ganz Alte steht, zum Leiter der Expedition. So geschehen vor wenigen Tagen, als die SPD den Bundesfinanzminister Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten präsentierte. Mit den Grünen und sogar der Linken wolle man koalieren, tönte die Doppelspitze, aus Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bestehend, doch hatte sie die Rechnung zunächst ohne den Wirt gemacht. Der stramm rechte Thronanwärter Scholz lässt nämlich wenig Begeisterung für einen gesellschaftspolitischen Aufbruch erkennen.

 

Der rechte Mann zur rechten Zeit?

 

„Die Ersten werden die Letzten sein“ heißt es im Matthäus-Evangelium, doch die SPD-Chefstrategen erweisen sich als wenig bibelfest und begehen zum dritten Mal denselben Fehler: Sie nominieren ihren Kanzlerkandidaten viele Monate vor der Bundestagswahl und werden wohl auch diesmal erleben müssen, wie ihm im Wahl-Marathon die Puste ausgeht, so wie sich 2009 der typische Genosse der Bosse, Peer Steinbrück, auf der Strecke durch unqualifizierte Statements selbst demontierte und sich der Kurzzeit-Favorit Martin Schulz 2013 im Endspurt als inkompetent entlarvte.

 

Auch aus einem anderen Grund erscheint die Nominierung des drögen Hanseaten (Spitzname: Scholzomat) verfrüht. Der Finanzminister muss damit rechnen, in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss peinliche Fragen zum Wirecard-Skandal beantworten (oder offenlassen) zu müssen. Da könnte der kurzzeitige Publikumszuspruch, der ihn auf den dritten Platz der Politiker-Hitliste hievte, rasch gegen Null gehen. Zudem ist es merkwürdig, dass jemand jäh zum Hoffnungsträger für den Bund ernannt wird, dem die überwältigende Mehrheit der SPD-Mitglieder bei der Urwahl nicht einmal das Amt des Parteivorsitzenden zugetraut hat.

 

Diejenigen, die über ihn triumphierten, das Tandem Esken und Walter-Borjans, gelten im inhaltlich wenig differenzierten Meinungsspektrum der SPD irgendwie als links. Wenigstens halten sie ein Bündnis mit der Linken nach der Bundestagswahl für „möglich und denkbar“ (Esken). Sie streben eine „rot-rot-grüne“ Koalition an. Wie aber soll das mit dem Wirtschaftsliberalen Olaf Scholz gehen? Tatsächlich begann der gleich nach seiner Kandidatenkür damit, sich und seine Partei gewissenhaft um die winzige Chance auf einen bundesdeutschen Politikwechsel zu reden.

 

Das Geheimnis des Olaf Scholz

 

Olaf Scholz formulierte im Interview einen klaren Anspruch, auch wenn er dabei von sich selbst innerhalb eines Satzes mal im Pluralis Majestatis und dann wieder in der dritten Person sprach: „Wir wollen, dass die nächste Regierung von einem Sozialdemokraten angeführt wird.“ Soweit die Zielsetzung, bleibt nur das Rätsel, mit wessen Unterstützung sich Scholz selbst zum Kanzler krönen will und ob das Postulat in der derzeitigen Konstellation überhaupt realistisch ist…

 

Die SPD dümpelt zurzeit in den Umfragen zwischen 14 und 18 Prozent herum, das ist in etwa die Hälfte der Zustimmung zu den Unionsparteien. Sollte es überhaupt eine Koalitionsoption für die Genossen geben, schieden die nationalkapitalistische AfD und die marktreligiöse FDP von vornherein als Partner aus. Blieben nur die Grünen, bei denen Annalena Baerbock, die eine Hälfte des Führungsduumvirats, mit der Union flirtet und Jürgen Trittin, der einer ominösen Parteilinken zugerechnet wird, plötzlich immer mehr „Schnittmengen“ mit den Schwarzen entdeckt, und die Linkspartei.

 

Aber genau über die lästert Scholz bei jeder Gelegenheit.

Schon die Regierungsfähigkeit der Linkspartei stellt der Kandidat in Frage. Da existierten "noch viele Fragen, da wird es sicherlich viel zu diskutieren geben". Und in BILD, der Leib- und Magenpostille konservativer Politprominenz, erklärte er ebenso kurz wie einfältig: „Ich mag die Linkspartei auch nicht – ich bin nämlich in der SPD.“

 

Wie soll das mit der SPD-Kanzlerschaft gehen, wenn man die wenigen potentiellen Bündnispartner desavouiert? Wie will man selbst im nach diesen Invektiven unwahrscheinlichen Fall einer Einigung mit den derzeit prognostizierten knapp vierzig Prozent Wählerzustimmung für alle drei Parteien zusammen die Regierung stellen? Olaf Scholz verfügt entweder über exklusives Geheimwissen oder er will eine ganz neue Form von Wahlarithmetik implementieren. Oder er kann schlicht nicht rechnen.

 

Übrigens hätte es nach der Bundestagswahl 2005 eine satte Mehrheit für Rot-Rot-Grün gegeben. Doch die heute sich so machtbewusst gebende SPD ließ Frau Merkel den Vortritt und vergab so die letzte Möglichkeit für viele Jahre.

 

Was sich wohl nicht durchsetzen lässt 

 

Sollte es wider Erwarten doch zu Koalitionsverhandlungen zwischen den drei Oppositionsparteien kommen, wäre Olaf Scholz mit Sicherheit der schlechteste aller möglichen SPD-Vertreter. Das Konzernwohlbehagen steht bei ihm an erster Stelle, weshalb er immer wieder betont, dass die nationale Wirtschaft konkurrenzfähig bleiben muss – notfalls auf Kosten des Umwelt- und Klimaschutzes. Er wäre auch nicht der Mann, die eklatanten sozialen Schieflagen im Land wenigstens etwas abzumildern, betont er schließlich regelmäßig, es stünden nicht unbeschränkt Mittel zur Verfügung (was selbstredend nicht für Banken- und Unternehmensrettung gilt) und bejubelte er doch einst als SPD-Generalsekretär Schröders höchst unsoziale Agenda 2010. So ist eine Wiedereinführung der vom damaligen Kanzler der Konzerne ausgesetzten Vermögenssteuer mit Scholz wohl nicht zu machen.

 

Offensiv wird die SPD-Führungsriege, wenn es um die Forderung der Linken, Deutschland solle aus der NATO austreten, geht. Natürlich könnten die Pazifisten das nicht durchsetzen, zumal auch die Grünen bisweilen gern Krieg führen, wie die völkerrechtswidrigen Bundeswehr-Luftschläge unter der Schröder/Fischer-Regierung gegen Serbien belegen. Es gäbe aber keinen Grund, aus dieser Einstellung eine Unvereinbarkeit zu konstruieren, immerhin stellt derzeit die SPD-Schwesterpartei PSOE gemeinsam mit den NATO-Gegnern vom Linksbündnis UP die spanische Regierung. Und über die Existenzberechtigung oder zumindest den beklagenswerten Zustand des Nordatlantikpakts in einer Zeit nachzusinnen, in der sich die Mitgliedsstaaten Griechenland und Türkei gegenseitig mit Krieg drohen, ein US-Präsident die nukleare und konventionelle Rüstungsspirale wieder mit Macht in Gang setzt, alle Verträge zur Deeskalation bricht und die Partner zu unsinnigen Militärausgaben zwingen will, ist eigentlich ein Gebot der Vernunft und darf keinem Denkverbot unterworfen werden.

 

Vielleicht sollte die Linke ihrerseits über die Verlässlichkeit eines möglichen Regierungspartners SPD ins Grübeln geraten. Die Windeseile, mit der die Sozialdemokraten in der Vergangenheit inhaltliche Positionen räumten, sich der Wirtschaft anbiederten und deutsche Großmannssucht adaptierten, ist noch zu gut in Erinnerung. Und während einige Genossen noch mit der Berufung des rechten Flügelmanns Scholz zum Kanzlerkandidaten hadern, eilt diesem bereits ungefragt der vor Kurzem noch als Revoluzzer diffamierte Kevin Kühnert zu Hilfe. Der scheidende Juso-Chef gemahnt fatal an Andrea Nahles, die auch erst links sprang, ehe sie nach kurzem Umweg über die rechte SPD-Führungsriege im politischen Abseits landete. 

08/2020 

Dazu auch:

Olaf der Schreckliche im Archiv von Helden unserer Zeit (2019)   

 

 

  



Honorige Komplizen

 

Spendenskandale, Vorteilsnahme, Bestechlichkeit in der deutschen Politik – das alles war gestern. Der Skandal um die Wirecard AG legt die Vermutung nahe, dass sich Amtsinhaber von mindestens zwei Bundesregierungen aus freien Stücken als „Türöffner“ für ein betrügerisches Unternehmen betätigt haben. Wenn Politiker nicht erst von Lobbyisten „überzeugt“ werden müssen, sondern von sich aus zu Komplizen und somit Partnern einer für Anleger teuren Nullnummer geworden sein sollten (und alles sieht danach aus), würde dies eine neue Qualität der innigen Verflechtung von Staatsrepräsentanz und dubiosen Wirtschaftsinteressen bedeuten.

 

Betrüger als Aufpasser

 

In digitalen Technologien hinkt die Bundesrepublik meilenweit hinter den globalen Marktführern her. Kein Wunder also, wenn die Politik angesichts des Auftritts eines deutschen Konzerns, der den Online-Zahlungsverkehr weltweit zu organisieren verspricht, in Verzückung gerät. Das 1999 gegründete und in Aschheim bei München ansässige Unternehmen Wirecard AG bot Lösungen für den elektronischen Zahlungsverkehr, das Risikomanagement sowie die Herausgabe und Akzeptanz von Kreditkarten an und schien von Erfolg zu Erfolg zu eilen. Ständig wurden Umsatz- und Gewinnsteigerungen gemeldet, die Wirecard-Aktie erreichte ungeahnte Höhen, und schließlich drängte der neue Digital-Crack sogar thyssenkrupp, den Inbegriff des klassischen Kapitalismus, aus dem DAX der dreißig deutschen Spitzenwerte.

 

Doch bald kamen Gerüchte auf, der Konzern schöne seine Bilanzen. Als die Financial Times (FT) Anfang 2019 nach ausgiebigen Recherchen zu dem Schluss gelangte, Wirecard erfinde schlichtweg Umsätze und Kundenkontakte, schlug der Zeitung Empörung von Seiten vieler Anleger und der deutschen Kontrolleure entgegen. Statt die Machenschaften des Konzerns akribisch zu durchleuchten, schützte ihn die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) an der Börse und zeigte den FT-Journalisten an, als solle wieder einmal der Überbringer der schlechten Nachricht bestraft werden. Erst als die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young die Wirecard-Bilanz nicht abnahmen, weil sie vergeblich nach 1,9 Milliarden Euro suchten, die als Aktiva angegeben worden waren, flog das Foulplay auf.

 

Hier wird das Verbrechen zur Posse: Als hätten sie Ostereier versteckt und könnten sie nun selbst nicht mehr finden, legte die Unternehmensspitze eine Fährte zu philippinischen Banken, in deren Obhut das Geld sich angeblich befand. Nach Dementis aus dem Südpazifik brach das Lügengebäude in sich zusammen, entpuppte sich die Summe als pure Phantasie, meldete Wirecard Insolvenz an, wurden der Chef Markus Braun und andere Mitarbeiter wegen des Verdachts auf Vortäuschung von Einnahmen und Marktmanipulation verhaftet, floh der Manager und mutmaßliche Drahtzieher Jan Marsalek, ein Österreicher mit besten Geheimdienstkontakten, nach Weißrussland.

 

Wirecard hatte also mit nicht vorhandenem Vermögen geprahlt, um kreditwürdig zu bleiben, Aktienkäufer anzulocken und – sicherlich auch – um Politikern, die nur allzu gern an ein digitales Wirtschaftswunder made in Germany glauben wollten, zu imponieren. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die Betrüger die Überprüfung der Kreditwürdigkeit von Kunden sowie ein Programm zur Betrugserkennung als Dienstleistungen anboten.

 

Willige Helfer mit großen Namen

 

Der Fall Wirecard liefert ein wahres Lehrstück in puncto gegenseitiger Durchdringung von politischen und privatwirtschaftlichen Machenschaften, die Verquickung von Regierungsnaivität und krimineller Hybris erreicht hier ein neues Niveau. Man stellte sich die Einflussnahme der Konzerne auf Legislative und Exekutive bislang in etwa so vor: Aalglatte Lobbyisten lümmeln in den Vorzimmern von Parlamentariern und Ministern herum, bis sie im persönlichen Gespräch das Staatshandeln im Sinne ihrer Auftraggeber manipuliert haben – nach einigen Offerten und Gefälligkeiten für die Volksvertreter und deren Parteien, versteht sich.

 

Diesmal aber spielt der klassische Lobbyismus eine untergeordnete Rolle, die Minister sowie Staatssekretäre scheinen aus eigenem Antrieb zu handeln bzw. wegzuschauen. Und die Liste der Involvierten liest sich wie ein Who̓ s Who deutscher Regierungspolitik. Als 2015 die ersten Unregelmäßigkeiten bei Wirecard auffielen, war noch Wolfgang Schäuble Finanzminister. Der Mann, der sechs Jahre lang zuließ, dass Konzerne den Staat mit Cum-Ex-Geschäften um etliche Milliarden brachten, indem sie sich Vorsteuern zurückerstatten ließen, die sie gar nicht entrichtet hatten, war wohl außerstande, die Praktiken der modernen FinTech-Unternehmen zu durchschauen. Also holte er einen forschen Polit-Karrieristen mit besten Kontakten zur Wirtschaft als Staatssekretär in sein Ministerium. Jens Spahn aber konnte nichts Anrüchiges beim Hoffnungsträger Wirecard finden.

 

Als vor eineinhalb Jahren der Fisch mächtig vom Kopf her zu stinken anfing, war Olaf Scholz Finanzminister in Berlin. Die BaFin ist der Aufsicht seines Ressorts unterstellt, und sein Staatssekretär Jörg Kukies leitet ihren Verwaltungsrat. Im September und im November 2019 traf der sich mit Wirecard-Chef Markus Braun zu Gesprächen, über deren Inhalte das Finanzministerium striktes Stillschweigen bewahrt. Kukies will Scholz über die Situation des Konzerns auf dem Laufenden gehalten haben; Tatsache ist, dass beide den bösen Dingen ihren Lauf ließen, während die BaFin alle Energie in den Kampf gegen den Enthüllungsjournalismus der FT investierte.

 

Ähnlich verhielt sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier. In seinen Geschäftsbereich fällt die Aufsicht über jene Wirtschaftsprüfer, die bis 2019 in den Wirecard-Bilanzen keinerlei Fehler entdecken konnten.

 

Als Wirecard beschloss, den chinesischen Markt zu erobern, traten dann doch Lobbyisten auf den Plan, allerdings von edlem Geblüt und mit politischem Stallgeruch: Der überführte Hochstapler im Geiste, Karl-Theodor zu Guttenberg, und Söders bayerische Staatsministerin Dorothee Bär drängten Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor ihrer China-Reise im September 2019, sich in Peking für Wirecard einzusetzen. Diese tat das bravourös, obwohl das Finanzministerium sie immerhin auf die „öffentlich bekannten Vorwürfe gegen das Unternehmen“, die u. a. Geldwäsche und Marktmanipulation beinhalteten, hinwies. Olaf Scholz selbst scheint den Warnungen seiner Beamten nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Gemeinsam mit der Kanzlerin legte er sich für Wirecard ins Zeug, und der Konzern durfte die chinesische Firma AllScore Payment Services zu 80 Prozent übernehmen.

 

Hier bewahrheitete sich wieder einmal die Binsenweisheit, der zufolge sich Gleich zu Gleich gesellt: AllScore war den chinesischen Behörden wegen der Zahlungsabwicklung im illegalen Glücksspiel aufgefallen und hatte mit 9,3 Millionen Dollar die bislang höchste Strafe in dieser Branche zahlen müssen… 

   

Hauptsache Kohle für die Wirtschaft

 

Bundes- sowie Landesminister und allen voran die Kanzlerin im Einsatz als Cheflobbyisten für einen Gangster-Konzern? In der Tat lassen sich die äußeren Umstände der Wirecard-Affäre kaum an Skurrilität überbieten, die Motive und das Kalkül indes folgen altbekannten Mustern. Egal, wie krumm die Wege der Wirtschaft sind, wie schädlich, gefährlich oder unsinnig eine Produktion oder Dienstleistung sein mag – die offizielle deutsche Politik wird als treuer Vasall schützen, helfen und bezahlen, um noch dem krudesten Unternehmen zu Weltgeltung zu verhelfen.

 

Um Schaden von der auf SUVs und Highspeed-Wagen spezialisierten Automobil-Industrie abzuwenden, schwächten deutsche Abgeordnete in Brüssel strengere EU-Emissionsnormen ab, weigert sich ein Verkehrsminister, endlich ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen, verstößt eine bayerische Staatsregierung fortlaufend gegen geltendes Recht, um Dreckschleudern freie Fahrt in arg belasteten Großstädten zu ermöglichen. Während tolle Klimaziele verkündet werden und der Kohleausstieg beschlossene Sache ist, müssen immer noch Wälder und Menschen dem Tagesabbau weichen, damit RWE ein letztes Mal Profit aus dem braunen Gold pressen kann. Jeder neue Bundeswirtschaftsminister verkündet strengere Waffenexportregeln, nur um anschließend noch mehr Rüstungsausfuhren in Kriegsgebiete zu erlauben. Der Staat hält die marode Lufthansa mit einer gigantischen Finanzspritze am Leben, verzichtet dabei aber großzügig darauf, Einfluss auf die Unternehmenspolitik im Sinne der Umwelt und der Beschäftigten zu nehmen.

 

Die Politik scheint sich in der Rolle des unmündigen, aber fleißigen Assistenten der großen Konzerne wohlzufühlen, schließlich belegen die Karrieren diverser Partei-Soldaten, dass auf dem Weg oder am Ende desselben dicke Belohnungen durch die Gönner in den Chefetagen winken. Ein solches System kann auch weitgehend auf Kontrolle verzichten – wenn nicht gerade die Ordnung im unteren Erwerbssegment aufrechterhalten werden soll. So interessieren sich die Finanzbehörden brennend für die Umsätze von Eisdielen und die Trinkgeldeinnahmen von Friseuren, für die Aufklärung von Steuerbetrug in Milliardenhöhe fehlen da leider Zeit und Personal. Und wenn sich ein Hype-Player wie Wirecard durch dreiste Lügen Vorteile verschafft, versagen sowohl die Prüfer von der BaFin als auch die der Frankfurter Börse, deren Ignoranz einer kriminellen Bande das Renommee eines DAX-Konzerns verschaffte.

 

Auch wenn es – wie von der Opposition gefordert – zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss kommen sollte, werden allenfalls individuelle Tat- und Schuldanteile der diversen Mandatsträger festgestellt werden. Dass die Regierungspolitik längst zur Kumpanei mit einer ökonomischen Elite, die ein schrankenloses Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste zur Zementierung der eigenen Machtstellung benötigt, verkommen ist, wird wohl nicht einmal angedeutet werden. Nachhaltigkeit, Transparenz oder Klimaschutz sind beliebte Worthülsen im Munde von Kabinettsmitgliedern, verbale Placebos für beunruhigte Bürger. Ansonsten werden wir bald registrieren dürfen, dass die Zeit nach Corona der trüben Periode vor Corona fatal ähnelt. 

08/2020 

Dazu auch:

Hiwis der Konzerne in dieser Rubrik

Lobbykratie BRD im Archiv dieser Rubrik (2013)   

  




Von Bayern lernen?

 

Des Bundesbürgers liebster Krisenmoderator hat gesprochen, und zwar auf Twitter. Während sich das Wahlvolk den Kopf darüber zerbricht, ob Markus Söder nun als Kanzlerkandidat antritt oder nicht, preist dieser die CSU-Domäne Bayern als leuchtendes Vorbild und lobt damit vor allem sich selbst und die Politik seiner Partei. Er darf sich dabei weniger auf Fakten als auf die Gewogenheit der Medien und die Vergesslichkeit der Adressaten verlassen.

 

Will er - oder traut er sich nicht?

 

Kein Politiker in Deutschland versteht es derzeit so gut wie Markus Söder, eigene Fehler und Versäumnisse als Erfolge und Belege für landesväterliche Umsicht zu kaschieren. Als die Warnungen vor einem Corona-Ausbruch schon nicht mehr zu überhören waren, gab er am 26. Februar anlässlich des Politischen Aschermittwochs noch die üblichen Plattitüden vor Tausenden bierseliger Fans in Passau von sich. Den österreichischen Lockdown schloss er für Bayern zunächst aus, um ihn zwei Wochen später doch anzuordnen. Vermutlich weil nicht vorgesorgt worden war, wiederholte sich dieses Zaudern bei der Maskenpflicht, die er erst ablehnte, um dann wieder nach zwei Wochen dem Beispiel Austrias  zu folgen und die Vermummung anzuordnen. Die Todesraten, gemessen an der Zahl der Infizierten, sind in Bayern höher als in den meisten anderen Bundesländern (was ein schlechtes Licht auf die medizinische Versorgung wirft), und bundesweit hervorstechende Hotspots wie Tirschenreuth, Coburg oder Rosenheim bekamen die Behörden lange nicht in den Griff.

 

Auch andere Verantwortliche verloren durch Ignoranz viel Zeit, aber keiner, mal von Jens Spahn abgesehen, war später so erfolgreich damit, die eigene Rolle fulminant schönzureden. Und jetzt, da drei Abgehalfterte aus der CDU um die Kanzlerkandidatur der Union buhlen, klingen Söders apodiktischen Worte, er könne sich nur einen Kandidaten vorstellen, der sich in der Corona-Krise bewährt habe, wie eine Bewerbung. Denn aus seiner Sicht hat sich vor allem einer bewährt: Markus Söder.

 

Wenn Friedrich Merz dann erklärt, er glaube nicht, dass der bayerische Ministerpräsident seinen Hut in den Ring werfe, weil der ja mehrfach gesagt habe, sein Platz sei im Freistaat, klingt das wie das Pfeifen im Wald. Schließlich hat sich Söder stets äußerst flexibel – böse Zungen würden von wetterwendisch sprechen – gezeigt: Als die Niederlage bei einem Volksbegehren drohte, wandelte er sich quasi über Nacht vom Agrarindustrie-Förderer zum obersten Bienenschützer. Die Alpennatur am Riedberger Horn wollte er so lange im Dienste des Kommerzes ruinieren, bis der Widerstand zu groß wurde und er in die Larve des Naturbewahrers schlüpfte. Überhaupt nimmt ihm die Metamorphose zum grünen Markus niemand ab, der die Karriere des begabten Opportunisten und Machtmenschen aufmerksam verfolgt hat.

 

Ob Söder selbst antritt oder sich nur als Kanzlermacher profilieren will, weiß im Augenblick nur er allein. Er hat auch in der Vergangenheit gekuscht, wenn er eine Niederlage befürchtete – als es etwa um OB-Posten in Nürnberg ging – und fürchtet vielleicht auch die Fallstricke, die das CDU-Establishment für ihn bereithält, für alle Fälle aber inszeniert er sich schon mal als Superman und sein Bundesland als hehres Wesen, an dem Restdeutschland genesen könnte. Nicht wenige argwöhnen, Söder würde sich gern als Retter der Union zur Thronfolge in Berlin bitten lassen.

 

Die kollektive Amnesie

 

In Bayern hat die allmächtige CSU eine Kultur des Vergebens und Vergessens installiert, die vor allem ihren Amtsträgern zugutekommt. Davon profitierten in den letzten siebzig Jahren nicht nur korrupte oder trunksüchtige Kommunalpolitiker, sondern auch Regierungsmitglieder und sogar Ministerpräsidenten.

 

Man gedenke nur – wenn man nicht der kollektiven CSU-Amnesie anheimgefallen ist – des bayerischen Champions Franz Josef Strauß, dessen Konterfei Söders Kinderzimmerwände zierte. Von Verbrechen gegen die Waffenexportgesetze (illegale Ausfuhren nach Israel) über Vorteilsnahme (Fibag-Affäre) bis hin zu den Skandalen um den HS-30-Schützenpanzer und den Starfighter ließ der spätere Ministerpräsident kaum ein nach Amtsmissbrauch und Bestechlichkeit duftendes Fettnäpfchen aus. Kongenialer Partner war ihm dabei Friedrich Zimmermann, der des Meineids überführt wurde und dennoch später Bundesinnenminister werden durfte.

 

Max Streibl, Gerold Tandler, Christine Haderthauer und etliche andere waren in bizarre Aktivitäten zum Zweck der Vermögensmehrung verstrickt. Bedauerlicherweise gönnte ihnen der sonst so milde Resozialisierungsverein CSU kein politisches Comeback – ganz im Gegensatz zu Straußtochter Monika Hohlmeier, die einst Parteifreunde erpressen wollte und heute im EU-Parlament sitzt, und vor allem zu Otto Wiesheu. Der fuhr einst im Vollsuff einen polnischen Kleinwagenlenker zu Tode und bekleidete dann, nach einer gewissen Anstandszeit, das Amt des bayerischen Ministers für Wirtschaft und Verkehr.

 

So viel Dreck am Stecken hat Markus Söder nicht, doch bewies auch er bereits, dass er es mit dem Gesetz nicht so genau nimmt: Vor drei Jahren wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Staatsregierung an, Diesel-Fahrverbote für München durchzusetzen. Diese weigerte sich (zunächst unter Seehofer, dann unter Söder), die Entscheidung umzusetzen. Das Verwaltungsgericht München verurteilte daraufhin den Freistaat zu einem Zwangsgeld von 4000 Euro. Der bayerische Steuerzahler musste also für die Rechtsmissachtung durch seine Regierung und deren hohe Anwaltskosten aufkommen.

 

Ungemach droht auch von der EU: Bayern verstößt (wie auch andere Bundesländer) gegen die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen. Weil dem Freistaat Strafzahlungen von 100.000 Euro am Tag ins Haus stehen, ließ Söder jetzt ein paar Flecken als Naturschutzgebiete ausweisen, nachdem er die Planung des längst überfälligen dritten Nationalparks schon bei Amtsantritt vom Tisch gefegt hatte.

 

Bei näherem Hinsehen erkennt man rasch, wie dünn die grüne Schminke auf Söders tiefschwarzes wahres Antlitz aufgetragen ist. Vollends abstrus wird es, wenn er „eine Wende zu mehr Agrar-Ökologie“ fordert, und von einem „bayerischen Weg“ (mit kleineren Höfen statt Landwirtschaftsfabriken), dem Deutschland tunlichst folgen solle, fabuliert. Dann fragt man sich, ob der Ministerpräsident sein eigenes Land kennt. Eine kleine Tour durch die gigantischen niederbayerischen Anlagen zur Schweine- und Geflügelqual würde ihm sicherlich neue Erkenntnisse verschaffen.

      

Land der Metzger

 

Tatsächlich besaß schon einmal ein bayerischer Konzern als Vorbildcharakter für die Fleischbarone und Agrar-Multis, wie wir sie heute kennen. Franz Josef Strauß, der einer Metzgerfamilie entstammte, war mit den März-Brüdern in Rosenheim eng befreundet. Er stellte für die Großschlachter und Viehhändler lukrative Beziehungen, etwa in die DDR, nach Frankreich, Griechenland und sogar Afrika her. Etienne Eyadéma, grausamer Diktator von Togo und Strauß-Spezl, lud die geschäftstüchtigen Brüder ein, eine Fleischfabrik und eine Brauerei in seinem Land zu errichten. So wurden die Untertanen, die es sich leisten konnten, mit Leberkäse und Bier à la Bavaria bekannt. Das klingt doch angenehmer als die ständigen Klagen über die Exporte von Schlachtabfällen nach Westafrika heutzutage, durch die einheimische Produzenten ruiniert werden. Die Folgen der März-Investition dürften damals für die Togolesen allerdings die gleichen gewesen sein.

 

Die März-Brüder kauften sich nach und nach ein wahres Agrar- und Bier-Imperium zusammen, exportierten – noch völlig unbehelligt von lästigen Tierwohl-Skrupeln – Vieh in ferne Länder und gingen schließlich pleite, als nach der Wiedervereinigung der DDR-Handel wegbrach. Doch im „Vorbildland“ Bayern gab und gibt es auch weiterhin genügend Massentierhaltung und Monokultur. Erst kürzlich wurde die Öffentlichkeit wieder daran erinnert, als in einer Straubinger Hähnchenschlachterei mehrere der 1000 Beschäftigten positiv auf Covid-19 getestet wurden – Wochen vor Gütersloh. Und schon vor Corona erregte die mit Salmonellen verseuchte Ware von Bayern-Ei Aufmerksamkeit und Ekel im Freistaat. Immer wieder sickert durch, dass es zu wenige Veterinäre für die Kontrolle der Betriebe gibt und das Gerücht geht um, dass einige von der Zunft gegen eine kleine Gefälligkeit auch mal ein Auge zudrückten.

 

Am bayerischen Wesen genesen zu wollen, hieße auch, immer mehr Freiflächen zu versiegeln, unnütze Gewerbegebiete auszuweisen, den natürlichen Lebensraum einzuengen oder zu bebauen, die Großbauern und die Massentierhaltung ordentlich zu subventionieren. Und schon immer waren die Bajuwaren wahre Meister der Flurbereinigung, durch die kleine Felder zu größeren Einheiten zusammengefügt und landschaftliche Hindernisse beseitigt werden sollten.

 

Natur muss sich lohnen

 

Nach Herzenslust wurden noch vor kurzer Zeit störende Vogelhecken eingestampft, mäandernde Bachläufe zu Abflussrinnen begradigt und Schmetterlingswiesen untergepflügt. Was im Kleinen geht, müsste auch bei der Donau klappen, dachte sich die Staatsregierung einst und plante zur Freude der Kanal-Lobby, den Fluss zum Highway für die Binnenschifffahrt zu kanalisieren. Erst 2013 knickte sie unter dem Druck der Bürger sowie des Bundestags ein und entschied sich für einen sanften Ausbau des Stroms. Es wäre ohnehin fraglich gewesen, ob sich zu den paar Frachtkähnen auf dem Rhein-Main-Donaukanal noch weitere Boote gesellt hätten, dafür hätte man aber nach dem zwangsläufigen Verschwinden der Auwälder und Sumpfwiesen mit regelmäßigen Überschwemmungen rechnen müssen.

  

Dass sich auch für Söder die Natur in erster Linie kapitalisieren muss, unterstrich er, als er das Riedberger Horn im Allgäu, als europäisches Schutzgebiet der höchsten Kategorie ausgewiesen, mit einer Skischaukel für den Massentourismus öffnen wollte und dies so begründete: „Der Alpenraum ist kein Denkmal, ist keine Verbotszone für Bürger.“ So ähnlich umschreibt Brasiliens Bolsonaro die Invasion der Großagrarier und Prospektoren mit anschließender Brandrodung in den Regenwäldern Amazoniens.

 

Obgleich sich der Freistaat modern und weltoffen gibt, Söder nicht müde wird, ihn als Hort der Digitalisierung und Zukunftstechnologien zu bewerben, beschleicht einen doch häufig das Gefühl, Vorrechte aus der Feudalzeit hätten sich erhalten. Die Privilegien und Interessen der Großkopferten, des Erb- wie Geldadels, der Münchner Schickeria sowie der alten Seilschaften der CSU (in manchen Großstädten auch noch der SPD) zählen weit mehr als Umweltbelange. So durfte etwa Manuel Neuer, Torwart des FC Bayern, eine protzige Villa mitten in ein Naturschutzgebiet über dem Tegernsee stellen.

 

Inzwischen steht laut BR die Windkraft in Bayern vor dem Aus. Wegen der maßlos übertriebenden 10H-Abstandsregelung werden im Freistaat keine Windräder mehr produziert. Selbst etliche Anlagen, die bereits genehmigt waren, dürfen nicht fertiggebaut und in Betrieb genommen werden. So viel zum Traum von einer dezentralen Versorgung mit erneuerbarer Energie…

 

Markus Söder aber erklärt bei Anne Will in der ARD allen Ernstes, für Bayern sei die Windkraft nicht so wichtig, weil dies Land zu hügelig sei und es in den Lüften nicht stark genug blase. Er sollte sich mal in die bretterflachen Eiszeitebenen des Regierungsbezirks Schwaben oder auf die windgeplagten Felder seiner Heimat Mittelfranken begeben. 

 

Jahrzehnte lang war die Wiederaufforstung im Freistaat relativ erfolgreich gewesen. Öde Kiefern-Reihen wichen allmählich einem widerstandsfähigeren und ökologisch wertvolleren Mischwald. Dann plante die CSU, die im Staatsbesitz befindlichen 800.000 Hektar zu privatisieren. So weit kam es nicht ganz, doch 2004 setzte der damalige Ministerpräsident Stoiber eine Forstverwaltungsreform durch, die zu einem großen Teil von einem Parteifreund, dem Waldbesitzer Sebastian Freiherr von Rotenhan, diktiert worden war. Die Staatsforsten wurden künftig privatrechtlich bewirtschaftet, die Einheitsforstämter wurden aufgelöst respektive den Landwirtschaftsämtern angegliedert, wobei an die tausend Stellen wegfielen. Ein vom Bund für Naturschutz initiiertes Volksbegehren scheiterte nur knapp an der Zehn-Prozent-Hürde. Seither hört man immer wieder von großflächigem Holzeinschlag in altem Waldbestand. 

 

Der verhängnisvolle Einfluss der Holzwirtschaft in Bayern zeigt sich auch am Beispiel Steigerwald. Das fränkische Mittelgebirge gilt als fünftwichtigstes Laubwaldterrain der Bundesrepublik und als eines der größten zusammenhängenden Buchengebiete in Mitteleuropa. Mit Hilfe Söders und seiner CSU verhinderten Wald- und Sägewerksbesitzer die Ausweisung des Steigerwaldes als dritten Nationalpark im Freistaat.

   

Wenn man alles, was in Bayern bezüglich der Landwirtschaft, der Tierhaltung und Lebensmittelproduktion sowie des Naturschutzes schiefgelaufen ist, Revue passieren lässt, könnte man durchaus zu dem Schluss gelangen, der Freistaat habe eine Vorbildfunktion – für die Pioniere des Raubbaus, der Ausbeutung und der Profitmaximierung wenn es um Tierhaltung, Agrar- und Forstwirtschaft geht. Angesichts der von kaum einer medialen Kritik getrübten Akzeptanz, die Markus Söder erfährt, darf man vermuten, dass Fakten und Analysen vergessen sind und die bajuwarische Amnesie bald die ganze Bundesrepublik einhüllt. Und dann werden die Bürger den Clou verpassen: Bayern ist nämlich ein Beispiel dafür, wie man mit Umwelt und Lebensmittelversorgung besser nicht umgehen sollte. 

07/2020        

Dazu auch:

Teuer macht gut in der Rubrik Medien

Lumpaci & Vagabundus, Archiv von Helden unserer Zeit (2016)

System Bayern I und II im Archiv dieser Rubrik (2013) 

  



Hiwis der Konzerne?

 

In den Regierungsberatungen über das Konjunkturprogramm, das der deutschen Wirtschaft in und nach der Corona-Krise wieder aufhelfen soll, ließ die SPD wenigstens in einem Punkt einen Hauch von Weitsicht und Umweltbewusstsein erkennen. Es wird (vorerst) keine Abwrackprämie geben, damit die Automobilkonzerne ihre auf Halde parkenden Benzin- und Diesel-Verbrenner mit Staatshilfe günstig verkaufen können. Lob kommt von Naturschützern und rational denkenden Bürgern, heftige Kritik hingegen von der größten Einzelgewerkschaft, der IG Metall, die sich doch einst als progressive Speerspitze gegen den gierigen Kapitalismus verstand. 

 

Rüge für ein bisschen SPD-Widerstand

 

Die Bundesregierung hat also ein riesiges Konjunkturpaket geschnürt, das 130 Milliarden Euro (oder über 160 Milliarden, wie manche Ökonomen rechnen) schwer sein soll. Das Kabinett war bemüht, möglichst vielen Begehren entgegenzukommen, und manche Förderung mag auch ganz sinnvoll sein. Dass die Kommunen (recht sparsam) bedacht werden, ist der Tatsache geschuldet, dass sie am Ende der administrativen Befehlskette stehen, dafür aber unmittelbar und kostenintensiv mit den Auswirkungen der Corona-Krise konfrontiert werden. Ob sich die Senkung der Mehrwertsteuer in den Preisen widerspiegeln und damit die Verbraucher finanziell entlasten wird, darf ernsthaft bezweifelt werden. Und die Hilfen für die Wirtschaft, handle es sich um niedrigere Steuern für Unternehmen,  Kaufprämien für E-Autos oder Milliarden für die klamme Lufthansa, gehen an die Arbeitgeber, ohne dass diese Beschäftigungsgarantien geben, umweltschonend produzieren oder eine Tarifbindung beherzigen müssten - für die Arbeitnehmer bleiben befristetes Kurzarbeitergeld und warme Worte.

 

Dennoch zeigen sich fast alle zufrieden, sogar Markus Söder, obwohl doch seinem heldenhaften Einsatz für die Freunde von BMW und Audi kein Erfolg beschieden war und die beiden bayerischen Autohersteller nun ihre neuen Benziner und Diesel-Fossile nach Rücknahme der älteren Dreckschleudern nicht mit Zusatzprofit per Subvention an den Käufer bringen konnten. Zu verdanken war dieser eine kleine Sieg der Vernunft, nämlich nur den Neukauf von E-Autos zu subventionieren, vor allem dem SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans. Sinnvoller wäre es gewesen, den ÖPNV weit höher bezuschussen und den motorisierten Individualverkehr unattraktiver zu machen. Doch einige, darunter selbstredend die betroffenen Konzerne, sind auch mit der Förderung light nicht einverstanden, die schärfste Kritik aber kommt ausgerechnet aus Ecken, die für sozialdemokratische Chefs einst Wohlfühlzonen gewesen waren.

 

Dass Walter-Borjans Parteigenosse Stephan Weil die schnöde Missachtung der Wünsche großer Autobauer ablehnt, war zu erwarten, amtiert er doch als Ministerpräsident von Niedersachsen und VW. Dass aber der Vorsitzende und etliche Betriebsräte der IG Metall ihre einstigen Lieblingsgenossen regelrecht als Feinde der Arbeiterklasse abstempelten, war doch zumindest vom Ton her ungewöhnlich. Gewerkschaftschef Jörg Hofmann sprach, sekundiert vom Daimler-Betriebsrat, von einem „massiven Vertrauensverlust“ in der Autobranche gegenüber der Sozialdemokratie. MAN-Betriebsratsvorsitzender Saki Stimoniaris setzte noch einen drauf und stellte die Suggestivfrage: „Die Parteispitze der SPD muss sich hinterfragen, vertritt sie tatsächlich noch die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“

 

Ist Denken Gewerkschaftsaufgabe?

 

Blindes Vertrauen scheinen die Vertreter des Automobilproletariats eher in Konzernleitungen zu setzen, die Käufer und Öffentlichkeit gerichtsnotorisch betrogen sowie die Umwelt und damit die Gesundheit der Bürger wissentlich geschädigt haben und auch ohne Staatshilfen derzeit noch 180 Milliarden Euro an Rücklagen horten.

Von der IG Metall wird stets das Totschlagsargument „Arbeitsplatzverlust“ in die Debatte geworfen, dabei müssten ihre Vordenker doch wissen, dass durch „Verschlankungen“, Einsparungen, „Synergie-Effekte“, wie sie die Anleger an der Börse lieben, weit mehr Beschäftigte vom Jobverlust bedroht sind als durch das Ausbleiben einer milden Gabe vom Bund. Aber manche Gewerkschaftsführer fühlen sich in Mitbestimmungsgremien, Aufsichtsräten und Kungelrunden auf Führungsebene mittlerweile so wohl, dass sie die kapitalistische Scheinlogik offenbar verinnerlicht haben.

 

Es gab Zeiten, in denen die IG Metall eine Kraft sein wollte, die eine künftig gerechtere und humanere Gesellschaft mitgestaltet. So versuchten einst die Betriebsräte der Rüstungsfirmen, ihren Konzernchefs eine Umstellung auf zivile Produktion schmackhaft zu machen, ganz nach der Zielvorgabe des DGB „Frieden, internationale Solidarität und Umweltschutz“. Inzwischen sitzen die Betriebsräte der IG Metall in Arbeitskreisen zusammen mit Bundeswehroffizieren und Lobbyisten der Waffenkonzerne, debattieren mit ihnen die weltweiten Einsatzmöglichkeiten tödlicher deutscher Qualitätsprodukte und wettern gegen die (nicht sehr ernst gemeinten) Exportbeschränkungen durch die Bundesregierung.

 

Es ist sicherlich lobenswert, den pekuniären Status quo der Arbeitnehmer durch zähe Lohnverhandlungen erhalten zu helfen, aber das ist nur die Pflicht ihrer Vertreter in einem engen systemischen Rahmen. Es würde aber den Gewerkschaften gut anstehen, unheilvolle gesellschaftliche Entwicklungen zu bekämpfen, die Allmacht von Konzernen zu attackieren und den Sinn der jeweiligen Produktion zu hinterfragen. Doch alternatives Denken und Zweifel an der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung sehen die Organisationen unter dem DGB-Dach meist als inopportun an, sie begnügen sich damit, das materiell Beste für die Beschäftigten der Metiers, in denen sie tätig sind, „herauszuholen“, betreiben also im weiteren Sinn kurzfristige Klientelpolitik, nicht perspektivische Vorsorge.

 

Arbeitsplätze retten, Welt versauen

 

Während die IG Metall am liebsten SUVs, deren Verkauf durch Steuergelder lanciert wird, ohne Rücksicht auf die Umwelt in Massen produzieren ließe, kämpft die IG Bergbau, Chemie, Energie um jedes Braun- und Steinkohlebergwerk, ganz so, als solle die Welt an fossilen Brennstoffen und Landschaftsfraß genesen. Ideen, andere Stellen für infrastrukturelle Nachhaltigkeit oder Naturschutz zu schaffen, haben keinen Platz in der gewerkschaftlichen Agenda. Das geht so weit, dass selbst Arbeitsplätze, die für ihre Inhaber und die unmittelbaren Anrainer höchst gesundheitsschädlich sind, erhalten werden sollen. Überspitzt gesagt: Es wird gemeinsam mit den Energieversorgern um jede Kohlenstaubschleuder gerungen, um nicht über neue und dezentrale Energieversorgungsmodelle nachdenken zu müssen. Aus ähnlichen Gründen scheint die IG Metall auch jede kriegsähnliche Auseinandersetzung weitab von Deutschland zu goutieren, weil diese den Waffenexport sichert.

 

Und wenn die eigene Klientel in die Kritik gerät bzw. Nachdenkliches über gewisse Fehlhaltungen geäußert wird, wie unlängst von Walter-Borjans Kollegin Saskia Esken, dann prüft die zuständige Gewerkschaft der Polizei (GdP) nicht weiter, ob der Äußerung ein Fünkchen Wahrheit zugrunde liegt, sondern konstatiert sogleich einen „Schlag ins Gesicht“ der Beamten. Gemeint sind die deutschen Ordnungshüter, unter denen sich laut Esken (wie auch im Rest der Gesellschaft) nicht wenige Rassisten tummeln sollen. Dies wird kategorisch abgestritten, obwohl etliche Demonstranten oder Journalisten schon Augen- und Ohrenzeugen von (vereinzelter?) Gewalttätigkeit, Sympathie mit Rechtsradikalen oder Ausländerfeindlichkeit seitens polizeilicher Einsatzkräfte wurden. Die GdP im DGB leugnet den Wahrheitsgehalt solcher Zeugenaussagen und findet sich dabei unversehens in einer Law-and-Order-Front mit der AfD wieder.

 

Es geht hier nicht um DGB-Bashing, wir benötigen starke Gewerkschaften, wie ich als Mitglied seit mehreren Jahrzehnten wohl weiß. Was wir vor allem bräuchten, wären aber aber innovativ denkende und systemkritische Arbeitnehmerorganisationen für eine substantielle Veränderung nach Corona, nicht Hilfskräfte für die (zu erwartende) Restauration des bedenkenlosen Turbo-Kapitalismus. 

06/2020 

Dazu auch:

DGB am Scheideweg im Archiv dieser Rubrik (2018)

 

 

  



Rettet Panama!

 

Wahrlich, wir leben in der besten aller möglichen Wirtschaftswelten: Angebot und Nachfrage prägen pro forma im sinnfreien Raum den Markt, dessen Wandlungen de facto von Banken und Investoren, die sich in lobenswertem Eigeninteresse über jede Ethik oder Moral hinwegsetzen, bestimmt werden. Sollte dieses elaborierte Hamsterrad (mit dem Gros der Gesellschaft als Besatzung), das sich Wirtschaftskreislauf nennt, stehenbleiben wie jetzt in der Corona-Krise, springt der Staat mit milden Gaben ein, bei deren Verteilung genau darauf geachtet wird, dass Inhabern von Briefkastenfirmen und anderen Steuergeflüchteten kein Schaden entsteht und alles beim Alten bleibt. Letzteren sind auch die Erdkundelehrer dankbar; wie könnten sie sonst das Interesse ihrer Schüler für exotische Regionen wie Mittelamerika oder die Karibik-Inseln wecken.

 

Hauptsache systemrelevant

 

Der emsige Kapitalist strebt bei jeder Unternehmung danach, ohne Rücksicht auf Verluste oder kollaterale Personenschäden höchstmögliche Gewinne zu erzielen und diese anschließend weiter zu vermehren. Wie und womit, will er (bzw. ein Konzern, eine Aktiengesellschaft, eine Bank) tunlichst in Eigenregie entscheiden, wobei ihm der Staat, der bereits die soziale und gesetzliche Infrastruktur für Profitmaximierung zur Verfügung stellt, nicht dreinzureden hat.

 

Allerdings fällt der Staat mit seinen administrativen und kommunalen Untergliederungen auf andere Weise lästig, auch wenn er zumindest hierzulande bemüht ist, sich diskret und kulant zu verhalten: Die Kommunen fordern Gewerbesteuer ein, Zuschüsse zu Versicherungen der beschäftigten Subalternen werden fällig, und dann sollen auch noch die im Schweiße anderer mühsam erzielten Gewinne versteuert werden. Nun fallen die aber gerade weniger üppig aus, weil ein tückisches Virus die Gesundheit der Wirtschaft und nebenbei auch noch die der Bevölkerung bedroht.

 

Unser schlauer Kapitalist denkt sich nun, in einem solchen Falle könnte der Staat ja wirklich mal von Nutzen sein. Er müsste einfach mit Subventionen, Steuersenkungen und Rettungspaketen einspringen, wenn Verluste anfallen, Bedingungen für die Hilfen sollte er indes nicht stellen; und bei künftigen Firmenstrategien mitreden darf er erst recht nicht. Der Staat kann dafür ruhigen Gewissens Schulden aufnehmen, denn er tut es für mich, der ich vielen Menschen Lohn und Brot gebe, der ich für eine positive Handelsbilanz der BRD sorge, indem ich mit meinen Exportwaren die Betriebe anderer Länder ruiniere, der ich den hiesigen Politikern durch zahllose Lobbyisten in meinem Sold den rechten Weg weise, der ich – mit einem Wort – systemrelevant bin.

 

Erst hungern lassen, dann melken

 

Natürlich darf sich die Bundesregierung auch ein wenig ihren Wählern dazu verpflichtet fühlen, die eine oder andere durch die Krise entstandene Härte abmildern, sei es durch Kurzarbeitergeld (das ja auch die Firmen entlastet) oder kurzzeitige Übernahme von Krippenkosten. Auch Hilfsprogramme für Handwerker, Bauern, mittelständische Betriebe und anderes zweitrangige Kroppzeug sind in gewissem Rahmen noch verkraftbar, doch darf dies nach Ansicht der 30 DAX-Konzerne und anderer einheimischer Unternehmen von Relevanz nicht zu weit gehen, es müssen schließlich genügend Mittel für die eigene von Dr. Staat verschriebene Wohlfühl-Therapie übrigbleiben. Schon machen die Star-Ökonomen, die mit den Bedürfnissen der Elite sehr einfühlsam umgehen, gegen Rentenerhöhungen und andere soziale Wohltaten mobil. Die Chefetagen der Spitzenwirtschaft wünschen sich nämlich maßgeschneiderte staatliche Konjunkturprogramme für ihre Unternehmen, und sie wissen genau, dass nicht so arg viel Steueraufkommen dafür da ist – sie haben ja schließlich nicht allzu viel an den Fiskus abgeführt…

 

Die Bundestagsfraktion der Linken hat die Geschäftsberichte von Großbetrieben, die Veröffentlichungen im Bundesanzeiger, die schwarze Liste der EU und die Aufstellung der NGO Tax Justice Network (TJN) hinsichtlich der Machenschaften in Niedrigsteuerländern ausgewertet und kommt zu einem vorhersehbaren, aber dennoch empörenden Ergebnis: „Steuertricks gehören zum Geschäftsmodell aller 30 DAX-Konzerne“ (MdB Fabio de Masi). Auf den Kaiman-Inseln, in Panama oder in Luxemburg hat die Creme der deutschen Wirtschaft mehr als tausend Tochterfirmen, gegründet, deren einzige unternehmerische Aufgabe darin besteht, durch ihre bloße (fiktive) Existenz der jeweiligen deutschen Muttergesellschaft zur Minimierung von Steuern zu dienen.

 

Mit einem Briefkasten auf Samoa lässt sich trefflich Handel treiben, ob man ihm nun die eigenen Markenrechte verscherbelt, nur um sie teuer wieder zurückzukaufen, oder die daheim erwirtschafteten Gewinne konsequent so lange dorthin verschiebt, bis im Mutterland nur noch Verluste anfallen. In der Südsee aber muss man – wenn überhaupt – nur Gewinnsteuern im Promillebereich berappen, während in Deutschland der Fiskus leer ausgeht, weil nichts zu holen ist, wo – Shit happens – leider nichts verdient wurde.

 

Nun bedienen sich nur 18 der 30 DAX-Konzerne dieser Methode in den von der EU gelisteten Schurkenstaaten wie Oman, Guam oder Panama. Uns mögen solche Praktiken kriminell erscheinen, sie sind es aber nach den Buchstaben unserer Gesetze nicht, wie alle von der Süddeutschen Zeitung befragten Konzerne betonen. Darüber hinaus geben sie an, dass ihr exotisches Engagement rein gar nichts mit Steuertricks zu tun hätte. Vermutlich betrachten sie die gebührenpflichtige Anmietung einer Postadresse als selbstlose Entwicklungshilfe für Panama oder andere darbende Drittwelt-Länder.

 

 

In der Tat haben es das Finanzministerium in Berlin und die Steuerbehörden, die jede Ungereimtheit in der Abrechnung eines Kiosk-Besitzers aufspüren, bislang nicht geschafft, die Steuerverkürzung in großem Maßstab durch klare Regelungen zu unterbinden oder gar unter Strafe zu stellen, denn da käme es zu fiskalischen Verwicklungen innerhalb Europas oder in handelspolitisch wichtigen Weltregionen. Denn noch weit mehr Geld als in den illustren Zwergstaaten wird über Adressen in „seriösen“ Ländern vor dem Finanzamt in Sicherheit gebracht. Und hierbei mischen ausnahmslos alle DAX-Konzerne mit.

 

Da sich die EU-Liste nur auf die sattsam bekannten Bermuda-Dreiecke der Steuerpolitik kapriziert und vermeintlich honorige Lokationen außer Acht lässt, hat TJN den Tax Haven Index erstellt, eine Hitliste der Steueroasen, in der gleich nach den Britischen Jungferninseln oder Bermuda die Niederlande, die Schweiz, Luxemburg, die Kanalinsel Jersey, Singapur und Hongkong auftauchen. Dort versickert also ein Großteil jenes Geldes, das Deutschlands Steuersäckel hätte auffüllen sollen, und zwar so prall, dass Wohltaten für notleidende Betriebe die Berliner Regierung in der Krise vor kein größeres Problem stellen würden.

  

Die Vögelein im Felde

 

Denn jetzt stehen sie um Almosen vom Staat an, die Flaggschiffe des Marktes. Und in der Reihe der Bittsteller finden wir etliche Namen, die uns schon seit geraumer Zeit durch ihr Engagement in den tropischen Winkeln der Welt aufgefallen sind, etwa die Lufthansa, die auf Karibik-Inseln, die sie gar nicht anfliegt, oder im US-Bundesstaat Delaware Tochtergesellschaften unterhält, oder Adidas, die Sportschuhmacherei, die ihre Steuern lieber woanders in homöopathischer Dosis zahlt, aber in der Corona-Krise bereits Staatshilfen in Milliardenhilfe abgegriffen hat – und natürlich die Automobilindustrie, die ihren potentiellen Kunden wieder einmal Abwrackprämien aus dem Finanzministerium zuschanzen möchte, und zwar ohne lästige Öko-Auflagen – man will ja auch die hochtourigen Dreckschleudern, Missgeburten einer verkorksten Produktionspalette, noch an den Mann bringen.

 

Man sieht, in unserem von Wirtschaftsweisen feuilletonistisch umrahmten System kassieren Spieler ab, die keinen Einsatz auf den Tisch gelegt haben. Oder um es mit Jesus zu formulieren: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ Tatsächlich verweigern die CEO-Vögel der Gesellschaft, was sie ihr schulden, spekulieren lieber auf Kosten der Beschäftigten (und bisweilen auch der Volksgesundheit) als perspektivisch zu planen und verzichten auf eigene Rücklagen für eine Krise wie die gegenwärtige, denn sie wissen, dass der Staat – in diesem Fall an Gottes Stelle - sie im Notfall doch alimentieren wird.

 

So rotiert der Wirtschaftskreislauf immer weiter. Kommt er ins Stocken, tritt die Regierung als Reparaturbetrieb auf den Plan, flutscht er hingegen, werden über diverse periphere Zahnräder Werte in dunkle Sektoren gepumpt, so dass sie wohl enormen Reichtum für Investoren generieren, aber an der Mehrheit der Bevölkerung vorbeilaufen, nicht ohne auf ihrem Fluchtweg irreparable Schäden an Umwelt und Gesellschaft zu hinterlassen.

 

So ist es kein Witz, sondern tragikomische Realität, dass die Bundesregierung der Lufthansa eine Minderheitsbeteiligung und rund neun Milliarden Euro zur Rettung aufdrängt, dabei auf jeglichen Einfluss, was etwa den Erhalt von Arbeitsplätzen oder eine Einschränkung des ökologisch fatalen innerdeutschen Flugverkehrs, der auch noch das Staatsunternehmen Deutsche Bahn schädigt, verzichtet, und der Konzern sich ziert, dieses money for nothing anzunehmen.

 

Eins aber dürfte unverrückbar feststehen. Nach der Krise wird sich Lufthansa wieder um die Briefkastenkultur in Panama und anderswo verdient machen.  


05/2020 

Dazu auch:

Der Corona-Bär in der Rubrik Medien (2020)

     

  



Spenden? Null Ahnung!

 

Es geht um die Neuinfektionen im Land, um Aufhebung von Notstandsdekreten und um Geisterspiele im Profi-Fußball. Wichtige Themen fallen da hinten runter. So scheint sich kaum jemand dafür zu interessieren, dass Anfang Juni das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig darüber verhandelt, was Bürger über die finanziellen Zuwendungen an die von ihnen gewählten Parteien und Parlamentarier wissen dürfen.

 

Erfahren wollen, wer anschafft

 

Die Internet-Plattform abgeordnetenwatch.de (aw) überprüft gern die die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit sowie die Einhaltung von Recht und Gesetz, kurz: das Geschehen rund um das maßgebliche Personal im Bundestag. Sie beruft sich dabei auf das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) und macht die Ergebnisse der deutschen Öffentlichkeit zugänglich. Bereits 2015 hatte die NGO Einsicht in  "sämtliche Korrespondenzen, Vermerke, Notizen, Dienstanweisungen etc., die im Zusammenhang mit den Rechenschaftsberichten 2013 sowie den Parteispenden 2013 der seinerzeit im Bundestag vertretenen Parteien CDU, CSU, SPD, Grüne, Linke und FDP stehen“ beantragt. Diese Unterlagen waren damals die aktuellsten greifbaren Dokumente, deren Offenlegung hätte Fehltritte der Vergangenheit enthüllt, aber auch künftige Verstöße gegen das Parteiengesetz erschwert.

 

An pekuniäre und buchhalterische Niederungen dachten die Autoren der Verfassung früher nicht.  So heißt es seit 1970 im Artikel 38 des Grundgesetzes über die Abgeordneten des Bundestages: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Andere sahen das anders: Die Parteien, denen die Mandatsträger zu verdanken hatten, dass die überhaupt als Kandidaten zur Wahl aufgestellt wurden, forderten nach deren Einzug ins Parlament eiserne Fraktionsdisziplin ein. Den Chefstrategen von Union oder SPD galt das „Gewissen“ als zu vernachlässigendes Überbleibsel längst obsoleter romantischer Gesetzesprosa.

 

Und dann forderte natürlich die Wirtschaft viel von den Abgeordneten und zeigte sich dafür deren Parteien gegenüber erkenntlich. So flossen üppige Spenden an die CDU/CSU, um sie daran zu erinnern, dass Kapital und Konservativismus schon im selben Sandkasten sozialisiert worden waren. Die Sozialdemokraten hingegen wurden etwas bescheidener dafür bedacht, dass sie die letzten Reste Marx gewissenhaft gegen das Glaubensbekenntnis zum Markt eintauschten.

 

Als die Avancen der Unternehmen zu offensichtlich und damit peinlich wurden und im Volk der Merksatz, dass Geld die Welt regiere, wieder umher geisterte, griff die Regierung Schröder 2002 ein und ließ im Parteiengesetz zwei Änderungen verankern: Großspenden von über 50.000 Euro mussten dem Bundestagspräsidenten angezeigt und auf der Homepage des Parlaments veröffentlicht werden. Mittelprächtige Gaben von mehr als 10.000 Euro sollten nach ca. eineinhalb Jahren in den Rechenschaftsberichten der Parteien erscheinen. Das scheint nicht immer ordentlich geklappt zu haben, auch wurden dadurch geradezu unappetitliche Geldflüsse nicht gestoppt. So wies Bundestagspräsident Lammert (CDU) im Januar 2010 die Bundestagsverwaltung an, Großspenden sofort zu veröffentlichen, nachdem die FDP, ein Fanclub des Neoliberalismus mit Parteistatus, 1,1 Millionen Euro in drei Tranchen von einem Hotelbesitzer erhalten hatte.

 

Da immer noch die Volksweisheit Wer zahlt, schafft an ihre Gültigkeit besitzt, gehört es zu den Aufgaben einer wachsamen NGO zu kontrollieren, von wem die Parteien großzügig alimentiert werden, könnte doch so auch die eine oder andere „Gegenleistung“ ruchbar werden. Bei dem Vorstoß 2015 ging es aw vor allem um folgende Fragen: „Geht die Bundestagsverwaltung Berichten über mögliche Gesetzesverstöße von Parteien nach – und wenn ja wie intensiv? Wie genau prüft sie die Angaben der Parteien zu ihren Finanzen? Wie gelangt sie zu ihrer Entscheidung, in einigen Fällen eine Partei mit einer Strafzahlung zu belegen und in anderen Fällen nicht?“

 

Die Lüge der Verwaltung

 

Die Administratoren des Bundestages aber waren wohl der Meinung, dass das Finanzgebaren von Parteien, die von vertrauensvollen Wählern zu Entscheidern der Legislative gemacht wurden, die Öffentlichkeit gar nichts angeht. Unterlagen zur Parteienfinanzierung müsse sie grundsätzlich nicht herausgeben, da diese nicht unter das IFG fielen, behauptete die Parlamentsverwaltung. Gegen diesen Bescheid klagte aw 2016 – und zwar erfolgreich, sowohl vor dem Verwaltungsgericht Berlin als auch, in höherer Instanz, vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg.

 

Die Bundestagsverwaltung aber hielt die (mutmaßlichen) Dokumente weiterhin unter Verschluss und riskiert nun im Juni die letztinstanzliche Niederlage vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Vier Jahre Abwehrkampf gegen das öffentliche Interesse, die Beauftragung einer der prominentesten Großkanzleien der Bundesrepublik – das würde selbst den Arglosesten auf den Gedanken bringen, dass etwas vertuscht werden soll.

 

Und tatsächlich könnten einige Leichen im Keller der administrativen Kontrollpflicht ihre Wiederauferstehung im Licht der bürgerlichen Aufklärung feiern. Trotz offensichtlicher Verstöße gegen das einschlägige Gesetz sollen Parteien ohne Strafzahlung davongekommen sein, während ein unbequemer (gesetzestreuer?) Beamter der Verwaltung offenbar strafversetzt wurde. Im Kontrastprogramm: Die Partei des Satirikers Sonneborn machte auf ein Schlupfloch im Parteiengesetz aufmerksam, das sogleich geschlossen wurde. Zum Dank für die Aktion muss Die Partei nun vor Gericht gegen eine hohe Strafzahlung kämpfen. Diese Vorgänge (und noch viele mehr) ließen sich durch Einsicht in die Akten auf- bzw. erklären.

 

Mit einem raffinierten Trick versuchte die Bundestagsverwaltung schon 2016 aw von der Aussichtslosigkeit einer Klage zu überzeugen. In einem Bescheid erklärte sie damals: "Unabhängig davon liegen die von Ihnen begehrten Informationen der Verwaltung des Deutschen Bundestages nicht vor." Und in den beiden Berliner Verwaltungsgerichtsurteilen werden die Parlamentsbeamten dahingehend zitiert, dass „weder eine gesonderte Korrespondenz noch Problemvermerke“ angefallen sei. Wo nichts ist, hat der Kläger sein Recht verloren, wollte die Verwaltung suggerieren. Die gähnende Leere zwischen den Aktendeckeln nahmen ihr aber selbst die Richter in Berlin nicht ab.

 

In diesem Jahr nun überführte sich die Bundestagsverwaltung selbst der Unwahrheit. Über die Bonner Kanzlei Redeker Sellner Dahs, die schon illustre Mandanten wie den Kanzler Kohl, die ehemaligen Bundespräsidenten Rau und Wulff oder den FJS-Sohn Max vertreten hatte, ließen die Beamten am 10. März dieses Jahres plötzlich mitteilen, dass in den betreffenden Akten „zahlreiche“ Unterlagen vorhanden seien, beispielsweise „Korrespondenzen mit den politischen Parteien“. Man könnte dementsprechend entweder die Aussagen von 2016 oder die aktuellen Einlassungen „Ungereimtheiten“ nennen, man darf aber auch von Lügen sprechen.

 

Das fragwürdige Engagement der Parlamentsverwaltung, das offenbar Parteien und Mandatsträger vor Unbill schützen soll, hat seinen Preis. Die beauftragte Kanzlei hatte schon in einem der ersten Prozesse Honorare von 20.000 Euro eingestrichen. Auch diesmal fallen vermutlich üppige Kosten an, doch dafür kommen jene Steuerzahler auf, denen die Informationen vorenthalten werden sollen.

 

Die Spitze eines Eisbergs

 

Spätestens seit dem Untergang der Titanic weiß man einiges von Eisbergen, etwa dass die sichtbaren Gipfel nur einen kleinen Teil der überwiegend unter Wasser verborgenen Masse ausmachen. So ist es auch bei der Parteienfinanzierung. Ein paar Zuschüsse für die baden-württembergischen Grünen von der Automobilindustrie oder Pharma-Gelder für die Union machen – nach Gutsherrenart gesprochen - das Kraut nicht fett. Abseits der (offenbar nicht immer) nachverfolgbaren Wohltaten, die willigen Politikern zuteilwerden, gibt es die indirekten, latenten Belohnungen, die noch viel effizienter Einfluss und Dominanz sichern.

 

Bundestagsabgeordnete nehmen in Aufsichtsräten großer Unternehmen Platz, Minister wechseln in Vorstände oder werden – bei geringerer Eignung – Cheflobbyisten. Das Know-how und die Infos aus Parlamentsausschüssen und Regierung wechseln die Seite oder besser: bleiben auf der Seite der Banken und Konzerne, kommen dem MARKT aber nun auf kürzestem Weg zugute. In Think Tanks singen ehemalige Staatsmänner auf internationaler Bühne das Lied der Investoren und Börsenspekulanten, während willfährigen Journalisten die Claqueur-Sitze angewiesen werden: Die Politik wird von der Wirtschaft absorbiert.

 

Dennoch ist die Arbeit von NGOs, die sich wie aw auch mit den Firmenkontakten und Nebentätigkeiten der einzelnen MdBs beschäftigen, äußerst wichtig. Denn es ist, wie wir am vorliegenden Beispiel sehen, aufgrund der offiziösen Vernebelung ohne eine kritische Ortung bereits schwierig, überhaupt die Spitze des Eisbergs ins Visier zu bekommen. Wie aber sollen wir die systemischen Verflechtungen von Kapital und Politik in ihrer Dimension begreifen, wenn uns schon das eigentlich Offensichtliche  entgeht? 

05/2020 

Dazu auch:

Lobbykratie BRD im Archiv dieser Rubrik (2013)

Hire a Staatsdiener im Archiv der Rubrik Medien (2018)

 

Nachbemerkung: Das Bundesverwaltung in Leipzig kassierte die Urteile der Vorinstanzen. Die Bundestagsverwaltung darf also weiter das  Mäntelchen des Schweigens über das Finanzgebaren der Pateien breiten. 

 

 

 

  



Krieg geht immer

 

Viel ist im Augenblick davon die Rede, wie vernünftig sich die Deutschen, ihre Regierung und ihre Wirtschaft in der Corona-Krise verhielten. Vernunft schreiben sich in der Tat die verantwortlichen Politiker für ihr Handeln zu, selbst wenn sie zu spät oder unzureichend reagierten, die Medien übernehmen diese Sichtweise seltsam unkritisch, und die Bevölkerung möchte einfach daran glauben, in starker und kompetenter Obhut zu sein. Doch diese Spielart von Vernunft gleicht einem kurzsichtigen Selbsterhaltungstrieb, die notorische Unvernunft hingegen treibt die ökonomisch maßgeblichen Kreise dazu, während einer kollektiven pandemischen Bedrohung auf künftige Gewinne zu setzen, indem noch tödlichere Krisen geschürt werden: Wer Verluste durch die Seuche befürchtet, setzt vorsichtshalber auf den Krieg.

 

Todesproduktion rettet die Börse

 

Wenn die Nachfrage nach Autos oder Reisen sinkt, die Industrieproduktion leidet, die Aktienkurse in den Keller gehen, weil die Kunden und die Arbeiter wegen Corona zu Hause bleiben müssen und Spekulanten mangels Masse auf ihren Luftnummern sitzen bleiben, gibt es nur eins: Man entkommt der Krise im eigenen Haus, indem man andere Krisen nutzt. Die Börsenanalysten, jene Auguren des neoliberalen Imperiums, raten jedenfalls derzeit dazu, Aktien von Waffenherstellern zu kaufen, denn während die Wirtschaft allerorten der Rezession entgegen taumelt, hat das Geschäft mit der Vorbereitung und Ausstattung von Kriegen Konjunktur. Die Branche sei krisensicher, heißt es in Wirtschaftskreisen, die rechtskonservative Welt prophezeit sogar, die „Rüstungssparte verspricht glänzende Geschäfte“.

 

Dazu passt es, dass die Bundesregierung unlängst wieder einmal den Verkauf von Rüstungsgütern an dubiose Regimes in gefährlichen Regionen genehmigt hat: ThyssenKrupp liefert ein U-Boot an Ägypten, Rheinmetall hingegen Munition und Zünder im Wert von 179 Millionen Euro an Qatar. Ägypten führt Seite an Seite mit Saudi-Arabien, das im letzten Jahr Waffen im Wert von über einer Milliarde Euro aus der BRD erhielt, und anderen sunnitischen Staaten einen grausamen Krieg im Jemen; das Emirat Qatar, mittlerweile mit etlichen Ländern verfeindet, liegt in einem der unsichersten Gebiete der Welt. So verhält es sich auch mit Israel, das wiederum vier Kriegsschiffe von ThyssenKrupp erwerben durfte. Im Who is Who der deutschen Todesindustrie darf natürlich der Name Diehl Defence nicht fehlen. Der fränkische Waffenproduzent verklopft mit gütiger Erlaubnis des Bundessicherheitsrates 72 Raketen an die Philippinen, wo derzeit der Schlächter Duterte in seinem „Krieg gegen die Drogen“ Tausende massakrieren lässt.

 

Immer wieder hatte die Bundesregierung verkündet, sie wolle die Ausfuhren von Kriegswaffen in Länder außerhalb der NATO signifikant herunterfahren. Ex-Wirtschaftsminister Gabriel brüstete sich bei seinem Amtsantritt sogar damit, er werde die Lieferungen nach Saudi-Arabien stoppen, nur um wenig später seine Unterschrift unter eine weitere diesbezügliche Genehmigung zu setzen. Wie das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI kürzlich feststellte, ist Deutschland der viertgrößte Waffen-Exporteur der Welt, und seine Rüstungskonzerne verdienen im Augenblick mehr als jemals zuvor – an Verkäufen in Krisengebiete und an Kriegsparteien.

 

Laut Paragraph 6 des Kriegswaffenkontrollgesetzes ist aber die Ausfuhrgenehmigung zu versagen, wenn „die Gefahr besteht, daß die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden … und wenn Grund zu der Annahme besteht, daß die Erteilung der Genehmigung völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder deren Erfüllung gefährden würde…“.

 

Die kulante Bundesregierung 

 

Aus der „Gefahr“ ist zumindest im Jemen längst traurige Realität geworden: Ägypten und Saudi-Arabien führen mit ihrer Staatenallianz einen völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg gegen die dortige Bevölkerung. Die Bundesregierung bricht also fortlaufend Recht, genehmigt äußerst kulant den Händlern des Todes, was sie nie genehmigen dürfte. Aber kaum jemanden stört das im Augenblick, in Corona-Zeiten sind die Bürger um die eigene Gesundheit besorgt und drängen sich wie Schäflein an ihre Hirten um die Macher – also um staatstragende Politiker, die sich als kompetent und verantwortungsbewusst geben.

 

In der allgemeinen Aufregung geht unter, dass all die neuen Sympathieträger, Kurz in Austria, Söder in Bayern oder Spahn in Berlin, bei ihren Prognosen zu Auswirkung und Bekämpfung des Corona-Virus falsch gelegen haben: Die Krankheit sei harmloser als Grippe, man sei bestens gerüstet für die Pandemie, eine Maskenpflicht brauche man nicht etc. Das Kurzzeitgedächtnis der Bevölkerung und der Medien scheint von infektiöser Demenz befallen. 

 

Und so freut sich das gutgläubige neue Deutschland, dass miserabel bezahlte Krankenpfleger ein wenig Gefahrenzulage erhalten, und bemerkt u.a. nicht, dass sich bei Rheinmetall, Autozulieferer und größter Militärausrüster des Landes, klammheimlich die Gewichte verschieben. Die Verluste, die dadurch entstehen, dass sich zurzeit nur wenige Bürger einen SUV zulegen wollen, werden wettgemacht, indem der Konzern mehr Waffen veräußert – an die NATO, die eine Drohkulisse im neuen Kalten Krieg aufbauen will, und an nahöstliche Armeen, die schon mitten drin im Heißen Kampf sind. Daher wird den Anlegern dringendst zum Kauf von Rheinmetall-Aktien geraten, Tod geht immer.      

 

Welche Produktion brauchen wir?

 

Nie zuvor hatte Rheinmetall mehr Militär-Aufträge, so dass der Konzernchef Armin Papperger laut Welt frohlockt, das Unternehmen profitiere als international tätiger Systemanbieter „vom ‚Super-Zyklus‘ im wehrtechnischen Geschäft“. Während also große Teile der Wirtschaft jetzt an den Tropf der öffentlichen Finanzen drängen, gestaltet Rheinmetall einfach Produktionspalette und Geschäftsmodell anders. Dass Autokäufer launisch, Kriegsherren aber wenigstens in ihrer Materialgier verlässlich sind, kann man aus einer Welt-Anmerkung herauslesen: „Während das Automotive-Geschäft auch von der Lust der Kunden auf neue Autos abhängt, sitzen die Waffenkäufer in den Regierungen und bestellen nach Kriegs- und Konfliktlage.“

 

Vorbei die Phase, da heftig, wenn auch etwas oberflächlich über Sinn und Nachhaltigkeit von Produktion diskutiert wurde, verschoben die Themen Umwelt und Klimawandel – jetzt geht es um das physische und materielle Überleben für die Unterschicht sowie um frische Erfolgsgeschichten von Cleverness und Geldscheffeln im Rezessionssumpf für die Oberen, und nur noch die Spahns, Söders und Merkels führen das Wort Verantwortung im Mund, besetzen damit aber lediglich den angstgetriebenen Gehorsam des braven Normalbürgers.

 

Was ist von einer Gesellschaft zu halten, die nicht in der Lage ist, die Produktion von Gütern zum Schutz von Gesundheit und Leben vor und während einer Pandemie ausreichend zu organisieren, es gleichzeitig aber zulässt, dass industrielle Kapazitäten (zum Vorteil skrupelloser Profiteure und Spekulanten) für todbringende Ausrüstung von Kriegsparteien in fremden Ländern mobilisiert werden? 

04/2020 

Dazu auch:

Mörder und ihre Helfer im Archiv dieser Rubrik (2017)

Üble Deals mit Kalkül im Archiv der Rubrik Medien (2018) 

 

 

 

   

  



Wirres im Virenland


Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, Schul-, Geschäfts- und Lokalschließungen wurden von staatlichen Stellen verfügt, und nirgendwo brach ein Proteststurm los. Nun kennt man den Deutschen gemeinhin als sehr gehorsam, erstaunlich aber ist doch, dass sich die allgemeine Panik in Grenzen hielt. Tatsächlich waren hierzulande kaum Symptome von Massenhysterie zu registrieren, dafür aber deutliche Anzeichen für kollektive Wahrnehmungsstörungen, und zwar sowohl an der politischen Entscheiderfront als auch im sozialen Souterrain.


Unten: Rollen der Zivilisation


Als die angeordnete Vereinzelung begann, offenbarte das Fußvolk der Republik, der Normalbürger also, zwei Gesichter, die sich so fundamental unterschieden, wie man dies eigentlich nur von krankhafter Persönlichkeitsspaltung kennt. Da gab es einerseits Positives zu vermelden: Kaum einer drehte in der Öffentlichkeit durch, Verschwörungstheorien und Untergangsprophetien hielten sich in engen Grenzen, auf der Straße benahmen sich die „Freigänger“ meist verantwortungsbewusst, viele Menschen halfen älteren Nachbarn, selbst die als Rabauken verschrienen Fußball-Ultras versorgten Kranke und Schwache. Auf der anderen Seite waren da Anzeichen für Ignoranz, vor allem bei omnipotenten Besserwissern jüngeren Alters (die glauben, selbst von keinem schweren Krankheitsverlauf bedroht zu sein, aber blendende Überträger des Virus für Ältere und chronisch Kranke abgeben) und ein irrationales Hamsterverhalten, vom neuen Reizwort Toilettenpapier gekennzeichnet, zu beobachten.


Als stünde das Ende der abendländischen Hygiene bevor, wurden die betreffenden Regale in Supermärkten und Discountern leergefegt – und das, obwohl bereits unzählige Witze über dieses absurde Verhalten durch Net und Medien geisterten. Die Schicksalsfrage aber blieb unbeantwortet: Warum nur? Es ist schwer zu glauben, dass nach der moralischen Abwertung früherer Statussymbole, etwa des Nerzes für die Dame (aus Tierschutzgründen), der Rolex für den gehobenen Zuhälter (aus Dezenz) oder des SUV (wegen asozialer Verkehrs- und Klimabehinderung), ausgerechnet ein Keller voller Klopapierrollen das neue Vorzeigeobjekt sozialer Überlegenheit (aufgrund von Nachhaltigkeit?) sein soll.


Man möchte dieser neuen Spezies von Sammlern und Jägern die angebliche Prophezeiung der Cree-Indianer leicht modifiziert zurufen: Erst wenn der letzte Schoko-Riegel, die letzte Suppendose und die letzte Fischkonserve aus den Regalen verschwunden ist, werdet ihr merken, dass man Klopapier nicht essen kann.“


Vielleicht aber trauen die Menschen ganz einfach den Versicherungen der Bundesregierung nicht, dass die Versorgungslage und der Nachschub optimal gesichert seien. Schließlich hatten dieselben Politiker noch vor kurzem verkündet, hinsichtlich Covid-19 alles unter Kontrolle zu haben.

   

Oben: Das Chaos voll im Griff


Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn nicht staatlicherseits suggeriert würde, man sei auch in der Bewältigung dieser Krise Spitze. Mag ein Trump per Ellbogeneinsatz die Vereinigten Staaten über alles in der Welt stellen, unsere Politiker brillieren (nach eigener Einschätzung) mit Expertise, Voraussicht und akribischer Planung, kurz gesagt: durch geistige Überlegenheit. Wäre da nur nicht die schnöde Realität…


Bereits im Januar verzeichnete Bayern die ersten Corona-Fälle bundesweit. Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto hatten sich in China infiziert, konnten aber als überschaubare Gruppe noch schnell isoliert werden, auch ließen sich ihre Kontaktpersonen hierzulande rasch ermitteln und in Quarantäne stecken. Schon damals prahlten die Behörden mit ihrer Effizienz und gaben vorerst Entwarnung. Mittlerweile profiliert sich Markus Söder als der starke Mann der Bundesrepublik, wobei in Vergessenheit gerät, dass er am Anfang den Outbreak bagatellisierte, dass seine Regierung die Kinder nach den bayerischen Faschingsferien zurück in die Schule gehen ließ, nur um sie wenige Tage danach wieder nach Hause zu schicken, und dass im Freistaat viel zu schleppend getestet wird.


Es ging richtig los, als deutsche Italien-Urlauber und Skifahrer aus Österreich infiziert zurückkamen, ausländische Touristen und Messebesucher ihr Teil zur Ausbreitung der Seuche beitrugen. Doch Ende Januar und auch später noch tönte Gesundheitsminister Jens Spahn immer wieder, die Bundesregierung sei auf alle denkbaren Fälle „gut vorbereitet“. Und das sah dann so aus: Bald fehlten Atemschutzmasken und Schutzkittel, obwohl die WHO bereits am 7. Februar alle Staaten auf den dringenden Bedarf hingewiesen hatte. Vier Fünftel der in Deutschland niedergelassenen Ärzte und die meisten Krankenhäuser beklagten die mangelnde Ausrüstung, zumal auch noch die Desinfektionsmittel ausgingen. Besonders verhängnisvoll dürfte sich der viel zu niedrige Bestand an Beatmungsgeräten, überlebenswichtig für viele alte Erkrankte, auswirken.


Nebenbei war die Personalsituation in Kliniken und Altenheimen schon vor Corona unhaltbar. Jens Spahn tourte durch die Welt, vom Kosovo bis Mexiko, um Pflegekräfte anzuwerben, da den Deutschen die Jobs als zu stressig, physisch und psychisch als zu belastend und dazu noch als zu schlecht bezahlt erscheinen. Die brutale Umgestaltung des Gesundheitswesens von der Säule des Allgemeinwohls zum Profit generierenden Dienstleistungssektor führte zur Überlastung der Mitarbeiter durch Millionen von Überstunden, zur Schließung von Kliniken und Reduzierung des Personals sowie zur Degradierung des Patienten zum Kosten/Nutzen-Faktor. Es fehlt also an Betten, an Intensivstationen, an Fachkräften – und nun ist Covid-19 in Deutschland angekommen.


Bereits 2005 hatte die WHO gefordert, dass die Staaten sich gegen eine jederzeit mögliche Pandemie wappnen sollten. Selbst die Weltbank hatte 2018 Investitionen zur Seuchenabwehr angemahnt, stieß in Berlin aber offensichtlich auf taube Ohren. In einem Interview mit t-online wies nun Gregor Gysi von den Linken darauf hin, dass schon 2012 Experten die Bundesregierung davor gewarnt hatten, das deutsche Gesundheitssystem sei „für eine derartige Bedrohung nicht gut aufgestellt“. Den Grund hierfür sahen sie u.a. in den Privatisierungen, die Union und SPD gemeinsam zu verantworten hätten.


Die Deutsche Welle zitiert derweil den ehemaligen Chef von Goldman-Sachs in Deutschland, Alexander Dibelius, gelernter Arzt (!) und auch eine Zeit lang Merkel-Berater, der fragt: Ist es richtig, dass zehn Prozent der von Corona besonders bedrohten Bevölkerung geschont werden, aber der Rest samt kompletter Volkswirtschaft extrem behindert werden mit der möglichen Konsequenz, dass die Basis unseres Wohlstands nachhaltig erodiert? Auch eine Sichtweise: Überlasst notfalls doch bitteschön die Rentner dem Siechtum und dem sozialverträglichen Ableben, damit die Wirtschaft ohne weitere Hindernisse wieder Fahrt aufnehmen kann.

 

„Gut vorbereitet“ nennt Jens Spahn in unverständlicher Hybris die marode Infrastruktur und betet zu seinem Gott, dass die Zahl der Erkrankten nicht noch rasanter steigt. Bleibt die Frage, wie für ihn wohl eine „schlechte Vorbereitung“ aussähe. Selbst bei der simplen Materialbeschaffung versagt das von seinen Pfuscher-Kollegen hochgelobte Krisenmanagement. Ein Unternehmer, der dem Gesundheitsministerium die Reservierung von 1,5 Millionen Atemschutzmasken anbot, erhielt laut SPIEGEL nicht einmal eine Antwort. Später wies Spahns Ressort jede Verantwortung zurück, denn die „Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung“ werde über das Beschaffungsamt der Bundeswehr koordiniert.


Ausgerechnet die Einkäufer jener von der adligen Ursula zum Beratermündel heruntergewirtschafteten Streitmacht sind für die bundesweite Ausstattung im medizinischen Katastrophenfall zuständig - jene Multimillionenjongleure, die Hubschrauber beschafften, die nicht fliegen, Marineboote, die nicht schwimmen, und Sturmgewehre, die um die Ecke schießen! Wie das im Seuchenfall aussieht, erfuhr man am letzten Dienstag. Auf einem Flughafen in Kenia verschwanden sechs Millionen Atemschutzmasken für die Bundesrepublik. Das Beschaffungsamt hatte sie bestellt, wohl aber nicht bewachen lassen.


Der Chinese war es!


Da unsere Krisenmanager nach eigener Meinung die besten und weisesten der Welt sind, können sie es sich auch leisten, fremde Hilfe auszuschlagen. Chinas Präsident Xi Jinping hatte der Bundeskanzlerin Unterstützung im Kampf gegen das Coronavirus angeboten. Diese hätte die Lieferung von Schutzausrüstung, die Entsendung von erfahrenen Ärzten bis hin zur Kooperation bei der Entwicklung eines Impfstoffs umfassen können.


Die meisten Staaten Europas, von Frankreich, Spanien, Italien über Litauen bis zu Serbien nahmen Chinas Hilfsangebot dankbar an, kam es doch von dem Land, das zunächst am schwersten unter Covid 19 litt, die Ausbreitung des Virus offenbar aber inzwischen einigermaßen eindämmen konnte.


Angela Merkel und ihre Minister jedoch ignorierten die Offerte und bekamen von Teilen der Presse Rückendeckung. „China wirft die Propaganda-Maschine an“, geiferte Silke Wettach in der Wirtschaftswoche. In der FAZ wird gemutmaßt, die Volksrepublik wolle nur davon ablenken, dass es eigentlich „Verursacher der Krise“ sei. Das erinnert stark an Trumps herabwürdigend gemeinte Bezeichnung China-Virus.


Wahrscheinlich ist der Corona-Brutherd tatsächlich in der chinesischen Provinz Hubei zu orten, doch ist für die Ausbreitung einer Epidemie nicht der erste Ort ihres Auftretens verantwortlich. Niemand lastet heute Europa an, dass Grippe und Pocken, beinahe alle indigenen Völker Amerikas ausgerottet hätten, von dort stammten. Gewiss, früher sprach man auch schon von Spanischer Grippe oder Englischer Krankheit (Rachitis), doch waren das Behelfsnamen zur Klassifizierung, relativ frei von rassistischen Untertönen. Wenn Trump aber von China-Virus spricht, klingt dies eher wie Döner-Morde.


Deutsche Zeitungen dürfen und sollten den chinesischen Staatskapitalismus nach Herzenslust kritisieren. Aber ein Material- und Knowhow-Angebot, das Deutschland nur nutzen kann, von vornherein als propagandistisch zu diffamieren und den substanziellen Wert zu ignorieren, stärkt nur die  Haltung der Bundesregierung, die man mit gutem Willen als zögerlich, realistischer als fahrlässig und möglicherweise sogar als unterlassene Hilfeleistung für die eigene Bevölkerung bezeichnen kann.

03/2020

Dazu auch:

Der Corona-Bär im Archiv der Rubrik Medien

 

 





System-Spürhunde 

 

Es gab Zeiten, da waren die deutschen Finanzbehörden und ihre Fahnder richtig unbeliebt bei Begüterten und Unternehmern. Inzwischen aber scheinen die Beamten begriffen zu haben, dass sie Diener des Systems sind, und belästigen nicht mehr die Reichen und Mächtigen, sondern nehmen soziale Vermieter, günstig Wohnende sowie organisierte Gutmenschen aufs Korn. Das kann für diese teuer werden, uns aber hilft es, die Methoden einer Gesellschaft besser zu verstehen, in der Hierarchien gehätschelt werden und das Fußvolk dafür zahlen darf.

 

Eifer schadet der Karriere

 

Früher, als das Kuschen noch nicht zum obligatorischen Handwerkszeug von Fiskus-Mitarbeitern zählte, musste ab und zu die Politik einschreiten, um fanatische Spürhunde zur wirtschaftsverträglichen Räson zu bringen. So geschehen zu Beginn des Jahrhunderts in Hessen, wo vier Frankfurter Steuerfahnder den Banken und Finanzjongleuren derart penetrant auf den Pelz rückten, dass der Staatskasse Nachzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe zukamen. Klingt zunächst gut, kann aber das gedeihliche Intimverhältnis von Geld und Legislative empfindlich stören. Die Beamten wurden von den meisten Fällen, mit denen sie befasst waren, auf höheren Wink hin abgezogen. Als sie monierten, die hessische Landesregierung verfahre wohl etwas milde mit Steuersündern, mussten sie sich ärztlich begutachten lassen. Der Psychiater bescheinigte den vier Widerborstigen eine „paranoid querulatorische Entwicklung“ und sie wurden in den Ruhrstand versetzt.

 

Die gründlichen Fahnder wurden später rehabilitiert und auf Kosten der (einfachen) Steuerzahler finanziell abgefunden, doch die Kungelei von Wirtschaft und Hochfinanz mit ausgewählten Volksvertretern konnte ohne enervierende Zwischengeräusche weitergehen, wobei Bayern wieder einmal als Trendsetter fungierte. Dort verfuhr man schon immer sehr diskret und effizient mit renitenten Beamten, die die im Freistaat besonders stark ausgeprägte Symbiose von Konzernen und Regierenden zu gefährden drohten. 

 

Als etwa eine Betriebsprüferin des Finanzamts 1995 herausfand, dass der Nürnberger Rüstungsgigant Diehl Veräußerungsgewinne nicht korrekt versteuert und dadurch dem Fiskus 60 Millionen Mark vorenthalten hatte, wies die Oberfinanzdirektion die Schnüfflerin an, die Betriebsprüfung abzuschließen, die fraglichen Firmenbeteiligungen als „Privatvermögen“ und die Gewinne als „nicht steuerpflichtig“ einzustufen. Nachdem sie sich beschwert hatte, wurde die vorlaute Dame vom Fall abgezogen und – Strafe muss sein! – von ihren Vorgesetzten, die sie zuvor als exzellente Fachfrau eingeschätzt hatten, schlecht bewertet.

 

Man muss in Bayern schon so plump wie Uli Hoeneß vorgehen, um für kriminelle Finanztransaktionen sanft (und schnell, damit nicht Unnötiges ans Licht kommt) bestraft zu werden. Während in NRW der damalige Finanzminister Norbert Walter-Borjans Steuer-CDs kaufte, um den Sündern bei ihren grenzüberschreitenden Machinationen auf die Schliche zu kommen und sie zur Kasse zu bitten, bemühte sich sein damaliger Ressortkollege Markus Söder vergeblich darum, zusammen mit der Bundesregierung ein Abkommen mit der Schweiz unter Dach und Fach zu bringen, das sogar einen Hoeneß hätte straffrei davonkommen lassen.

 

Steuer eintreiben, aber von Wehrlosen

 

Der bayerische SPD-Chef Florian Pronold warf damals Söder vor, dass im Freistaat Unternehmen kaum kontrolliert würden. „Heute sind in Bayern 40 Prozent der Stellen für Betriebsprüfung und Steuerfahndung nicht besetzt.“ Nun, den einen oder anderen Prüfer hat die Staatsregierung dann eingestellt; um aber die in Rottach-Egern und am Starnberger See residierende Klientel nicht zu verschrecken, setzte man die Prüfermeute auf andere Fährten.

 

Dass Attac und der VVN die Gemeinnützigkeit abgesprochen wurde, ist einer seltsamen Faktenauslegung der Finanzbehörden in Hessen und Berlin und des bayerischen Verfassungsschutzes, der bekanntlich das Herz auf dem rechten Fleck hat, zu verdanken. Abgesegnet wurde die steuerliche Abwertung vom in München sitzenden Bundesfinanzhof.

 

Systemkritische NGOs sind aber nur ein Ziel der dubiosen Offensive. Wer sich als Privatperson nicht nach den Maximen des neoliberalen (also enthemmten) Marktes richtet oder vom sozialen Handeln Dritter profitiert, gerät ins Visier des Finanzamtes, vor allem wenn er in der bayerischen Landeshauptstadt wohnt.

 

Der Bayerische Rundfunk (BR) berichtete, dass die Eigentümerin einer 38 qm großen Wohnung an einer vielbefahrenen Straße im nicht gerade gediegenen Münchner Stadtteil Moosach vom Finanzamt gemaßregelt wurde, weil sie ihr Objekt für 475 Euro kalt vermietet hatte. Nach Meinung der Beamten hätte sie 900 Euro verlangen müssen. Ein Wohnungsbesitzer kann Reparatur- oder Instandhaltungskosten, die anfallen, steuerlich geltend machen, in vollem Umfang allerdings nur, wenn er seine Mieter mindestens 66 Prozent der ortsüblichen Miete bezahlen lässt. Im Moosacher Fall wähnte sich die Eigentümerin auf der sicheren Seite, denn der offizielle Mietspiegel sah für diese Gegend nur 13 Euro vor. Zu wenig, befand das Finanzamt aus eigener Machtvollkommenheit, setzte aus kryptischen Gründen 22,85 Euro pro Quadratmeter (also fast 900 Euro) als Vergleichsmiete an und kürzte so die in der Steuererklärung anzurechnenden Werbungskosten.

 

Wahrscheinlich sollten philanthropische Vermieter von den staatlichen Hütern der herrschenden Marktordnung auf den rechten Weg der maximalen Ausbeutung zurückgeführt werden. Zur Freude des wertvollsten Teils unserer urbanen Gesellschaft, der sich aus Baulöwen, Immobilienspekulanten und obskuren Investoren rekrutiert, werden so die Mieten in München, die ohnehin ein absurdes Level erklommen haben, noch weiter in die Höhe getrieben, wie auch der BR mutmaßte. Natürlich argumentieren die Finanzbehörden, dass hohe Mieten Mehreinnahmen für den Staat garantierten, doch wird diese Praxis ganze Familien in die Bedürftigkeit oder gar Obdachlosigkeit treiben – während viele Hausbesitzer sehr wohl über Instrumente der Steuerminderung oder gar -umgehung verfügen. Hierzulande werden die Paläste subventioniert, während der Krieg gegen die Hüttenbewohner  beginnt.

 

Die Mieter kann es allerdings auch direkt treffen: Die Süddeutsche Zeitung griff den Fall der Barmherzigen Schwestern auf. Diese katholische Kongregation betreibt in München mehrere Pflege- und Altenheime. Damit sie überhaupt noch Fachkräfte findet, vermietet sie günstige Wohnungen an ihre Mitarbeiter, die sich sonst wohl keine Bleibe in der Luxus-Metropole leisten könnten. Zu billig, befindet das Finanzamt, das Quadratmeterpreise von neun bis zehn Euro (anderswo die Norm) wohl als Affront wider die geheiligten Prinzipien des Kapitalismus ansieht. Es wittert einen „geldwerten Vorteil“ und droht, die wahrlich nicht üppig bezahlten Pfleger und Krankenschwestern um 150 bis 350 Euro im Monat zu erleichtern – falls der Orden nicht doch künftig „vernünftige“ Mieten verlangt.

 

Die Finanzbehörden haben also die Wehrlosen als Quelle der Steuermehrung entdeckt. Diese schalten in der Regel keine Anwälte ein, und es ist auch nicht anzunehmen, dass sich Lobbyisten der Sozialmieter und Bedürftigen im Bundestag und in den Länderparlamenten die Klinken in die Hand geben.    

 

Die bayerische Wellness-Oase

 

Bayern ist überall, der ungezügelte Markt ist keine Erfindung des bajuwarischen Volksstammes. Umgekehrt ist aber auch richtig, dass die Exzesse der schamlosen Vorteilsannahme mit Billigung der Politik nirgendwo in Deutschland eine solche Dimension erreichten wie in Bayern.

 

Mit erstaunlicher Beharrlichkeit wurde hier von der Staatspartei CSU das Konzept eines Eldorado für unternehmerische Schlitzohren, sozusagen das System Strauß-Stoiber-Söder (von minderen Epigonen wie Streibl oder Tandler gar nicht zu reden), durchgesetzt und verewigt. Begüterte und Steuerverkürzer können sich im Freistaat ohne Furcht vor häufigen Prüfungen niederlassen, Unternehmen siedeln sich an, weil Kontrollen ihrer Bücher  Seltenheitswert haben. Bayerns Steuerbeamte haben Wichtigeres zu tun, etwa die Mieten in München nach oben zu regulieren, ganz im Sinne wohlhabender CSU-Mäzene.

 

Wer seinen Reichtum ohne große Mühe vermehren möchte, seine Villa in einem Naturschutzgebiet oder ein Gewerbegebiet in die grüne Landschaft setzen will, wer ständigen Kontakt zu den Spezerln in der Kommunal- und Landespolitik sucht, der wird sich im Freistaat zwischen Alpen und Rhön wie in einer Wohlfühloase vorkommen. Wie sich internationale Oligarchen als zumindest virtuelle Gäste in Panama oder auf den Cayman Islands sicher dünken, so genießen deutsche Magnaten die bevorzugte Behandlung in Bayern. Dass so auf unlautere Art und Weise ein Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Bundesländern entsteht – ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt! Leben und leben lassen, lautet hier die Devise. Gilt allerdings nicht für Migranten, kritische Geister, Antifaschisten und arme Mieter.

03/2020

Dazu auch:

Gemeiner Nutzen im Archiv dieser Rubrik (2014)

Professor Persil im Dossier Coburger Schande unter Medien

 

 

 

 

  


Erstligatauglich?


Meinungsäußerungen von Fußballfans und rassistische Beleidigungen scheinen ziemlich kompatibel zu sein – zu diesem Schluss könnte man jedenfalls gelangen, wenn man in den letzten Wochen Medienberichte aus den Stadien verfolgt hat. In England und Portugal wurden schwarze Spieler auf übelste Weise verhöhnt, und zuletzt hetzten Rechte in Münster und Gelsenkirchen gegen Spieler afrikanischer Abstammung. Doch während Anhängerschaft und Vereinsspitze des Bundesligisten Schalke 04 weiter unter Chauvinismus-Verdacht stehen, bewiesen die Fans des Drittligisten Preußen Münster, dass sie keine Rassisten in ihren Reihen dulden wollen.


Keine Nazis im Stadion


Die Bischofsstadt Münster ist außerhalb von NRW allenfalls wegen des Tatort-Kommissars Thiel und des snobistischen Gerichtsmediziners Börne ein Begriff. Nur die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch daran, dass Preußen Münster 1963 Gründungsmitglied der Bundesliga war. Doch der Verein stieg bereits im ersten Jahr ab, krebste in den unteren Spielklassen herum und kam der Edel-Division nie mehr nahe. Auch in dieser Drittliga-Saison sind die westfälischen Preußen stark vom Abstieg bedroht, was das Match gegen die nur wenig besser dastehenden Würzburger Kickers zu einer Art Schicksalspartie machte. 

 

In der Elf der Unterfranken lief der 23-jährige Leroy Kwadwo auf, dessen Vater einst aus Ghana nach Deutschland gekommen war. Immer wenn Kwadwo am Ball war, versuchte ein Zuschauer mit Gesten und Geräuschen, die er wohl für affenartig hielt, den Spieler lächerlich zu machen. Das Kalkül des Provokateurs war offenbar, andere Preußen-Fans zum Mitmachen zu animieren. Stattdessen skandierten diese lautstark „Nazis raus!“, worauf der Rassist versuchte unterzutauchen. Doch die empörten Ohren- und Augenzeugen machten die Polizei auf den Vorfall aufmerksam und halfen bei der Identifizierung. Nun erwartet den geschnappten Übeltäter ein Prozess wegen Volksverhetzung, ein dreijähriges bundesweit geltendes Stadionverbot hat der Verein schon gegen ihn ausgesprochen. Um die Integrität von Preußen Münster und den meisten seiner Fans scheint man sich keine Sorgen machen zu müssen, schon eher um die des Traditionsvereins Schalke 04.   

 

Schalke stinkt vom Kopf her


Bundesweit dürfte Schalke 04 bekannter sein als sein Standort Gelsenkirchen im Ruhrgebiet. Anfang Februar waren auch dort beim DFB-Pokalspiel gegen Hertha BSC rassistische Beleidigungen von Fans gegen einen schwarzen Gästespieler zu hören. Für den Berliner Profi Jordan Torunarigha müssen die widerlichen Primatenvergleiche besonders deprimierend gewesen sein, wurde doch schon sein Vater Ojokojo, einst ebenfalls Berufskicker, vor etlichen Jahren während eines Stadtfestes von Neonazis durch die Straßen von Chemnitz gehetzt. (Der dort beheimatete Drittligist leidet auch aktuell unter von rechtsextremen Mitgliedern ausgelösten Turbulenzen.) Auf Schalke indes ist der Vorfall keine Premiere, hatte sich doch Vereinschef Tönnies höchstpersönlich bereits einen chauvinistischen Scherz erlaubt.


Clemens Tönnies gehört nicht zu den Personen, denen man von vornherein erhöhte Sensibilität attestieren würde. Wer mit dem Schlachten von Schweinen und Rindern einen Umsatz von fast sieben Milliarden Euro erzielt, sollte nicht allzu zartbesaitet sein, was natürlich nicht heißt, dass man als Aufsichtsratsvorsitzender von Schalke 04 diskriminierende Plattitüden zum Besten geben darf. Doch offenbar wurde Tönnies von der renommierten Sozialexpertin Gloria von Thurn und Taxis, die einst erklärte, dass der Neger zu gern schnackselt, im Sommer 2019 zu dem Statement angeregt, man solle auf dem schwarzen Kontinent mehr Kraftwerke bauen, denn: „Dann würden die Afrikaner aufhören, Kinder zu produzieren.“ 


Zwar entschuldigte sich der Schweinebaron und ließ nach einer Anhörung durch den Schalker Ehrenrat sein Vereinsamt drei Monate ruhen, doch bleibt die Frage, ob ein Club, der wohl auch finanziell von einem solchen Herrenmenschen abhängt, nicht wie ein angegammelter Fisch vom Kopf her stinkt und sich über die menschenfeindlichen Ausraster seines Fußvolks nicht wundern darf. 


Stadionverbot für Höcke?


Das in Münster ausgesprochene dreijährige Stadionverbot ist sicherlich der richtige Weg, um rechtsradikale Eskapaden künftig zu erschweren, doch bleibt die Frage, ob diese Sanktion konsequent genug angewandt wird. Vor dreieinhalb Jahren erklärte der AfD-Vordenker Björn Höcke auf einer Tagung der Neuen Rechten, in Afrika dominiere der „Ausbreitungstyp“ der r-Strategie, der eine möglichst hohe Wachstumsrate anstrebe (und – so die Schlussfolgerung – dadurch die „Asylantenflut“ verursacht), während in Europa die K-Strategie vorherrsche, „die die Kapazität des Lebensraums optimal ausnutzen möchte.“


Biologen verwenden die Klassifizierung r-Strategie bei inferioren Lebewesen, etwa bei Bakterien, Läusen und Ameisen, während die K-Strategie von höher entwickelten Spezies wie Säugetieren und damit auch Menschen befolgt wird. Angesichts dieser Vergleiche müsste man – zynisch gesprochen – den Rassisten von Münster und Gelsenkirchen fast eine nuancierte Diskriminierung zubilligen: Für sie stehen schwarze Menschen wenigstens noch auf der Stufe von Affen, nicht auf der von Bazillen, Flöhen und anderen Blutsaugern. 

    

Wir erinnern uns auch an den honorigen Herrn Gauland, einst in der hessischen Staatskanzlei für die CDU tätig, dann für die AfD als Bundesvorsitzender unflätig. Er erklärte vor fast vier Jahren im Brustton der Überzeugung, dass den deutschafrikanischen Nationalspieler Jerome Boateng kein (weißer) Mensch als Nachbar haben wolle.


Wie wäre es denn mit einem unbefristeten Stadionverbot für die gesamte AfD-Führungsriege. Gründe dafür liefert sie ohne Unterlass. Wäre das nicht ein Zeichen für Erstligatauglichkeit - ein Prädikat, dass man den Fans der unterklassigen Münsteraner Preußen, nicht aber dem Kohlenpott-Darling Schalke 04 zugestehen könnte?

 

02/2020

Dazu auch:

Spitzen-Nachbar! Im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2016)

 

 





Ein Herz für Nieten


Was geschieht mit all den Bundesministern, die ein übellauniges Geschick aus ihrem Ressort gespült hat? Ertränken sie ihren Kummer über des Volkes Undank in der Eckkneipe, verfallen sie ob des Gnadenentzugs durch die Kanzlerin in Depressionen oder verelenden sie mittellos auf der Straße? Keine Angst, die Wirtschaft, der sie im Amt so manchen Dienst erwiesen haben, lässt sie nicht verkommen. Sie hat auch tatsächlich Verwendungszweck für die Geschassten, kann sie diese doch als fünfte Kolonne der diskreten Vorteilserschleichung in den ihnen vertrauten Mief ihrer alten Ressorts zurücksenden. Diese Praxis lässt uns für den Noch-Verkehrsminister Andreas Scheuer hoffen, dem derzeit viele Kleinmütige vorschnell eine düstere Zukunft im kärglichen Abseits prophezeien.


Versager als Türöffner


Dieser Tage erst machte sich ein Trio von Koryphäen des Scheiterns im Dienst auf den Weg, ihren früheren Amtsstuben Besuche abzustatten. Alle drei sind wieder in Brot und Lohn und wurden von Konzernen, denen ein gewisses Interesse an Kontroll- und Vergabekriterien bestimmter Ministerien nicht abgesprochen werden kann, in ihre Dienststellen von einst entsandt:


Im Sold des Rüstungsgiganten Rheinmetall sagte Franz-Josef Jung den ehemaligen Kollegen im Verteidigungsministerium Hallo. In seine Zeit als oberster Kriegsherr der BRD fiel 2009 der Bombenangriff auf zwei bei Kundus gestohlene Tanklaster, bei dem über hundert Afghanen, in der Mehrzahl Zivilisten, massakriert wurden. Jung informierte die Öffentlichkeit verspätet, unvollständig und weitgehend falsch, weshalb er wenig später – inzwischen als Arbeitsminister – zurücktreten musste. Es war nicht seine einzige Demission. Neun Jahre vorher hatte er als Landesminister in Frankfurt aufgegeben, weil er von seinem eigenen CDU-Parteifreund, dem Fraktionsvize Lortz der Mitwisserschaft in der hessischen Spendenaffäre bezichtigt worden war. Ein Mann, der exzessiven Waffengebrauch entschuldigt und sich in der Nähe von verdeckten Finanztransaktionen aufhält, muss einfach ins Anforderungsprofil eines Rüstungskonzerns passen!


Auch Dirk Niebel (FDP), der nacheinander in der Bundeswehr und in der Agentur für Arbeit als Karrierist scheiterte, steht auf der Gehaltsliste von Rheinmetall – und auch er ließ sich kürzlich in seiner alten Dienststelle sehenDer forsche Dirk forderte in der Opposition vehement die Abschaffung des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Als seine Partei eine Koalition mit der Union einging und kein anderer Posten für ihn frei war, übernahm er als Entwicklungshilfeminister genau den Posten, den er zuvor hatte eliminieren wollen. So wie die deutsche Wirtschaft, betrachtete auch er das Ressort offenbar als Schnäppchenbasar. Leider wurde sein Versuch, einen offiziellen Besuch Afghanistans 2012 zur zollfreien Ausfuhr (vulgo Schmuggel) handgewebter Teppiche zu nutzen, aktenkundig. Mit allen Wassern gewaschene Lobbyisten wie ihn kann die Wirtschaft gut gebrauchen und zum informellen Plausch an die alte Wirkungsstätte abkommandieren.


Niebels Parteifreund Daniel Bahr wiederum, als Chef des Gesundheitsressorts von 2011 bis 2013 u. a. wegen seines Zauderns beim EHEC-Ausbruch unter Beschuss, schaute sich unlängst im zurzeit von Jens Spahn geleiteten Ministerium um. Er wollte den einstigen Kollegen vermutlich die Wünsche des Versicherungsriesen Allianz vortragen. Dort hatte Bahr nämlich kurz nach dem Ende seiner politischen Laufbahn als Manager Unterschlupf gefunden.


Natürlich wissen wir nicht, worüber die drei Herolde der Wirtschaft in ihren früheren Ministerien geplaudert haben. Wir attestieren ihnen aber ein Pflichtbewusstsein, das die Inanspruchnahme von Zuwendungen und Spesen ohne Erbringung eines gewissen Nutzens für ihre Auftraggeber nicht zugelassen hätte. Ganz davon abgesehen, dass Konzerne ihre Mittel nicht für offenkundige Versager verschwenden würden, wenn sie diese nicht als Türöffner installieren könnten…

  

Sorgt euch nicht!


Während der gemeine Bundestagsabgeordnete sich während der Legislaturperiode durch Nebentätigkeiten in Vorständen, Aufsichtsräten oder Kanzleien finanziell gesundstoßen muss, kommen die Polit-Stars, die eine Zeit lang in Ausschüssen, Fraktionsgremien oder Regierungen etwas zu sagen hatten, erst nach ihrer Abdankung an das wirklich ordentliche Geld. Man muss sich also keine großen Sorgen um ihre Altersversorgung machen, wie das Beispiel Sigmar Gabriels zeigte.


Die rhetorischen Kaskaden des ehemaligen SPD-Vorsitzenden schwemmten jedes gedankliche Fundament hinweg und wurden landauf landab als Lärm, also störend, wahrgenommen. Kaum aber war Gabriel parteipolitisch entsorgt, zahlten Edel-Gazetten Unsummen für die in kurze Kolumnen gegossenen Ausbrüche seiner chronischen Logorrhoe. Bald darauf wurde dem Hansdampf-in-allen-Gossen der Vorsitz des exklusiven Think Tank (internationale Bezeichnung für Kungelklub) Atlantikbrücke angetragen, und nun soll er für die Deutsche Bank tätig werden, was nur die freuen wird, die dieses Geldinstitut abgründig hassen.


Insofern darf auch Andreas Scheuer seiner Zukunft hoffnungsvoll entgegensehen. In Abwandlung des Titels einer bestsellenden Hitler-Schmonzette könnte man angesichts seines Beharrungsvermögens erstaunt feststellen „Er ist immer noch da“, doch dürfte es sich nur noch um eine kurze Gnadenfrist handeln. Dann geht das Geldverdienen richtig los.


Eigentlich stehe ich Science-Fiction skeptisch gegenüber, zu zügellos geriert sich die Phantasie, wenn sie erst einmal losgelassen. So kreierte ich vor etwa zwanzig Jahren bei dem Versuch, ein utopisches Werk zu verfassen, ein völlig abscheuliches Monster ohne Gefühl, Intelligenz und Wirklichkeitsnähe. Da mir meine Schöpfung maßlos übertrieben vorkam, legte ich die Arbeit beiseite. Vor vier Jahren aber erwachte die Kreatur zum Leben, sie hieß Donald Trump und war plötzlich US-Präsident. Seitdem bin ich vorsichtig mit Zukunftsvisionen. Aber bei Andi Scheuer liegen die Dinge anders (weil harmloser Schwank statt globaler Tragödie zu erwarten ist), und so wage ich doch noch einen Blick in die Glaskugel, denn in diesem Fall dominiert der fröhliche Optimismus des Unbedarften.


Andis schöne neue Welt


An einem Montag in nicht allzu ferner Zukunft stellt der adrette Niederbayer seinen Boliden auf dem Gästeparkplatz des Bundesverkehrsministeriums ab. Rund zwölf Stunden war er von München nach Berlin unterwegs, weil er immer wieder von Staus und Baustellen ausgebremst wurde. Dazwischen konnte er aber mehrmals für einige Kilometer mit 250 Sachen über die Autobahn brettern. Andi ist im Auftrag von Daimler, BMW und Audi unterwegs; es handelt sich um eine Joint-Venture-Mission -  ein Konzern allein konnte sich diesen so wertvollen Mann gar nicht leisten.


Die drei SUV-Hersteller waren soeben wieder einmal dabei ertappt worden, wie sie aktuelle Regierungsmitglieder mit goldenen Lenkrädern bestochen und Testapparaturen so manipuliert  hatten, dass Prüfer lungenkrebsige Abgase für milde Waldluft hielten. Strafen drohten, Verbote wurden angekündigt, doch die Konzerne schnürten rasch ein Paket von Gegenmaßnahmen, die ein bisschen Nachrüstung oder einen vom Staat subventionierten Fahrzeugtausch beinhalteten. Und als ihren besten Mann, der das alles schon einmal erlebt hatte, schickten sie Andi ins Gefecht.


Kaum betritt Andi seine frühere Wirkungsstätte, als ihm auch schon auffällt, dass sich die Ministerialräte und Bürodiener nicht mehr per pedes durch die endlosen Gänge bewegen, sondern auf E-Scootern. Eine Sekretärin erklärt ihm, dass durch diese Maßnahme ein großer Teil der Roller, die in herrenlosem Zustand alle Straßen der Hauptstadt zu verstopfen drohen, einer sinnvollen Nutzung zugeführt wird. Schnell findet Andi sein ehemaliges Büro wieder. Als er eintritt, ist es wie ein Déjà-vu für ihn: Hinter dem mächtigen Schreibtisch sitzt ein noch junger Mann mit Hornbrille und etwas dämlichem Gesichtsausdruck – es könnte sich glatt um Alexander Dobrindt oder einen Wiedergänger seiner selbst handeln, das Verkehrsminister-Styling der Münchner Staatskanzlei hat  also Bestand. Herzlich schütteln sich die beiden die Hände, sind sie doch Parteifreunde, denn das Verkehrsministerium ist längst in den Familienbesitz der CSU übergegangen. Bald vertiefen sie sich in ein konstruktives Gespräch…


Was der jetzige Minister und sein Vorgänger, der jetzige Lobbyist Andi, im Detail besprechen, muss unseren unberufenen Ohren vorenthalten bleiben. Da mag es um Mindesttempo 70 auf Spielstraßen oder Prämien für besonders gelungene Manipulationen bei fiesen Abgastests gehen, egal. Wir sind uns jedenfalls sicher: Zum Schaden der Automobilindustrie wird es gewiss nicht sein. 

02/2020 

Dazu auch:

Karriere eines Klons (2018) und Tricky Dirk (2013) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit 

Lobbykratie BRD im Archiv dieser Rubrik (2013) 







Verbieten verboten!


Verbote sind entweder von der Obrigkeit ausgesprochene Tabus, die Privilegien der Herrschaft vor dem Zugriff des niederen Volkes schützen sollen, oder aufgrund von Expertenerfahrung formulierte Verhaltensregeln zur Verhinderung desaströsen Tuns, etwa von Kindern, Verkehrsteilnehmern oder Militärs. Die Parteien des rechtsbürgerlichen Spektrums, insbesondere die Union, haben die Unterschiede zwischen beiden Spielarten eigentlich nie so richtig definiert, und jetzt können sie ganz auf eine Differenzierung verzichten. Einst im Mief der 1950er Jahre als krasse Verbotsvereine hochgekommen, stilisieren sich CDU und CSU heute als Vorreiter der Freiheit – soweit diese Laissez-faire-Attitüde gewissen exklusiven Kreisen nutzt.


Anarcho-Sause der Adenauer-Urenkel


Was war nicht alles verboten in den Anfängen der Bundesrepublik, jener bleiernen Zeit vor der 1968er Revolte (und teilweise noch einige Jahre nachher): Homosexualität, Abtreibungen, das Kürzel „DDR“, die KPD (nicht aber diverse rechtsextreme Kleinparteien), Berufstätigkeit einer Frau ohne Erlaubnis ihres Ehemanns, Pazifismus (realiter zumindest, denn die wenigen Kriegsdienstverweigerer ließ man anfangs fast immer in „Gewissensprüfungen“ durchfallen), linke Meinungen im Öffentlichen Dienst (vulgo Berufsverbote) etc.


Verantwortlich für diese gesellschaftlichen Restriktionen war die Union unter den Kanzlern Adenauer und Erhardt, sekundiert von der damals mehrheitlich deutschnationalen FDP. Erlaubt blieben gleichzeitig übrigens die massenweise Beschäftigung von Altnazis in Ministerien und die Restitution vormals zusammengeraffter Reichtümer an braun vorbelastete Industrielle sowie Adlige.


Zähneknirschend mussten die Altkonservativen den Einzug neuer Sitten, anderer Denkmodelle, religiöser und (atheistischer) Vielfalt in das von ihnen doch so sorgsam gehütete Gesellschaftsgebäude Westdeutschlands hinnehmen. Ihre Nachfolger verschrieben sich einer ausschweifenden Konsumsause, die Einschränkungen und Verbote hinwegfegte, soweit Wachstumsideologie, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse nicht tangiert wurden. Den alten Rechten, etwa an bayerischen CSU-Stammtischen beheimatet, ist das libertäre Gebaren heute noch ein Graus, aber junge Karrieristen wie Jens Spahn bekennen sich inzwischen offen zu ihrer Homosexualität, wofür ihnen vor gut 50 Jahren noch Gefängnis gedroht hätte, und können sogar CDU-Minister werden. Gerade an dem erklärten neuen Rechten Spahn zeigt sich allerdings, dass der Wandel mehr die Politur als den inhaltlichen Wert betraf. Über Flüchtlinge äußerte er sich inhuman und ablehnend, wie um zu belegen, dass Schwule nicht unbedingt tolerantere Menschen als Hetero-Nationale sein müssen.


Die ungehemmte Verbrauchs- und Verschwendungslust und das unvernünftige, aber profitable Produzieren weltweit führten mittlerweile zu Klima- und Sinnkrisen in der Ersten sowie Hoffnungslosigkeit, Krieg und Flucht in der Dritten Welt. Daher haben derzeit weite Teile der hiesigen Bevölkerung die große Freiheit ohne tatsächliche Mitwirkung satt, fühlen sich von Medien wie Politik betrogen, von Ausländern und anderen Verbrechern bedroht, rufen nach mehr Polizei und lückenloserer Überwachung, während Wirtschaft und Finanzmärkte anarchisch regellos und unkontrollierbar Ressourcen abgreifen, als gäbe es kein Morgen. Und jetzt wäre tatsächlich das eine oder andere Verbot angebracht, um die Menschen und die Umwelt vor irreversiblen Schäden zu schützen, aber die Unionspolitiker scheinen alle den verschwiegenen Freiheitskämpfer Wilhelm Tell geben zu wollen, auf den sich die Schweizer Bankenrepublik beruft, wenn jemand wissen will, woher die Gelder stammen, die sie aufbewahrt.

   

Freie Fahrt in Umwelt-Chaos


Wie ein Mann stehen die Unionsparteien hinter Verkehrsminister Andreas Scheuer, wenn er sich gegen die „Verbotskultur“ wendet und die freie Raserei auf Autobahnen ausdrücklich billigt, koste sie Menschenleben, wie sie wolle. Tempo Unbegrenzt ist nur ein Nebenaspekt im Trauerspiel um die selbst gesteckten Klimaziele. Diese können ohnehin nie erreicht werden, haben doch die christlich-konservativen Söldner der Autolobbyisten im Europaparlament schon längst dafür gesorgt, dass kleinliche Grenzwerte für Emissionen vom Tisch kamen, damit die deutschen Konzerne auch weiterhin in jeder Beziehung verschwenderische SUVs für den stockenden Stadtverkehr verkaufen können. Und ganz im Sinne der neuen Chaoten-Strategie ignoriert CSU-Ministerpräsident Markus Söder (gelernter Jurist) einfach rechtskräftige Gerichtsurteile, die ein Fahrverbot für Diesel-Dreckschleudern in belasteten Stadtvierteln dekretieren: Legal? Illegal? Scheißegal?


Doch nicht nur die Automobilindustrie will bedient sein, auch die Energie-Lobby fordert erfolgreich ihr Recht ein. Hatte nicht Kanzlerin Merkel das künftige Verbot der nie völlig beherrschbaren und immens folgenschweren Nutzung von Atomkraft wieder rückgängig gemacht (bis sie dann nach Fukushima kalte Füße – oder besser: nasse, war ja ein Tsunami – bekam und erneut zurückruderte)? Die Pharma- und Chemiekonzerne wollen ebenfalls bedacht werden, schließlich müssen sie ein stehendes Heer von Lobbyisten in Berlin und Brüssel unterhalten, die wiederum Gesetze mitschreiben und spezielle Untersuchungen mitgestalten. Also wurde es zunächst nichts mit dem sofortigen Verbot von Glyphosat als Vorsichtsmaßnahme wegen möglicher Krebserregung und zum Schutz der Artenvielfalt.


Selbst die Bauernverbände, in denen die Agrar-Industriellen das Sagen haben, können mit guten Aussichten darauf hinarbeiten, Verbote zu kippen, selbst wenn diese auf Druck der EU ausgesprochen wurden. Wieder ist es die CSU, die ihrer großbäurischen Klientel die neue Düngemittelverordnung ersparen möchte, auf dass die Großagrarier weiterhin Äcker und Fluren in Klärschlamm ertränken und unser Trinkwasser so „anreichern“ dürfen. Für Folterhaft von Hühnern und Schweinen, Qualtransporte von Rindern, verstümmelte Schwänze, Klauen und Schnäbel, mit Antibiotika vollgepumptes Schlachtvieh ist wiederum die Pfälzer Ex-Weinkönigin Julia Klöckner von der CDU zuständig, die auch nichts verbieten will, sondern lieber ein luftiges „Tierwohl“-Label kreiert, an dem sich niemand orientieren muss und die Verbraucher dafür kritisiert, dass sie billiges Fleisch kaufen. Noch ist nicht bekannt, ob der ministerielle Tadel im Mindestlohn-Milieu einen Run auf hochpreisige Delikatessen-Boutiquen ausgelöst hat.

   

Den Cum-Ex-Betrug, mit dem sich Weißkragen-Gangster über Mehrfacherstattung von Steuern Milliarden erschlichen, verbieten? Lange (und für den Steuerzahler kostspielige) Jahre lang war das keine Option, neigte doch der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble, so etwas wie der Uli Hoeneß der Politik, dazu, der Kreativität des Finanzmarktes freien Lauf zu lassen, zumal die ganze Trickserei ja vom Vorgänger und SPD-Kollegen Peer Steinbrück ganz ordentlich zugelassen worden war.


Das Kriegswaffenkontrollgesetz schreibt dem Sicherheitsrat der Bundesregierung eigentlich zwingend vor, alle Rüstungsexporte in Staaten, die an bewaffneten Konflikten beteiligt sind, etwa Saudi- Arabien, Ägypten oder die Vereinigten Emirate, strikt zu unterbinden. Aber möchte man die in unionstreuen Wahlkreisen angesiedelten Unternehmen vergrätzen? Soll die Konkurrenz in anderen EU-Ländern das tödliche Geschäft allein machen? Könnte nicht der eine oder andere Arbeitsplatz wegfallen, weil die so hingebungsvoll den Waffenhandel betreibenden Firmen ein rüdes Verbot nicht vertragen? Nein, dann lieber mit immer lauteren und stets leeren Absichtserklärungen hausieren gehen, jedes Jahr neu den Stopp der bösen Deals ankündigen – und doch alles beim Alten lassen.


Es ließen sich noch viele ähnliche Beispiele anführen, doch legen schon die erwähnten den Schluss nahe, die Bundesrepublik sei eine verbotsfreie Insel im Meer der Reglementierung, quasi ein Schlaraffenland für Anarchisten und Antiautoritäre. Doch der Schein trügt: Untersagt wird sehr wohl, aber zumeist das, was der Gesundheit und den Menschen nützt, unglücklicherweise aber die Wirtschaft in ihrem Wachstum (Übelwollende sprechen hier von Wucherungen) bremst.


Damit sich der Bürger nicht alles erlaubt


Verbot ist eigentlich ein negativ besetzter Begriff, er bezeichnet aber manchmal die letztmögliche Maßnahme, in ein unheilvolles Geschehen einzugreifen oder einer Katastrophe vorzubeugen. Andererseits kann eine strafbewehrte Untersagung Störungen der elitären Symbiose zwischen rechtsbürgerlicher Politik und profitorientiertem Marktoligopol hervorrufen. Wer gegen die Praktiken der Wirtschaft vorgeht, die Integrität von Staatsdienern in Frage stellt oder sich über hohle Machtsymbole mokiert, muss bisweilen mit Verboten rechnen, auch wenn er belegbare und/oder sinnvolle Gründe angibt. Hier einige vermischte Beispiele für eine höchst sensible Behandlung von Sachverhalten und Beteiligten:


Wer gegen den Anspruch eines Energiekonzerns, Dörfer und Wälder der Förderung des nach allgemeinem Konsens vor dem Ende stehenden Rohstoffs Braunkohle zu opfern, agiert, sieht sich der jeden Zutritt (auch zu Wäldern) verbietenden Staatsmacht gegenüber.


Es ist nicht verboten, die übel vorbelastete erste Strophe des Deutschlandliedes lauthals zu singen, wer allerdings über den dem ganzen Song innewohnenden Kitsch spottet, riskiert eine Strafe wegen „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“.


Die Annahme, ein Demonstrant habe auf einer Kundgebung gleiche Bürgerrechte wie ein Polizist ist irrig. Fotografieren, Diskutieren und Protestieren sind dem Zivilisten verboten. In Ermittlungen ist es untersagt, das Zeugnis von zehn Demonstranten für glaubwürdiger als die Aussage eines einzigen Beamten zu halten. Wer einen Polizisten auf einer Demo duzt, beleidigt einen Staatsvertreter. Umgekehrt gilt das Duzen von Kundgebungsteilnehmern durch Ordnungshüter als jovialer Akt.


In den letzten Jahren erreichten  essentielle Informationen die Öffentlichkeit nur, weil Mitarbeiter von Unternehmen oder Geheimdiensten die Missetaten ihrer Arbeitgeber publik machten. Panama-Papers, NSA-Skandal oder Facebook-Datenklau wurden nicht wegen des Aufklärungswillens der Politiker oder des Recherche-Eifers der professionellen Medien ruchbar, sondern weil interne Mitarbeiter die illegalen Machinationen ihrer Dienste, Ämter und Finanzdienstleister aufdeckten. Da die ökonomische und bisweilen sogar physische Existenz solcher Whistleblower gefährdet ist, beschloss das EU-Parlament, ihr Vorgehen zu entkriminalisieren und ihnen Schutz zu gewähren.


Es sollte also nicht mehr verboten sein, die vertraglich festgelegte Verschwiegenheitspflicht zu verletzen, wenn dadurch Schaden von der Gesellschaft abgewendet werden konnte. Ausgerechnet die damalige deutsche Justizministerin Katarina Barley von der schwindenden Unionspartnerin SPD stellte sich quer und machte aus der Chance, Verfehlungen und Verbrechen sofort der Gemeinschaft mitzuteilen, einen Schneckengang mit hohen persönlichen Risiken für den wagemutigen Hinweisgeber: Erst habe der nämlich behörden- oder firmenintern Abhilfe anzumahnen, dann solle er Behörden informieren und erst danach dürfe er sich an die Öffentlichkeit wenden.


Im Falle Edward Snowdens hätte diese Reihenfolge vermutlich bedeutet, dass er nach dem ersten Schritt nicht mehr leiblich existent gewesen wäre. Aber gerade, was den ehemaligen Agenten betrifft, hat sich ja die Bundesregierung ohnehin eine eigenartige Dialektik zurecht gebastelt: Whistleblowing ist im Prinzip nicht verboten, aber Snowden müsste de facto trotzdem damit rechnen, an die USA ausgeliefert zu werden. 

01/2020 

Dazu auch:

Der kann nichts dafür in dieser Rubrik

Barleys Gesetz (2019) und Oppermännchen (2015) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 

 

    

 

 

2019



Das große Einknicken


Es mutet zunächst wie eine Provinzposse an, doch die Vorgänge im fränkischen Schwarzenbruck zeigen exemplarisch, wie hierzulande von Rechten mithilfe sozialer Medien eine Atmosphäre der Verunsicherung und Einschüchterung erzeugt wird. Kommunalpolitiker fassen zunächst einen couragierten Beschluss, weichen dann vor einem Shitstorm zurück und lassen sich mehrheitlich am Ende auch noch instrumentalisieren – und die regionale Presse geht von kritischer zu beschönigender Berichterstattung über. Der Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke ist nur der traurige Höhepunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung, die zunehmend durch neonazistische Gewaltbereitschaft, begleitet von rechter Meinungsführerschaft im Netz, gekennzeichnet ist , die aber von manchen etablierten Medien verharmlost wird.


Ein Schlafdorf wird geweckt


Die 8000-Seelen-Gemeinde Schwarzenbruck liegt idyllisch im Speckgürtel der Franken-Metropole Nürnberg zwischen Wäldern, Feldern und Wiesen. Die meisten Berufstätigen arbeiten in der nahen Großstadt, einige auch für eine der großen evangelischen Sozial-Institutionen, die im Ortsteil Rummelsberg angesiedelte Diakonie. Viele Bürger verdienen überdurchschnittlich und wohnen im eigenen Häuschen. Fernab von sozialen Problemzonen schien nichts die beschauliche Ruhe des Schlafdorfs stören zu können – bis der Bauunternehmer Klaus-Peter Weber im vorigen Jahr beschloss, die Netz-Republik mit Kommentaren zu brisanten Themen zu beglücken.


Weber, den nicht wenige für den wohlhabendsten Bürger in Schwarzenbruck halten, monologisiert in selbstgedrehten Filmchen auf YouTube und auf Facebook gegen Migranten, die er – ungeachtet der Genfer Flüchtlingskonvention – weitgehend mit „Illegalen“ gleichsetzt, gegen Kanzlerin Merkel, die er wegen der zeitweisen Grenzöffnung vor Gericht zerren möchte, gegen die “Manipulationen“ von ARD und ZDF und dagegen, dass extrem rechte Meinungen von den Medien als rechtsextrem eingestuft werden. Bisweilen droht er politischen Gegnern, sie mit Klagen zu überziehen, aber viel öfter spricht er von sich selbst und den Spenden, die er der Gemeinde und sozialen Einrichtungen zukommen lässt. Irgendwie beschleicht den Beobachter das Gefühl, ein Reicher übe sich in Wohltaten, um der dankbaren Gemeinschaft seine Rechtsauffassung und Positionen überzustülpen.


Nun klingt das alles nicht besonders aufregend. Blogs und Video-Clips, in denen dezidiert Rechte in egomanischer Attitüde und mit seltsamer Logik die Menschheit von der Wahrheit überzeugen wollen, gibt es zuhauf. Bemerkenswert aber ist, dass Weber bundesweit inzwischen über 60.000 Abonnenten hat, und seine Beiträge nach den Chemnitzer Vorkommnissen von drei Millionen User angeklickt wurden. Geradezu exemplarisch für unser Land aber ist der erstaunlich changierende Umgang der Kommunalpolitik und der örtlichen Monopolzeitung mit dem missionarischen Autodidakten.

  

Der Unternehmer und die Rampensau


In holpriger Sprache und unklarem Zusammenhang abgesonderte Sprüche wie „Wenn wir alle rechts wären, dann wären nicht anderthalb Millionen Menschen im Land und werden von unserer Sozialhilfe bedient“ oder  „Mir langen die deutschen Straftäter, ich brauch da nicht noch jemand, der bei uns Schutz sucht, und wir müssen vor denen Schutz suchen“ sind nicht gerichtsverwertbar, sondern unbeholfen, und wären damit eigentlich belanglos, wenn sie heutzutage nicht von einem Millionenpublikum unter dem Motto „Das wird man doch noch sagen dürfen…“ goutiert würden. Und tendenziöse Vereinfachung bereitet bisweilen den Boden für diejenigen, die es nicht bei Worten belassen…

 

Durch den bundesweiten Zuspruch für seine YouTube-Kampagne bestätigt, beschloss Weber, das kulturelle Niveau seiner Heimatgemeinde mittels eines Event-Konzerts deutlich zu heben. Jürgen Drews, als Ballermann-Rampensau und selbsternannter „König von Mallorca“ in gewissen Kreisen weltberühmt für gediegene Unterhaltung, sollte am 14. Juni einen „Benefiz“-Auftritt vor 1200 Zuschauern hinlegen. Für das Ticket hätten die Musik-Gourmets 25 Euro berappen sollen, der erhoffte Erlös wäre gespendet worden. (Dem Vernehmen nach waren aber bis zur späteren Absage des Konzerts viel zu wenige Karten verkauft worden.) Organisator Weber bat die Gemeinde um organisatorische Hilfe, Mitarbeiter des Bauhofs sollten Bänke aufstellen. Doch nun wehrten sich die Grünen-Fraktion im Gemeinderat und ihr parteiloser Bürgermeisterkandidat Mario Rubel gegen dieses Ansinnen.

 

Distanzierung und Reaktion

 

Sie verwiesen auf Webers Net-Aktivitäten, und tatsächlich distanzierte sich am 4. Juni der Gemeinderat, in dem neben der Öko-Partei noch SPD, CSU und Freie Wähler sitzen, von den kruden Inhalten. In der Presse hieß es: SPD-Fraktionschef Manfred Neugebauer war nach eigenen Angaben ´schockiert`, als er Videos von Weber im Internet gesehen habe.“

               

Der Schockzustand des Sozialdemokraten kann nicht lange vorgehalten haben. Ein paar sonnige Tage lang glaubte man, Schwarzenbruck werde als Vorbild für den beherzten Umgang mit rechter Vebalradikalität im Internet bundesweit positive Schlagzeilen machen  – und das im tiefschwarzen Bayern! Schließlich sind die Ermordung Lübckes und die Menschenhatz in Chemnitz in den sozialen Medien „angedacht“ und menschenverachtend kommentiert worden.

 

Dann erhob sich ein mächtiger Shitstorm eben dort, und es geschah, was der grüne Gemeinderat Wolfgang Hubert später in der BR-Sendung quer in Bezug auf das Verhalten der anderen Parteien so charakterisieren sollte: „Sie sind umgefallen wie Kegel.“  

 

Rückzug und Unterwerfung


Das bundesdeutsche Publikum, das Klaus-Peter Webers Interpretation der Welt im Internet für bare Münze nahm, flutete nun die Websites und Mail-Adressen der Schwarzenbrucker Gemeinderäte mit Droh- und Hassbotschaften. So wurde Mario Rubel, Bewerber für das Bürgermeisteramt, als „Volksverräter“ beschimpft, begann um seine Familie zu fürchten, hielt aber an seiner Meinung fest – wie auch die Grünen. Bei den anderen im Gemeinderat vertretenen Parteien ereignete sich indes ein wahrlich radikaler Einstellungs- und Gesinnungswandel.

War es der Druck durch den Mob im Internet, die Angst vor rechtlichen Schritten Webers oder vorauseilender Gehorsam gegenüber dem großzügigen Mäzen? Wir werden wohl nie erfahren, was die Fraktionsspitzen von SPD, CSU und Freien Wählern bewog, sich zehn Tage nach ihrem Distanzierungsbeschluss bei dem 65-jährigen Unternehmer zu entschuldigen. Die Krone der Peinlichkeit gebührt allerdings dem Bürgermeister. 

 

Bernd Ernstberger erklärt in einem im Rathaus (!) aufgenommenen Video, in dem Weber als Akteur und Moderator in einer Person, wirkte und das die Gemeinde sowie der Unternehmer im Netz veröffentlichten: „In der Gemeinderatsitzung am 4. Juni kam es leider zu einer Entscheidung, die ich bedauere und für die ich mich entschuldigen möchte.“ Seinen Sinneswandel begründete der Bürgermeister damit, ein von ihm beauftragter Fachanwalt habe Webers Videos geprüft und sei zu dem Schluss gekommen, es liege nicht einmal der Anfangsverdacht einer Straftat vor.

 

Das allerdings hatte auch niemand behauptet. Von einem Mann, der Ressentiments durch Zuspitzung schürt (O-Ton: „Und wenn ein Zehnjähriger von drei, von zwei Syrern und einen Afghanen vergewaltigt wird, da ist kein Aufschrei da.“), distanziert man sich nicht, weil seine Diktion strafbewehrt sein könnte, sondern weil man vielleicht der Meinung ist, sie sei gefährlich und begünstige Fremdenhass. Schließlich wird ein entsetzlicher Einzelfall zum Beweis für multinationale Bestialität stilisiert, während Zehntausende von deutschen Onkels, die ihre Neffen und Nichten missbrauchen, ohne Erwähnung der Nationalität und ohne „Aufschrei“ davonkommen, weil ihre Taten anscheinend zur statthaften heimischen Folklore gerechnet werden.

 

An anderer Stelle schüttelt Bürgermeister Ernstberger dem alten und neuen Freund Weber die Hand („Sehr geehrter Herr Weber, lieber Peter…“) und besiegelt den Bund mit einem Maulkorb-Gesuch: „Ich bitte darum, dass sich alle außenstehenden Personen und Gruppierungen nicht mehr einmischen.“ Dabei hatte sich die Regionalpresse zuletzt recht vorteilhaft für Klaus-Peter Weber, den „rechten Scharfmacher“ (TV-Moderator Christoph Süß im BR-Magazin quer), eingemischt.

 

Ein journalistischer Eiertanz


Die Nürnberger Nachrichten (NN) behaupten in Mittelfranken eine erstaunliche mediale Machtstellung. Zu ihrem Verlagshaus gehören die lokale „Konkurrenz“, die Nürnberger Zeitung, sowie 18 Mantelzeitungen, die Großstädte wie Fürth und Erlangen, aber auch ländliche Regionen abdecken. Für die Schwarzenbrucker ist Der Bote der unverzichtbare NN-Ableger.


Die NN sind trotz sinkender Auflage immer noch eine der größten Tageszeitungen Deutschlands, und da zum Verlag auch der Monopol-Vertrieb für die Gegend gehört, verdienen sie an allen anderen dort im Handel verkauften Publikationen mit. Eine glänzende Ausgangslage, um ohne äußeren Druck guten Journalismus zu praktizieren, möchte man meinen. Doch trotz gelegentlicher gründlicher Recherche, etwa zum NSU-Umfeld, verharrt das Blatt inhaltlich weitgehend in bräsiger Selbstzufriedenheit, während durch neues Layout und Reduzierung der Artikellängen die Boulevardisierung forciert wird.


Hinzu kommt in den Mantelzeitungen die für Lokaljournalisten und Kommunalpolitiker so typische Anbiederung an regionale Wirtschaftsgrößen und Provinz-Zampanos. Dass Der Bote der Vorankündigung des von Weber promoteten Drews-Konzert ungewöhnlich viel Platz einräumt, ist ja noch verständlich, passiert doch in dem verträumten Schwarzenbruck nicht eben viel; dass aber der Eintritt des Immobilienunternehmers in die WerteUnion der Zeitung am 1. Juni einen Fünfspalter mit großem Foto wert war, verblüfft doch irgendwie.


Die WerteUnion ist ein am rechten Rand der Union angesiedelter Verein von Mitgliedern und Freunden der CDU. Die reaktionäre Vorhut wird von der Parteispitze nicht anerkannt und zählt einige fragwürdige Persönlichkeiten zu ihren Mitgliedern, etwa den Ex-Verfassungsschutzpräsidenten, multiplen Versager und AfD-Versteher Hans-Georg Maaßen oder Hinrich Rohbohm, Redakteur bei der rechtsradikalen Jungen Freiheit. Dazu gehört(e) auch Max Otte, Vorsitzender des Kuratoriums der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, der nach dem Mord an Walter Lübcke mit folgendem Tweet Aufsehen erregte: "#Lübcke - endlich hat der #Mainstrem (sic!) eine neue #NSU-Affäre und kann hetzen. Es sieht alles so aus, dass der #Mörder ein minderbemittelter #Einzeltäter war, aber die #Medien hetzen schon jetzt gegen die 'rechte Szene', was immer das ist. #Rechtsextremismus." Daraufhin forderte die WerteUnion den CDU-Ausschluss des eigenen Mitglieds Otte.


Für den Eintritt des parteilosen Weber in diesen illustren Haufen schlägt also der Bote eine ganze Seite frei. Handzahm nähern sich die beiden Redakteure Alex Blinten und Christian Geist dem streitbaren Provinz-Krösus, lassen ihn über Merkel schimpfen, konfrontieren ihn dann plötzlich tollkühn mit seiner Behauptung, ARD und ZDF seien „populistisches Propagandafernsehen, schlimmer als das Fernsehen zur Zeit der DDR“, und geben ihm nach seiner Bekräftigung des starken Tobak sogar teilweise recht (positive Berichterstattung über die Grünen). Von unübertrefflichem Euphemismus aber ist die Erwähnung der Weber-Präsenz im Internet durch die beiden Journalisten: „Sie werden mit 65 Jahren wohl nicht mehr in die Politik gehen. Die sozialen Netzwerke, You Tube, die Äußerungen hier und die Diskussion mit Lesern und Zuschauern bereiten Ihnen allerdings Freude.“ Ja, das Bedienen von Aversionen und Vorurteilen macht einfach Spaß.


Immerhin äußert der Chefredakteur des Boten, Christian Geist, einige Tage später Verständnis für die Distanzierung des Schwarzenbrucker Gemeinderats von den Inhalten der Weber-Videos: „Zu nahe waren einige seine Thesen am Duktus der neuen Rechten.“ Allerdings kritisiert der Journalist, dass zu spät gehandelt worden sei: „Denn wenn allein Webers Inhalte den Ausschlag gegeben hätten, dann hätte sich die Gemeinde schon viel früher von dem Geschäftsmann distanzieren müssen…“ Hier sollte sich Geist aber an die eigene Nase fassen. Seiner Zeitung (als Repräsentantin der vierten Macht) hätte es zuallererst oblegen, über Webers Rabulistik und deren wachsende Anhängerschaft kritisch zu berichten, statt ihm ein mild moderiertes Forum zur Selbstdarstellung anlässlich seines Eintritts in die WerteUnion zu bieten.


Am 11. Juni schließlich kommt es zu einer nichtöffentlichen Besprechung des Bürgermeisters mit den Fraktionssprechern und Klaus-Peter Weber. Der distanziert sich von der extremen Rechten (was immer er darunter versteht) – und die Gemeinde entschuldigt sich – mit Ausnahme der Grünen – für ihren Distanzierungsbeschluss. Am selben Tag ereignet sich auch in der regionalen Publizistik Erstaunliches: Die Zentralredaktion der NN zieht die Deutungshoheit in der Causa Weber an sich. In einem langen Artikel (zweizeilige Überschrift: „Das ist eine moderne Hexenjagd,/die mich ans Mittelalter erinnert“) kommt vor allem der Bauunternehmer zu Wort. Der NN-Redakteur André Ammer sieht die armen Gemeinderäte nicht mehr vom rechten Net-Mob, sondern von impertinenten Schwarzenbrucker Streithanseln getrieben:


In der vorangegangenen Bürgerfragestunde sprechen sich rund 40 Besucher lautstark dafür aus, dass sich Bürgermeister Bernd Ernstberger (SPD) und der 20-köpfige Gemeinderat von dem meinungsstarken Unternehmer abgrenzen. Ein Beobachter des Geschehens sagt, dass er noch nie eine so aggressive Atmosphäre im Sitzungssaal des Schwarzenbrucker Rathauses erlebt habe. Das Gremium beugt sich schließlich dem Druck und gibt einstimmig grünes Licht für diesen symbolischen Akt.


Seltsamerweise liegt  mir ein anderer Augen- und Ohrenzeugenbericht vor, der allerdings von höchstens 20 Besuchern und einer eher ruhigen Atmosphäre handelt.


Vier Tage später vollendet Ammer die Reinwaschung Webers, in einem Meinungsbeitrag in den NN (Titel: „Einige Weber-Kritiker haben sich selbst disqualifiziert“). So konstatiert der Redakteur zwar, dass man, wenn man auf Webers Facebook-Profil oder seine YouTube-Videos klickt, des öfteren auch auf rechtspopulistische Größen wie AfD-Gauland oder Thilo Sarrazin verwiesen wird, erklärt dies aber damit, dass deren Themen eben manchmal denen des Unternehmers ähnlich seien. Die Algorithmen, die Ammer für die Links verantwortlich macht, interessieren aber die Themen relativ wenig, sie vergleichen eher die potentiellen Vorlieben der User, der Community bzw. der Follower. Man kann also davon ausgehen, dass Weber und Gauland Anhänger mit ähnlichen Ansichten und Bedürfnissen haben.

Insofern geht auch die folgende Mahnung des NN-Redakteurs ins Leere:


… Begrifflichkeiten wie „rechtspopulistisch“ oder „rechtsgerichtet“ sind sehr schwammig und werden in der politischen Auseinandersetzung deshalb gerne instrumentalisiert.


Inhaltlich und stilistisch spielt Klaus-Peter Weber in einer Internet-Liga, für die Beschreibungen wie „rechtsgerichtet“ oder „rechtspopulistisch“, nicht „schwammig“, sondern höchstens ein wenig zu schwach scheinen. 


Die traurige Moral der Geschichte


Es mag Weber ehren, dass er sich öffentlich gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus ausspricht. Wünschenswert wäre allerdings, er hielte sich von Propagandisten dieser grausamen Irrwege fern – und das nicht nur im Netz. Am 10. Juni eilen 35 „Gelbwesten“ aus Nürnberg dem Unternehmer zu Hilfe und halten eine Kundgebung in Schwarzenbruck ab. Mit dabei sind der zweite Vorsitzende der NPD Nürnberg, Frank Auterhoff, der erst unlängst den bundesweit beachteten Fackelzug an der Steintribüne des Reichsparteitagsgeländes organisiert hat, sowie mehrere Pegida-Aktivisten, darunter der Bannerträger auf einer Nürnberger Demo von Holocaust-Leugnern im Juni 2018. Der oben zitierte NN-Redakteur Ammer tut sich nicht nur im Bewerten von Aussagen schwer, er scheint auch der genauen Recherche abhold:  „Unter den etwa 30 Teilnehmern waren angeblich auch einige Personen aus dem Dunstkreis von NPD und Pegida Nürnberg.“ Angeblich? Da waren leibhaftige Rechtsradikale bei!


Gemäß der neuen Taktik rechtsextremer Propagandisten, sich als Märtyrer des freien Wortes zu stilisieren, erklären die Demonstranten: „Wir und Peter Weber dürfen unsere Meinung nicht sagen.“ Mag sein, dass Weber die Vita seiner Unterstützer zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt ist – doch er reagiert ohne weitere Nachfrage oder Prüfung. Am Abend desselben Tages erklärt Weber auf Facebook seinen Beitritt zur „Gelbwesten“-Gruppe Nürnberg. Später erklärt er den NN zum einschlägigen Hintergrund seiner Sympathisanten: „So was ist mir natürlich unangenehm, denn das ist ja gerade das, was ich nicht will.“ Wenn dem so ist, sollte er sich vielleicht einmal fragen, was ihn zum Darling der Rechtsextremen macht.


Dass Weber auch nach dem Kotau des Bürgermeisters seine Aggressivität nur schwer im Zaum halten kann, belegte ein in quer gesendetes Statement. Dort drohte er seinem Widersacher Mario Rubel offen mit dem Internet-Mob: „Ich werde meine Community beauftragen, dass sie ihnen schreibt… Das ist zu viel, Herr Rubel…“ Dass es auch anders geht, lässt Weber seine Anwälte demonstrieren. Rubel muss wenig später eine Unterlassungserklärung wegen unangebrachter Nazi-Vergleiche unterschreiben. Rechtfertigt aber der verbale Ausrutscher Rubels die Androhung eines neuen Shitstorms im Netz gegen ihn und – als sattsam bekannte Konsequenz – gegen dessen Familie?


Die Moral dieser Geschichte ist sonnenklar und düster zugleich: Viele Politiker und Journalisten ducken sich weg, wenn rechte Gesinnung mit entsprechender medialer oder ökonomischer Durchsetzungskraft salonfähig gemacht wird. Der Mord an Walter Lübcke wird als Auswuchs neonazistischer Gewalt gesehen. Wie aber wächst diese Gewalt? Da muss doch zuvor gesät und gedüngt worden sein!?                 

07/2019 






Der kann nichts dafür                     


Andreas Scheuer weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, so er denn über einen erwähnenswerten verfügt. In der Öffentlichkeit ein Dampfplauderer, im Amt ein Versager und im Geschäftsgebaren nicht zurechnungsfähig – trotz diverser unfähiger Vorgänger kann man sich hierzulande an keinen Minister von solch herausragender Inkompetenz erinnern. Sein Wirken wird uns viele Millionen Euro kosten und die bundesdeutsche Verkehrspolitik zur Niete in der Lotterie um das Weltklima degradieren, seine Auftritte nötigen selbst seinen Gegnern mittlerweile einiges Mitleid ab, und doch ist er nicht ganz allein: Markus Söder, der Bienenflüsterer an Bayerns Spitze, verteidigt ihn mit abstrusen Worten und muss sich darob fragen lassen, ob er selbst noch ganz von dieser Welt ist.


Vom Maut-Erben zum Maut-Clown


Alle CSU-Generalsekretäre mussten sich erst als Wadenbeißer im Dienste der jeweiligen bayerischen Ministerpräsidenten profilieren, ehe sie zu Höherem berufen wurden. Andreas Scheuer, aus Passau, also dem erdverwurzelten Südosten des Freistaats, machte da keine Ausnahme und fiel unter Horst Seehofer sogar durch besonders bodenständigen Flachsinn auf. Wenn die CSU bei einem ihrer Hoffnungsträger noch nicht so genau weiß, ob er einigermaßen vernünftig tickt und ob er überhaupt irgendeiner Aufgabe gewachsen ist, macht sie ihn gern zum Bundesverkehrsminister.


So kam also Scheuer, der an der Prager Karls-Universität den „kleinen Doktorgrad“ der Philosophie erworben hatte, mit dem man sich nur in Bayern und Berlin Dr. nennen darf, eine Einschränkung, die er aber für sich und das gesamte Bundesgebiet großzügig übersah, kam also in ein Amt, in dem man eigentlich nie eigene Ideen entwickeln muss, weil einem die Automobilindustrie die wesentliche Richtung schon vorgibt. 


Der Niederbayer hatte nach Ermittlungen wegen Titelmissbrauchs und Plagiatsvorwürfen zwar auf seinen Doktor verzichtet, im Kampf gegen Erderwärmung, Umweltvergiftung und Verkehrskollaps aber fand er nach zahllosen Beratungen mit Emissären von BMW, Daimler und VW (und keiner mit Umweltverbänden) das Universalrezept. Seither machen E-Scooter Geh- und Fahrwege unsicher, verursachen eine respektable Anzahl von Unfällen und werden nachts mit erheblichem Energieaufwand aus den entlegensten Ecken zusammengesammelt. Sicherlich ist die Roller-Offensive (und nicht so etwas Spaßfernes wie ein Tempolimit) genau die Maßnahme, die mittelfristig die Polkappen wieder anwachsen und die Erde zum Luftkurort werden lässt.


Ein anderer toller Trick aber stammte nicht vom Scheuer Andi selbst, sondern von seinem kongenialen Vorgänger Alexander Dobrindt: Ausländische und deutsche Kraftfahrer müssten künftig Maut auf Autobahnen zahlen, nur dass die Eingeborenen diese über eine Reduzierung der KFZ-Steuer zurückerstattet bekämen. Es kann jedoch der Frömmste nicht in Ruhe diskriminieren und abkassieren, wenn es dem bösen Österreicher nicht gefällt. Wien verklagte die Bundesrepublik vor dem Europäischen Gerichtshof, Speedy Andi wollte den Richterspruch jedoch nicht abwarten und schloss eilends Verträge mit künftigen Mautbetreibern. Der EuGH aber verbot das windige Geschäft, und nun fordern die vorgesehenen Partner 560 Millionen Euro Entschädigung für entgangene Profite vom Bund, von den Steuerzahlern also.


Doch jetzt geht der Komödienstadel erst richtig los: Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags sollte aufklären, was in Scheuers Ministerium und Kopf so alles schief gelaufen ist. Der Minister gab zunächst den beflissenen Aufklärer und karrte eigenhändig einen Schwung Akten zu den parlamentarischen Ermittlern, ließ die Unterlagen dann aber von Ministerialbeamten wieder abholen, weil ihm gerade eingefallen sei, dass es sich um vertrauliche Schriftstücke, somit Verschlusssachen (besonders rätselhafte Begründung: „Geheimhaltungsbedürfnisse des Vergabeverfahrens“), handelte.


Die Akten dokumentieren laut SPIEGEL eine weitere Trickserei: Scheuer hatte in Verhandlungen mit den Betreibern eine Milliarde Euro Kosten kreativ in einem Schattenhaushalt verschwinden lassen, um so die vom Bundestag vorgegebene Grenze der Ausgaben für die Maut von zwei Milliarden nicht zu überschreiten. Mittlerweile erklärte auch der Bundesrechnungshof, das Ministerium habe gegen das Vergabe- und Haushaltsrecht verstoßen.

    

Söders gestörte Wahrnehmung


Scheuer ist also auf bestem Weg, mehr als eine halbe Milliarde an Steuergeldern zu verschleudern, wobei seine Schutzbehauptung, die Betreiber hätten ihre Verträge nicht eingehalten, nur noch hilflos wirkt. Zusätzlich hat er das Parlament getäuscht, sich durch sein Verhalten lächerlich gemacht und eine ökologische Verkehrswende nach Kräften behindert. Es wird also Zeit, sich auf das Anstimmen des alten Kinks-Hits „Death of a Clown“ zur Feier seines baldigen Abgangs vorzubereiten. Doch einer hält trotz aller Schieflagen und Pannen treu und fest zu ihm: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder – doch ausgerechnet der offenbarte zuletzt ebenfalls Symptome eines umfassenden Realitätsverlustes.

 

Noch im Oktober gab Söder dem Münchner Merkur ein Interview, das dieser so betitelte: Söder verteidigt Andreas Scheuer wegen Pkw-Maut: „Er kann nun wirklich nichts dafür“ 


Den Verdacht hatten wir angesichts der ansehnlichen Kette von Aussetzern schon lange. Geht dem Andi Scheuer einfach ein wenig gesunder Menschenverstand ab, ist er bei Verhandlungen mit Unternehmern oder Rechtfertigungen vor Ausschüssen intellektuell überfordert, oder handelt es sich um etwas Organisches? Liest man allerdings Söders Antworten genauer, stellt sich heraus, dass der sich gar nicht um die geistigen Kapazitäten des Parteikollegen sorgt, sondern ebenso richtig wie sinnentleert schwadroniert, Scheuer sei nicht dafür verantwortlich, „dass der Europäische Gerichtshof anders entschieden hat als alle anderen europäischen Institutionen“. Was der CSU-Chef damit meint, bleibt sein Geheimnis. Die einzige supranationale Institution, die diesen Rechtsstreit entscheiden konnte, war nun einmal der EuGH.


Vor ein paar Tagen äußerte sich der bayerische Leitwolf noch einmal zur Malaise seines Rudelmitglieds, und gab Anlass zu der Mutmaßung, dass ihm von den Unmengen Kreide, die er zuletzt gefressen hatte, etwas zu viel weißer Staub ins Hirn gedrungen sei. Im Morgenmagazin von ARD und ZDF sagte Söder allen Ernstes, Andreas Scheuer sei „ein Aktivposten der Bundesregierung“. Diese Bemerkung, die in jedem zweitklassigen Witzwettbewerb preisverdächtig gewesen wäre, beweist einmal mehr, dass der Ministerpräsident die Welt inzwischen so sieht, wie sie seiner Meinung nach sein sollte, und nicht, wie sie tatsächlich ist.


Das legt auch sein Kommentar zu einer Antwort des EuGH auf die Anfrage des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nahe. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte die Staatsregierung wegen ihrer Untätigkeit angesichts zu hoher Stickoxid-Werte auf Münchner Straßen verklagt und Recht bekommen. Das Kabinett ignorierte die Urteile einfach und weigerte sich, Fahrverbote auszusprechen, um die Gesundheit von Anwohnern zu schützen. Diese wiederholte Missachtung des Gerichts seitens einer Regierung wurde mit Zwangsgeldern geahndet, die allerdings ziemlich niedrig ausfielen und vom zahlungspflichtigen Verkehrsministerium an das Umwelt-Ressort „umverteilt“ wurden.


Nun sollte der EuGH prüfen, ob die Verantwortlichen mit Söder an der Spitze in Zwangshaft genommen werden könnten. Die europäischen Richter bejahten die Möglichkeit der Inhaftierung von Politikern im Grundsatz, schränkten aber ein, dass es eine nationale Rechtsgrundlage dafür geben müsse. Auf eine solche Präzisierung aber hatten die gesetzgebenden Politiker einst wohlweislich verzichtet – man gräbt sich schließlich ungern selbst eine Grube. Allerdings gab der EuGH seinen bayerischen Gerichtskollegen zusätzlich auf, zu prüfen, ob der Freistaat nicht künftig hohe Geldbußen an die Umwelthilfe zahlen sollte.


Die Richter in Luxemburg haben also die Schuld der bayerischen Staatsregierung festgestellt und für empfindliche Strafgelder an eine NGO plädiert. Und wie sieht Markus Söder das: „Gut, dass es jetzt geklärt und die Sache vom Tisch ist.“ Nichts ist ausgeräumt, und wenn sich die obersten Juristen im Freistaat trauen, wird es richtig teuer. Eine gefährliche Form von Weltfremdheit scheint vom bayerischen Ministerpräsidenten Besitz ergriffen zu haben, eine eklatante Bewusstseinseintrübung gaukelt ihm vor, fortgesetzter Rechtsbruch sei eine Art Wellness-Periode. 


Was wird nun aus dem Andi?


Langsam muss man sich wirklich Sorgen um die in der CSU-Führungsriege vorherrschende Geistesverfassung machen. Ist das Münchner Kabinett zu einer Anstalt für renitente Wirklichkeitsleugner und delirierende Traumtänzer verkommen, bleibt seit geraumer Zeit der göttliche Beistand für die bayerische Christenunion aus oder ging deren einst legendäres Gespür für Stammtisch-Vorlieben verloren? Es läuft zurzeit nicht rund in der Erbengemeinschaft von Franz Josef Strauß. Am meisten muss man aber um die Zukunft des Passauer Verkehrschaoten bangen.


Noch lässt Söder seinen Scheuer fabulieren und an den Fakten vorbeitorkeln wie ein unmündiges Kind, ganz so, als wolle er allen, die ihn während seines Aufstiegs der Tücke, Illoyalität und Skrupellosigkeit ziehen, beweisen, dass er als treusorgender Landesvater auch ein Herz für die geistig Schwachen und tumben Toren in seiner Partei habe. Sollte aber der übergroße Schatten des pechschwarzen Schafs Andi demnächst auf seinen neuen Glanz fallen, wird er den Kollegen ganz schnell aus dem Führungszirkel seines Rudels wegbeißen.


Und was soll dann aus dem Andreas Scheuer werden? Die lukrativen Posten in den Vorständen oder Lobbyisten-Clans von Autokonzernen oder bei der Bahn, die üblichen Geldquellen für abgehalfterte Politiker guten Willens also, kämen vermutlich nicht in Frage. Wer möchte sich schon öffentlich mit einem solchen Dilettanten schmücken? Eine akademische Karriere ist sicherlich obsolet: Die Prager Karls-Universität würde ihren kleinen Doktor allenfalls als Pedell zurücknehmen. Bleibt nur die Möglichkeit für ihn, einem staunenden Publikum im Tegernseer Volkstheater vorzuspielen, wie man als glückloser Knecht in Windeseile eine halbe Milliarde verzockt. 

12/2019 

Dazu auch:

Fabel vom Wolf Markus (2019) und Karriere eines Klons (2018) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 





Schluss mit lustig!


Zuerst Attac, dann Campact, nun die VVN-BdA und morgen die ganze Horde globalisierungskritischer, umweltbesorgter oder friedensbewegter NGOs! Durch die Aberkennung der Gemeinnützigkeit dieser Vereine glauben die Finanzbehörden, den ganzen Sumpf demokratischen Widerstands endlich trockenlegen zu können. Richter und Behördenmitarbeiter maßen sich neuerdings an, den Wert inhaltlicher Arbeit in dieser Gesellschaft zu beurteilen. Tatsächlich geht es darum, widerspenstige Organisationen von finanziellen Ressourcen abzuschneiden, während ihre konformistischen bis rechtsradikalen Pendants ungestört weiterwerkeln dürfen. Dies ist ganz im Sinn der Regierungspolitik; nicht verwunderlich daher, dass ein Vorschlag von Finanzminister Scholz dem unwürdigen Procedere beinahe noch die Krone staatlicher Ignoranz aufgesetzt hätte…


Wer den Bundesadler stört…


Das waren noch Zeiten, als in unserem Land vor allem Vereine herumwuselten, deren Mitglieder/innen auf Scheiben schossen, deutsches Liedgut pflegten oder die Erinnerungen an die große Zeit Preußens hochhielten, sich aber nie gegen die Bundesregierung und ihr weises Tun wandten. Bei so viel bravem Bürgersinn konnten Politik und Verwaltung es leichten Herzens zulassen, dass Beiträge und Spenden von der Steuer abgesetzt werden durften. Doch es kann der Frömmste nicht in Frieden zum Wohl der eigenen Partei und der Konzerne agieren, wenn ständig aufmüpfige Gruppen die Natur retten, Korruption anprangern oder braunen Spuren im bürgerlichen Habitat nachspüren wollten. Auch diese Störenfriede schlossen sich zu Vereinen zusammen, und da sie geltend machten, sich für eine bessere Gesellschaft oder eine weniger belastete Umwelt einzusetzen, beantragten auch sie die Gemeinnützigkeit, damit ihre (i.d.R. weniger begüterten) Mäzene den Finanzämtern Bescheinigungen vorlegen konnten.


Der Staat ließ die Aufrührer gewähren, bis sie zu unbequem wurden. Als Attac und Campact gegen Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA, die ganze Länder per geheime Mauschelei im Hinterzimmer der Rechtsauffassung der Multis zu unterwerfen drohten, mobilisierten, Millionen Unterschriften für Petitionen sammelten, Klagen einreichten und Hunderttausende Demonstranten auf die Straße brachten, behinderten sie den glatten Service der Bundesregierung für die globalen Unternehmen doch zu arg. Zunächst stellte der Bundesfinanzgerichtshof in Sachen Attac fest, dass „die Einflussnahme auf politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung (…) keinen gemeinnützigen Zweck erfüllt“.


Kein Wort davon, dass die Aktivisten durch Publikation und Einspruch ungefilterte Informationen über fragwürdige, aber für unser Leben und unsere Grundversorgung höchst relevante Vereinbarungen, die möglichst ohne Aufsehen vom Parlament abgesegnet werden sollten, erzwangen. Was scherte es die Richter, dass die Kenntnis der Faktenlage eine Voraussetzung für politische Meinungsbildung und somit von höchster Priorität für die demokratische Öffentlichkeit ist? Attac wurde die Gemeinnützigkeit aberkannt, kurze Zeit später auch Campact.


Doch es gibt noch andere in Vereinen organisierte Unruhestifter, die den minutiös eingespielten Ablauf des gegenseitigen Händewaschens von Politik und Wirtschaft empfindlich behindern. Kein Bundestagsabgeordneter kann den vertraulichen Umgang mit den zahllosen Lobbyisten so diskret pflegen und enorme Nebenverdienste durch seinen Sitz in Aufsichts- und Beiräten so unbemerkt wie früher einstreichen, seit abgeordnetenwatch Kontakte und Honorare gewissenhaft veröffentlicht. Und die Deutsche Umwelthilfe wurde durch die Aufdeckung von Betrugsfällen, also Verstößen gegen geltendes Recht, sowie durch Abmahnungen und Klagen zu einer virulenten Gefahr für die stille Symbiose von Regierungspolitik und Automobilindustrie. Kein Wunder, dass die Staatsjuristen demnächst auch diese Wundstellen im System finanziell veröden wollen, indem sie ihnen den Zufluss der für die Kampagnen notwendigen Mittel abgraben. Zwischendurch aber erlaubten sich die Kontrolleure der bürgerlichen Ruhigstellung eine Fingerübung in akribischer Gesinnungsschnüffelei, die eine andere missliebige Organisation ins Mark traf.


Die Berliner Finanzbehörden entzogen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antfaschisten (VVN-BdA) das Siegel der Gemeinnützigkeit mit der Begründung, der Verein werde in den bayerischen Verfassungsschutzberichten seit Jahren als linksextreme Gruppierung geführt. Esther Bejarano, 94-jährige Auschwitz-Überlebende und Ehrenpräsidentin des Verbands, bezeichnete die Entscheidung als „Kränkung“ und schrieb in Bezug auf den immer stärker werdenden Chauvinismus in Deutschland an den zuständigen Bundesminister Olaf Scholz: „Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus.“


Friedensarbeit, die Bewahrung der Erinnerung an eine verheerende historische Periode sowie Kampf gegen faschistische Tendenzen gehören für deutsche Finanzbeamte also nicht zum gemeinnützigen Wirken. DGB-Chef Hoffmann, das Internationale Auschwitz-Komitee, der Sprecher der jüdischen Gemeinde Berlin und andere Prominente wie Organisationen protestierten gegen diese Einschätzung. Auf den Punkt brachte es der Münchner Kabarettist und TV-Moderator Christoph Süß in seiner BR-Sendung quer.


Die Verschonten


Süß erklärte, die VVN sei kurz nach 1945 von Widerstandskämpfern gegründet worden, weil die Nazis nicht alle erwischt hätten. „Da sind immer noch Kommunisten darunter, weil die eben auch verfolgt worden sind.“ Dies habe zur Aberkennung des Siegels genügt, während der Verein Uniter immer noch gemeinnützig sei. Damit wies Süß auf den wohlwollenden Umgang der Finanzämter mit rechten bis rechtsextremen Vereinen hin.


Uniter ist ein privater, in Stuttgart eingetragener Verein, der vor allem Angehörige der Spezialeinheiten von Bundeswehr (KSK) und Polizei (SEK) rekrutiert und laut taz als offizieller Teil des Netzwerks Hannibal fungiert. Dort sind auch die Prepper organisiert, braune Apokalyptiker, die geheime Waffenlager für den Endkampf anlegen und Todeslisten mit den Namen politischer Gegner führen. Wie kommod für die braune Szene, dass man seinen Obolus für diese Schattenarmee offenbar von der Steuer absetzen kann.


Doch Uniter ist nicht das einzige rechtsextreme Forum, dessen Finanzierung steuerlich begünstigt wird. Dem Portal Jou Watch, das AfD-Politikern, Pegida-Anhängern und Mitgliedern der Identitären Bewegung eine Plattform für Hasskampagnen bietet, sprach das Finanzamt Jena 2017 die Gemeinnützigkeit zu. Man könnte daraus folgern, dass den Behörden rechte Hetze als gesellschaftsdienlich erscheint, nicht aber Antifaschismus.


Überhaupt erfüllt den Bildungsauftrag (und ist damit gemeinnützig) so manche Stiftung oder Vereinigung, die ein seltsames bis fragwürdiges Wissen vermittelt. Zu diesem illustren Kreis gehören etwa Wehrkundemuseen der Rüstungsindustrie, in denen die Effizienz von Tötungsmaschinen bewundert werden kann, oder auch die Propagandatöchter der großen Parteien. So darf etwa die Hanns-Seidel-Stiftung der CSU, die übrigens schlecht mit Geld umgehen kann, wie ihr hoher Schuldenstand beweist, für den Neoliberalismus werben und in der Dritten Welt rechte Putschisten beraten – wie übrigens auch die Konrad-Adenauer-Stiftung der Unionsschwester oder die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP. Dem edlen Spender für solche Vorhaben winkt eine Steuerersparnis.


Im Gegensatz zu Attac oder Campact zementieren diese Parteistiftungen ja das selbstgefällige Bild sowie den ökonomischen Expansionsanspruch Deutschlands in aller Welt und sorgen nicht für Irritationen in der Wirtschaft. Auf die Antifaschisten der VVN indes kommen jetzt sogar Steuernachforderungen in fünfstelliger Höhe sowie weitere fiskalische Belastungen zu; der Verband ist damit in seiner Existenz gefährdet.


Null Ahnung von politischem Handeln


Olaf Scholz, Bundesfinanzminister und gescheiterter Aspirant auf den SPD-Chefposten, gab in seinem Haus einen Entwurf zur Änderung der Abgabenverordnung in Auftrag, vermeintlich, um Vereine, die den öffentlichen Diskurs mitgestalten, zu schützen. Was letztendlich dabei herauskam, war aber eine Verschlimmbesserung. Zunächst aber hatten seine Beamten eine Art von Zensur vorgeschlagen, die selbst Scholz verschreckte. Danach hätte ein Verein schon dann seine Gemeinnützigkeit verloren, wenn er „sich nicht parteipolitisch neutral verhält“. Da wird der Finanzminister um die Friedrich-Ebert-Stiftung gefürchtet haben, die ihrer Mutti SPD seit jeher innig zugetan ist.


Doch auch der abgespeckte Entwurf hätte die Disziplinierung unliebsamer Gruppierungen erleichtert. Laut SPIEGEL hieß es darin nämlich, Vereine würden „auch dann noch“ steuerlich begünstigt, „wenn eine gemeinnützige Tätigkeit mit politischen Mitteln begleitet wird“. Die Intention, Parteien oder staatliche Entscheidungen zu beeinflussen, müsse dabei „weit in den Hintergrund“ treten. Im Klartext: Nur, wenn ihr euch auf euren eigenen Mist beschränkt, dürft ihr das Maul aufreißen. Aber auch dann nicht so weit, dass ihr am Ende eure Vorstellungen auch noch durchsetzen könnt.


Die Empörung über diese durch die Hintertür eingeführten Scheuklappen war groß, und sie erfasste auch NGOs, die gesellschaftlich weithin anerkannt sind, etwa den BUND oder Amnesty International. Der rührige Grünen-Abgeordnete im EU-Parlament, Sven Gingold, machte an einem launigen Beispiel die Brisanz des Entwurfs klar:  "Ein Karnevalsverein, der sich gegen einen Naziaufmarsch engagiert, würde demnach absurderweise seine Steuerbegünstigung aufs Spiel setzen."


Als er sich massiver Kritik von allen Seiten gegenübersah, ließ Olaf Scholz seine fatale Reform der Abgabenverordnung fallen. Dabei hätte er einfach das kritische Engagement sowie die unbequeme, aber aufklärerische Informationsarbeit von NGOs in einem neuen Entwurf ausdrücklich zulassen können, ist doch politisches Handeln laut einer allgemein anerkannten Definition „soziales Handeln, das auf Entscheidungen und Steuerungsmechanismen ausgerichtet ist, die allgemein verbindlich sind und das Zusammenleben von Menschen regeln“. Demnach sollten Vereine und Gruppierungen die politische Einmischung sogar als demokratische Pflicht verstehen.


Es ist allerdings anzunehmen, dass Scholz und seine Kollegen in der Regierung das nicht so sehen, sondern das Schachern mit Posten und den servilen Dienst am Kapital für die wesentlichen Kriterien gesellschaftlichen Handelns halten. Denn sie wissen oft gar nicht mehr, wozu sie da sind und was sie machen sollen, wenn sie nicht von Konzernlenkern auf Kurs gebracht werden. Nonkonformisten aber, die dann wider den Stachel des staatstragenden Opportunismus im trägen Fleisch der Republik löcken, müssen zu spüren bekommen, dass bald Schluss mit lustig ist!

12/2019

Dazu auch:

Die Rache des Staates (2019). Gemeiner Nutzen (2014) sowie Braundeutscher Eisberg (2018) im Archiv dieser Rubrik






Braune Weihnacht


Emsige Scharfmacher der sich zunehmend extremistisch outenden AfD sind dabei, ihren Nazi-Unrat in die Kinderstuben und unter den geschmückten Tannenbaum zu kübeln. Weil das Mädchen, das den weltberühmten Nürnberger Weihnachtsmarkt als Christkind eröffnen soll, indische Wurzeln hat, geben sie vor, um den Fortbestand der weißen Rasse zu fürchten. Was den braunen Heimatschützern vermutlich entgangen ist: Der Ort, an dem das Lebkuchen- und Glühweinspektakel alljährlich stattfindet, ist in der jüngeren und in der mittelalterlichen Historie der Stadt schwer vorbelastet; die rechtsradikalen Dumpfköpfe knüpfen an grausige Perioden der urbanen Geschichte an.

 

Untergang des Abendlandes

 

Alljährlich flanieren mehr als zwei Millionen Besucher, ein beträchtlicher Teil davon Touristen aus aller Welt, über den Nürnberger Christkindlesmarkt, ein nach Glühwein und Bratwurst duftendes Konglomerat aus Butzenscheibenromantik, Kleinkommerz und lokaler Tradition. Für Tausende von Kindern ist die feierliche Eröffnung am Freitagabend vor dem 1. Advent bereits der Höhepunkt, denn von der Empore der Frauenkirche herab heißt das Christkind seine Gäste willkommen.

 

Aus unerfindlichen Gründen ist der Gottesspross in Nürnberg kein kleiner Orientale jüdischer Abkunft, sondern ein per Perücke blondgelocktes Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, das von einer Jury aus mehreren Bewerberinnen ausgewählt wurde. Man mag das Ganze für leicht absurd halten oder schlicht für Kitsch, man könnte sich auch an die Halbwelt der Schönheitswettbewerbe erinnert fühlen – das Procedere ist jedoch Teil des Brauchtums geworden, und die Kinder auf dem Hauptmarkt lassen sich durch die geballte vorweihnachtliche Stimmung sogar von ihren PC-Games weglocken.

 

Von deutschem Brauchtum aber glauben Rechtsradikale besonders viel zu verstehen. Und so war es kein Wunder, dass neben anderen Braun-Bloggern die Nürnberger NPD sowie die neue Volkspartei Ostdeutschlands einen Shitstorm lostreten wollten, als die 17-jährige Benigna Munsi zur Tochter des Herrn gekürt wurde, stammte ihr Vater doch aus Indien, waren ihre Locken und ihr Teint doch etwas dunkler als im fränkischen Durchschnitt üblich: Der AfD-Kreisverband München-Land postete gar ein Bild des Mädchens auf Facebook und textete dazu: „Nürnberg hat ein neues Christkind. Eines Tages wird es uns wie den Indianern gehen."

 

Die oberbayerischen Chauvinisten wollten offenbar das rechtsschaffene deutsche Volk warnen, im drohe ein ähnliches Schicksal wie den amerikanischen Indigenen, denen die Weißen einst Land, Kultur und (häufig) das Leben genommen hatten. Ganz so, als sei der Untergang des Abendlandes gleich dem edler Indianerstämme durch die Wahl einer Kandidatin ohne rein germanische Wurzeln bereits vorprogrammiert, wobei nonchalant verschwiegen wird, dass viele Indio-Völker ihr Ende eben reinrassigen Europäern zu verdanken hatten.

 

Statt verheerende Hetze in den „sozialen“ Medien anzufachen, mussten die Retter des Okzidents allerdings erleben, dass über Benigna Munsi ein regelrechter Lovestorm aus aller Welt hereinbrach. Der üble Post wurde schnell gelöscht, und wie üblich distanzierte sich die AfD routiniert von diesem Ausrutscher. Doch als isoliert, tölpelhaft und kontextlos sollte man die Angelegenheit nicht werten, hinter den widerlichen Entgleisungen steckt nicht nur Hass, sondern auch Kalkül. Eine Besinnung auf früheres Geschehen zeigt, wohin der Rassismus führen kann und dass er gerade in Nürnbergs Altstadt nie ganz fremd und weit weg war. 

 

Schauplatz eines Pogroms

 

Die AfD trägt als rechtsextreme und neoliberale Partei den Rassen- und Klassenkampf offenbar in die Kinderzimmer und Jugendclubs. Der Urnengang in Thüringen belegte unlängst, dass sie erfolgreich bei jungen Wählern das Prinzip sozialdarwinistischer Konkurrenz gegen das Primat von Empathie und Solidarität durchsetzen konnte: Bei den Jugendlichen, die erstmals abstimmen durften, wurde die AfD stärkste Partei.

 

Was den Nürnberger Fall zusätzlich so traurig macht und ihn in einen geschichtlichen Zusammenhang stellt, ist die Tatsache, dass gerade in dieser Stadt die Rassengesetze der Nazis entstanden und andere Höhepunkte der Inhumanität direkte Bezüge zum Schauplatz des Weihnachtsmarktes hatten.

 

Im Stadtarchiv kann man sich Fotos vom Christkindlesmarkt aus der Zeit anschauen, als das Gelände, das Zentrum der historischen Altstadt, für ein paar Jahre Tausendjähriges Reich „Adolf-Hitler-Platz“ hieß. Zwischen festlich geschmückten Buden schwenken stämmige Männer in Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden unter einem Schild „Hier sammelt der Oberbürgermeister der Stadt der Reichsparteitage“ fröhlich Spendenbüchsen.

    

Im Mittelalter war der heutige Hauptmarkt ein häufig von der Pegnitz überschwemmtes Stück Morast, auf dem sich Handwerker und Kaufleute nicht niederlassen mochten. Also wies man das Terrain der jüdischen Gemeinde zu. Doch durch den Bau einer Flussbrücke gewann das Gelände an Wert, und so genehmigte Kaiser Karl IV.  der Ratsherrnfamilie Stromer 1349 den Abbruch des dichtbesiedelten Ghettos. Am 12. Dezember desselben Jahres wurden die Juden aus Nürnberg vertrieben, allerdings nicht alle. Der Mob tötete 600 von ihnen und plünderte anschließend ihre Häuser. Noch heute ist in Nürnberg, der selbsternannten Stadt der Menschenrechte, eine Straße nach dem Patriziergeschlecht der Stromer benannt. 

 

Wer redet jetzt noch mit der AfD?

 

Man sieht: Die xenophoben und antijudaischen (noch nur) verbal vorgetragenen Attacken der AfD entbehren nicht gewisser Verweise auf fürchterliche geschichtliche Verwerfungen. Und diese Referenzen sind nicht zufälliger Natur, nicht als peinliche Versehen oder Fehler einiger Rabauken im Fußvolk der Partei zu deuten. Die höhnische Abwertung anderer Ethnien, Haltungen oder wissenschaftlicher Erkenntnisse ist, mal geschickter, mal primitiver genutzte, Methode. Höcke, Gauland und Weidel unterscheiden sich allenfalls im Sprachgebrauch, nicht aber in den bräunlichen Inhalten und Intentionen.

 

Die Bilanz der Partei ist eigentlich erbärmlich. Ihr Führungspersonal scheint heillos zerstritten, ihre sachliche Kompetenz tendiert gegen Null, sie bricht Gesetze, wird in Spendenskandale verwickelt, und ihre Sprecher müssen sich ständig von Nazi-Parolen aus den eigenen Reihen distanzieren. Das alles scheint der AfD nicht zu schaden. Wo das Denken aufhört, macht der lauteste Ton die Musik, und den hat sie im Repertoire. Fragt sich nur, wer außerhalb der rechtsradikalen Blase überhaupt noch mit ihr reden, sie ernst nehmen will.

 

Doch da gibt es erstaunlicherweise gar nicht so wenige, denken wir nur an bestimmte CDU-Repräsentanten in Sachsen und Brandenburg, vor allem aber an jene 17 Thüringer Funktionäre der Union, die wie der dortige Fraktionsvize Michael Heym „ergebnisoffene Gespräche“ mit den Rechtsaußen führen wollen. Erinnern wir uns auch an das Verständnis, das SPD-Opportunist Gabriel oder die Linke Sahra Wagenknecht, die beide gern im rechten Reservoir gefischt hätten, für „besorgte“ AfD-Unterstützer zeigten.

 

„Mir tun Menschen mit solchen Ansichten leid“, kommentierte das Nürnberger Christkind die rechte Hetze. Es ist verständlich, dass sich Benigna Munsi die Freude an ihrem Amt nicht vermiesen lassen will, doch ist die Aussage inhaltlich falsch. Nach all dem, was in den letzten Jahren hierzulande auf Straßen und in Medien passiert ist, kann Mitgefühl mit AfD-Politikern oder ihren Wählern nur bedeuten, dass man sie für unzurechnungsfähig oder geistig behindert hält. So viel Intelligenz und Umsicht, ihre Aversionen bewusst zu pflegen und ihre zerstörerischen Ziele mit geradezu krimineller Energie zu verfolgen, muss man ihnen aber attestieren. Mit anderen Worten: Sie sind voll schuldfähig. 

11/2019        

 

 




Die Brandexperten


Es mutet makaber an, aber der Massenmord-Versuch eines Neonazis in Halle endete beinahe glimpflich. Wäre es dem Täter gelungen, in die jüdische Synagoge einzudringen, hätte er ein Blutbad anrichten können. So steuerte der multilaterale Rassist einen Döner-Imbiss an und konnte nur zwei Menschen töten. Wie meist nach solchen Ereignissen äußern sich Politiker betroffen und fordern schärfere Gesetze, weisen die Polizeibehörden jegliche Schuld von sich, wird die Einzeltäter-Hypothese bemüht.


Wahres Wort aus falschem Mund


Mag sein, dass der Täter von Halle nicht in rechtsextremistische Organisationen eingebunden war, Vorbilder wie den Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant oder Anders Breivik, den Massenmörder von Oslo, hatte er und ein „inspirierendes“ politisches Klima fand er in der ausufernden braunen Szene dieses Landes auch vor. Mögen die Spitzenkräfte der AfD, des vorgeblich legalistischen Zweiges der Bewegung, auch betonen, wie sehr sie Israel schätzen (wohl wegen der eigenen Islamphobie und des radikalen Kurses von Benjamin Netanjahu), die Anhänger konfabulieren weiterhin von „zionistischer Weltverschwörung“ und pflegen ihren Fremdenhass.


Wenn Alice Weidel oder Alexander Gauland sich Ausrutscher erlauben und diskriminierende oder gar rassistische Sottisen über Flüchtlinge und dunkelhäutige Menschen von sich geben, so bestätigt dies die Aversionen ihres Fußvolks und weckt beim einen oder andern vielleicht sogar den Wunsch, mit dem Gesocks aufzuräumen. Die antijudaistische Komponente aber brachte Bernd Höcke ins Spiel, als er das Berliner Holocaust-Monument als „Mahnmal der Schande“ bezeichnete, wobei sich der abwertende Begriff nicht etwa auf die Ermordung von sechs Millionen Juden durch Hitler-Deutschland bezog, sondern auf den künstlerischen Versuch, wenigstens die Erinnerung daran wachzuhalten.


Insofern könnte man dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann durchaus zustimmen, wenn er feststellt: "Einer der schlimmsten geistigen Brandstifter für neuen Antisemitismus im Land ist der thüringische AfD-Boss Björn Höcke. Wer die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung beseitigen will, der will doch offensichtlich den Massenmord verharmlosen.“ Sein Chef, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder schlägt in dieselbe Kerbe, fordert den AfD-Rausschmiss Höckes und erklärt dem BR, es gelte nun, gegen „geistige Brandstiftung“ anzugehen.


Bisweilen erklingen simple Weisheiten aus unberufenem Mund, so auch hier. Die beiden CSU-Politiker scheinen die verbalen Verfehlungen der eigenen Partei in der Vergangenheit verdrängt zu haben, darunter menschenverachtende Vorschläge und Invektiven, die kaum weniger rechtspopulistisch und gefährlich klangen als Höckes unsägliche Entgleisung.


Andreas Scheuers höhnische Einschätzung, das „Schlimmste sei ein fußballspielender, ministrierender Senegalese“ kann man noch als Stammtischscherz aus unterster Schublade abtun, viel bedenklicher ist da Markus Söders Twitter-Statement nach den Anschlägen von Paris ("#ParisAttacks ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen"), das eine Gleichsetzung von Asylbewerbern und Terroristen impliziert. Und 2015 forderte der sich mittlerweile staatsmännisch gerierende Ministerpräsident, damals noch Finanzminister im Freistaat, ganz im Sinne Trumps Zäune an den deutschen Grenzen und eine teilweise Abschaffung des Asylrechts.

 

Hass zu säen, Andersdenkende zu verunglimpfen und zum Abschuss freizugeben, hat durchaus Tradition in der CSU: Schon Bundeskanzler Ludwig Erhard bezeichnete 1965 missliebige Autoren wie Günther Graß und Rolf Hochhuth als „Banausen“ und „Pinscher“. Ein Jahr, nachdem 1968 der Studentenführer Rudi Dutschke durch einen aufgehetzten Kleinbürger niedergeschossen worden war, heizte der große alte Mann des deutschen Rechtspopulismus, Franz Josef Strauß, die Atmosphäre weiter auf, indem er küssenden APO-Demonstranten bescheinigte, sie benähmen sich "wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist".

 

Überhaupt scheint es der Vergleich von politischen Gegnern mit Tieren, insbesondere solchen der Ekel-Kategorie, den CSU-Granden angetan zu haben. In Kronach erklärte FJS 1978 zu Auseinandersetzungen mit dem linken Presseausschuss Demokratische Initiative (PDI): „Mit Ratten und Schmeißfliegen führt man keine Prozesse.“ Dieselben animalischen Synonyme fand sein damaliger Generalsekretär Edmund Stoiber zwei Jahre später für die Mitglieder des Verbands deutscher Schriftsteller sowie des PEN-Zentrums, allen voran für Bernd Engelmann, Walter Jens, Ingeborg Drewitz und Hermann Kesten.

 

Wir müssen zugeben, dass die CSU im Laufe der Jahrzehnte tatsächlich ausreichend Expertise in Sachen geistiger Brandstiftung bewiesen hat.


Solisten mit sehr viel Rückhalt


Ein Neonazi tötet Menschen. Usus ist hierzulande, dass zunächst die Einzeltäterschaft festgestellt wird, oft allerdings von Spezialkräften, die selbst nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Aber selbst wenn die schnelle Hypothese zuträfe – auch Solisten haben Idole, fühlen sich in einer spezifischen Atmosphäre angeregt, nehmen ein bestimmtes geistiges Umfeld als motivierend wahr, eins, wie die AfD es als wesentlicher Faktor bestimmt, zu dem jedoch auch andere (siehe oben) beitragen.


Nein, allein muss sich in Deutschland niemand fühlen, der gegen Ausländer hetzt, ein beträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung teilt seine Hassgefühle, und nicht wenige in rechten Gruppierungen, aber auch in Spezialeinheiten von Polizei und Bundeswehr sind bereit, ihre rassistische Sichtweise auch gewaltsam durchzusetzen. Viele Reichsbürger und Prepper sind bewaffnet und verschwören sich gegen die „Flüchtlingsflut“ oder gegen Linke und Politiker mit „abweichender“ Meinung, schwelgen aber gleichzeitig in  völkischen Verschwörungstheorien, die thematisch nicht weit von denen entfernt sind, die im Mittelalter zahllose Juden das Leben kosteten.


Es herrscht bundesweit eine Atmosphäre, in der „Einzeltäter“ wie Stephan B. in Halle die Sympathien und den Rückhalt einer gar nicht so kleinen Szene zu verspüren glauben, wenn sie morden gehen. Wenn etwa laut Nürnberger Nachrichten Dieter Görnert, stellvertretender Vorsitzender des AfD-Kreisverbands in der Stadt der Reichsparteitage, unter Pseudonym auf Twitter das „Erschießen“ oder „Steinigen“ von Migranten propagiert, kann dies ein tumber Fanatiker durchaus als Aufforderung, zur Tat zu schreiten, verstehen. Und wie die NSU-Morde belegen, können sich die angeblichen Solisten auch auf organisatorische Strukturen im Untergrund und eine weit verbreitete Sehschwäche auf dem rechten Auge von Ermittlern wie Staatsschützern verlassen.


Feuer mit Brandbeschleuniger bekämpfen


Fast reflexartig fordern Regierungspolitiker nach rechten Gewalttaten strengere Gesetze, mehr Polizeikräfte und mehr Verfassungsschützer (VS). Bleibt die Frage, welche Hüter der demokratischen Ordnung sie denn gern hätten: solche wie die Frankfurter Polizisten, die eine Rechtsanwältin in einem mit NSU 2.0 unterzeichneten Fax als „Türkensau“ beschimpften, ihr drohten, ihre kleine Tochter „abzuschlachten“, und in einer Whatsapp-Gruppe Nazi-Embleme und Judenwitze austauschten? Oder solche wie den VS-Mann, der in Kassel Augen- und Ohrenzeuge eines NSU-Mordes wurde, aber nichts gesehen und nichts gehört haben will und auch tatsächlich nichts gemeldet hat?


Vielleicht denken die „Verantwortlichen“, die so vehement eine Aufstockung der „Sicherheitskräfte“ und professionellen Schlapphüter verlangen, aber auch an jene V-Leute des Verfassungsschutzes, die so erfolgreich die NPD unterwanderten, dass sie in deren Vorstand aufrückten, sogar die Programme schreiben durften und damit letztendlich das Verbot der Partei verhinderten, weil der Staat schlecht Machwerke aus eigener Feder für illegal erklären kann.


Natürlich stehen nicht alle Polizisten und Soldaten unter dem Generalverdacht, Neonazis zu sein. Es ist aber doch festzuhalten, dass die Hüter der Ordnung und des Landes überproportional in der rechtsextremen Szene vertreten sind – allen voran Angehörige der Elite-Truppen wie der Spezialeinsatzkommandos der Polizei und des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr. Es ist auch bekannt, dass die rassistischen und offen faschistischen Organisationen seit geraumer Zeit massiv aufrüsten und geheime Depots von Waffen, die zu einem großen Teil aus den Armee-Arsenalen verschwunden sind, anlegen.


Hinter der unsäglichen, aber meist nicht strafrelevanten AfD-Rhetorik können sich die Untergrund-Militanten der äußersten Rechten verbergen. Die Partei wird nolens volens zum pseudo-bürgerlichen Schutzschild für gewalttätige Nationalisten und liefert ihnen die inhumanen Polemiken, die sie rassistisch zuspitzen und in Taten umsetzen. Insofern ist der Vorwurf der „geistigen Brandstifung“ in Bezug auf die AfD gerechtfertigt.


Aber was sind das für Zeiten, in denen frühere Brandstifter die Gegner aus dem eigenen Lager, dem rechten nämlich, des Zündelns bezichtigen und so mancher militante Verächter des Grundgesetzes die verfassungsgemäße Ordnung der Bundesrepublik schützen soll.

10/2019

Dazu auch:

Die rechte Haltung (2019) und Braundeutscher Eisberg (2018) im Archiv dieser Rubrik

 

  




Her mit den Migranten!


Jens Spahn, Gesundheitsminister und Hyperaktivist der Großen Koalition, reist nach Mexiko, um dort Pflegekräfte anzuwerben, im Kosovo war er zum selben Behuf auch schon. Da kümmert sich einer angesichts der prekären Situation von Alten und Hilfsbedürftigen, könnte man meinen, und das implizieren auch die kenntnisfernen Berichte der Medien. Dieser Notplan ist jedoch aus mehreren Gründen fragwürdig, und der neue CDU-Star unterdrückt dabei aus Gründen der aktuellen Opportunität eigene Aversionen gegen Immigranten.


Erst die Rohstoffe, dann das Know-how


Als er letztes Jahr im Rennen um den CDU-Vorsitz gegen AKK antrat, gab sich Jens Spahn dynamisch, unkonventionell und vor allem strikt rechts. Sein Pech war, dass mit Friedrich Merz ein weiterer Vertreter des wirtschaftsliberalen Unionsflügels kandidierte und ihn bald abhängte. Als aktionistischer Gesundheitsminister will Spahn nun u. a. die Deutschen zu einem Volk von Organspendern machen, und für die Krankenhäuser plant er neue Personalvorgaben. Da hierfür aber die Pflegekräfte fehlen, begibt er sich ins Ausland, bevorzugt in unterentwickelte Länder, um Fachkräfte anzuwerben.


Um sich deutlich von der Kanzlerin abzusetzen, hatte Spahn während seiner Bewerbung um den CDU-Chefposten deren Flüchtlingspolitik scharf kritisiert und die Grenzen für Asylbewerber dicht machen wollen, nun schleust er selbst Menschen von den Philippinen, wo seine Staatssekretärin Sabine Weiss im August die Werbetrommel rührte, oder aus Mexiko, das infolge des Drogenkrieges vom Schwellenstaat wieder zur krisengebeutelten Drittwelt-Nation herabgesunken ist, nach Deutschland, als wolle er hiesige Probleme mit internationalistischem Ansatz lösen. Diese wenig glaubwürdige Wandlung vom Chauvi-Saulus zum Willkomen-Paulus entging der Presse, die sein neuestes Vorhaben weitgehend unkommentiert kolportierte.


Eine gut ausgebildete Fachkraft hat natürlich das Recht, das eigene Land zu verlassen, wenn dort die Lebensumstände und Arbeitsbedingungen miserabel sind, und ihre Arbeitskraft anderswo anzubieten. Was dem Individuum erlaubt sein muss, darf aber von den Staaten der Ersten Welt nicht planmäßig zur Behebung eigener Defizite ausgenutzt werden: Der Ingenieur aus dem südindischen Kerala hat auf Staatskosten studiert, um die Infrastruktur des eigenen Landes zu verbessern, nicht um Brücken in Qatar zu bauen. Der vietnamesische Programmierer sollte das EDV-Niveau seiner Heimat heben, statt Windows zu höheren Profiten zu verhelfen.


Auch Altenpfleger oder Krankenschwestern hinterlassen fatale Lücken, wenn sie ein armes Land verlassen. Auch in der Dritten Welt werden die Menschen mittlerweile älter, und vor allem in den Slums zerfallen die einst absichernden Familienstrukturen. Das Gesundheitswesen ist dort weit bedürftiger als unseres.

In semi- und postkolonialistischen Zeiten schnappten sich die Industriestaaten die Bodenschätze und Feldfrüchte der Dritten Welt und überschwemmten diese mit überteuerten Fertigprodukten. In unserer Ära des Freihandelsimperialismus lockt die Erste Welt zusätzlich die Ausgebildeten und damit das Fachwissen aus armen Ländern fort, und diesen bleiben allenfalls die Scherflein, die Ausgebildete nach Hause senden. Entwicklung ist so in einem unterentwickelten Land nicht möglich.


Versäumnisse der Vergangenheit


Dass es hierzulande zu wenige Pflegekräfte gibt, ist nicht ursächlich die Schuld von Jens Spahn, wohl aber die seiner politischen Ziehväter. Niedriges Einkommen und Arbeitsüberlastung haben den Beruf selbst für die unattraktiv gemacht, die die dazu nötige Empathie und Geduld aufbringen. Für die auf Rationalisierung und Profit orientierte professionelle Versorgung kranker und alter Menschen zählen die professionellen Helfer und Begleiter in den verschiedenen Stadien der Hilfsbedürftigkeit lediglich als Kostenfaktoren, nicht aber als Gewährleister eines Mindestmaßes an Menschenwürde.


Am stationär behandelten Kranken lässt sich durch Operation, Medikation, Therapie oder Unterkunft schnelles Geld verdienen, eine gute Pflege wirft kurzfristig nichts ab. Unser System heizt die Konkurrenz zwischen Kliniken einerseits und Heimen andererseits an, zwingt diese zu Einsparungen, Arbeitsverdichtungen und einer Mechanisierung der Abläufe. Die Qualität der Pflege und der menschliche Umgang mit Patienten oder alten Menschen können da nur vernachlässigbare Nebenaspekte sein.


Es ist notwendig, dass Ver.di mit den Betreibern aller Gesundheitseinrichtungen flächendeckende Tarife aushandeln will, auch wenn etliche der Privatbetriebe nicht im Arbeitgeberverband organisiert sind und sich gegen gerechtere (höhere) Löhne wehren. Aber was das Entgeltniveau und die Arbeitsbedingungen betrifft, sind nicht Jahre, sondern Jahrzehnte aufzuholen. Und so werden weiter PflegerInnen fehlen, während immer mehr Menschen immer länger leben und die Zahl der Pflegebedürftigen schon aus diesem Grund enorm steigt. Also will der sich in der Flüchtlingsfrage xenophob gebärdende Spahn jetzt die Grenzen für bestimmte Wirtschaftsmigranten ganz schnell öffnen. Eine andere Möglichkeit, die deutlich wie der Balken im eigenen Auge hervorsticht, übersieht der umtriebige Minister dabei geflissentlich.



Warum denn in die Ferne schweifen…


Unter den Asylbewerbern, die seit langem auf ihr Anerkennungsverfahren warten oder vom BAMF bereits abgelehnt wurden, aber dagegen klagen bzw. einstweilen geduldet werden, befinden sich viele, die über Erfahrungen in der Kranken- und Altenpflege verfügen oder eine einschlägige Ausbildung machen würden. Mithilfe von Flüchtlingsorganisationen lernen etliche (halblegal) an Fachschulen und zeigen sich sehr motiviert. Sie kommen ohnehin aus Ländern, in denen hohes Alter nicht unbedingt wie hier vorrangig als Belastung für die Sozialsysteme gesehen wird.


Wenn man in einem Seniorenheim erlebt hat, wie gern die alten Menschen sich von afrikanischen Pflegekräften umsorgen lassen, wie sehr sie deren Freundlichkeit und Gelassenheit schätzen, könnte zu dem Schluss kommen, in den letzten Lebensjahren schwände der in Deutschland latent vorhandene Rassismus dahin.


Doch die wenigsten Migranten bekommen eine Chance, da ist schon Spahns Kabinettskollege Seehofer vor, der abschieben will, wohin auch immer, Hauptsache schnell. Und bei Unbescholtenen ohne gültige Papiere lässt sich dafür immer noch der „Tatbestand“ der fehlenden Mitwirkung an der Klärung der Identität konstruieren. 


In der Flüchtlingsarbeit unterrichtete ich einen jungen Äthiopier, der eine Altenpflegeschule besuchte. Tagsüber lernte er wie ein Besessener und verbesserte sein Deutsch, nachts konnte er aus Angst vor der Abschiebung nur schlecht schlafen. Dann erschien er nicht mehr, seine Befürchtungen waren wahr geworden. Auch deshalb fliegt Jens Spahn jetzt nach Mexiko.

09/2019

Dazu auch:

Armutsexperten im Archiv der Rubrik Medien (2018) 





Adel verzichtet (nie)


Wer die Aristokratie als skurriles Relikt längst vergangener Zeiten belächelt und sie lediglich als Themenfabrikation für Frauenillustrierte und TV-Serien sieht, liegt daneben. Zwar wurde der europäische Hochadel durch bandenmäßige Inzucht geschwächt, doch halten sich etliche Monarchien hatnäckig und mischen sich bisweilen sogar in die Politik ein, während Herzöge wie Grafen weiterhin auf ihre Privilegien pochen. Erstmals in der Menschheitsgeschichte überlebten die Protagonisten einer untergegangenen Gesellschaftsform und ließen sich auch noch von den früheren Untertanen aushalten. Als besonders unverschämt erweist sich hierzulande das berüchtigte Geschlecht der Hohenzollern, das seine historische Rolle vergessen zu haben scheint, nicht aber seine Ex-Pfründen.


Blaublütig in zwei Weltkriege


Von Schwaben und Franken aus fielen die Hohenzollern in Brandenburg ein und raubten sich nach und nach etliche Gebiete in Ostpreußen zusammen, bis sich das damalige Oberhaupt der Sippe 1701 selbst zum König Friedrich I. von Preußen ernannte. Nachfolger Friedrich Wilhelm, der Soldatenkönig genannt, kaufte sich Söldner aus ganz Europa ein und alimentierte ein riesiges Heer – auf Kosten der Untertanen. Sein Sohn sollte als Friedrich der Große in die Geschichte eingehen, hatte er doch mit dem Bonmot, dass jeder nach seiner Faςon selig werden solle, ein Zeichen der Aufklärung und Toleranz gesetzt, das nur leider nicht für die Nachbargebiete galt, die er in 23 Jahre währenden Kriegen verwüsten ließ, und auch nicht für das eigene Volk, das in dieser Zeit heftig dezimiert wurde.


Nachfolger Friedrich Wilhelm II. nutzte die Zweite und Dritte Zerschlagung Polens, um das Herrschaftsgebiet noch weiter auszudehnen. Nach den Napoleonischen Kriegen wuchs das von den Hohenzollern regierte Territorium noch um das Rheinland, Westfalen und Sachsen, so dass sich die Keimzelle für ein zweites Deutsches Reich gebildet hatte. Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 und einigen Kriegen stellten die Hohenzollern 1871 den ersten Kaiser. Als 1888 Wilhelm II. den Thron bestieg, war das bittere Ende von 1918 schon vorprogrammiert. Der großmannsüchtige Monarch war – wie später Hitler – von der deutschen Rassenüberlegenheit überzeugt, befahl eine beispiellose Aufrüstung, ließ die afrikanischen Kolonien mit härtester Hand ausbeuten – und verwendete die üppige Apanage zur Börsenspekulation. Als bedenkenloser Hasardeur führte er auch das Reich in den Ersten Weltkrieg.


Nach der Niederlage und dem Versailler Vertrag lauerte der in die Niederlande geflohene Ex-Kaiser auf eine Gelegenheit zur Rückkehr auf den deutschen Thron und biederte sich zwischen 1930 und 1934 den Nationalsozialisten an, um deren Machtergreifung zur Restauration nutzen zu können. Wilhelm II. setzte sogar ein NSDAP-Mitglied, den Admiral Magnus von Levetzow, als Generalbevollmächtigten ein. Es half alles nichts, Hitler hatte nicht vor, die Macht mit einem Monarchen zu teilen.


Aus dieser Missachtung seitens des Führers, aus privaten Sottisen über die plebejischen Nazi-Größen und aus einzelnen Kontakten zu Mitgliedern des Stauffenberg-Kreises konstruierten die Hohenzollern später eine angebliche Gegnerschaft zum Dritten Reich, die jetzt als Argument für die Klage ihres aktuellen Oberhauptes Georg Prinz Friedrich von Preußen auf Rückgabe einst enteigneter Kunstwerke, Möbel und Dokumente sowie auf Wohnrecht in verstaatlichten Schlössern herhalten soll. Doch in Wirklichkeit verhält es sich wohl so, wie das linker Sympathien unverdächtige Magazin Cicero die Beziehungen des Herrscherhauses zu den braunen Herrenmenschen beschreibt: „Gesucht und gefunden hatten die Hohenzollern die taktische und strategische Kollaboration.“


Enteignung der Feudalherren


Diese Annäherung des Herrscherhauses an die Nazis könnte vor Gerichten, vor allem in den neuen Bundesländern, noch von ausschlaggebender Bedeutung sein. Nachdem der Preußenprinz und Ururenkel des letzten Kaisers mit seiner Klage auf die Rückgabe der Burg Rheinfels vor dem Landgericht Koblenz gescheitert ist, versucht er jetzt, in den Ländern Berlin und Brandenburg an frühere Beute zu kommen. In den Gebieten der einstigen sowjetischen Besatzungszone wurde im Herbst 1945 allerdings die Enteignung der Gutsbesitzer, die Anhänger des NS-Regimes waren (sowie aller Junker mit Ländereien von über 100 Hektar), per Gesetz durchgeführt.


 Um die „Aushändigung des kriminell zusammengerafften Reichtums“ (so der Dramaturg Bernd Stegemann in Cicero) zu verhindern, hat Brandenburgs Finanzminister Christian Görke ein Gerichtsverfahren wieder aufnehmen lassen, in dem geklärt werden soll, ob die Hohenzollern Hitlers Machtergreifung Vorschub geleistet haben. In diesem Falle wäre jede Art von Entschädigung und Restitution ausgeschlossen



Dann wären auch die Forderung des Hauses Hohenzollern, der Familie solle ein lebenslanges unentgeltliches Wohnrecht im Schloss Cecilienhof oder in der Potsdamer Villa Liegnitz oder im Schloss Lindstedt eingeräumt werden, obsolet und die Chance des Hochadels, zu hochwertigen Sozialwohnungen zu kommen, perdu.


Gier statt Reue


Der deutsche Adel, eigentlich von der Geschichte hinweggefegt, hat als anachronistische Erbenelite in einer luxuriösen gesellschaftlichen Nische überlebt. Zwar gab es auch blaublütige Widerstandskämpfer gegen Hitler, aber das historische Wirken der Aristokratie nach 1918 in Deutschland wurde mehr von Junkern und Baronen, die rechtsextreme Freikorps gründeten und gegen die Weimarer Republik konspirierten und so den Nazis den Weg ebneten, etwa jenen Graf Arco, der den ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner erschoss, oder durch treue adlige Gefolgschaft dem Führer gegenüber definiert.


Ungeachtet ihrer Vergangenheit, blieben viele Adlige wohlhabend, verkehrten im selbstgewählten Edel-Ghetto untereinander und schickten ihre Kinder auf teure Schulen, wo ihnen zwar Etikette, aber offenbar kein Anstand und kein verantwortliches Denken beigebracht wurden. Wie erklärt sich sonst, dass ein Fürst, dessen Clan Millionen in einen ersten Weltkrieg und viele damit in den Tod geschickt hat und den Initiatoren eines zweiten Weltenbrands zumindest zeitweise nahestand, aberkanntes Gut zurückverlangt, statt bei Opfern, Überfallenen und Hinterbliebenen um Verzeihung zu bitten?


Georg Prinz Friedrich von Preußen weiß wohl, dass man Menschenleben nicht mit Geld aufwiegen kann (auch wenn der Bayer-Konzern derzeit in den USA eine andere Erfahrung zu machen scheint), dass er aber nach all den Verfehlungen der Vorfahren als Hüter einer gottgewollten Ordnung die unter dubiosen Umständen erworbenen Güter wieder in seinen Besitz bringen will, als habe es Aufklärung, bürgerliche Demokratie, aristokratische Schuld und Wiedergutmachung nie gegeben, ist Ausdruck seiner schamlosen Hybris: Noblesse oblige, Adel verpflichtet? Zu gar nichts. Adel verzichtet? Mitnichten, selbst wenn viel zu viele Untertanen die Objekte der noblen Begierde, die einst fürstlichen Latifundien, mit ihrem Schweiß und Blut gedüngt haben.

 

09/2019  

 

 

 

 

 Berserkers Rückhalt


Man muss kein Fan der Brüsseler Kommission sein und auch kein fanatischer Gegner des Brexit, um den neuen britischen Premier Boris Johnson als einen skrupellosen und gefährlichen Opportunisten wahrzunehmen. Dabei hat er derzeit nur eine Stimme Mehrheit im Unterhaus, um den No-Deal-Austritt sein es Landes aus der EU bis zum 31. Oktober durchzusetzen. Johnson wäre aber weg vom Fenster, nähmen die sieben nordirischen Sinn-Féin-Abgeordneten ihre Sitze im Parlament ein und hätte er nicht die Unterstützung der neun Mitglieder der Democratic Unionist Party (DUP). Der richtige Zeitpunkt, sich diese Ulster-Partei näher anzusehen – und  überrascht festzustellen, dass ihr Gründer in historischem wie ideologischem Sinne ein Vorbild für den Berserker in Downing Street 10 und seinen großen Bruder in Washington gewesen sein könnte.


Relikt eines Eroberungskriegs


Boris Johnson ist sicherlich ebenso wenig fromm wie sein US-Pendant Donald Trump, doch wie dieser bedient er sich einer nuancenlosen Schwarz-Weiß-Rhetorik, die den Breviers gottesfürchtiger Sektierer entlehnt scheint. Die Einteilung der Welt in Gut und Böse, die fanatische Diktion und die permanente Androhung von Rachemaßnahmen belegen, dass der blonde Berserker in London mit den rechtsextremen DUP-Politikern adäquate Partner gefunden und vielleicht sogar von deren Ahnherrn gelernt hat.


Reverend Ian Paisley dürfte sowohl chauvinistischen Propagandisten als auch sich zunehmend in die Politik einmischenden Zeloten in der englischsprachigen Welt als Vordenker gedient haben. Er gründete Anfang der 1950er Jahre eine Freikirche, weil ihm die an sich schon strengen Presbyterianer in Ulster immer noch zu lax waren, und 1971 eine rechtsextreme Partei, eben die DUP, um jeden Kompromiss mit den Vertretern der aufbegehrenden katholischen Minderheit zu verhindern. Kooperation mit den Papisten war für ihn ein „Pakt mit dem Teufel“.


Mit solch schlichter, aber wirkungsvoller Wortwahl (der die seiner Epigonen heutzutage frappierend ähnelt) versuchte er, das Karfreitagsabkommen, das 1998 ein Moratorium im nordirischen Bürgerkrieg einleitete, zu verhindern, und weigerte sich lange, ein Kabinett mit seinen Todfeinden von der Sinn Féin zu bilden. Als er 2007 schließlich doch Erster Minister wurde und den IRA-Mann Martin McGuinnes als Stellvertreter akzeptieren musste, befand sich der Stern seiner Popularität bereits im Sinken. Drei Jahre später trat er als Regierungschef und als DUP-Vorsitzender zurück, nachdem sein  Sohn, der als seine rechte Hand galt, in diverse politische Skandale verwickelt war und in der Folge als Regierungsmitglied demissionieren musste.


Die Unruhen in Ulster waren nur scheinbar ein anachronistischer Konflikt, eher sind sie als das logische Erbe früh-imperialistischer Politik und ökonomischer Diskriminierung zu sehen. Zwischen 1649 und 1652 verwüsteten die Truppen des puritanischen Lordprotektors Oliver Cromwell Irland mit unvorstellbarer Grausamkeit. Mindestens 200.000 Menschen starben bei der Rückeroberung der Grünen Insel durch die Armee des englischen Parlaments. Um die neun Grafschaften der nordöstlichen Provinz Ulster, die sich als besonders widerspenstig erwiesen hatten, zu befrieden, wurden dort protestantische Siedler aus Schottland angesiedelt und mit Privilegien der katholischen Urbevölkerung gegenüber ausgestattet.


Nach einer schier endlosen Reihe von Rebellionen, Verschwörungen, Strafaktionen sowie der letzten großen Hungersnot in Europa erkämpfte sich Irland in den 1920er Jahren die Unabhängigkeit, doch verblieb Ulster mit nun protestantischer Bevölkerungsmehrheit als Nordirland bei Großbritannien. 

   

Gottesfürchtig, rechts und korrupt


Der lange schwelende Konflikt in Ulster zwischen den weitgehend recht- und besitzlosen Katholiken und den herrschenden Protestanten, die der Minderheit die Gleichberechtigung verweigerten, eskalierte am 30. Januar 1972, der als Blutsonntag in die Geschichte eingehen sollte, als in Derry dreizehn unbewaffnete katholische Demonstranten von britischen Fallschirmjägern erschossen wurden.


Die Provisional IRA antwortete auf das Massaker mit Bombenattentaten, denen nicht nur Soldaten und Polizisten zum Opfer fielen, sondern auch unbeteiligte Zivilisten. Die Provos agierten ohne große Skrupel im Kampf um den Anschluss Ulsters an die Republik Irland. So liquidierten sie etliche Mitglieder der konkurrierenden linken Official IRA, die auch Protestanten aufnahm. Ihnen gegenüber standen u. a. die Ulster Freedom Fighters, eine als besonders grausam geltende Miliz, die – befeuert von Paisleys Hasstiraden – wahllos Katholiken umbrachte.


Erst nach zähen Verhandlungen einigten sich die Hauptkontrahenten, Paisleys DUP und die Sinn Féin, die politische Organisation der IRA, zähneknirschend auf eine Koalitionsregierung, die Ulster relative Ruhe bescherte. Als gemäß der EU-Direktiven auch noch die Grenze zur Republik Irland durchlässig wurde, Verwandte sich ohne strenge Kontrollen besuchen und Berufstätige als Pendler im jeweils anderen Teil arbeiten konnten, war dies zwar noch nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen den Angehörigen beider Konfessionen, aber doch ein modus vivendi, der für die Zukunft hoffen ließ.


Aber mit der DUP ist es wie mit den ebenfalls ultra-rechten Evangelikalen in den USA: Wo Frömmigkeit den Verstand und Kreationismus die Wissenschaft vertreibt, da nistet sich auch gerne Bigotterie ein. Führende Mitglieder der Partei, die Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität strikt ablehnt, waren in einen Päderasten-Skandal verwickelt, andere machten sich der Postenschacherei und der persönlichen Bereicherung beim Verkauf öffentlichen Eigentums schuldig.


Die jetzige DUP-Vorsitzende Arlene Forster, mittlerweile Karriereabschnittsgefährtin von Boris Johnson, war 2012 als zuständige Ministerin für ein Programm zur Umstellung von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien zuständig, das vor allem den Hausbesitzern nutzte: Die Subventionssumme überstieg die Heizkosten, so dass Inhaber das ganze Jahr durchheizen ließen, um abzukassieren. Da die Förderung nicht gedeckelt und zudem für zwanzig Jahre garantiert wurde, konnte und kann ein Immobilieneigner in diesem Zeitraum bis zu 1,5 Millionen Euro an zusätzlichem Profit kassieren.


Als diese Umwidmung öffentlichen Vermögens 2016 aufflog, wurde die Demission Forsters, die inzwischen zur Ersten Ministerin avanciert war, von allen gefordert. Weil ihr Stellvertreter Martin McGuinness und seine drei Kabinettskollegen von der Sinn Féin aus Protest zurücktraten, musste auch sie 2017 den Posten, der seither vakant ist, räumen. Doch im gleichen Jahr sicherte die glühende Brexit-Anhängerin der ansonsten glück- und talentlosen Tory-Chefin Theresa May eine hauchdünne Mehrheit im Unterhaus. Transparency International resümierte: „Die britische Premierministerin sucht in Verhandlungen die Unterstützung einer Parteivorsitzenden, die wegen ernsthafter Zweifel an der Verwendung öffentlicher Gelder die eigene Regierungsmacht verloren hat.“


Blutiges Déjà-vu in Ulster?


Und heute ist Arlene Forster neben Donald Trump die wichtigste Stütze des marodierenden Boris Johnson. Auch der May-Nachfolger ist auf die Duldung durch eine Partei angewiesen, die den Brexit propagiert, weil sie den Vorrang der protestantischen Oberschicht in Ulster erhalten und die Provinz gegen (katholische) Grenzgänger und (progressive) Ideen abschotten will.


Wer vor vierzig Jahren durch Belfast lief, konnte sich wie in einer belagerten Frontstadt fühlen. Öffentliche Gebäude und Banken waren mit Drahtverhauen und Sandsäcken gesichert, vor denen britische Soldaten patrouillierten. Eine Mauer trennte die katholischen Viertel um die Falls Road von den Wohnblöcken der Protestanten. Evakuierungen wegen (zum Glück meist folgenloser) Bombenalarme gehörten zum Alltag. Die Religionszugehörigkeit entschied darüber, ob und wo jemand auf den damals größten Schiffswerften der Welt arbeiten durfte.


In einem Pub nahe des Botanischen Gartens drehte sich damals mitten in einem bis dato freundlich und interessant verlaufenen Gespräch ein distinguiert wirkender Gentleman abrupt weg, als ich auf die prekären Lebensverhältnisse der katholischen Gemeinschaft hinwies. Einige Minuten später flüsterte er mir zu: „Sie mögen vielleicht recht haben, aber You`re on the wrong side of town.“


Die notorische Brüsseler Beschwörung eines Zusammenrückens der Völker, einer kulturellen Union und eines friedensbewegten Europas klingt zunehmend hohl angesichts der reüssierenden separatistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen allerorten, des ökonomischen Machtkampfes der Staaten untereinander und der blamablen Haltung Flüchtlingen gegenüber. In Nordirland allerdings hat die EU Positives bewirkt. Die einst schwer bewachten Grenzübergänge zur Republik öffneten sich für Familienbesuche, Handel und Arbeitskräfte – ein Wandel, von dem die Menschen in beiden Teilen des Landes profitierten. In Belfast und Derry entstand zwischen Protestanten und Katholiken nicht gerade inniges Vertrauen, aber sie schossen nicht mehr aufeinander. Bis vor kurzem…


Die Nordiren hatten mit überwältigender Mehrheit gegen den Brexit gestimmt, insofern ist die Unterstützung Johnsons durch ihre Repräsentanten im britischen Unterhaus ein grausamer Witz. Vor allem unter den Katholiken war die Enttäuschung über den Ausgang des Referendums groß, wurde dadurch doch eine weitere Annäherung an die Republik gestoppt. Die Wut über die Ignoranz der DUP äußerte sich in Demonstrationen, aber auch Paketbomben-Anschlägen. Zwar hat die IRA längst die Waffen niedergelegt, doch existieren mehrere gewaltbereite Dissidenten-Organisationen. Im April schließlich wurde am Rande von Auseinandersetzungen zwischen protestierenden Katholiken und der Polizei die Journalistin Lyra McKee erschossen, vermutlich von einem Mitglied der Splittergruppe New IRA.


Auf protestantischer Seite sind weiterhin die altbekannten Militanten aktiv, die 1966 den offenen Bürgerkrieg überhaupt erst losgetreten hatten: Die Ulster Volunteer Force (UVF) mit den Freedom Fighters als terroristischen Verbündeten und die (verbotene) Ulster Defence Association (UDA) haben ihre Waffen nie abgegeben. Allein auf das Konto der Milizen dieser rechtsradikalen Organisationen, die sich auch noch gegenseitig bekämpfen, gingen mehr als 600 Morde. Sie können jederzeit wieder zuschlagen. Es wäre ein grausames Déjà-vu.


Belfast würde wieder zur geteilten Stadt, die irische Binnengrenze erneut zur Hochsicherheitssperre, Menschen müssten sterben wie während der heißen Phase des Konflikts, der insgesamt mehr als 3500 Opfer kostete. Wenn man solche möglichen Konsequenzen bedenkt, verbietet sich ein spöttisches Lächeln angesichts des von Paisleys geistigen Erben unterstützten politischen Amoklaufs eines Boris Johnson. Ein Misstrauensvotum von Labour gegen ihn wird vermutlich scheitern, und eine Mehrheit in Großbritannien scheint mittlerweile seinen Brexit-Kurs zu billigen.


Wir leben in einer Zeit, in der die Trumps, Salvinis und Johnsons nicht mehr als brutalste Verfechter eines kapitalistischen Sozialdarwinismus und blinden Nationalismus erkannt werden, sondern vielen als exotische Heilsbringer inmitten einer grauen Masse unehrlicher Politiker gelten.           

08/2019 






Die rechte Haltung


Die Vorgängerin floh nach etlichen Pannen und Berater-Skandalen an die Spitze der EU-Kommission, und nun muss Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK), Möchtegern-Kanzlerkandidatin der Union, im Verteidigungsministerium ausmisten. Zunächst einmal machte sie sich lieb Kind bei der Führung der Bundeswehr und sprach die Truppe pauschal vom „Generalverdacht“ des Rechtsextremismus frei. Wenn die unerfahrene Saarländerin da nicht ein wenig voreilig gewesen ist…


Killer-Elite mit NS-Faible


„Es gibt keinen Generalverdacht gegen unsere Soldaten“, sagte AKK in einem Zeitungsinterview und stellte damit der Bundeswehr einen Persilschein aus, nachdem Vorgängerin Ursula von der Leyen auf Berichte über rechtsradikale Unterwanderung hektisch reagiert hatte. Die Truppe habe ein „Haltungsproblem“, zeige „falsch verstandenen Korpsgeist“ und „auf verschiedenen Ebenen“ sei ein „Führungsproblem“ festzustellen, hatte die jetzige EU-Kommissionspräsidentin gewarnt und in Kasernen nach Nazi-Memorabilia fahnden ließ. Ein Schnellschuss: Es wurden ein paar Bilder abgehängt (darunter skurrilerweise das von Ex-Kanzler Schmidt), aber die Wurzeln antidemokratischer Gesinnung und den Grad der Durchseuchung mit nationalsozialistischem Gedankengut untersuchte man nicht weiter.


Für AKK hingegen hat die Bundeswehr von vornherein kein Haltungsproblem, stehen die Soldaten doch ordentlich stramm und befolgen den Befehl „Rechts um!“ exakt und ohne Widerstreben. Tatsächlich kann es keinen Generalverdacht gegen alle Uniformierten geben, sehr wohl aber einen Anfangsverdacht gegen die Führung, reaktionäre Traditionspflege zu fördern und rechtsradikale bis mörderische Aktivitäten in einigen Truppenteilen zu „übersehen“. AKK aber stimmt in den Klagechor aller KriegsministerInnen ein, es sei mehr Geld (für Berater und sinnlose Anschaffungen?) nötig, und ignoriert, dass mancherorts der vielbeschworene „Bürger in Uniform“ sich zum „Wutbürger unter Waffen“ gewandelt hat.


Da wäre zum Beispiel das Kommando Spezialkräfte (KSK), eine Elite-Einheit mit Lizenz zum Töten. Die 1100 streng abgeschirmten und bestens für letalen Zugriff ausgebildeten Soldaten sollen als Einzelkämpfer oder in kleinen Teams „asymmetrische“ Operationen, etwa Sabotage im Feindesrücken oder gezielte Liquidierungen, durchführen. Offenbar sind die potentiellen Killer im Vaterlandsdienst so gut abgeschottet, dass nicht einmal der Militärgeheimdienst MAD mitbekommt, wenn sich NS- Gedankengut und strategisches Werwolf-Denken à la Waffen-SS unter ihnen ausbreiten (so er überhaupt davon wissen will). Auch die Suspendierung eines KSK-Gründungsmitglieds, des Oberstleutnants Daniel K., der als Reichsbürger seine rechtsradikalen Ansichten im Netz verbreitete, ließen die Alarmglocken nicht schrillen.


Als Recruiting Center für Angehörige des KSK und der polizeilichen SEKs hat sich mittlerweile Uniter formiert, ein privater Verein aktiver und ehemaliger deutscher Soldaten und Ordnungshüter, der ganz offensichtlich Söldner-Einsätze im Ausland vorbereitet und bereits durchführt. So hat Uniter ausgerechnet auf die Philippinen des Schlächters Duterte, der seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren Tausende von Dealern und Drogensüchtigen ermorden ließ, eine „Medical Response Unit“ entsandt. Wie der Verein mitteilte, sollen im Dienste des Horror-Regimes „gezielt Kenntnisse des Eigenschutzes trainiert“ werden. Im Internet brüstet sich Uniter mit dem „Ausbau der Präsenz“ in Israel sowie Kontakten zu Namibia und Äthiopien.


Doch auch im Inland ist Uniter aktiv. Der in Stuttgart eingetragene Verein ist laut taz der offizielle Teil des Netzwerks Hannibal, in dem sich die sogenannten Prepper organisieren, die den Aufbau einer Schattenarmee vorantreiben und dabei Waffenlager anlegen sowie Todeslisten (mit den Namen „flüchtlingsfreundlicher“ oder linker Politiker) führen. Die Prepper rechnen mit dem baldigen Zusammenbruch des bürgerlichen Staates und rüsten sich für eine Nacht der langen Messer. Die Öffentlichkeit (offenbar aber nicht AKK) wurde erst auf Gefahren aus dem rechtsextremen Untergrund aufmerksam, als der Aktivist Franco A. aufflog. 


Wachsamkeit in Austria und Frankreich


Es waren die österreichischen Behörden, die im April 2017 den Oberleutnant Franco A. wegen illegalen Waffenbesitzes auf dem Wiener Flughafen verhaften ließen. Eine Abgleichung seiner biometrischen Daten durch die Beamten ergab, dass sich der Offizier in Deutschland als Syrer ausgegeben hatte und vom BAMF als politischer Flüchtling anerkannt worden war – und das, obwohl sich Franco A. recht dilettantisch angestellt und nicht einmal über die nötigen Sprachkenntnisse verfügt hatte. Die Bundesanwaltschaft ging bald davon aus, dass der Extremist einen „rechtsterroristischen Anschlag unter falscher Flagge“ geplant hatte. Das Verbrechen wäre Islamisten angelastet worden und hätte eine von diffusen Ängsten und Fremdenfeindlichkeit geprägte Atmosphäre, wie sie Neonazis sich für den Tag X wünschen, erzeugen sollen.


Man hätte es wissen können. Wie der Spiegel berichtete, fiel Franco A. bereits 2014 als geistiger Brandstifter auf – allerdings nicht seinen deutschen Vorgesetzten, sondern französischen Lehrkräften. Seit 2009 hatte der Offizier an der Militär-Elitehochschule École spéciale militaire de Saint-Cyr in der Bretagne studiert. Seine Masterarbeit mit dem Titel „Politischer Wandel und Subversionsstrategie“ stuften die Professoren als „völkisch“ und „rechtsextrem“ ein.


Der Schulkommandeur Antoine Windeck, ein französischer Brigadegeneral, informierte seine deutschen Ansprechpartner im Führungsstab der Bundeswehr über die rassistischen und verschwörungstheoretischen Tendenzen in der Arbeit von Franco A. und zog daraus den konsequenten Schluss: „Wenn es ein französischer Lehrgangsteilnehmer wäre, würden wir ihn ablösen.“ Doch so schnell schießen die in preußischer Tradition stehenden Bundeswehr-Granden nicht. Auch als der Militärhistoriker Jörg Echternkamp in einer Nachprüfung das Machwerk als „radikalnationalistischen, rassistischen Appell“ beurteilte, begnügte man sich damit, Franco A. zum Gespräch zu laden. Der distanzierte sich pflichtschuldig von den Inhalten und beklagte Zeitdruck und mangelnde Betreuung. Als dann noch ein Wehrdisziplinaranwalt dem Rechtsradikalen zugestand, er sei „angesichts der ihm unzweifelhaft zugeschriebenen hohen Intellektualität ein Opfer seiner eigenen intellektuellen Fähigkeit in der Darstellung geworden“, war wieder alles in Ordnung. Jeder macht Fehler und schlägt mal verbal über die Stränge…


Es ist also der Aufmerksamkeit französischer Hochschullehrer und österreichischer Beamter zu verdanken, dass Franco A. überhaupt enttarnt und überführt werden konnte. Die Bundeswehr und die deutschen Dienststellen verharrten derweil im tiefen Schlaf der (Ge)Rechten, einem komatösen Zustand selbstgefälliger Ignoranz gegenüber brauner Unterwanderung, in den sich Frau AKK mit ihrer Generalabsolution für die gesamte Truppe nahtlos einfügt.


Strategen im Sog der Neuen Rechten


Wer nun glaubt, offener Militarismus sei nur in den unteren Rängen der Bundeswehr und in einschlägigen Debattierclubs zu finden, irrt gewaltig, der Fisch stinkt vom Kopf her. Der ehemalige Abteilungsleiter im Waffensystemkommando der Luftwaffe, Oberst Richard Drexl, und das langjährige Mitglied im „Beirat innere Führung“ des Verteidigungsministeriums, Josef Kraus, fordern in einem Buch („Nicht einmal bedingt abwehrbereit“) einen relevanten Einfluss Berlins auf den Einsatz von Atombomben. Darin gehen sie konform mit einem AfD-Positionspapier, das vom Ex-Oberst im Generalstabsdienst, Rüdiger Lucassen, und dem früheren Oberbootsmann der Kriegsmarine, Jan Nolte, der den Neofaschisten der Identitären Bewegung nahesteht, verfasst wurde.


Dass die Thesen von Drexl und Kraus den militärpolitischen Vorstellungen der AfD ähneln, ist kein Zufall. Ganz im Duktus der Neuen Rechten fabulieren sie, die Beteiligung der deutschen Wehrmacht an Kriegsverbrechen und Judenvernichtung sei „umstritten“ und werfen der AKK-Vorgängerin von der Leyen vor, mit dem Traditionserlass von 2018 „fast sämtliche Traditionen aus 300 Jahren deutscher Militärgeschichte abgeschnitten“ zu haben, wodurch den Soldaten heute „heldenhafte Leitbilder“ fehlten. Die Autoren bedauern „die Umerziehung der Deutschen nach 1945“, durch die „Auschwitz … zum quasi alleinigen Gründungsmythos der Bundesrepublik stilisiert wurde“. Statt germanische Heroen und siegreiche Panzergenerale als Identifikationsfiguren präsentiert zu bekommen, mussten die Deutschen die „historische Schuld“ als Alleinstellungsmerkmal akzeptieren.


Constantin Wißmann, Online-Chef von Cicero, der Zeitschrift für den intellektuellen Reaktionär, springt den beiden ideologischen Restaurateuren bei. Er hält es für einen gravierenden Fehler, den Soldaten die „wenigen Symbole“ deutscher „Kampftradition“ zu nehmen, nur weil diese „mit braunen Flecken behaftet“ seien.


Da darf man die Edel-Militaristen beruhigen: Die Kameraden von der AfD, die Reichsbürger, die NPD, die Identitären oder der rechten KSK-Flügel lassen sich diese Symbole nicht nehmen und pflegen sie umso hingebungsvoller, je intensiver die braune Farbe zum Vorschein kommt.

In dieser geistigen Atmosphäre können wieder Allmachtphantasien entstehen, vorausgesetzt man lässt sie in Ruhe gedeihen. Und das hat – so scheint es – die neue Kriegsministerin sich fest vorgenommen.

07/2019 

Dazu auch:

Braundeutscher Eisberg im Archiv dieser Rubrik (2018)             

 






Stunde der Komödianten

 

Immer wenn ein Imperium auseinanderzufallen droht (auch wenn es nur ein so klitzekleines ist wie die SPD), naht der Auftritt der Propheten, Besserwisser und Clowns. So ist es auch jetzt: Während manche Sozialdemokraten mühsam darum ringen, politische Inhalte dingfest zu machen, kommen aus ihren Reihen seltsame Vorschläge, wie man sich besser präsentieren, vulgo: besser zum Verkauf anbieten, könnte.

 

Wie rechts ist die wahre SPD?

 

Was kann man von einer arg gezausten Partei noch erwarten, die einst links antäuschte, um dann die bürgerliche Rechte und die Privatwirtschaft zu konsolidieren. Parteiführer wie Friedrich Ebert, Helmut Schmidt oder Peer Steinbrück sorgten dafür, dass die SPD zwar oft das Wohl der kleinen Leute, nie aber das der Konzerne aus den Augen verlor. Wer also jetzt Reformen und Veränderungen von den Genossen fordert, muss berücksichtigen, dass diese nur auf einem eng abgesteckten Terrain, in den Grenzen der heutigen Produktionsverhältnisse, stattfinden können.

 

Im internen Kampf der Kapitalismus-Fraktionen müsste sich die SPD im besten Fall auf die Seite der Keynesianer, die dem Staat ein begrenztes Mitspracherecht als Reparaturbetrieb der Wirtschaft einräumen und auch ein wenig Wohlfahrt für die Ärmsten billigend in Kauf nehmen, schlagen und sich gegen die Friedman-Boys, die dem Finanzmarkt, dem Freihandel und den Börsen in ihrer Allmacht (nach christlichem Vorbild zur Heiligen Dreifaltigkeit verschmolzen) huldigen, positionieren. Es wäre ja schon etwas, wenn die Partei die Grausamkeiten des Systems für die derzeit Besitzlosen und die künftigen Generationen abmildern würde; denn warum sollen Menschen in zerstörter Umwelt dahinvegetieren, nur weil auf absehbare Zeit keine gerechtere Gesellschaft in Sicht ist?

 

Stattdessen haben die Narren Hochkonjunktur. Aus der Karnevalszentrale Nordrhein-Westfalen meldet sich jetzt eine Initiative von Jecken, die sich Die wahre SPD nennen, zu Wort und warnt vor einem „Linksruck“ der Partei. Der ehemalige NRW-Bauminister Michael Groschek, der auch im SPD-Bundesvorstand sitzt, verwechselt eifrig Ursache, Wirkung und Verantwortung, wenn er fabuliert: "Wir brauchen den wirtschaftlichen Erfolg, um die enormen Herausforderungen durch Klimawandel, Digitalisierung und Globalisierung finanzieren zu können."

 

Mit anderen Worten: Wir müssen für das globale Profitstreben die Umwelt zerstören, um anschließend mit dem Profit die Umwelt retten zu können. Weiter sinniert Groscheck, die SPD müsse ihre industriepolitische Kompetenz zur Profilierung nutzen und solle keinesfalls die Grünen oder die Linkspartei imitieren. Sie dürfe sich nie wieder nie wieder "in die Verantwortungslosigkeit des Wolkenkuckucksheims" flüchten. Dabei fänden es doch viele besser, wenn sich die SPD aus der gegenwärtigen realen Verantwortungslosigkeit ins luftige Nichts verflüchtigen würde – zumindest, wenn sich die Rechtsaußen-Fraktion der wahren SPD durchsetzt und der Wirtschaft weiter als politische Pförtnerbrigade und Nachhut in einem andient.

 

Auch der beim Geldverdienen in der Wirtschaft gewähnte Sigmar Gabriel gibt plötzlich wieder einen zum Besten. Im Handelsblatt (wo sonst?) rät der Elder Looser seiner Partei, es den dänischen Genossen nachzumachen: "Während sich in der deutschen Sozialdemokratie selbst bei den relativ harmlosen Initiativen der Bundesregierung zur schnelleren Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländerinnen und Ausländer und gegen illegale Migration schon wieder Widerstand und innerparteilicher Protest regt, hat sich die dänische Sozialdemokratie auf eine gelinde gesagt robuste Ausländer- und Asylpolitik festgelegt."

 

Die Sozialdemokraten in Kopenhagen haben sich inhaltlich bei Nationalisten und Neonazis bedient, als sie beschlossen, Asylbewerber weiterhin völkerrechtswidrig ihres kärglichen Eigentums zu berauben und zur Zwangsarbeit zu verpflichten. Folgt die SPD Gabriel, könnte sie in puncto „robuste“ Ausländerpolitik ein wenig bei der AfD abkupfern. 

  

Wenn schon der Inhalt nichts taugt…

 

Realistisch beginnt die Bestandsaufnahme von Martin Dulig, dem Vorsitzenden der sächsischen Landes-SPD. Er möchte sich vom Begriff Volkspartei verabschieden: „Wir sollten ihn hinter uns lassen und uns der Wirklichkeit stellen.“ Denn mit 8,6 Prozent bei den Europawahlen geht die SPD in der AfD-Hochburg Sachsen allenfalls noch als Völkchen-Partei durch. Wenn Dulig aber davon spricht, wie alles besser werden könnte, unterläuft ihm der gleiche Fehler wie den meisten seiner Genossen. Er doktert an Erscheinungsform, Image und Organisation der Partei herum, statt sich um die politischen Inhalte zu sorgen.

 

Der sächsische Parteichef fordert eigene digitale Plattformen, um unabhängiger von den großen Online-Diensten wie Facebook oder Youtube, in denen seit geraumer Zeit die AfD die Meinungsführerschaft innehat, zu werden. Die SPD müsse jünger werden, eine Frauenquote einführen und ihre Leistungen besser kommunizieren. Für welche Politik diese „modernere“ Partei dann stehen soll, verschweigt Dulig indes. Und wenn es um die drängenden Probleme bzw. deren Bewältigung geht, hat die SPD in der Tat wenig zu bieten. Im Augenblick verfahren die „Neuerer“ nach der altbekannten Devise: Wenn schon die Inhalte nichts taugen, sollte wenigstens die Form stimmen. Und die Inhalte taugen bei der SPD schon seit Längerem nichts mehr…

 

So kämpft Arbeitsminister Heil wie ein Löwe um die Einführung einer Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Auf den ersten Blick wirkt das Vorhaben sozial und gerecht, werden doch Rentner, die in einem langen Erwerbsleben zu wenig verdient haben, besser gestellt. Sieht man aber genauer hin, muss man konstatieren, dass die Allerwenigsten, die eine Aufstockung der Grundsicherung bitter nötig hätten, von der Grundrente profitieren würden.

 

Menschen, die wegen Krankheit, psychischen oder physischen Einschränkungen, gescheiterten Versuchen als Selbständige, schlechter Arbeitslage oder ungünstigem Wohnort keine 35 Jahre in die Rentenversicherung einzahlen konnten, erfüllen nämlich die Bedingungen für die Grundrente nicht. Die SPD muss sich fragen lassen, ob sie nicht ein gehöriges Teil an Mitschuld daran trägt, hat sie doch den Arbeitsmarkt „liberalisiert“, also die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen forciert. Zudem ist der von ihr ausgehandelte Mindestlohn, gemessen an dem in vergleichbaren EU-Staaten, lächerlich gering, was selbst langjährig Beschäftige am Ende zu „Aufstockern“ macht.

 

Die Bilanz der SPD nimmt sich auch in Umweltpolitik recht bescheiden aus: Da ficht die zuständige Ministerin Svenja Schulze im Inland wacker für  strengere Emissionsbeschränkungen, verhindert aber in Brüssel auf Geheiß von Kanzlerin Merkel und ohne Unterstützung durch die eigene Partei eine Reduzierung des Kohlendioxid-Ausstoßes um 40 Prozent. Überhaupt hat sich die SPD den Automobil-Konzernen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, mauert beim Braunkohle-Ausstieg, zaudert bei Rüstungsexporten und zieht die immer noch mit ihr verbündeten Gewerkschaften mit in diesen Sumpf aus Ignoranz, Unternehmensabhängigkeit und Perspektivlosigkeit.   

 

Währenddessen jettet Außenminister Heiko Maas durch die Welt, spricht in Washington als ungebetener Gast vor – und die Wand an, droht dem Regime in Teheran mit Konsequenzen für den Fall, dass es den Atomvertrag nicht erfüllt, den die USA längst gebrochen haben und aus dem sich auch erst die europäischen Firmen, dann ihre Regierungen bereits fortgeschlichen haben.

 

Und wer bislang glaubte, irgendwie seien die Genossen doch noch toleranter und menschlicher eingestellt als ihre Koalitionspartner von der Union, sollte sich das kürzlich im Bundestag beschlossene „Asylpaket“ näher ansehen. Deportationen ins Kriegsgebiet Afghanistan, auch von Auszubildenden sowie in Arbeit und Gesellschaft Integrierten, könnten bald bundesweit an der Tagesordnung sein. Gegeben hatte es sie vorher schon (vor allem in Bayern), jetzt aber wurden sie quasi amtlich abgesegnet. Überhaupt soll jede/r künftig sofort zurück in den Iran, nach Nigeria oder Ägypten und bald auch nach Syrien, wenn der Fluchtgrund, ob aus politischer Verfolgung, Angst vor Terror oder blankem Elend resultierend, von den deutschen Beamten in ihren bequemen Büros nicht anerkannt wird.

 

Experten werden kurz vor der Abstimmung im Bundestag zwischen Tür und Angel angehört, Zeit für Befragungen ist nicht. Die Warnung des UN-Flüchtlingshilfswerks, Asylbewerber in das „hochgefährliche“ Kabul abzuschieben, bleibt unberücksichtigt. Die Regierung demonstriert Geschlossenheit. Und von 138 Abgeordneten der sich angeblich in einem Linksruck befindlichen SPD stimmen nur acht im Parlament gegen ein Gesetz, von dem die Grüne Filiz Polat sagt, es sei eine „humanitäre und rechtsstaatliche Bankrotterklärung“.

 

Ein Fünkchen Hoffnung ist zu wenig

 

Auf der Petitionsplattform Change appellierte der Asylrechtsaktivist Thomas Nowotny in einem offenen Brief an 102 SPD-Abgeordnete, die Zustimmung zum Geordnete-Rückkehr-Gesetz zu verweigern, um Menschenleben zu retten. Er erhielt eine einzige Antwort. Die MdB Cansel Kiziltepe, eine der acht „DissidentInnen“, beschrieb in eindringlichen Worten, was den meisten ihrer SPD-Kollegen offenbar als akzeptabel erschien:  „Ein plastisches Bild von dieser Angst wurde in der Anhörung des Innenausschusses am Montag, den 3. Juni 2019, gezeichnet. Kinder würden aus Angst vor einer unangekündigten nächtlichen Abschiebung bereits mit ihren Schuhen zu Bett gehen, um für nächtliche Abschiebungen vorbereitet zu sein.“

 

Selbst wenn eine Handvoll Parlamentarier Skrupel zeigte und der niedersächsische SPD-Innenminister Boris Pistorius im Bundesrat sich gegen das Gesetz einsetzte – ein paar Hoffnungsfünkchen sind zu wenig in der Menge sozialdemokratischer Mandatsträger, die ihre Menschlichkeit regelmäßig taktischen Erwägungen, dem kurzfristigen Machterhalt oder einem parteitypischen Opportunismus opfern. Auch sind diese Mehrheitsgenossen nicht nur vom bösen Koalitionspartner Getriebene, schließlich haben sie sozialer Ungerechtigkeit durch Abschaffung der Vermögenssteuer, Hartz IV oder Kastration des Arbeitsvertragsrechts in Eigenregie Tür und Tor geöffnet; und sie haben unter dem Kanzler Schröder Deutschland in einen Angriffskrieg gegen Serbien geführt.

 

Das alles kümmert die Partei nicht weiter, sie entschuldigt sich auch nicht. Eher zeigt sich ihr rechtes Establishment empört über die legitimen, wenn auch etwas halbgaren Überlegungen des Juso-Chefs Kevin Kühnert über gewisse Möglichkeiten, die das Grundgesetz zuließe. Eine inhaltliche Revision steht nicht an, ein Umdenken in eine ökologische, von den Wirtschaftseliten unabhängige Richtung findet nicht statt. Eher übt man in der SPD Selbstkritik, weil man die eigenen Leistungen (s. o.) nicht hip genug dargestellt und vermarktet hat.

                            

In einem auf Haiti spielenden Roman zeichnet der englische Autor Graham Greene das Bild einer brutalen Gesellschaft, in der orientierungslose Gestalten von einem tödlichen Irrtum zum anderen taumeln. Irgendwie erinnern diese Figuren in ihrer politischen Blindheit an die Chefstrategen und Traditionsbewahrer der SPD in deren panischer Angst vor der Marginalisierung. Der Titel des Romans ist „Die Stunde der Komödianten“.

06/2019 

Dazu auch:

Die frohe Botschaft im Archiv dieser Rubrik (2018)

Brave SPD I und II im Archiv dieser Rubrik (2013)                               







Logik des Untergangs


Zwei zerstrittene Gottesstaaten stehen aktuell der modernen (oder besser: kapitalistischen) Welt gegenüber. Der eine zeigt sich trotz aller zelotischen Irrwege verhandlungsbereit und gilt als verlässlich, der andere, dessen Fundamentalismus weitaus rigidere Züge trägt, strebt höchst aggressiv die Hegemonie in seiner Region und ein global relevantes Vernichtungspotential an. Doch derzeit geschieht Seltsames: Die westlichen Staaten, selbsternannte Erben der bürgerlichen Aufklärung, offenbar aber durch die Anarchie des „freien Marktes“ in Konfusion gestürzt, drohen den Vernünftigen in der moderateren Theokratie (oder lassen sie zumindest im Stich) und ergreifen de facto Partei für die gefährlichsten Machtfanatiker der Gegenwart.


Die wahhabitische Bedrohung


Ab einem gewissen Level ökonomischer Macht, gepaart mit militärischem Drohpotential und expansiver Außenpolitik, kann sich ein Land offenbar so ziemlich alles leisten – es wird stets Verbündete finden. Ein solches Niveau hat Saudi-Arabien erreicht. Die staatlichen Hüter und Verbreiter des wahhabitischen Islam, der intolerantesten und wohl geist- wie menschenfeindlichsten Religion unserer Zeit, können ungestraft im Jemen als Anführer einer Kriegskoalition Menschenrechtsverbrechen en masse  begehen, in der Türkei einen Regimekritiker im eigenen Konsulat zerstückeln lassen oder daheim schiitische Demonstranten, darunter auch Minderjährige, zu Dutzenden und Hunderten foltern und hinrichten.


Berücksichtigt man zudem die Verstrickung in den islamistischen Terror durch Al Qaida, die von saudischem Boden aus und mit viel Geld und Manpower aus der dortigen Oligarchie die Welt mit Schrecken überzog, und durch den Islamischen Staat, dessen krude Ideologie der Wahhabiten-Lehre entlehnt war, müsste man davon ausgehen, dass dieses Königreich und seine Repräsentanten global geächtet seien. Doch weit gefehlt, wir haben es mit einem umworbenen und logistisch gehätschelten Alliierten des Westens zu tun.

 

Der starke Mann im Land, Kronprinz Mohammed bin Salman, galt dem Westen als „Modernisierer“, weil er Frauen unter bestimmten Umständen ans Lenkrad eines Autos ließ, als treuer Verbündeter, weil er sich gegen Assad und Russland stellte, und als einflussreicher Wirtschaftspartner, da sich Saudi-Arabien international längst Unternehmensbeteiligungen in systemrelevantem Umfang gesichert hat. Außerdem dominiert Riad die OPEC und reguliert somit die Förderung, den Fluss und die Preise des Erdöls weitgehend, was schon mal gegen Feinde der USA und der EU, etwa Venezuela, instrumentalisiert werden kann.

          

Das superreiche Saudi-Arabien wird hofiert als wichtigster Rohstofflieferant, als mächtiger Investor auf den internationalen Kapitalmärkten und als solventer Abnehmer riesiger Mengen von Waren, sehr gern auch von Rüstungsgütern. Der Völkermord im Jemen tobte schon eine Weile, ehe die Bundesregierung ein halbherziges und leicht zu umgehendes Exportverbot von deutschen Waffen beschloss. Großbritannien und Frankreich aber liefern weiter (und dabei sind mutmaßlich auch Komponenten von hiesigen Firmen, soweit diese nicht schon lizenzierte Fabriken in der arabischen Wüste errichtet haben).


Als Sturmbock aber agierte wie immer Donald Trump, der vor zwei Jahren US-Rüstungslieferungen im Werte von drei Milliarden Dollar binnen zehn Jahren mit Kronprinz Salman vereinbarte. Und nun kommt ans Licht der staunenden Öffentlichkeit, dass Energieminister Rick Perry ohne Informierung des Kongresses in Washington sieben geheime Genehmigungen für Exporte von Nukleartechnologie nach Saudi-Arabien erteilt hat. Nutznießer ist die Firma IP3 International, bei der neben einigen Ex-Generälen auch Trumps ehemalige Sicherheitsberater Flynn und McFarlane angeheuert haben.


Saudi-Arabien gab im vorigen Jahr – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – 67,6 Dollar für Waffen aus, gut sechs Milliarden mehr als die in der EU so gefürchteten Russen und mehr als das Fünffache der iranischen Aufwendungen. Das Land mit dem aktuell drittgrößten Wehretat weltweit erhält nun auch noch Know-how und Hardware zum Bau der Atombombe – eine Option, die das saudische Königshaus nach Meinung verschiedener Nahostexperten schon seit langem anstrebt. Zwar soll die Proliferation der Nukleartechnik offiziell lediglich zur Konstruktion von AKWs genutzt werden, doch der wahhabitische Extremismus kennt Treu und Glauben gegenüber todeswürdigen Andersgläubigen nicht, und vor den Konsequenzen des US-Leichtsinns sollte sich nicht nur der Iran fürchten, sondern auch Israel, das sich derzeit in einer seltsamen Rolle als Verbündeter Riads sieht.


Der Verrat an den Vernünftigen


Bangen aber soll sich die Welt nicht vor dem immer bedrohlicher werdenden Expansionismus der Saudis, sondern vor der Zurückhaltung der Mullahs in Teheran. So passt es besser ins außenpolitische Konzept einer auf Handelsdominanz und Gewaltankündigung fußenden US-Außenpolitik. Im Deal mit den Saudis ist viel Geld zu verdienen und nebenher eine Weltregion nach eigenem Gusto zu ordnen, der Iran hingegen hat andere Handelspartner und eigene politische Vorstellungen.


Nun ist das Regime in Teheran alles andere als die ideale Administration für eine demokratische Gesellschaft. Wo religiöse Dogmen die Regeln des Zusammenlebens bestimmen, muss zwangsläufig die Ratio leiden. Das Primat der reinen Lehre, die autokratische Macht der Mullahs, die teilweise Entrechtung der Frauen und die weit verbreitete Korruption sind schwerwiegende Minuspunkte auf einer internationalen Werteskala. Zudem unterstützt der Iran den gefährlich irrlichternden Islamischen Dschihad in Gaza. Kein Zweifel, die persischen Machthaber hassen den Staat Israel, aber sie wollen nicht die Juden vernichten. Deren Vertreter sitzen neben den Repräsentanten anderer Minderheiten sogar im Teheraner Parlament. Solche Rücksichtnahmen auf ethnische oder religiöse Minoritäten existieren im prowestlichen Saudi-Arabien nicht.


Dass der Iran die Hisbollah unterstützt, erklärt sich aus seinem Anspruch, Schutzmacht der - in etlichen Ländern verfolgten oder diskriminierten – Schiiten (also auch im Libanon, in Syrien oder im Jemen) zu sein. Und die Organisation, hierzulande fälschlicherweise als bloße Miliz gesehen, repräsentiert einen großen Teil der libanesischen Bevölkerung. Den Ruf einer Terroristentruppe verdankt die Hisbollah neben einstigen Kidnappings vor allem dem Widerstand gegen die israelische Armee und dem Kampf für Assad und damit für das kleinere Übel in einem von Auflösung bedrohten Staat. Fragt sich nur, welchen Begriff die westlichen Medien-Juroren für das Staatsterror-Regime in Riad finden würden (sollten sie je zu solcher Kreativität aufgefordert werden)?


Dass der iranischen Führung angesichts multilateraler Bedrohung die Chance, Atombomben-Macht zu werden, verlockend erschien, ist wahrscheinlich. Als sich aber die Möglichkeit ergab, auf den kriegerischen Teil der Nukleartechnik zu verzichten, um die politische und wirtschaftliche Isolation des Landes zu beenden und eine durch Verträge geregelte Sicherheit zu erlangen, handelten die Mullahs erstaunlich vernünftig. Sie minimierten ihre Urananreicherung und ließen sie überwachen. Zum Vergleich: Kein Experte der UNO hat jemals gesehen, was in saudi-arabischen Atomanlagen so vor sich hin brodelt.


Teheran hat seine internationalen Verpflichtungen eingehalten. Nach der einseitigen Kündigung des Atomabkommens durch Donald Trump und dem von den USA erzwungenen Rückzug europäischer und amerikanischer Konzerne stehen Präsident Hassan Rohani und die gemäßigten Kräfte den Fanatikern und Chauvinisten im eigenen Land nun mit leeren Händen gegenüber. Der Iran hat geliefert – und wird nun um den vereinbarten Lohn betrogen.
 

 

Trump und die Lemminge machen weiter

 

Im eklatantesten Kasus von Wirtschaftsimperialismus der neueren Geschichte erpresst Trump internationale Unternehmen, indem er deren Verbannung vom US-Markt und aus allen multilateralen Handelsbeziehungen für den Fall in Aussicht stellt, dass sie ihre Verpflichtungen gegenüber einem Land, das sich an alle Regeln gehalten hat, erfüllen. Die Möchtegern-Großmacht EU verurteilt dieses rechtswidrige Vorgehen verbal – und sieht hilf- und tatenlos zu, wie ihre Unternehmen geltende Verträge brechen, um den Zugang zu den US-Futtertrögen nicht zu verlieren.


Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat in den iranischen Anlagen jeden Stein umgedreht und ist zu dem Schluss gelangt, dass tatsächlich kein angereichertes Uran zum Bombenbau abgezweigt wird. In Saudi-Arabien, das nie eine diesbezügliche Verzichtserklärung unterzeichnet hat, ist den Experten der IAEA der Zutritt zu Forschungseinrichtungen, etwa einem Reaktor bei Riad, untersagt. Zugleich lässt das Herrscherhaus derzeit an ballistischen Raketen arbeiten, und Kronprinz Mohammed bin Salman erklärt freimütig, eigentlich wolle sein Land nur sechzehn Kernkraftwerke errichten, werde jedoch sofort Atomwaffen entwickeln, sollte der Iran das Gleiche tun.


Da können sich die wahhabitischen Herrscher jederzeit Gründe zusammenklauben, indem sie sich auf Donald Trump beziehen, der die eigene Wahrheitsferne gern allen anderen unterstellt, oder auf Benjamin Netanjahu, der aus veralteten Videos über das iranische Nuklearprogramm eine Berechtigung konstruiert, gegen Teheran loszuschlagen, obwohl die israelischen Militärs und Geheimdienste davon abraten.


Sanktionen gegen Saudi-Arabien? Druck auf Riad, das Nuklearprogramm kontrollieren zu lassen? Lautstarke Empörung ob der demonstrativen Nichtachtung des internationalen Atom-Codex durch die Saudis? Fehlanzeige. Schließlich sehen US-Firmen ein neues Betätigungsfeld im Umfang von 80 Milliarden in der Wüste, wenn sie den brutalen Zeloten ein wenig Nuklear-Technologie zur dualen Nutzung an die Hand geben. Und die EU-Wirtschaften sind viel zu eng verwoben mit den saudischen Rohstoff- und Finanzkonglomeraten. Also betreiben die USA lieber Kanonenboot-Politik und lassen Flugzeugträger vor den Küsten des unbotmäßigen Iran patrouillieren, und Deutschlands Außenminister Heiko Maas ermahnt das Mullah-Regime, sich buchstabengetreu an den Vertrag zu halten, den die meisten anderen Partner entweder offen (USA) oder indirekt (EU-Staaten) längst gebrochen haben.


Gerade erst lieferte die US-Regierung einen weiteren Beweis dafür, dass sie gewillt ist, in der Golf-Region zweifelhafte Verbündete hochgerüstet in den Krieg zu schicken und die US-Rüstungskonzerne gut dabei verdienen zu lassen: Unter Umgehung des Kongresses genehmigte die Trump-Administration sofortige Waffenlieferungen im Wert von acht Milliarden Dollar an die Saudis und deren feudalistische Partner auf der arabischen Halbinsel. Außenminister Pompeo erklomm mit der Feststellung, dies trage zur Sicherheit im Nahen Osten bei, den Gipfel rhetorischer Absurdität.

   

Zum saudischen Atomprogramm aber wird konsequent geschwiegen. Sehenden Auges dulden die Moralisten der westlichen Welt (und womöglich auch die stets kooperativen Chinesen), dass eine nukleare Gefahr heraufzieht, deren Ausmaß und Brisanz niemand außerhalb Riads einzuschätzen weiß, ja sie befördern deren Ausbreitung sogar durch Ignoranz oder Profitgier. Sie wirken wie Lemminge, die sich nicht erst auf die Klippen begeben müssen, um sich ins Meer zu stürzen, da ihnen diese auf Einladung entgegen kommen. Zur Logik des Kapitalismus gehört es, auf den eigenen Untergang zu wetten. 

05/2019 

Dazu auch:

Mörder und ihre Helfer sowie Schreckliche Freunde im Archiv dieser Rubrik (beide 2017)               

 





Untreuhandanstalt


Eine Generation nach der Abwicklung der DDR fordert die Linke einen neuen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Machenschaften der Treuhand, die das ostdeutsche Volksvermögen verramschte, Betriebe schloss und Millionen Arbeitnehmer auf die Straße setzte. Es wird vielleicht nicht dazu kommen, zu groß ist die Angst einiger Politiker, dass ans Tageslicht gezerrt würde, was – neben anderen Faktizitäten – die Bürger der neuen Bundesländer in soziale Schieflage und Pessimismus trieb und dort die Anfälligkeit für rechtsextremes Gedankengut und Fremdenhass zumindest begünstigte.


Der Mafia zu treuen Händen


Ein Treuhandverhältnis  liegt zwischen zwei oder mehreren Parteien vor, wenn vertraglich oder gesetzlich eine volle Rechtsmacht „zu treuen Händen“ vom Treugeber an den Treunehmer (Treuhänder) übertragen wird, etwa des Rechts am Eigentum. Damit hat der Empfänger und Verwalter der Sache, der Treuhänder also, die volle Rechtsstellung eines Eigentümers.


Am 1. März 1990 beschloss der Ministerrat der DDR die Gründung der „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Damit bestellte die Regierung eines untergehenden Staates selbst die Leichenfledderer und rief die Geier auf den Plan, die das Vermögen einer sozial-bürokratisch kontrollierten Gesellschaft an sich reißen oder verschleudern sollten. Kurze Zeit später übernahm Bonn das Kommando und wandelte das Gebilde zu einer „Anstalt des öffentlichen Rechts“ um, in der seltsamerweise ausschließlich Manager und Angehörige der BRD-Wirtschaftselite das Sagen hatten. Immerhin offenbarte der erste Chef der Treuhandanstalt, Rainer Maria Gohlke, der sich auch schon an der Bundesbahn versucht hatte, so viele Skrupel, Milliarden in den Westen abfließen zu lassen, dass er den Job nach wenigen Monaten hinschmiss.


Als ich kurz nach der „Wende“ in Thüringen arbeitete, grassierte unter den Dozenten der zahllosen bundesdeutschen Bildungsträger, die den Osten damals auf Vordermann bringen (zutreffender: missionieren) sollten, eine nur halb scherzhaft gemeinte Frage: Was ist die weltweit größte kriminelle Vereinigung? Antwort: Nicht die Camorra, nicht die Nhrangheta und auch nicht die kolumbianische Kokainmafia, sondern die deutsche Treuhand. So ganz weit hergeholt scheint diese sicherlich überspitzte Einschätzung in der Rückschau gar nicht. Vor wenigen Wochen resümierte die Frankfurter Rundschau: „Viele Verbrechen der Treuhand waren eine Konsequenz ihrer Konstruktion, ihrer Aufgabenstellung – und Teil ihres Auftrages.“


Denn die eigentliche Aufgabe, der von der bundesdeutschen Wirtschaft in die Ex-DDR delegierten Nachlassverwalter bestand nicht darin, Arbeitsplätze zu retten, Infrastruktur zu erhalten und zu modernisieren sowie eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten, wie Kohls Propaganda-Apparat allen weismachen wollte, sondern im Schleifen der Konkurrenz und der Überführung von Ressourcen, verbliebenen Finanzen und Liegenschaften in die Hände des West-Kapitals.


Diese Strategie reichte von der Schließung und dem Verhökern großer Industriekombinate bis zu Raubzügen im Dienstleistungssektor. In Frankfurt (am Main) residierten nicht wenige Rechtsanwaltskanzleien, die zum symbolischen Kaufpreis von einer Deutschen Mark nach der Abgabe einer Beschäftigungsgarantie riesige Fabriken übernahmen, die millionenschweren Betriebskonten plünderten, dann die Produktion einstellten, die Arbeiter entließen und „zur Strafe“ einige Tausend Mark an die Treuhand zahlen mussten. In Schleiz bewarben sich Einheimische darum, das größte Café am Markt betreiben zu dürfen. Die Treuhand setzte den Pachtpreis pro Quadratmeter so an, dass er selbst für New York unangemessen hoch gewesen wäre. Einige Tage später übernahm eine Kulmbacher Großbrauerei das Café zu ungleich günstigeren Konditionen. Die ehemaligen DDR-Bürger wurden bei solchen „Geschäften“ allenfalls als lästiges Publikum geduldet.


Nur nicht aus der Geschichte lernen


Der nächste Treuhand-Chef und einstige Hoechst-Manager Detlev Rohwedder, der 1991 von der RAF erschossen wurde, bezifferte bei seinem Amtsantritt das zu verwaltende Volksvermögen auf 600 Milliarden DM. Als die Anstalt ihrerseits Ende 1994 unter der letzten Präsidenten Birgit Breuel, die standesgemäß dem Hamburger Geld- und Handelsadel entstammte, abgewickelt wurde, hatte sie 60 Milliarden eingenommen und für die Abschaffung der Kombinate 300 Milliarden ausgegeben.


Ein Missverhältnis, das der Diskrepanz zwischen der Aufgabe, Arbeitslosigkeit zu verhindern, und dem tatsächlichen Resultat, nämlich der Exekution von Massenentlassungen, in etwa gleichkam. Die Zahl der Jobs bei Treuhand-Unternehmen wurde von 4,1 Millionen innerhalb von knapp zwei Jahren auf 1,24 Millionen abgebaut. Bezeichnend für die damalige Zeit war, dass man den jäh arbeitslos Gewordenen zwar in Kursen die Werte der bundesrepublikanischen Spezialdemokratie vermitteln ließ, sie aber nicht auf die Möglichkeit hinwies, vor Arbeitsgerichten gegen ihre Kündigungen, von denen etliche ungerechtfertigt oder nichtig waren, vorzugehen.


Am 31. Dezember 1994 hatte die Treuhand 5 Prozent ihres Vermögensbestands an DDR-Bürger, 10 Prozent an ausländische Investoren und 85 Prozent an Westdeutsche verramscht. Die Einhaltung der Beschäftigungszusagen durch die Käufer wurde nie systematisch überprüft. Überhaupt fand politische wie fiskalische Kontrolle so gut wie nicht statt, der Kapitalismus konnte sich in seiner freiesten Form vor staunenden Ostdeutschen ohne jedes Mitspracherecht austoben.


Ehemalige DDR-Bürger als Opfer windiger Wende-Gewinnler, westdeutsche Steuerzahler als Financiers einer ebenso desaströs wie kriminell agierenden Umverteilungsanstalt – kein Wunder, dass bald parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingesetzt wurden. Was kann aber investigativer Eifer bewirken, wenn Unterlagen nicht zugänglich sind oder Belege nicht existieren?


Die Linke, die jetzt in einem neuen Ausschuss durchleuchten lassen will, inwieweit die Treuhand die "Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland" u. a. durch die Schließung lebensfähiger Unternehmen in ihrem Besitz behindert hat, weist in ihrem Antrag auf das Fehlen der Voraussetzungen damals hin: "Zum einen wurden Akten zu einem großen Teil nicht öffentlich oder gar nicht vorgelegt. Zum anderen waren die Untersuchungen teils durch die noch laufenden, damals mehrheitlich politisch erwünschten Privatisierungsprozesse gehemmt.“


So genau wollte die rechte Regierung unter Kohl das alles gar nicht wissen, und ihre Nachfolger im Geiste möchten sich heute auch nicht mehr schlauer machen. So dräute dem Wirtschaftsstaatssekretär Christian Hirte (CDU), Ostbeauftragter der Bundesregierung, dass der Linken-Antrag unangenehme Schlussfolgerungen initiieren könnte: "Es wird der Eindruck erweckt, als sei der Osten mit Vorsatz und krimineller Energie über den Tisch gezogen worden, und nun müsse endlich einmal die Wahrheit auf den Tisch." Und da sich dieser Eindruck mit ziemlicher Sicherheit bestätigen würde, will er lieber den Tisch mit dem Tuch des Schweigens decken, denn: "Ich bin ein großer Skeptiker von Geschichtspolitik. Politiker sind nicht die besseren Historiker."


Aus der Geschichte zu lernen, frühere Fehler oder Verbrechen zu analysieren und – wo möglich – noch zu ahnden und wiedergutzumachen, ist nicht das Anliegen der Karrierepolitiker heutzutage. Die hören lieber – wenn sie erst in Aufsichtsräte oder Vorstände gewechselt sind – den tollen Geschichten der Treuhand-Veteranen vom wundersamen Transfer orientalischer Schätze in westdeutsche Räuberhöhlen zu.


Wut macht Nationalisten


Die späte Aufarbeitung eines gigantischen Wirtschaftsverbrechen ist nur ein Aspekt, der in einem Untersuchungsausschuss, den die rechtsbürgerlichen Parteien zu verhindern suchen werden, angegangen werden müsste, ein weiterer wäre die Frage, wie viel vom heutigen Ost-Chauvinismus, der Ausländerfeindlichkeit und der AfD-Affinität vieler Bürger der Ex-DDR und ihrer Sprösslinge dem Gangsterstück geschuldet ist.


Natürlich lassen sich rechtsradikale Exzesse, Aversion gegen alles Fremde und Faible für populistische Vereinfacher in den neuen Bundesländern nicht zur Gänze aus dem von der Treuhand in Szene gesetzten großen Anfangsbetrug erklären. Schließlich findet man die traurigen Phänomene auch im Westen der Republik sattsam, und die bürokratische Gängelung, die sinnentleerte Propaganda und die Ghettosierung ausländischer Arbeitskräfte in der DDR dürften auch mehr als ein Quäntchen dazu beigetragen haben.


Allerdings begünstigen das (berechtigte) Gefühl, bei und nach der Wiedervereinigung übervorteilt worden zu sein, und das Wissen um die absichtliche Zerstörung aller Strukturen durch die Übernahme-Elite jenes permanente Misstrauen (nicht nur gegen Politiker, sondern auch gegen Andersdenkende), das den Nährboden für rechte Misanthropie düngt. Und der Kahlschlag, den die Treuhand vollzog, hinterließ seine Spuren bis heute: Im Osten gibt es im Durchschnitt mehr Arbeitslose, die Menschen dort verdienen weniger, die wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen werden in Konzernzentralen jenseits der einstigen Grenze getroffen. Nur junge gut Ausgebildete, Wissenschaftler und Technik-Spezialisten können nicht klagen. Sie sind längst in den Westen gezogen, während sich in ihrer alten Heimat ganze Landstriche entvölkern.


In einer Gesellschaft zu den Unterprivilegierten zu gehören, keine Solidarität zu kennen, die Machenschaften der „Oberen“ nur erahnen, aber nicht durchschauen zu können, all das kreiert eine Unzufriedenheit, die ihr Ventil nicht in Veränderungswillen und Aufbruchsstimmung, sondern in dumpfem Hass findet. Insofern hat die Treuhandanstalt ganze Arbeit im Sinne rechtsextremer und rassistischer Gruppierungen geleistet. Durch ein neues Untersuchungsgremium wird sich das Unrecht nicht revidieren lassen, aber es könnten Verantwortliche benannt werden und einige Spotlights auf die dunkle Seite der Medaille einer kritiklos gefeierten Wiedervereinigung geworfen werden. 


Und das ist auch heute noch interessant, schließlich möchten wir im Gegensatz zu Herrn Hirte von der CDU aus der Geschichte lernen.       

  

04/2019

 

 

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Geht ein Gespenst um?


Unerhörtes tut sich in der Bundesrepublik: Zehntausende von Demonstranten fordern in mehreren Städten die Enteignung von Immobilienkonzernen und sammeln in Berlin Unterschriften, um  ein Volksbegehren auf den Weg zu bringen. Formaljuristisch wäre eine Verstaatlichung von Wohneigentum möglich, in der politischen Praxis wird sie wohl torpediert werden, denn schon formiert sich eine breite Abwehrfront, die von der Union über die SPD-Spitze bis zur IHK reicht. Die rechten Verteidiger des Status quo wittern einen Hauch von Sozialismus.


Bemerkenswertes im Grundgesetz


In den deutschen Großstädten grassiert die Wohnungsnot. Familien mit einem durchschnittlichen Einkommen finden keine menschenwürdige Bleibe oder müssen Mieten in einer Höhe berappen, die kaum noch Ausgaben für die immateriellen Güter des Daseins (Bildung, Unterhaltung, Reisen etc.) zulässt. In München, Frankfurt oder Berlin arbeiten viele Menschen nicht, um zu leben, sie schuften, um wohnen zu dürfen (wenn sie denn ein Loch gefunden haben).


Zugleich wird der verfügbare oder geplante Wohnraum, der zur infrastrukturellen Grundversorgung zählt, zunehmend zum Spekulationsobjekt von Investoren, Aktiengesellschaften und Baulöwen. Das Recht der Allgemeinheit auf Wohnen muss dem Recht des Finanzmarktes auf Profit weichen; nicht der Bedarf der Bevölkerung, sondern die Aussicht auf schnellen Gewinn ist bei der Bereitstellung von Immobilien Triebfeder und Maßstab in einem.


Die Initiatoren des Berliner Volksbegehrens berufen sich nun auf den Artikel 14 des Grundgesetzes, insbesondere auf den zweiten Absatz (Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.) und den ersten Satz des dritten Absatzes (Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.) Die Verfassungsväter hatten solche relativierenden Bestimmungen vor 70 Jahren in ihren Gesetzestext eingefügt, weil im zerstörten Westdeutschland noch nicht abzusehen war, wie perfekt das Wirtschaftssystem, das ein „Tausendjähriges Reich“ überhaupt erst ermöglich hatte, restauriert werden würde; vielleicht auch, weil sie schon im Sinn hatten, dem deutschen Kapitalismus, der sich zu erholen begann, das freundlicher klingende Synonym soziale Marktwirtschaft zu verpassen.


Aber es wäre doch legal und begründbar, Immobilienkonzerne, die mit 3000 und mehr Wohnungen dealen, zu enteignen, dachten sich die Urheber des Bürgerbegehrens – zumal im ersten Absatz des Artikel 14 auch noch steht, dass Eigentum zwar gewährleistet sei, seine Schranken aber durch die Gesetze bestimmt würden. Nun haben aber die verantwortlichen Politiker im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden alles getan, um dem privaten Eigentum an den immobilen Gütern der Grundversorgung nur ja keine Schranken setzen zu müssen. Ganz im Gegenteil: Der Berliner Senat, die Stadt München oder der damalige bayerische Finanzminister Markus Söder, der den jetzigen Vorstoß als „sozialistische Idee“ bezeichnete, verkauften Hunderttausende von Wohnungen an Profitmaximierer und gaben damit sozial schwächere Mieter zum Abschuss frei.


Die bunte Lobby der Betongoldhaie


Und jetzt schließen die Parteien, die den gegenwärtigen Mangel an bezahlbaren Wohnungen mit verschuldet haben, die Reihen fest gegen innovative Ideen. Der bayerische CSU-Innenminister Joachim  Herrmann behauptet, dass durch eine mögliche Enteignung „elementare Regeln der sozialen Marktwirtschaft infrage gestellt“ würden. Sozial scheint für den Markt nur zu sein, was die Wirtschaft ölt. Der unvermeidliche FDP-Vorsitzende Christian Lindner meint, dass „mit Enteignungen nicht eine einzige Wohnung geschaffen“ würde. Das stimmt, soweit nicht der vorsätzlich heruntergefahrene soziale Wohnungsbau wieder intensiviert wird, das berücksichtigt aber nicht, dass bereits bestehender Wohnraum in öffentlicher Hand für Normal- und Kleinverdiener wieder erschwinglich würde.


Fehlt nur noch Andrea Nahles, Bundesvorsitzende der zum Kosmetiksalon des aus den Fugen geratenen Kapitalismus mutierten Ex-Arbeiterpartei SPD. Sie warnte vor der jahrelangen Dauer von Enteignungsverfahren. So ist das eben, wenn schlecht sitzende Pflästerchen, etwa Mietobergrenzen, für kurze Zeit angebracht, strukturelle Veränderungen aber Generationen lang versäumt werden.

 

Lediglich die Linke unterstützte die Forderungen der Demonstranten – und Robert Habeck von den Grünen, der „notfalls“  Enteignungen von großen Wohnungsgesellschaften zulassen will. Da werden ihm aber die Özdemirs, Palmers und Kretschmänner in seiner Besserverdienenden-Partei bald die Ohren langziehen.


Gute Idee, die wohl scheitern wird


Was möglich wäre, wird von Politik und Medien zunächst madig gemacht und dann in die Systemschublade des Undenkbaren abgeschoben. Dabei haben die Autoren des Grundgesetzes im ergänzenden Artikel 15 quasi den Fall der zehn für eine Enteignung infrage kommenden Berliner Wohnungskonzerne vorweggenommen: Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.


Die Faktoren Zeit und Geld werden von konservativen Mandatsträgern und eifrigen Journalisten als „natürliche“ Hindernisse für eine Vergesellschaftung der Wohnkomplexe angeführt. Tatsächlich könnten die notwendigen Verfahren ziemlich lang dauern, doch wirkt diese Verzögerung angesichts der Zeit, die in der Vergangenheit durch Verkäufe von Immobilien an Investoren und gesetzgeberische Flickschustereien vergeudet wurde, vernachlässigbar. Leider würden die Profiteure abgefunden werden müssen, aber diese Kosten sind Strafgebühren für die Versäumnisse der Politik und laut Absatz 3 des Artikels 14 verhandelbar.


Die staatstragenden (kapitaltreuen) Parteien sind dagegen, die Presse agitiert ebenfalls gegen die verfassungsgemäße Alternative, und bei einer dritten Macht darf man wohl auch nicht auf allzu viel Sympathie hoffen. Die Judikative zeigt sich hierzulande, vor allem in den obersten Gerichten, wenig geneigt, das Recht zugunsten kritischer Bürger auszulegen, wie auch die Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Attac durch den Münchner Finanzgerichtshof unlängst belegte. Das Grundgesetz ist keine detaillierte Anleitung, sondern eher eine moralische Absichtserklärung. Es postuliert, dass Eigentum verpflichtet, ohne auszuführen, wozu. Das bleibt der Interpretation der Karlsruher Richter, die von dem Lobbyismus zugeneigten Abgeordneten berufen werden, anheimgestellt, so wie diese auch definieren, was „dem Wohle der Allgemeinheit“ dient.


Keine Probleme gab es bisher bei der Enteignung ganzer Dorfgemeinschaften, um dem Braukohleabbau Platz zu schaffen, oder bei der „Umwidmung“ von bäuerlichen Wiesen und Feldern in achtspurige Autobahnen. Das Gemeinwohl scheint ein volatiles Wesen zu sein, dem gemeinen Menschen, seiner Gesundheit und seiner Lebensqualität muss es jedenfalls nicht unbedingt nutzen.


Selbst wenn die Verfassungsrichter sich zu der Ansicht durchringen würden, eine Enteignung sei statthaft, könnten die Kollegen in den niedrigeren Instanzen anschließend die Immobilienspekulanten als Minderheit ansehen, deren Eigentumsrechte durch utopische Entschädigungssummen geschützt werden müssten.


Es kommt also sehr wahrscheinlich zur gemeinsamen bürgerlichen und institutionellen Front gegen das Volksbegehren bzw. seine Intentionen. Zwar ist es den Berliner Versuch wert, Spekulationsobjekte zu kommunal oder genossenschaftlich verwalteten Wohnanlagen mit fairen Mieten und nachhaltiger Wartung zu machen, doch dürften allzu hohe Erwartungen fehl am Platz sein. Das Gespenst, das derzeit in Deutschland umgeht, ist der Neoliberalismus und nicht der Geist der Veränderung und einer gerechteren Gesellschaft. 

04/2019

Dazu auch:

Die Rache des Staates in derselben Rubrik

     

 

 

 

                             

 





Die Rache des Staates


Parteipolitiker legen fest, was der Gesellschaft insgesamt nützt, Richter entscheiden, was politische Bildung ist. Nach diesen absurden Prämissen sollen künftig NGOs, die sich für Umweltschutz oder Steuergerechtigkeit engagiert und dabei etliche Menschen auf so manche Schweinerei aufmerksam gemacht haben, finanziell ausgetrocknet werden. Die BRD, Idealstaat für flächendeckenden Lobbyismus, neoliberale Marktwirtschaft und ökologische Ignoranz, erwehrt sich ihrer Kritiker, indem sie deren legitime Ressourcen durch die Judikative kappen lässt.


Attac nicht salonfähig


Hinter NGOs, die Menschen hinsichtlich des Versagens der Politik in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen sensibilisieren, stehen selten potente Finanzgeber, da diese meist entgegengesetzte Ziele verfolgen und dabei auf klandestinen Lobbyismus setzen. Also finanzieren die Organisationen ihre Öffentlichkeitsarbeit und ihre Kampagnen weitgehend durch Spenden von Sympathisanten, sozusagen basisdemokratisch. Dass diese geringen Gaben der Klein-Mäzene von der Steuer abgesetzt werden können, d. h. die individuelle Steuerlast ein wenig mindern, ist dem Gedanken der Gemeinnützigkeit geschuldet und eine bescheidene Kompensation für Unterstützer, die mehrheitlich nicht zu den Betuchten im Lande zählen.


Genau da aber setzen Finanzpolitiker, die zwar wohltönend den „mündigen Bürger“ fordern, aber Information über das Zusammenwirken von Legislative und Wirtschaft eher als Ruhestörung einstufen, den Würgegriff an. Attac hat unablässig vor den Gefahren einer Globalisierung nach neoliberaler Gutsherrenart gewarnt, hat Steuergerechtigkeit propagiert, üble Machenschaften, die den Staat Milliarden kosten, angeprangert und mit all dem mehr politisches Bewusstsein geweckt und gefördert als alle Hochglanzbroschüren aus bundesdeutschen Ministerien zusammen. Das kommt nicht gut an bei den Hütern unserer Ordnung.


Schon 2014 hatte das Frankfurter Finanzamt Attac die Gemeinnützigkeit abgesprochen. Die Organisation klagte dagegen und bekam 2016 vom Hessischen Finanzgericht vollumfänglich Recht. Dies wiederum rief das Bundesfinanzministerium auf den Plan, welches das Finanzamt anwies, vor dem Bundesfinanzgerichtshof in München Revision zu beantragen. Damit nicht genug, trat das Ministerium dem folgenden Prozess offiziell als verfahrensbeteiligte Partei bei. Die obersten Finanzrichter erfüllten schließlich die Wünsche der Politik und kassierten im Februar dieses Jahres endgültig die Gemeinnützigkeit von Attac.


Man sollte sich die Widersacher einer kleinen unbequemen NGO näher ansehen und deren Begründungen auf der Zunge zergehen lassen: Für nicht gemeinnützig wird Attac zunächst vom Finanzamt einer Stadt gehalten, in der unsaubere Bankgeschäfte, obskurer Lobbyismus und Vorteilsannahmen auf nur wenig Interesse des Fiskus stoßen. Diese Stadt liegt in einem Bundesland, in dem die Regierungspartei CDU in einen dicken Spendenskandal verwickelt war und das von ihr geführte Finanzministerium vier Steuerprüfer, die allzu erfolgreich den Unterschlagungen von Multimillionären nachgegangen waren, ihrer Aufgaben entband und zum Psychiater schickte. Man hätte denken können, dass zwischen Darmstadt und Kassel das Gemeinwohl nicht allgemein der Gesellschaft, sondern nur bestimmten Clans zugeordnet werde, doch polierten die hessischen Landesrichter zwischendurch den üblen Ruf ein wenig auf, als sie in zweiter Instanz Attac uneingeschränkte Gemeinnützigkeit attestierten.


Kein Geringerer als der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erteilte daraufhin Weisung, Beschwerde einzulegen. Ausgerechnet der Mann, der schon bei Kohls Spendenskandal mit seinem Chef um die Position des größeren Schurken rangelte, der bei der Cum-Ex-Affäre, als die BRD Milliarden durch Steuertricksereien verlor, im Bilde war, aber nicht handeln mochte, wollte nun einen kleinen, aber agilen politischen Gegner vernichten. Und durch das Urteil des Finanzgerichtshofs könnte er wie das tapfere Schneiderlein gleich mehrere regierungskritische Foren mit einem Streich auslöschen oder zumindest in ihrer Existenz bedrohen.


Union, AfD und SPD vereint gegen Umwelthilfe


War dem Frankfurter Finanzamt Attac noch „zu politisch“ gewesen, so stellt der Bundesfinanzgerichtshof fest, dass „die Einflussnahme auf politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung (…) keinen gemeinnützigen Zweck erfüllt“. Nach offizieller Lesart sind Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung hehre Ziele, die den Bürgern nicht oft genug ans Herz gelegt werden können. Eine Förderung solcher Primärtugenden beinhaltet zwangsläufig eine „Einflussnahme“, und die wird bei Stiftungen der Parteien, etwa der Konrad-Adenauer- und Hans-Seidel-Stiftung (CDU/CSU) oder der Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD), auch nicht beanstandet. Halbe Propaganda-Abteilungen gelten also weiterhin als gemeinnützig, während Organisationen, die sich der Aufklärung und dem berechtigten Protest verschrieben und durch einen innovativen Ansatz des Denkens viel zur „Volksbildung“ beigetragen haben (rechtliche Bedingung), keiner fiskalischen Förderung für würdig befunden werden.


Nach Attac ist vor DUH. Die nächste NGO im Visier einer unheiligen Koalition aus rechter Politik und deren Vorstellungen folgender Richterschaft dürfte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) sein, die viel für die Bürger geleistet hat, indem sie Manipulationen und Verstöße gegen Emissionsregelungen seitens der Automobilindustrie aufgedeckt und in Städten wie Wiesbaden bessere Umweltbedingungen mit der Kommune ausgehandelt hat. Sie hat sich aber so auch den Zorn einer mächtigen Branche und ihres Statthalters in der Regierung, Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, zugezogen. Ein Mann, der sich während der Diesel-Krise nach Auskunft seines Ministeriums fünfzehn Mal mit Vertretern und Lobbyisten von Audi, BMW, VW und Daimler und keinmal mit Umweltschutz-Experten beriet, könnte eigentlich als Antagonist von Gemeinnützigkeit durchgehen. Dennoch forderten seine Partei, die bayerische CSU, und deren Unionsschwester in Restdeutschland keck die Aberkennung derselben für die DUH.


Damit befindet sich die staatstragende Rechte wieder einmal in einem Boot mit der marodierenden Rechten, denn auch die AfD, die Trump in der Einschätzung folgt, die Erderwärmung sei eine Erfindung der Linken, hat in einer Petition den Entzug der Abzugsfähigkeit von Spenden für die DUH verlangt. Das von der SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, geführte Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (!) wiederum setzte sich bei den Verhandlungen zur EU-Verbandsklage dafür ein, den Kreis der Klageberechtigten so einzuschränken, dass die DUH und andere das Instrument nicht nutzen könnten.


Eine Zeit lang unterstützte Toyota die NGO in der Hoffnung, diese werde dem Konzern den Weg für hybride Antriebe bahnen. Das hat ein „Geschmäckle“, doch kritisieren dürfen nur Aktivisten und Ökologen diese Hilfe, nicht aber die sich richterliche Kompetenz anmaßenden Parteien, die Geld von allen Seiten nehmen, dies aber versiert kaschieren. Und die Messungen und Recherchen der DUH sind valide, wie auch die Widerlegung kruder Thesen von einer Handvoll Lungenärzte, die sich Andreas Scheuer zu eigen machte, bevor die mathematische Insuffizienz der willigen Mediziner aufgedeckt wurde, belegte. Doch eine NGO, die wider die Wirtschaft und deren Bundesregierung löckt, muss nach dem Präzedenzfall Attac mit baldiger Bestrafung rechnen.

    

Die Furcht der anderen


Und weitere Angriffe auf unbotmäßige Initiativen werden folgen. Die Online-Plattform Campact, die Hunderttausende von Internet-Usern gegen Fracking, TTIP oder Gentechnik mobilisierte und damit den politischen Diskurs – wenn auch nicht im Sinne der Bundesregierung – munitioniert hat, ließ ihre Anwälte das Münchner Urteil analysieren. Die kamen zu dem Schluss, dass auch Campact in Bälde den Status der Gemeinnützigkeit verlieren werde. Ähnlich wird es wohl den Kollegen von Change ergehen.


Heribert Prantl, das gute Gewissen der Süddeutschen Zeitung, nannte die Entscheidung des höchsten deutschen Steuergerichts ein Grundsatzurteil mit „toxischer Wirkung“ für die gesamte Zivilgesellschaft. Die Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung, zu der sich 80 NGOs zusammengeschlossen haben, monierte, dass der Staat es zwar gern sehe, wenn Organisationen Benachteiligten konkret helfen, unliebsame Initiativen aber aus dem politischen Raum entfernen würde.


Der Allianz gehören bekannte Organisationen wie Amnesty International oder Brot für die Welt an, die eine Suspendierung ihres Status nicht zu befürchten haben, da ihre Aktivitäten auf das Ausland abzielen und ihre Kritik an der Regierung eng fachlich begrenzt bleibt. Was aber ist mit Unruhestiftern wie Abgeordnetenwatch, deren Beobachtungen der Lobby-Republik systemkritische Dimensionen erreichen?


Die Retourkutsche der Macht


Die herrschende Politik lässt die Muskeln spielen und straft mit Hilfe von Richtern und Finanzbeamten ab, wenn von ihr definierte Spielregeln in der Auseinandersetzung um die Gestaltung der Zukunft verletzt werden – und sei es auch nur durch die Ermittlung und Veröffentlichung von Wahrheiten und Hintergründen. Der rührige EU-Abgeordnete der Grünen, Sven Giegold, spricht von einem „Angriff auf die Zivilgesellschaft“, und tatsächlich könnte die Attacke auf Attac den Beginn eines Vernichtungskriegs der Macht gegen ihre ursächlichen Kritiker markieren.


Geschmäcklerisch wird da von Juristen befunden, dass die Information über Umweltschäden oder die Aufdeckung von Skandalen auf den Finanzmärkten weniger dem Nutzen des Volkes dienen als etwa eine ehrfürchtige Präsentation von Tötungswaffen. In ihrem Wehrkundemuseum in Röthenbach bereitet die Stiftung des Rüstungskonzerns Diehl die Geschichte der Instrumente des Massenmords liebevoll auf. Der Diehl-Stiftung wird ihre Gemeinnützigkeit keinesfalls aberkannt werden –im Gegensatz zu Organisationen, die eine Produktion und den Export solcher Menschheitsgeißeln von vornherein zu verhindern suchen.


Die Bilanz von Attac, Campact & Co nimmt sich vergleichsweise aufrührerisch aus: Sie haben vielen Menschen die Augen über die Finanzschiebereien des internationalen Kapitals, die wie geschmiert laufende Kumpanei zwischen Wirtschaft und Politik und die unappetitlichen Details der Freihandelsabkommen geöffnet, aber sie haben durch Petitionen auch Menschenleben gerettet und Benachteiligten geholfen, obwohl solches offiziell nicht immer gewünscht war. Das alles gefährdet das ökonomisch-administrative System nicht unmittelbar, aber es durchleuchtet die vorzugsweise im Dunkeln arbeitende Maschinerie und bringt sie zeitweise ins Stottern. Nachfragen und Informationen im „sensiblen Bereich“ stören einfach. 

   

Nicht nur die Steuerabzugsfähigkeit von Spenden nützt NGOs mit dem Signum der Gemeinnützigkeit, sie kommen auch leichter und billiger an (oft kommunale) Veranstaltungsräume, werden von Ordnungsämtern bei der Genehmigung von Demos oder Info-Ständen kulant behandelt und können von Gerichten Bußgelder zugesprochen bekommen. Non-Profit-Organisationen, die ihre Etats mit heißer Nadel stricken müssen, würden ohne diese bescheidenen Kompensationen die Mittel für Kampagnen, Umfragen oder Untersuchungen fehlen. Einige von ihnen werden möglicherweise aufgeben müssen.


Aber genau das ist das Kalkül des wirtschaftlich-politischen Komplexes: L`état c`est moi und die Gesellschaft bin ich auch gleich mit. Jede/r darf mich kritisieren, aber er darf meine letztendliche Unantastbarkeit nicht in Frage stellen. Bohrt er zu tief nach den Leichen in meinen Kellern, stelle ich ihm einfach Strom und Wasser ab. 

03/2019 

Dazu auch:

Gemeiner Nutzen im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2014) 

                               

 





Afghanische Orakel


Wer die bundesdeutsche Außenpolitik mit ihren Irrungen und Wirrungen, voller Euphemismen, die sich mit väterlichen Mahnungen abwechseln, und taktischer Spielchen, in denen das tollkühne Vorwärts! vom kleinlauten Zurück! abgelöst wird, ein wenig kennen lernen möchte, sollte sich einen Blick auf das Engagement in Afghanistan gönnen. So viel Heuchelei war selten, und solch katastrophale Resultate suchen Ihresgleichen.


Was ihr wollt: Interventionsgründe


Im Dezember 2001, drei Monate nach der Zerstörung des World Trade Center in New York, begannen die USA eine militärische Operation in Afghanistan. Ziele waren die die Liquidierung der Terroristen von al-Qaida und die Vertreibung der mit diesen verbündeten Taliban. Aus der „Operation“ wurde die Fortsetzung eines Krieges, dessen Ende bis heute nicht abzusehen ist, der das Land endgültig zu einem failed state degradierte und unzählige Menschen in Tod, Verzweiflung und Flucht trieb.


Zwar gelang es den US-Streitkräften schnell, zusammen mit der Vereinigten Front, einem Haufen aus Islamisten und Warlords von ähnlicher moralischer Beschaffenheit wie ihre Feinde, Kabul zu erobern, aber in den nächtlichen Städten, auf dem flachen Land und in den Bergen hatten weiterhin die aus dem einst mit Washington verbündeten Pakistan alimentierten Taliban das Sagen.


Mit von der Partie war so ziemlich von Anfang an die Bundeswehr. Im Rahmen von NATO-Operationen und „Wiederaufbauprogrammen“ beteiligten sich deutsche Truppen ein wenig am Krieg gegen die Taliban und übernahmen dann ab 2003 schrittweise das Kommando in den vermeintlich ruhigen Nordprovinzen Kunduz und Faizabad. Dumm nur, dass es dort nicht länger friedlich blieb: Als hätten sich die islamistischen Kämpfer auf ein Rendezvous mit der Bundeswehr gefreut, begannen sie, in die Regionen einzusickern und sie zu destabilisieren.


Spätestens jetzt mussten die Politiker in Berlin der beunruhigten Bevölkerung hierzulande erzählen, warum sich deutsche Soldaten in einem zerrissenen Land fernab der Heimat hinter Schutzwällen und Stacheldraht einigelten und relativ hilflos dem blutigen Geschehen zusahen. Natürlich hätte ein Regierungssprecher darauf hinweisen können, dass Berlin auch einmal zu einer Koalition der Willigen zählen und zudem endlich die Rolle einer agierenden kleinen Großmacht spielen wollte, doch wäre dies wohl nicht so gut aufgenommen worden. So bieten nun die verschiedensten staatstragenden Gestalten seit fast zwei Jahrzehnten die unterschiedlichsten Erklärungen für einen sinnlosen Kriegseinsatz an, ganz als habe Shakespeare seine Komödie „Was ihr wollt“ im Hinblick auf diese Bemühungen betitelt. Hier eine kleine Auswahl:


Im März 2004 machte der damalige SPD-Verteidigungsminister Peter Struck dem Volk Angst und Bange, indem er eine Gefahr, die dem deutschen Idyll von wilden Kriegern aus den Bergen Afghanistans drohe, beschwor: "Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt." Diese Vorwärtsverteidigung sollte also in einem Land greifen, das wiederum die späteren Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Horst Seehofer als so sicher einstuften, dass sie afghanische Asylbewerber quasi im Akkord dorthin abschoben.


Der Realität näher kam da schon der damalige Bundespräsident Horst Köhler, als er 2010 eine zynische, aber durchaus zutreffende Überlegung recht undiplomatisch äußerte: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, (...) zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall, auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die (...) auf unsere Chancen negativ zurückschlagen, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern.“ Da sich die unverblümte Darstellung wahrer (wenn auch unlauterer) Absichten nicht mit der diskreten Würde des hohen Amtes zu vertragen schien, trat Köhler anschließend zurück.


Viele afghanische, auch deutsche Tote und eine Trump-Ankündigung, die US-Truppen aus Afghanistan abziehen zu wollen, später erklärte nun Bundeskanzlerin Merkel, dass es im Grunde keine Sicherheiten und Arbeitsplätze mehr zu schützen gebe, dass die freien Handelswege womöglich anderswo verliefen: "Das heißt, wenn sich dort Veränderungen ergeben, werden wir immer wieder überprüfen müssen, ob dann unser Engagement noch nötig ist. Das ist die Verquickung und Verpflichtung, die wir innerhalb der Nato haben, und darauf haben wir hingewiesen."


Moment! Wollten wir nicht eine eigenständige Außenpolitik betreiben, im EU-Rahmen und im deutschen Interesse eigene militärische Wege gehen? Wo bleibt nun der Traum von neuer deutscher Weltgeltung, wenn wir dem volatilen Trump folgen wie der Hund seinem Herrchen beim Abgang? Wenn wir aber plötzlich keine Notwendigkeit für schwerbewaffneten Verbleib am Hindukusch mehr sehen, drängt sich die Frage auf: War die Interventionspolitik in Afghanistan denn wenigstens erfolgreich?

   

Ruhmreiche Bundeswehr?


Allein bis 2014 kamen im Rahmen der westlichen ISAF-Mission 54 Bundeswehrsoldaten ums Leben, auf der gegnerischen Seite, zu der offensichtlich auch die afghanische Landbevölkerung gehörte, gab es weit mehr Opfer. So starben 142 Menschen, fast alle Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, als der deutsche Oberst Georg Klein US-Flieger anwies, die Dörfler, die gerade Benzin aus zwei von den Taliban entführten Tanklastwagen für den Eigengebrauch abzapften, zu bombardieren. Selbst die amerikanischen Militärs zeigten sich geschockt, da „vertrauensbildende“ Maßnahmen wohl anders aussehen, Klein aber wurde angemessener Trauerzeit zum Brigadegeneral befördert.

 

Die Situation in den ehemals ruhigen Nordprovinzen verschlechterte sich, je länger die Bundeswehr dort die Ruhe garantierte. Während sich diverse bundesdeutsche Verteidigungsminister bei Besuchen in vielfach gesicherten Lagern beinahe die Klinke in die Hand gaben, brachten die Taliban „draußen“ immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle und fielen sogar in die Großstadt Masar-e Sharif ein. US-Offiziere mokierten sich hinter vorgehaltener Hand über den gut verborgenen Kampfgeist der deutschen Waffenbrüder. Für größere Truppenbewegungen musste die Bundeswehr Transportflugzeuge des Typs Antonow An 124 von Russland, dem altbekannten Gegner im neuen Kalten Krieg, chartern, da sie selbst über keine ausreichend großen Maschinen verfügt.


Dann lief das ISAF-Mandat aus, und die örtliche Bundeswehr-Generalität konnte delegieren: „Im Regionalkommando Nord begann die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanische Nationalarmee mit der Provinzhauptstadt Mazār-i Scharif am Samstag, den 23. Juli 2011.“ Die Aufsicht über ein Nichts, eine nicht vorhandene Sicherheit, wurde sozusagen einheimischen Kräften anvertraut. Der wackere Sozialdemokrat Struck hatte eben nur die deutsche Sicherheit am Hindukusch verteidigen wollen, der Schutz der dort Ansässigen war ihm wie auch seinen Nachfolgern wohl herzlich egal.


Mittlerweile besteht die Hauptaufgabe der verbliebenen deutschen Einsatzkräfte im Training einheimischer Soldaten und Polizisten, die sich allerdings mit den neuen Kenntnissen gern von den Taliban oder Milizen der Opiumhändler anwerben lassen. Mittlerweile kann man jedenfalls ein vorläufiges Fazit des mutmaßlich zu Ende gehenden Kriegseinsatzes bundesdeutscher Truppen ziehen: Der Frieden im Interventionsgebiet ist weiter weg als je zuvor, viel wurde investiert, nichts erreicht!


Die Sinnlosigkeit der Intervention


Als Truppen der UDSSR 1979 in den innerafghanischen Machtkampf eingriffen, begann ein chaotischer Langzeitkonflikt mit wenigen Ruhephasen und vielen Kriegsparteien. Das rückständige, aber traditionsbewusste Land hatte sich in seiner Geschichte nie dauerhaft fremden Invasoren gebeugt. Die NATO setzte damals bedingungslos auf islamistische Gotteskrieger, und das Wenige, was unter sowjetischer Besatzung erreicht worden war, etwa Schul- und Universitätsbildung für Mädchen und Frauen, sollte – zunächst mit Billigung westlicher Demokratien – wieder hinweggefegt werden.


Als die Sowjet-Truppen 1979 aus Afghanistan abmarschierten, war Mohammed Nadschibullah Präsident in Kabul, ein Pragmatiker, der erste Erfolge bei der Versöhnung der verschiedenen Ethnien und politischen Lager erzielte. Wider alle Prognosen der notorischen Experten in unseren Medien hielt er sich drei Jahre lang ohne nennenswerte Unterstützung aus der UDSSR an der Macht und bescherte seinem Land eine kurze Zeit der Hoffnung. Aber er war kein Mann des Westens, keine Marionette der NATO, und so setzte man in Washington wieder auf die Karte der Mudschaheddin. Der tadschikische Warlord Massoud und der besonders unappetitliche Massenmörder Hekmatyar, ein Günstling des pakistanischen Geheimdienstes ISI, stürzten gemeinsam mit dem abtrünnigen Usbeken-General Dostum Nadschibullahs Regime, und das archaische Gemetzel sollte einen neuen Höhepunkt erreichen.


Die mit Hekmatyar unzufriedene Militärs und Sicherheitsdienste im pakistanischen Islamabad beschlossen, eine bestens trainierte und ausgerüstete Horde von Super-Orks auf das Nachbarland loszulassen, und so eroberten die Taliban weite Teile Afghanistans. Dann kamen die Terroranschläge von Nine-Eleven, Bushs Militärintervention, der bewaffnete Beistand der Bundesrepublik – der Rest ist sattsam bekannt. Bei dem Bemühen, den Scherbenhaufen, den sie selbst durch die Unterstützung der bösartigsten Kriegselefanten zu verantworten hatte, zu kitten, scheiterte die westliche Kriegsallianz kläglich.


Regime Change lautet das Zauberwort, das viele Jahre lang der US-Außenpolitik so viele Türen öffnete. Damit ließen sich einst die Demokratien in Chile, Argentinien und Uruguay gegen genehme Militärdiktaturen oder – wie in Honduras - unbequeme Präsidenten gegen Marionetten auswechseln. Venezuela, Nicaragua und Kuba stehen weiterhin auf der Warteliste. Die Umgestaltung nach Washingtons Gusto klappte allerdings nicht so gut in der Ukraine, funktionierte überhaupt nicht in Libyen oder im Irak und endet gerade in Afghanistan mit einem Desaster.


Und die bundesdeutschen Regierungsstrategen? Sahen zu, applaudierten, legten sogar Hand mit an. Um die eigene Sicherheit zu schützen, sagte der eine, um der Wirtschaft die Wege zum Profit offenzuhalten, meinte der andere, bis eine dritte erklärte, vom Big Brother allein gelassen, wolle man nun auch nicht in der Fremde kämpfen, egal für was. Um die Afghanen war es nie gegangen, die sind als Opfer im eigenen Land oder als Flüchtlinge bei uns gleichermaßen eine vernachlässigbare Manövriermasse.

03/2019

Dazu auch:

Irre Helden im Archiv der Rubrik Medien (2014)

 

 

                            
Donald und die Zwerge


Zahllose Kommentatoren der Edelpresse versuchen sich als Amateurpsychologen, um Erklärungen für die Twitter-Sucht, die Wutausbrüche und die narzisstischen Anwandlungen des Mannes im Weißen Haus zu finden; europäische Spitzenpolitiker quittieren seine kryptischen Auslassungen in den Medien und die jähen Spitzkehren auf seinem erratischen Kurs mit einem süffisanten Lächeln und dem dezenten Hinweis, dass sie nicht der Meinung des Goldschopfs seien. Sie alle aber verweigern sich wortreich einer ernüchternden Erkenntnis: Wenn sich Erfolg nach der Anzahl der ohne Rücksicht auf Verluste und Kollateralschäden durchgesetzten Vorhaben bemisst, ist Donald Trump der erfolgreichste US-Präsident der letzten Jahrzehnte.


Welthandel? Die USA sind so frei…


Lug, Trug und Skrupellosigkeit gehören zum Handwerkszeug jedes einflussreichen bürgerlichen Politikers, insbesondere dem von US-Präsidenten. Nur werden diese allmählich den Charakter bildenden Methoden normalerweise verschämt kaschiert, mittels retuschierter Darstellungen in verantwortungsvolles Handeln umgedeutet. Bei Donald Trump hingegen gehören die brutale Diffamierung, der Schlag unter die Gürtellinie oder die haltlose Verleumdung zum Markenkern. Er kehrt offen den Schweinehund heraus und begeistert viele von der vermeintlichen political correctness und diplomatischen Doppelzüngigkeit des üblichen Spitzenpersonals in Washington ermüdete Menschen, die endlich ihren eigenen inneren Schweinehund auf die Straße führen und von der Leine lassen wollen.


Trump verbreitet ohne Unterlass Fake-News, offenbart ständig Wissenslücken, begeht Irrtümer (die nicht korrigiert, sondern schlicht überspielt oder vergessen werden), stößt Drohungen aus – manchmal folgenlos, dann wieder mit schweren Konsequenzen – und zerschlägt, was an Administration und Infrastruktur mühsam über Jahrzehnte hinweg aufgebaut wurde. Er ist nicht intelligent, wenn dies Einsicht in komplizierte Zusammenhänge voraussetzt, er ist eher bauernschlau, punktet wie ein typischer Oligarch, ohne Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Nutzen ins Kalkül zu ziehen. Das Leben ist für ihn ein ewiger Kampf um Macht und Vorteile, in dem der Wille des Stärkeren das Gesetz schreibt. Hier und nur hier ähnelt Trump Hitler, der in „Mein Kampf“ den permanenten Krieg zwischen Rassen, Völkern, Individuen als Lebenssinn ausrief.


Dass der US-Präsident Freihandelsabkommen wie TTIP oder NAFTA ablehnt bzw. umschreibt, verwundert nur auf den ersten Blick. Dass diese Verträge die internationalen Beziehungen zu Monokulturen der Profitmaximierung degradieren, liegt ganz in seinem Sinn, doch ist er ein nationalistischer, kein global denkender Kapitalist. Die Vorherrschaft der US-Wirtschaft muss gewahrt und ausgebaut werden. Trump akzeptiert nur „Partner“, die den Hegemonialanspruch Washingtons auf dem Gebiet des Handels und der Finanzökonomie anerkennen.


Auch demokratische Präsidenten wie Clinton oder Obama haben aufsässige „Unternehmen“ in Europa oder Asien zum Nutzen ihrer Landsleute im Big Business kujoniert, wenn auch auf informeller Ebene und unter Wahrung einer  selbstgestrickten Scheinmoral.  Trump indessen bricht offen Verträge, verbietet Dritten nach Gusto Geschäftsbeziehungen, verhindert Unterstützung für missliebige Staaten – und die Zwerge in den Ministerien und den Konzern-Chefetagen der EU kuschen vor dem Triumphator.


Erpressung der Unwilligen


Embargos und Handelssanktionen gegen Dritte waren für die Vereinigten Staaten früher nur dann Machtmittel, wenn man sie wenigstens dem Publikum als Reaktionen auf akute Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsbeteiligungen der Gegenseite präsentieren konnte. Trump aber ignoriert alle globalen Gepflogenheiten, bricht einseitig das multilaterale Abkommen, das den Iran von der Atomwaffe fernhalten soll, schert sich nicht darum, dass alle Experten, Beobachter und sogar die eigenen Geheimdienste dem Regime in Teheran Vertragstreue attestieren, und droht allen Unternehmen, die legale Geschäfte unter international üblichen Bedingungen mit den Mullahs betreiben, mit einem Bann, Handel mit den USA und Transaktionen auf dem dortigen Finanzmarkt betreffend.


Und die Reaktionen? Die EU-Regierungen blöken wie einsame Lämmlein jämmerlich, aber vergebens dagegen an, deutsche Konzerne, die doch so tapfer um den neue Profite im Mittleren Osten gerungen haben, blasen plötzlich kleinlaut zum Rückzug und brechen Handelsverträge, weil sich in Nordamerika halt doch mehr verdienen lässt, und die Iraner müssen einsehen, dass sie einen weltweit hochgelobten Kompromiss eingegangen sind und dafür nun mit Sanktionen bestraft werden.


Was mit einem shithole country wie dem Iran (um bei Trumps entlarvend anschaulicher Terminologie zu bleiben) so prächtig klappt, kann sicherlich auch im Umgang mit den europäischen Untergebenen funktionieren, denkt sich der Dominator im Oval Office. Gegen das deutsch-russische Joint Venture Nord Stream 2, das den Bau einer zweiten Erdgas-Pipeline durch die Ostsee vorantreibt, mag es ökologische Bedenken geben - aus völker- und wirtschaftsrechtlicher Sicht indes ist es völlig legal. Und so bleibt dem US-Präsidenten, der die Welt generell in Abhängigkeit von sich selbst sehen will, der in diesem speziellen Fall aber die Abhängigkeit Westeuropas von Russland beklagt, nichts anderes übrig, als seine Krokodilstränen mittels einer windigen Erpressung zu trocknen.


Zuerst lässt Trump seinen Botschafter bei der EU in Brüssel, Gordon Sondland, verkünden, er habe Möglichkeiten, „das Projekt zu stoppen“, und ein bisschen drohen: „Wir haben noch nicht alle Instrumente eingesetzt, die das Projekt ernsthaft untergraben oder stoppen könnten.“ Wie solche Instrumente aussehen könnten, kündigt dann Sondlands Kollege in der Berliner US-Embassy, Richard Grenell, in einem Brief an die an North Stream 2 beteiligten deutschen Konzerne an: "Wir betonen weiterhin, dass Firmen, die sich im russischen Energieexport-Sektor engagieren, sich an etwas beteiligen, das mit einem erheblichen Sanktionsrisiko verbunden ist." Ob die Bundesregierung oder die mächtigen Unternehmenslenker diesem Druck standhalten werden, steht in den fünfzig Sternen auf blauem Feld.


Einen kurzen Moment lang könnte man glauben, die Politik habe dank Trump mitten im Kapitalismus die Vorherrschaft über die Ökonomie errungen, doch dann belehrt einen der Blick auf Donalds Motive eines Besseren. Statt auf russisches Erdgas zu setzen, sollen die Abhängigen in Europa gefälligst die durch Fracking überteuert gewonnenen fossilen Rohstoffe der US-Prospektoren kaufen. Und im Iran geht es nicht nur um den politisch-militärischen Einfluss in der Golf-Region, sondern auch um die Installation eines Regimes, das den US-Konzernen, die dort zuletzt kaum Punkte machen konnten, die Lizenz zur Ausbeutung ohne störende europäische Konkurrenz einräumt, wie zu des Schahs seligen Zeiten.


Unter Freihandel versteht Donald Trump die Freiheit, die Welt unter Einsatz militärischen und politischen Zwangs barrierefrei für die Ausbeutung durch US-Konzerne zu gestalten.

         

Old Economy first!


Donald Trump war ein Baulöwe und halbseidener Immobilien-Dealer, kein Garagentüftler wie die Helden der New Economy. Während diese im Silicon Valley daran arbeiteten, sich die Welt durch das Auslesen der geheimsten Träume und die Lenkung von Wünschen untertan zu machen, setzte Trump die Ellbogen ein, drängte Konkurrenten beiseite, spekulierte, verlor und gewann wieder. Er ist ein Mann der Old Economy, gestützt von verschiedenen Großbanken, befreundet mit den brutalsten Investoren.


Dass Trump, ungeachtet all seiner Pannen und Dummheiten, in weiten Kreisen des Kapitals wie der Bevölkerung so beliebt ist, dass er in knapp zwei Jahren gute Chancen auf die Titelverteidigung hat, liegt an seinem Gespür für die richtigen „Wohltaten“ zur rechten Zeit. Noch immer sind mehr Menschen in der klassischen Produktion beschäftigt als in den Labors für künstliche Intelligenz, und in den meisten für die Präsidentschaftswahl so wichtigen swing states leben mehr misstrauische Kleinbürger, unzufriedene Farmer und bigotte Evangelikale als tolerante Mittelständler oder aufgeschlossene Professoren, die einen demokratischen Kandidaten präferieren würden. Trump gewinnt die Herzen der Voreingenommenen, indem er ihre Ressentiments öffentlich teilt, nimmt die Angehörigen des abgehängten white trash für sich ein, indem er aufschneidet, die Wahrheit genauso verbiegt wie sie in ihren Schuldzuweisungen, unhaltbare Versprechungen macht und sich gegen das „Establishment“ stellt. Zwar ist er selbst ein Oligarch, aber einen Teil des Establishments, die arrogante, polyglotte und hypermoderne Clique von Milliardären, die Kunst sammeln und sich in anonymer Vornehmheit verbergen, hasst er ebenso, wie seine Anhänger dies tun.


Und seine krude Agenda bringt ihm Sympathien von den verschiedensten Seiten ein: Die Industriellen im Rostgürtel und die Automobilbauer lieben ihn, weil er sie von Umweltauflagen befreit und qualitativ bessere Konkurrenzprodukte aus China und der EU mit Strafzöllen belegt; die Energiekonzerne lieben ihn, weil er ihnen Schneisen durch Nationalparks und Indianerland schlägt; die Betonmischer und Stahlkocher lieben ihn, weil er ihre Arbeitsplätze zu sichern vorgibt, indem er eine gigantische Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen will; die Investmentbanker, die einst die verheerende Finanzkrise auslösten, lieben an ihm, dass er sie von Auflagen befreit und endlich wieder Russisch Roulette mit faulen Krediten spielen lässt; die reaktionären Rednecks lieben ihn, weil er den Schwarzen, Braunen und Gelben überall auf der Welt seine Geringschätzung zeigt. Und auch die Manager der Waffenindustrie lieben ihn, weil er als Cheflobbyist der National Rifle Association die flächendeckende Aufrüstung in Schulen empfiehlt und als Präsident gleichzeitig die internationale Abrüstung torpediert.


En passant ein Kalter Krieg


Als 1987 Ronald Reagan und Michail Gorbatschow den INF-Vertrag, der die Vernichtung aller landgestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5000 Kilometern vorsah, ratifizierten, schien die Welt ein sichererer Ort zu werden. Ein überraschender nuklearer Erstschlag war künftig weitgehend auszuschließen. Die UDSSR (später Russland) und die NATO bedrohten ihre Territorien gegenseitig nicht mehr unmittelbar. Zwar gab es immer mal wieder gegenseitige Vorwürfe wegen angeblicher Vertragsverletzungen, aber im Großen und Ganzen hielt die Vereinbarung.


Dann installierte die US-Army 2016 unter der Obama-Administration die Raketenabwehr Aegis Ashore in Rumänien und bereitete Gleiches für Polen vor. Dies geschehe, um einem Luftangriff aus dem Mittleren Osten, namentlich aus dem Iran, begegnen zu können, lautete die selbst von westlichen Militärbeobachtern als reichlich fadenscheinig empfundene Begründung. Tatsache ist, dass die in Osteuropa stationierten nuklear bestückbaren Tomahawk-Flugkörper über eine Reichweite von 1300 Kilometern verfügen und in erster Linie russisches Gebiet bedrohen.


Die Antwort Moskaus waren moderne SM-3-Raketen, die nach Angaben ihrer Konstrukteure 450 Kilometer weit fliegen, während die Militärexperten der NATO ihnen den zehnfachen Radius zutrauen.  So richtig glaubwürdig klingen beide Seiten nicht, umso mehr kann man der Ansicht von Jürgen Trittin zustimmen, dass der Zeitpunkt gekommen sei, die auftretenden Differenzen – so wie früher – in Verhandlungen auszuräumen. Verhandeln aber mag Trump nicht.


Den ostentativen Plausch mit einem ihm ähnlichen Egomanen wie Kim Jong-un oder einem Autokraten wie Wladimir Putin, dessen Cleverness er bewundert, weiß der US-Präsident zu schätzen; aber mit irgendjemandem kenntnisreich zu debattieren, das Für und Wider in einer strittigen Situation ergebnisoffen abzuwägen – das ist seine Sache nicht.


Nachdenken ist Gift für schnelle Entscheidungen, und Verständnis für die andere Seite hindert nur an der rigorosen Durchsetzung eigener Absichten. 

Und so beschwört Trump derzeit ohne Not die Gefahr eines neuen Kalten Krieges herauf, indem er den segensreichen INF-Vertrag kündigt. Die europäischen Zwerge, auf deren Heimatboden möglicherweise schon bald weitere Atomwaffen stationiert werden könnten, schütteln heimlich die Köpfe, verkünden aber lauthals, Putin sei erwiesenermaßen der Bösewicht, und stellen sich – mit Heiko Maas als Wortführerlein – hinter den Mann mit der in Beton gegossenen Hybris.

  

Die militärischen Ziele des jetzigen US-Präsidenten unterscheiden sich teilweise gar nicht so sehr von denen der Bushs oder eines Obama. Die taktischen Spielchen zu deren Erreichung aber sind ungleich gefährlicher als früher, wenn auch von dankenswerter Transparenz. Listige Diplomatie, verdeckte Geheimdienstoperationen oder pseudo-moralische Appelle gehören nicht zu Trumps Repertoire, er posaunt seinen absoluten Machtanspruch lauthals heraus und schiebt nach, dass er ihn mit allen Mitteln durchsetzen werde. Leider lässt diese Taktik keinen diskreten Rückzugsweg offen. Die Zwerge schütteln deshalb auch besorgt und peinlich berührt die Köpfe. Anschließend versichern sie den gewählten Herrscher von Washington leise ihrer bedingungslosen Loyalität. 

02/2019

                           

 



Prima Klima in Rio


Eigentlich war der Amtsantritt von Jair Messias Bolsonaro als brasilianischer Staatspräsident ein Desaster für die bürgerlichen Demokratien dieser Welt. Ein erklärter Faschist und Militarist, der ethnische Minderheiten und Frauen gleichermaßen diskriminiert, seinen Gegnern mit Ermordung und Vertreibung droht und den Klimawandel für eine marxistische Erfindung hält, wird von einer Wählermehrheit nach allen Regeln repräsentativer Volksherrschaft an die Spitze des fünftgrößten Staates der Erde delegiert. Doch während die Meinungsführer der europäischen Wertegemeinschaft noch entsetzt schweigen, sieht ein bundesdeutsches Ministerium  bereits das zarte Pflänzlein des bedenkenlosen Deals sprießen und fordert hiesige Unternehmen auf, es tüchtig zu gießen.

 

Sympathy with the Devil


Bereits in den ersten Tagen seiner Amtszeit zeigte Bolsonaro, dass er kein populistischer Papiertiger ist, sondern ein wild entschlossener Berserker, der sich auf ein in sozialdarwinistischem Konsens zusammengeschweißtes Bündnis aus neoliberalen Wirtschaftsstrategen und handfesten Ultrarechten stützen kann – eine Kombination übrigens, wie sie auch in den Anfangszeiten der AfD zu beobachten war. Ergänzt wird diese seltsame Koalition noch von Militärs mit Putschsympathien und Anhängern jener evangelikalen Freikirchen, die ihre Wurzeln in den radikalen Milieus des Bible Belt der USA haben.


Der selbsternannte Kämpfer gegen die Korruption, der im Parlament reaktionäre Abgeordnete, die fast ausnahmslos der Korruption angeklagt oder bereits überführt sind, als Mehrheitsbeschaffer braucht, legte also gleich los: Für die Siedlungsgebiete indigener Völker ist ab sofort nicht mehr das Justizressort, sondern das von der Agrarindustrie dominierte Landwirtschaftsministerium zuständig. Diese Entscheidung wirkt so widersinnig, als vertraue man den Schutz des Regenwaldes der Holzfällervereinigung und die Wahrung der Landrechte ethnischer Minderheiten dem Ku-Klux-Klan an. Das Ministerium für Menschenrechte darf sich künftig nicht mehr um die Belange von Lesben und Schwulen, denen Bolsonaro ohnehin den Status des homo sapiens abspricht, kümmern, das Arbeitsministerium wurde kurzerhand abgeschafft, und staatliches Eigentum, von Flughäfen über Autobahnen und Bahnstrecken bis hin zu nationalen Anteilen am Energie-Giganten Electrobrás, soll in einer Art Sale-Aktion an private Spekulanten verscherbelt werden.


Künftig darf jeder Brasilianer, der es sich leisten kann, bis zu vier Schusswaffen für seinen privaten Krieg gegen die Straßenkriminalität zu Hause horten, und Bolsonaros Alliierter Wilson Witzel, der neue Gouverneur von Rio de Janeiro, hat den Einsatz von Scharfschützen gegen (mutmaßlich) bewaffnete Verbrecher verlangt. Zum Vizepräsidenten wurde übrigens General Hamilton Mourấo, ein bekennender Fan des einstigen Chef-Folterers Brilhante Ustra, ernannt. Acht weitere Offiziere, die allesamt von der Militärdiktatur (1964 bis 1985) schwärmen, sitzen in Bolsonaros zweiundzwanzigköpfigem Kabinett.


Schlimme Zeiten für Demokraten, Kritiker, Nonkonformisten – und das in einem Land, das als wichtiger Handelspartner und Rohstofflieferant für Europa gilt, dessen Naturressourcen für das Weltklima von entscheidender Bedeutung sind. Doch wie reagiert die Bundesregierung? Mahnt sie, warnt sie, droht sie angesichts der ersten Menschenrechtsverletzungen mit Wirtschaftssanktionen, zeigt sie sich – so routiniert wie bei autoritär regierten Nationen, die nicht im eigenen Lager stehen, etwa China oder Russland – „besorgt“ bis „entsetzt?“ Ganz im Gegenteil: Das Bundeswirtschaftsministerium offenbart unverhohlene Sympathien für das neoliberalfaschistische Regime in Brasilien und fordert deutsche Unternehmen dazu auf, die Situation zu lukrativen Geschäften zu nutzen.       

Peter Altmaiers Berliner Ressort lädt in beinahe euphorischer Diktion für den April 2019 zu einer „Geschäftsanbahnungsreise“ ein, mit deren Durchführung es die Deutsch-Brasilianische Außenhandelskammer beauftragt  hat. Während am Zuckerhut Oppositionelle, Schwule und Indianer um ihr Leben fürchten müssen, frohlocken die Ministerialbeamten, dass „die Aussicht für die Wirtschaft vielversprechend“ sei. Die „politische Umwälzung“ sorge für „einige positive Prognosen“, vor allem bezüglich der „Reformen für Marktliberalisierungen“.

 

Am Super-GAU verdienen


Insbesondere kleine und mittelgroße Firmen fänden nun leichter Zugang zum brasilianischen Markt. Und eine Branche hat das Ministerium dabei besonders im Auge: „Zivile Sicherheitstechnologien und –dienstleistungen“ werden angesichts der hohen Kriminalität in den Metropolen und speziell in den favelas als gewinnträchtige Marktsegmente eingeschätzt.


Nun ist nichts dagegen zu sagen, dass jemand seine Behausung vor Einbrechern schützt, indem er Fußangeln auslegt oder ein Alarmsystem installiert. Es gibt aber plausible Gründe, dem zivilen Charakter deutscher Exporte in diesem sensiblen Bereich zu misstrauen: Einmal zählen zu den „Sicherheitsdienstleistungen“ auch Software-Anwendungen, die dem Ausspionieren politischer Gegner dienen – in Brasilien ein Nebeneffekt, der für Regimekritiker zu tödlichen Weiterungen führen könnte; zum anderen beruft sich das Bundesministerium ausdrücklich auf die Ankündigung Bolsonaros die „Ausgaben für öffentliche Sicherheit“ von bislang fast 20 Milliarden Euro jährlich noch weiter zu erhöhen, was Aufträge zur Ausrüstung einer Polizei, die zeitweise Vernichtungskriege gegen Räuber, Diebe und Straßenkinder führt, nahelegt; und da ist drittens die in den Begriff Sicherheits- und Wehrtechnik gegossene unheilige Symbiose von Überwachung und (para)militärischer Gewalt, die deutschen Firmen gemäß offiziellen EU-Angaben Rüstungsexporte von fast 600 Millionen Euro nach Brasilien in den letzten 18 Jahren ermöglichte und nun mit neuer Intensität Heckler & Koch und Konsorten die Chance bietet, mittels einer Flutung durch Handfeuerwaffen den rechten weißen Mittelstand im größten Land Lateinamerikas sicherheits- und wehrtüchtig zu machen.


Präsident Bolsonaro gefällt sich gerade darin, Mitgliedern der Arbeiterpartei, Gewerkschaftern, armen Schwarzen oder Feministinnen einen Vernichtungsfeldzug anzudrohen. Das Bundeswirtschaftsministerium aber ist der Meinung, dass die deutsche Wirtschaft bei der Bereitstellung der Brandbeschleuniger nicht abseits stehen sollte. Das erinnert an das Vorgehen und die Empfehlungen in anderen Weltregionen, das war in Saudi-Arabien so und früher, während der Apartheid, in Südafrika, und der diesbezügliche Rat scheint immer dann besonders erfolgsversprechend, wenn ein Partnerstaat gerade eine totalitäre Phase durchmacht oder sich gar zur rechten Diktatur wandelt.


Geschäftsmodell Militärdiktatur


Tatsächlich ist Brasilien ein Bespiel par excellence für die traditionell gedeihlichen Beziehungen deutscher Konzerne zu den blutigsten Regimes des südamerikanischen Subkontinents. Denn während etwa Daimler und Siemens sich bestens mit der Junta in Argentinien arrangierten, ging einst VW do Brasil in Sấo Paulo den Generälen und Folterern servil zu Hand. Die Geschäftsleitung ließ Mitarbeiter bespitzeln und setzte Gewerkschaftsmitglieder sowie Belegschaftsvertreter auf schwarze Listen, die anschließend den Militärs übergeben wurden. Etliche Aktivisten und Gewerkschafter verloren ihre Arbeit, nicht wenige verschwanden in „Sicherheitsgefängnissen“. Als viel später der VW-Rechtsvertreter vor der brasilianischen Wahrheitskommission zur Aufklärung der während der knapp zwanzig Jahre dauernden Militärdiktatur begangenen Verbrechen banale Ausflüchte vorbrachte, erklärte der Vorsitzende des Tribunals nur lakonisch: „Sie lachen uns aus!“


Jetzt hat VW tatsächlich wieder gut lachen: Die Generäle kehren zurück, nur diesmal infolge demokratischer Wahlen, aber mit der erklärten Absicht, das „Gesetz des Handelns“ wieder an sich zu reißen. Unter dem Putschistenfan Bolsonaro müssen Gewerkschafter erneut um ihr Leben fürchten, werden Streiks für ihre Initiatoren zu gefährlichen Unternehmungen und soll linker Protest auf die eine oder andere Weise verschwinden. Für deutsche Unternehmen aber bedeutet all dies ruhiges Produzieren zu geringen Personalkosten und Aushebelung der störenden Arbeitnehmerrechte.


In einem Worst-Case-Szenario könnten Abertausende in naher Zukunft aus Brasilien fliehen. Aus drei Gründen werden sie wohl nicht Deutschland ansteuern: Wegen der geografischen Entfernung; in Erinnerung an die teutonische „Willkommenskultur“ während früherer Verfolgungen, als etwa die bundesdeutsche Botschaft in Santiago de Chile ihre Tore vor den von Pinochets Schlächtern bedrohten Flüchtlingen verschloss; aufgrund des Auftretens deutscher Landsmannschaften in Brasilien, die eingedenk großer, wenn auch kurzer „nationaler Reichszeiten“ zu achtzig Prozent für Bolsonaro stimmten.


Sollten aber doch zu viele Oppositionelle und Kulturschaffende in Todesangst den Sprung nach Deutschland wagen, müssten sich die Spitzen von Union und SPD zeitnah zusammensetzen und Brasilien zum „sicheren Herkunftsland“ erklären.

01/2019 

Dazu auch:

Antisocial Media in der Rubrik Medien           

Service für Folterer im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2015) 




2018



Braundeutscher Eisberg


Jähes Entsetzen – echt in weiten Teilen der Öffentlichkeit, gespielt in den Reihen der Verantwortlichen und der Kontrolleure im politischen Umfeld: In Hessen haben sich mindestens sechs Polizisten als Rassisten und Neonazis geoutet, indem sie einer türkischstämmigen Rechtsanwältin die Ermordung ihrer kleinen Tochter androhten. Dieser Skandal, der als regional begrenzt und damit quasi als lokaler Einzelfall dargestellt wird, ist aber nur die Spitze eines bräunlich schimmernden Eisbergs, dessen Ausmaße unter der publizistischen und offiziellen Oberfläche der Republik von der Bundeswehr über die Polizei bis zu den Geheimdiensten reichen, sich sozusagen über den ganzen informellen Behördenuntergrund erstrecken.


Nur ein hessisches Problem?


Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz hatte ein Fax erhalten, in dem sie als „Türkensau“ beschimpft wurde, das zudem die Drohung enthielt, ihre kleine Tochter werde „geschlachtet“ werden. Zwar konnten zunächst fünf (dann sechs) Polizisten als Absender des Schreibens ermittelt werden, doch kam schnell der Verdacht auf, dass ein rechtsradikales Netzwerk in der Frankfurter Polizei existiere und weitere Personen beteiligt seien. Die extremistischen Staatsdiener offenbarten einen „Humor“, der das Blut in den Adern gerinnen lässt, als sie das Fax mit dem Vermerk NSU 2.0 versahen.


Die ermittelnden Beamten waren offenbar so eifrig damit beschäftigt, den Neonazi-Skandal lokal und klein zu halten, dass sie glatt vergaßen, das Landeskriminalamt (LKA) zu informieren. Als dessen Leiterin Sabine Thurau aus der Presse von dem Geschehen erfuhr, wies sie ihre Behörde an, den Fall an sich zu ziehen und die Ermittlungen auf ganz Hessen auszuweiten.


Wäre es nach dem Willen der gegen zu viel Aufklärung allergischen hessischen CDU, die auch gern mal erfolgreiche Steuerfahnder zum Psychiater schickt, gegangen, hätte Thurau heute gar nichts mit der Netzwerk-Fahndung zu tun. Die LKA-Chefin, die bereits als Frankfurter Vize-Polizeipräsidentin hart gegen Missetäter in Uniform vorgegangen war, wurde nämlich schon einmal vom damaligen schwarzen Innenminister Boris Rhein ihres Amtes enthoben und kehrte erst 2013, vom Gericht vollständig rehabilitiert, auf den Posten zurück.


Auch wenn die Ermittlungen in guten Händen zu liegen scheinen, drängt sich doch die Frage auf: Warum beschränken sich die Strafverfolger auf Hessen? Seit langem häufen sich Indizien und Beweise für rechtsradikale Seilschaften, überregionale Verabredungen zu Straftaten, großflächig organisierte Neonazi-Gewalt, eine faschistische Subkultur in ganz Deutschland. Wenn die Frankfurter Neue Presse berichtet, selbst innerhalb der Polizei werde nicht ausgeschlossen, dass es sich bei dem grauslichen Frankfurter Vorgang um einen Fall „noch viel größerer Dimension“ handeln könnte, schwingt die Ahnung mit, die Schweinerei durchdringe die ganze Gesellschaft.


Denn eigentlich ist die Formulierung eine untertreibende Relativierung. Eine „viel größere Dimension“ chauvinistischer Aktion hierzulande könnte nach solchen Drohungen nur noch in ihrer Realisierung oder einem Umsturzversuch von rechts bestehen. Dass nicht wenige Maulwürfe für letzteren arbeiten oder zumindest davon träumen, haben einige wache Publizisten schon lange geahnt; eine Langzeit-Recherche der Berliner Tageszeitung liefert nun Belege für ein solches Horrorszenario.


taz at its best


Selten war die Tageszeitung (taz) so wertvoll wie heute. Bereits 1979 als alternatives Nachrichtenforum gegründet, hatte sie nach und nach die systemkritische Front verlassen und war unter grün-hedonistischer Flagge auf „linksliberalem“ (ein Widerspruch in sich) Sozialkurs in die Mitte der Gesellschaft gesteuert. Doch immer noch gibt es MitarbeiterInnen, die akribische und zeitintensive Recherchen nicht scheuen und in den Schmuddelecken der Republik die Sorte Unrat aufstöbern, die von anderen Medien übersehen wird.


Ein taz-Team unter der Leitung der Redakteurin Christina Schmidt hat ein Jahr lang Chats im rechtsradikalen Milieu ausgewertet, Rädelsführer, die Dienst in Spezialeinheiten des Bundes taten, enttarnt, Behörden und Ministerien zu den Rechercheergebnissen befragt und dabei Plattitüden der Ahnungslosigkeit oder bewussten Verharmlosung zur Antwort bekommen.


So dämlich wie die Frankfurter Polizisten stellen sich die wenigsten militanten Rechtsradikalen an, doch das Internet vergisst und verbirgt nichts auf Dauer. Die Journalisten fanden Erschreckendes heraus: Bundeswehrsoldaten, Reservisten, Polizisten, Beamte des Verfassungsschutzes und vor allem Mitglieder von Elite-Kommandos wie dem KSK oder den SEKs haben sich zu einem Netzwerk zusammengefunden, das Deutschland in allen Regionen abdeckt, bis nach Österreich und in die Schweiz reicht und in dem Szenarien durchgespielt werden, die jedem Verschwörungstheoretiker zur Ehre gereichen würden, leider aber Realität werden könnten – zumal die Protagonisten über die nötige Kampferfahrung verfügen und scheinbar problemlos an Waffen kommen.


Da sollen Politiker und Aktivisten aus dem linken Spektrum erschossen oder in bestimmten Lagern interniert werden, wenn es zum „Bürgerkrieg“ zwischen Deutschen und zugewanderten „Fremden“ kommt. Und wenn sich ein solcher worst case nicht automatisch ergeben sollte, könnte man ihn ja auch herbeiführen. Da existieren Waffenlager und sogenannte Safe-Häuser, also klandestine Treffpunkte, Depots und Unterkünfte für die Aktivisten. Da werden Schießwettkämpfe abgehalten, für deren Sieger von einem rechten Anwalt ein Mehmet-Turgut-Wanderpokal, benannt nach einem NSU-Mordopfer, ausgelobt wird – Eisbergspitze der Verrohung. Da spielt auf dem Abschiedsfest eines KSK-Kompaniechefs die Neonazi-Band Sturmwehr, und der Scheidende und seine Partygäste entbieten fröhlich den Hitlergruß.


Das Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr ist wie die GSG 9 der Bundespolizei eine Anti-Terroreinheit, in deren Reihen sich auf das Töten geeichte Einzelkämpfer oft zweifelhafter Geisteshaltung tummeln. Veteranen der nach dem Mogadishu-Einsatz mit Lob überhäuften GSG 9 gerieten später erstaunlich oft auf die schiefe Bahn, standen wegen Banküberfällen, Erpressung und Mord vor Gericht. Für einen intellektuell eher bescheidenen Meister der Martial Arts, der sich eine Zeit lang als Herr über Leben und Tod fühlen darf, ist es schwer, sich im Alltagsleben nach oft ambivalenten, Kompromisse fordernden sozialen Normen zu richten. Beim KSK scheint sich die brachiale Großmannssucht nicht selten mit der plumpen Übermenschenlehre des Faschismus zu vermählen.


Auch Hannibal (so der Deckname eines wichtigen Netzwerk-Koordinators, dessen Identität die taz-Rechercheure aufdecken konnten) war bis vor Kurzem Mitglied des KSK. Ausgerechnet der Mann, der die rechten Kameraden instruierte und die Logistik der „Untergrundarmee“ (Focus) verantwortete, wurde vom Militärischen Abwehrdienst (MAD) als Kontaktperson befragt, ob rechtsextremistische Tendenzen in der Truppe festzustellen seien, ganz so, als wolle man von einem Wolf wissen, ob sich Wölfe in der Nähe aufhielten. Hannibal verneinte natürlich, worauf ihn der MAD-Oberstleutnant Peter W. zum Dank vor Ermittlungen warnte. Immerhin hat wegen dieses Verrats von Interna die Staatsanwaltschaft Köln Anklage gegen den Geheimdienstoffizier erhoben.


Hannibal gründete auch noch den Verein Uniter, der die (rechte) Elite der Bundeswehr vernetzen will, und steht den Preppers nahe, über die BRD verstreuten Gruppen, die sich für einen Tag X rüsten, um den Feinden des gesalbten Deutschtums ein Armageddon zu bereiten. Im Dunstfeld dieser Gruppierungen tauchte übrigens auch der Soldat Franco A. auf, der sich als syrischer Flüchtling ausgab, vermutlich um Terroranschläge zu verüben und den Verdacht auf die ihm verhassten Immigranten zu lenken.


Das Material, das die taz-Journalisten vorlegten, ist umfangreich, detailliert und vor allem wegen der rigorosen und unverbrämten Zielrichtung der Urheber schockierend. Man sollte meinen, ein Aufschrei ginge durch die deutsche Öffentlichkeit, doch dem ist nicht so.

       

Kein Thema für die Verantwortlichen


Jeder Furz eines Politgranden oder „Wirtschaftsweisen“, von dem Spiegel, FAZ oder Zeit Wind bekommen, wird vorab als Exposé in den Funkmedien veröffentlicht, dementiert, diskutiert und kommentiert, löst - ungeachtet der tatsächlichen Relevanz - einen medialen Wirbel aus. Die taz-Story, die breiteste Beachtung finden und sofortige Maßnahmen nach sich hätte ziehen müssen, übergingen die verantwortlichen Redakteure hingegen unter diskretem Stillschweigen. „Warum schlägt dieser Bericht kaum Wellen?“ wurde im Kulturressort des Deutschlandfunks zu Recht gefragt.


Terror von rechts hat keine Hochkonjunktur in den Medien, islamistische Attentäter und Gefährder garantieren mehr Zustimmung, Absatz und Quote. Zudem weist der Journalist Michael Kraske auf arbeitstechnische Probleme in den Redaktionen bei Reportagen über rechtsextreme Gewalttaten hin: „Das erfordert nämlich langwierige und langfristige Recherche, und da kann man sich zum Teil dann eben auch nicht mehr auf die offiziellen Stellen verlassen.“


In der Tat. Hier einige Reaktionen "offizieller Stellen" auf taz-Anfragen zu den Neonazi-Umtrieben in der Bundeswehr:


Das Bundesverteidigungsministerium schweigt und verweist auf den MAD.


MAD-Präsident Christof Gramm erklärt kategorisch: "Politisch motivierte Gewaltbereitschaft spielt in der Bundeswehr derzeit keine Rolle." Es gebe keine gewaltbereitbereiten Rechtsextremen in der Bundeswehr. 


Die Innenministerkonferenz Ende November in Magdeburg setzte 70 Themen auf die Tagesordnung, die alarmierende taz-Recherche war nicht darunter.


Schon im Juni hatten die Landesherren über die innere Sicherheit der rechtsradikalen Prepper-Szene einen Persilschein ausgestellt: Es gebe „keine tatsächlichen Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen“. So richtig gefährlich scheinen braune Extremisten nach dieser Einschätzung eigentlich nie zu sein.


Wie kurz doch das Gedächtnis der verantwortlichen Politiker und Behördenchefs ist. Vor wenigen Jahren hatten Kriminalisten sich in den Asservatenkammern abgelegte Fälle aus der Zeit zwischen 1990 und 2011 erneut vorgenommen und  gefordert, 3.300 Ermittlungen wegen Verdachts auf Neonazi-Täterschaft neu aufzurollen. Kurz zuvor hatten die Zeit und der Berliner Tagesspiegel über 152 Todesopfer rechter Gewalt berichtet – allesamt Gewalttaten, bei denen laut Polizei zunächst keine Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen vorlagen.


Die Vereinzelungsdoktrin


Als die RAF, eine aus der Linken stammende, aber auch dort weitgehend isolierte Terrorgruppe, ihre Anschläge verübte, wurden alle alternativen, sozialistisch denkenden oder auch nur unkonventionellen Individuen und Gruppen kollektiv der Umsturzbereitschaft verdächtigt. Unter den Kanzlern Helmut Schmidt (SPD) und Helmut Kohl (Union) wurde beschattet, angeklagt oder strafrechtlich verfolgt, wer als subversiv eingestuft war oder auch nur ein Wort wie „klammheimliche Freude“ niederschrieb, selbst wenn er sich im weiteren Text von den Attentaten distanzierte. Ein Teil der Gesellschaft stand unter Generalverdacht. Dass er sich sehr heterogen zusammensetzte, überwiegend unorganisiert war und Veränderung zumeist auf friedlichem Wege anstrebte, reichte nicht zur Absolution durch Politik, Justiz und Meinungsbildner.


Die Gewalttaten der Rechten, die weit mehr Opfer in der Bundesrepublik forderten als alle RAF-Anschläge und Islamisten-Bluttaten zusammen, werden dagegen sehr „differenziert“ betrachtet, fast einfühlsam relativiert und bezüglich ihrer Kohärenz grob fahrlässig verharmlost. Beobachtet man die rechtsradikale Bewegung und die öffentliche wie staatliche Reaktion darauf, muss man in der Rezeption immer wieder die Annahme von „Vereinzelung“ bei schwersten Straftaten konstatieren. Wenn man sich schon mal gezwungen sieht, Neonazis ein Kapitalverbrechen aufgrund erdrückender Indizien anzulasten, vermutet man meist die Tat eines Einzeltäters oder Außenseiters, möglicherweise um nicht in ein Wespennest zu stechen, will sagen: ein weit verzweigtes politkriminelles Geflecht in seiner ganzen Hässlichkeit offenzulegen und dabei auch noch die Verstrickung eigener Dienste und Behördenmitarbeiter ans Tageslicht zu bringen.


Die Tradition der Alleinschuld-Zuschreibung bei Morden durch Neonazis reicht lange zurück: Für das Oktoberfestattentat 1980 machten die Strafverfolger wider alle Logik einen Einzeltäter namens Gunnar Köhler verantwortlich. Als der jüdische Verleger Shlomo Lewin mit seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke keine drei Monate später in Erlangen erschossen wurde, soll es wieder ein Solist gewesen sein: Uwe Behrendt, der sich angeblich 1981 im Libanon umgebracht hat. Beide waren Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann, die Kontakte zu deutschen Industriellen ebenso wie zu ausländischen Nazi-Organisationen unterhielt, gewesen, beide konnten nach der Tat dummerweise nicht mehr befragt werden. In beiden Fällen wurden Akten vor der Öffentlichkeit weggesperrt, und am Ende reichten die Indizien nach Ansicht der Ermittler nicht einmal dazu, Anklage gegen Karl Heinz Hoffmann wegen der Mittäterschaft oder Gründung einer kriminellen Vereinigung zu erheben.


Auch die NSU-Mordserie ging nach offiziöser Ansicht auf das Konto eines „Einzeltäter-Trios“, obwohl die Tatorte von lokalen Kumpanen ausspioniert wurden, Waffenlieferanten und Beschaffer von Unterkünften zur Stelle waren, Beamte belastende Akten vernichteten, V-Leute wegschauten oder sogar Unterstützung leisteten und Polizisten falsche Fährten legten. Als Beate Zschäpe in München vor Gericht stand, drängten sich Sympathisanten aus der rechten Szene im Zuschauerraum – ganz schön viel Zuspruch und Empathie für eine angeblich ausschließlich auf eigene Rechnung Handelnde.


Lange Zeit hielt man die Reichsbürger, die Exoten im rechtsextremen Lager, für isolierte Spinner, bis vor zwei Jahren einer dieser Geschichtsleugner im mittelfränkischen Georgensgmünd einen SEK-Beamten erschoss. Nun erst erfuhr man, dass es Abertausende der Republikfeinde gab, davon besonders viele in Bayern. Und manchen Sympathisanten muss die Bluttat wie ein Betriebsunfall vorgekommen sein, dienen doch etliche Reichsbürger als Polizisten dem Staat, dessen Legitimität sie anzweifeln.


Und nun Frankfurt: Zuerst sind es ein paar Beamte in einer Polizeiwache, dann schwant den Verantwortlichen, dass auch andere Kollegen in der Metropole beteiligt sein könnten, zum Schluss dehnt das LKA die Ermittlungen auf Hessen aus. Dass man Verbindungen in der ganzen Bundesrepublik (und darüber hinaus) checken müsste, legt nicht nur die Recherche der taz nahe, das lässt sich auch aus dem Wesen des Internets und aus den konspirativen Möglichkeiten, die es bietet, ableiten.


Der Geist der US-Militia


Wie homogen die gewaltbereite rechte Gemeinschaft ist, wissen wir nicht. Sie umfasst nationalistische Intellektuelle, rassistische Ku-Klux-Klan-Romantiker, fanatische Sozialdarwinisten, aktionsbereite Geschichtsrevisionisten bis hin zu Rockern, die im organisierten Verbrechen mitmischen. Eines aber eint sie alle und gibt die Richtung ihrer Aggressionen vor: der Hass gegen Andersdenkende, Andersgläubige, Andersartige, Andersfarbige. Daraus haben sie eine Identität entwickelt, die keinen Raum für differierende Ansichten und kein Lebensrecht für deren Träger vorsieht.


Die Hemmungslosigkeit, mit der rechte Gewalttäter vorgehen, speist sich aus einer Herrenmenschenmentalität, in der jede Art von vermeintlicher Schwäche des Gegners als Legitimation der physischen Auslöschung interpretiert wird, die aber andererseits dessen intellektuelle Überlegenheit nicht anerkennt. Und sie wird unter Anwendung von Methoden uniformierter Assassinen, versehen mit der Lizenz zum Töten, ausgelebt, im Geiste weißer Söldner in Afrika oder der US-Militia, privater rechten Milizen, die u. a. 1995 für das Bombenattentat auf ein Bundesgebäude in Oklahoma City verantwortlich waren, bei dem 169 Menschen starben.


Gleichgültig der rechtsextremistischen Bedrohung gegenüber zeigen sich Politiker, die sie verharmlosen, Journalisten, die sie unterschätzen, Juristen, die nicht wahrnehmen wollen, was nicht sein darf, und Kleinbürger (etwa in der AfD), die sie billigend in Kauf nehmen. Als reale Gefahr erkennen sie die hingegen jene kritischen Geister, die aufgrund der bundesrepublikanischen Historie rechter Gewalt und unter dem Eindruck einer zunehmenden, von logistischer Potenz und rigidem Korpsgeist flankierten, Brutalisierung so etwas wie eine Nacht der langen Messer für möglich halten. Schließlich befänden sie sich unter den ersten Opfern, und ein solcher Gewaltausbruch wäre durchaus keine Premiere in der deutschen Geschichte. 

12/2018 

Dazu auch:

Im Zweifel rechts in der Rubrik Medien

Nazi und Gendarm im Archiv der Rubrik Medien (2016)

 

 

 

                      

Grünes Vergessen


Fast könnte einem die SPD leid tun: Alle Missetaten und Fehlentscheidungen der sozialdemokratischen Führung von anno dazumal bis heute werden minutiös aufgelistet und immer wieder auf die Tagesordnung gebracht – und zwar von der eigenen Parteibasis, von der potentiellen Wahlklientel und natürlich von früheren Sympathisanten. Da hat sich die grüne Konkurrenz wesentlich leichter beim Durchschlängeln in die Zukunft getan, hat ohne Aufsehen die inhaltlichen Untiefen, die Klippen gebrochener Versprechen und die atemberaubenden Spitzkehren zwischen Anspruch und Opportunismus passiert und strebt nun in seliger Amnesie den Status der Volkspartei an.


Die Farbe des Teflons


Dass die Grünen ihren linken Anspruch aufgegeben hätten, kann man ihnen nicht vorwerfen, hatten sie sich doch vor knapp vier Jahrzehnten als alternative, ökologische, antiautoritäre, basisorientierte, friedensbewegte (etc.) Partei konstituiert, nicht aber als sozialistischen Widerpart zum damals wie heute wirtschaftshörigen Polit-Establishment. Freilich gab es – nachdem völkische Naturfreunde wie Baldur von Springmann abgesprungen waren – die kurze Phase der Antikapitalisten um Ebert, Trampisch und Ditfurth in der Führung, doch wurde die bald überwunden (und das damalige Personal entsorgt). Heute würde jeder karrierebeflissene Grüne, der das Wort „Kapitalismus“ abwertend in den Mund nähme, scheel angesehen. Bleibt dennoch die Frage, was ist von den hehren Absichtserklärungen aus den Gründerjahren geblieben?


Zunächst muss festgestellt werden, dass die Grünen von vornherein wenig Inhaltliches umfassend in ihre Programme schrieben, dafür von allem etwas – und das wiederum nicht sehr verbindlich. Die Friedensbewegtheit verabschiedeten sie aus ihrem innerparteilichen Konsens, als ihr Leitwolf Joschka Fischer neben den Genossen Schröder und Steinmeier im Bundeskabinett  zur treibenden Kraft bei der Beteiligung der Bundeswehr an den völkerrechtswidrigen Bombardierungen Serbiens wurde. Im gleichen Aufwasch entledigten sich die grünen Minister der damaligen Regierung der Verantwortung für sozial Schwächere und des Strebens nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung, indem sie Hartz IV, der Abschaffung der Vermögenssteuer und einer Brutalisierung (öffentlich: „Reform“) des Arbeitsmarktes zustimmten.


Die Sozialdemokraten wurden von diesen Sünden der Vergangenheit eingeholt, die maßgebliche Mitwirkung der Grünen hingegen scheint vergessen, wie die derzeitigen Umfrage-Ergebnisse nahelegen. In ihren frühen Kursdiskussionen konkurrierten verschiedene Auslegungen einer allumfassenden Unverbindlichkeit miteinander – in beinahe religiös anmutendem Duktus beschrieben als Kampf zwischen Realos (raschen Anpassern) und Fundis (vermeintlich entschlossenen Prinzipienreitern). Am Ende wurden die meisten einst dürftig beschriebenen Positionen geräumt, und wo keine Positionen mehr sind, lassen sich auch keine angreifen. Inhaltliche Kritik glitt von den Grünen ab wie geschmolzenes Fett von Teflon, nur hielt sich die mythische Meinung, die Ex-Alternativpartei agiere im politischen Spektrum immer noch vergleichsweise menschlich.


Da menschelt nichts mehr


Doch selbst in der Wortwahl unterscheiden sich einige prominente Grüne mittlerweile kaum mehr von den Scharfmachern in der CSU oder AfD. So griff Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann verbal in ein laufendes Ermittlungsverfahren ein und wollte in bester Stammtisch-Manier gewalttätige „Männerhorden“ (gemeint waren Flüchtlinge, von denen einige der Teilnahme an einer Massenvergewaltigung in Freiburg verdächtigt werden) „in die Pampa schicken“. Auf ähnlich verunglimpfende Art und Weise vergriff sich der berüchtigte Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen, Boris Palmer, im Ton. Er bangte öffentlich um blonde Töchter grüner Professoren, in deren Nachbarschaft dunkle arabische Männer hausten.


So wenig menschlich der Jargon der Funktionsträger im Ländle klingt, so rücksichtslos wird auch innerhalb der Partei um Einfluss und Posten gekämpft. Und auf dem Langen Marsch zur Führungsebene und zu späterem Wohlstand werden alle Skrupel, einstigen Vorbehalte und gerade nicht opportunen Sympathien abgestreift, ohne dass sich die Öffentlichkeit dafür zu interessieren scheint. So reifte Fischer erst zum Warlord, um nach Ende der politischen Karriere sein Geld als Lobbyist für BMW, RWE und REWE, drei nicht gerade für ihre ökologische Ausrichtung berühmte Konzerne, zu verdienen. Kretschmann gerierte sich im Diesel-Skandal als Anwalt der Automobilindustrie, insbesondere seiner schwäbischen Hausmarke Daimler, und sein ehemaliger Staatskanzlei-Chef Klaus Peter Murawski ließ sich im DB MOBIL-Magazin, einem Werbeblättchen der Bundesbahn, als entschlossener Befürworter des Katastrophenprojekts Stuttgart 21 einvernehmen.


Die hessischen Grünen koalieren vorzugsweise mit der CDU, die in diesem Bundesland traditionell besonders rechts auftritt und einst mittels Suspendierung erfolgreicher Steuerfahnder dafür gesorgt hatte, dass sich Unternehmer mit Abgaben-Phobie zwischen Offenbach und Kassel so sicher fühlen können wie in Bayern oder in Panama. Von grünen Korrekturen diesbezüglich ist nichts bekannt, wohl aber von großzügigen Spenden der Wirtschaft an die früher so unbequem empfundene Öko-Partei.


Eine ganz normale Partei


Zweifellos war es ein Verdienst der Grünen, Umweltzerstörung und Ressourcenvergeudung ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gerückt zu haben. Und Jürgen Trittin hatte auch einen passablen Ausstieg aus der Atomenergie zuwege gebracht, ehe diesen die nächste Regierung unter Merkel vorübergehend kippte, was den Steuerzahler noch Milliarden kosten wird. Doch gerade an Trittin lässt sich die für die Partei so charakteristische geistige Kehrtwende exemplarisch aufzeigen. Aus dem gefürchteten Diskussionsredner und Querkopf wurde nach und nach ein Angepasster, der zu Fischers Kriegseskapaden schwieg und im berüchtigten Thinktank Bilderberg-Konferenz mit Industriellen und Militärs mauschelte. Die dort gepflegte Omertà, die verhindert, dass Debatte und Ergebnisse publik werden, verteidigte er auch noch öffentlich. Trotzdem argumentierte er den inzwischen staats- und wirtschaftstragenden Grünen anscheinend immer noch zu süffisant; jedenfalls schoben sie den fälschlicherweise als Fundi- und Links-Abweichler Verdächtigten auf das politische Abstellgleis ab.


Auch in der Ökologie ist die Creme der Partei nicht mehr ganz so entschlossen und sattelfest. Da offenbaren sich partielle Sympathien für die Auto-Konzerne, und da verteidigt der grüne Ver.di-Chef Frank Bsirske die allen Klima-Bemühungen und Landschaftsschutz-Maßnahmen hohnsprechende Ausweitung des Braunkohle-Tagebaus. Kein Wunder, ist er doch als Gewerkschaftsvertreter Vize im Aufsichtsrat von RWE…


Nein, die Grünen sind keine Partei mehr, die man automatisch mit Begriffen wie Empathie, soziale Gerechtigkeit, Pazifismus  oder Integrität in Verbindung bringen könnte. Doch im Gegensatz zur SPD verlief die Abkehr von früheren Werten relativ geräuschlos, quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und so wurde aus einer anfangs verbalradikalen Partei ein Darling der Besserverdienenden mit schlechtem Gewissen, denen FDP und Union doch allzu grob die Trommel des Kapitals rühren, für Besitzer von Einfamilienhäusern, die noch ein Herz für die Maulwürfe in ihrem Garten zeigen, und für alte Freaks, die immer noch nicht gemerkt haben, dass der grüne Hase längst nach rechts ins Revier der Oberförster dieses Staates, der Heger des Systems, gehoppelt ist. Die Grünen sind eine ganz normale Partei geworden. Und das ist nicht als Kompliment gemeint.

12/2018

Dazu auch:

Grün goes Pegida in der Rubrik Helden unserer Zeit (2016)      

 



Vertragsbruch-Profis


Der US-Präsident hat den Iran mit einem Wirtschaftsembargo überzogen und erpresst damit auch Unternehmen in aller Welt. Vorangegangen war seine einseitige Aufkündigung eines multilateralen Vertrags, durch den die Proliferation von Atomwaffen verhindert werden sollte. Wer dies für einen noch nie dagewesenen Vertrauens- und Rechtsbruch hält und den zunehmend erratisch agierenden Choleriker Donald Trump für ein gefährliches Unikum der Weltgeschichte hält, möge sich ähnliche Episoden der Vergangenheit vor Augen führen: Auch andere US-Regierungen scherten sich keinen Deut um Vereinbarungen, wenn diese sich nicht mehr mit ihren imperialen Absichten deckten.


Vertragstreue nach Gusto


Durchaus seriöse Kommentatoren der internationalen Presse deuteten unlängst an, Nordkoreas Kim Jong-un solle die Offerten der US-Administration, die eine Aufhebung der Wirtschaftssanktionen bei Verzicht des Landes auf nukleare Rüstung beinhalten, mit höchster Vorsicht behandeln. Dabei trieb sie nicht ein Faible für den Diktator mit den skurrilen Attitüden, sondern die Sorge um den Frieden auf der ostasiatischen Halbinsel um. So sehr man sich die Region atomwaffenfrei wünschen würde – die Folgen atomarer Wehrlosigkeit könnten für Pjöngjang verheerend sein, ist doch der westliche Partner (Kontrahent) am Verhandlungstisch für sein falsches Spiel und seinen Hang zu militärischen Interventionen bekannt.


Donald Trump hält wenig von internationalen Verträgen, wenn er deren Bedingungen nicht selbst diktiert hat. Der Ausstieg der USA aus dem Pariser Weltklimaabkommen und die Ankündigung des Präsidenten, den seit mehr als zwanzig Jahren für eine einigermaßen stabile Balance zwischen den Großmächten sorgenden INF-Vertrag zu kündigen und wieder Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen in Europa zu stationieren, sprechen Bände. 


Und wenn Kim Jong-un eruieren möchte, was ihm in Zukunft blüht, muss er nur einen Blick in die jüngere Vergangenheit werfen: Den Iranern half es nichts, dass sie in Vorleistung gingen und auf die Urananreicherung zur Herstellung von A-Waffen verzichteten. Mochten ihnen auch die Experten der EU und der internationalen Atomaufsichtsbehörde ehrliche Vertragserfüllung bescheinigen, Trump wertete plötzlich die (nie verhandelte) Hilfe Teherans für seine schiitischen Verbündeten und den Widerstand gegen die Expansion Saudi-Arabiens, der Urheimat des islamistischen Terrorismus, als Verstöße wider „den Geist des Abkommens“, mit dessen Inkrafttreten eigentlich die schlimmste Kriegsgefahr gebannt schien.


Die EU (und mit ihr fast die ganze Welt) sah dies wohl anders, musste aber hilflos registrieren, wie die europäischen Firmen ihrerseits vertragsbrüchig wurden und ihre Zelte im von Trump unter wirtschaftliche Quarantäne gestellten Iran abbrachen, um nicht die lukrativeren Übersee-Exporte und den Zugang zu den US-Finanzmärkten aufs Spiel zu setzen. Die Mullahs aber wären unversehens ohne eigenes Verschulden mit leeren Händen (keine Atomwaffen, aber auch kein Handel) dagestanden, hätten nicht China und Russland neue Chancen auf Exporte und günstige Erdölkäufe wahrgenommen.


Unter Trump mögen sich die krassen Beispiele für den skrupellosen Umgang der USA mit internationalen Verpflichtungen häufen, in verlässlicher Regelmäßigkeit gab es sie aber auch unter seinen Vorgängern, etwa in der mittlerweile glorifizierten Obama-Zeit. So wurde Muammar al-Gaddafi in Verhandlungen dazu gedrängt, sein Atomwaffenprogramm und die Unterstützung für Rebellen und Terroristen in Afrika zu beenden. Zum Dank griff die US-Luftwaffe (flankiert von den Europäern) ein, als während des Arabischen Frühlings lokale Unruhen aufflackerten, und half, aus einem diktatorisch regierten Wohlfahrtsstaat mit ausgeprägter Infrastruktur einen failed state, ein tribalistisches Inferno wie in einem Mad-Max-Film, zu machen. Gaddafi bezahlte mit dem Leben für seine Naivität, Kim Jong-un und Präsident Rohani sind gewarnt…

     

Die Tradition des Verrats


Vielleicht mussten die Gründung einer Nation und die Erweiterung eines Staatsgebietes in der Menschheitsgeschichte stets von Gewalt und Unrecht gekennzeichnet sein, und so ist auch die Ausdehnung der USA ein Lehrbeispiel für bedenkenlose, mit Brutalität und Hinterlist operierende Landnahme. Seit den Pilgrim Fathers  schlossen die europäischen Migranten unzählige Verträge mit den Ureinwohnern, die samt und sonders von ihnen gebrochen wurden, ehe die Tinte auf Pergament und Papier noch trocknen konnte und das Feuerwasser getrunken war. Den gesamten Südwesten, von Texas bis Kalifornien, holten sich die Yankee-Pioniere, indem sie sich friedlich als „Gäste“ dort niederließen, um sich alsbald die Hälfte des damaligen mexikanischen Territoriums mit Waffengewalt zu holen. Lediglich die Einverleibung Alaskas und Groß-Louisianas verlief unblutig, weil der russische Zar kurzsichtig war und Napoleon Bonaparte Geld brauchte.


Die Verfassung der Vereinigten Staaten verkündete, wirklich revolutionär, gleiche Rechte für alle Menschen – nur dass die Gründerväter Washington oder Jefferson aus Afrika Entführte als rechtlose Sklaven hielten. Und schon damals gehörte – ganz in Trumps Sinn – das Streben nach Glück mit dem Anrecht auf Waffenbesitz zusammen.


Nun sind Vertragsbruch, Kriegstreiberei, Übervorteilung und Xenophobie typische Geburtsfehler und (spätere) imperialistische Methoden vieler Staaten (Die hemmungslose Zuspitzung sollte durch Hitler-Deutschland grauenhafte Gipfel erreichen.), doch selten wurden sie derart rabulistisch zu einem nationalen Sendungsbewusstsein umgedeutet wie in God`s Own Country. Genau diese anerzogene kryptische Grundüberzeugung macht es bis heute schwer, mit US-Repräsentanten über historische Logik oder globales Verantwortungsbewusstsein zu sprechen.

 

Die USA stehen über dem Völkerrecht


Dass Täuschen zum Handwerkszeug internationaler Politik gehört, ist Allgemeingut, wenn aber nationales Vorgehen – obgleich es Lüge, Folter und Massaker umfasst – zur unantastbaren, beinahe sakralen Herrschaftshandlung, die niemand anzuzweifeln hat, erhoben wird, ist dies ein Alleinstellungsmerkmal der US-Strategie in der gegenwärtigen Epoche. Sie fußt auf einem US-Zentrismus, der an altrömische Omnipotenz („Jetzt passt der Vergleich“, möchte man Westerwelle hinterherrufen!) – hier die Urbs, Washington als unangreifbarer Mittelpunkt, dort der Orbis, der Weltkreis als Manövriermasse – erinnert.


Schon vor Trump versuchten die Vereinigten Staaten mehrmals, die internationale Gerichtsbarkeit in Den Haag für eigene Zwecke einzuspannen, bestanden aber gleichzeitig darauf, sich ihr im Falle eigener Rechtsbrüche nicht zu unterwerfen zu müssen. Diverse Regierungen, von Reagan bis Obama, forderten vehement die weltweite Strafverfolgung und Verurteilung von Diktatoren und mutmaßlichen Kriegsverbrechern, erklärten aber die Richter für nicht zuständig, wenn diese gegen US-Bürger ermittelten oder den eigenen Staat – wie im Falle der Verminung nicaraguanischer Häfen geschehen – schuldig sprachen.


Nach eigenem Gutdünken beurteilen die Administrationen in Washington auch das Verbot der Verbreitung von Atomwaffen. Indien und Pakistan wurden zwar verbal gerügt, als sie die Bombe bauten, aber auch weiter aufgerüstet, sollten sie doch als Gegengewichte zum angrenzenden US-Konkurrenten China fungieren. Israels Eintritt in den Kreis der Atommächte wurde mit Stillschweigen übergangen, und das Apartheid-Regime in Südafrika genoss ohnehin die klammheimliche Sympathie (und manchmal auch militärische Unterstützung) der USA.


Ganz anders aber steht es um den Iran, den schon Reagan der „Achse des Bösen“ zurechnete. Ob das Regime in Teheran den Bau der Atombombe tatsächlich vorbereitete, war unwichtig, dass die Mullahs sich an die vertraglich vereinbarte Abstinenz halten, ist irrelevant – der Iran steht den geopolitischen Plänen Trumps für den Nahen und Mittleren Osten im Wege, also sind alle mit ihm geschlossenen Abkommen Schall und Rauch. Und die EU, zumindest deren Wirtschaft, muss den USA wohl oder übel in einen Abgrund von Vertragsbruch und Betrug  folgen.


Zwar ist solche Perfidie nicht neu in der US-Außenpolitik und kriegerische Aggression gehörte auch bei Trumps innenpolitischen Gegnern zum gängigen Handlungspotential (Man denke nur an Hillary Clintons Herzenswunsch, massiv mit Bodentruppen in Syrien einzugreifen!) – was aber die derzeitige Situation so gefährlich macht: Niemand weiß, zu welchen irrationalen Taten der Präsident fähig ist, wenn er sich gereizt fühlt oder um sein Prestige fürchtet; zudem nimmt er mittlerweile eine gewisse Vorbildfunktion ein. Überall scheinen weltweit ähnlich militante Machos ohne Differenzierungsvermögen (jüngstes Beispiel: Bolsonaro in Brasilien) wie Giftpilze aus einem Boden, der bald großflächig mit Blut getränkt werden könnte, zu schießen.

11/2018

Dazu auch:

Antisocial Media im Archiv der Rubrik Medien (2018)

 

 

              


Die frohe Botschaft…


Die rasante Wandlung der SPD von einer Volks- zur Splitterpartei geht hurtig weiter. Während führende Sozialdemokraten gebetsmühlenartig das Wort „Analyse“ vor jedem Mikrofon wiederholen und damit nichts anderes meinen als ein Brainstorming, wie der gewohnte Kurs besser verkauft werden könnte, scheint das Wahlvieh langsam zu erschnuppern, dass sich nach duftigen Ankündigungen doch nur wieder der alte Mief einer in Opportunismus und Karrieredenken erstarrten Politikertruppe breitmachen würde.


Déjà-vu in der Personalentwicklung


Jedes Mal wenn ein/e neue/r Hoffnungsträger/in von der SPD präsentiert wird, kommt Goethes skeptischer Spruch „Die frohe Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“ zu frischen Ehren.  In der Tat entwickeln sich „Rebellen“, Shooting Stars und Vordenker dieser Partei nach kurzer Karenzzeit fast zwangsläufig zu Apologeten, Maskenbildnern und dann Ladenhütern eines beinharten Kapitalismus mit menschenfreundlicher Larve.


Man muss gar nicht das Horrorkabinett der Vergangenheit, dem etwa der  selbsternannte „Bluthund“ Gustav Noske, der als Reichswehrminister 1919 mit rechtsradikalen Freikorps paktierte und Arbeiter massakrieren ließ, oder sein kongenialer Parteigenosse Karl Zörgiebel, Berliner Polizeipräsident, auf dessen Befehl am 1. Mai 1929 dreißig Demonstranten und Unbeteiligte erschossen wurden, angehörten, bemühen – das SPD-Führungspersonal der Gegenwart ist schaurig genug. Ob man sich mit dem Wirken eines Frank Walter Steinmeier, eines Sigmar Gabriel oder einer Andrea Nahles auseinandersetzt, bleibt sich hinsichtlich des Trends ziemlich gleich: Zwischen dem, was sie einst sagten, und dem, was sie danach taten, klafft ein Abgrund von Gesinnungs- und Geisteswandel.


Schon die vorige Parteigeneration mit ehrlichen, aber rücksichtslosen Reaktionären wie Helmut Schmidt und Holger Börner an der Spitze und mit schillernden Figuren wie Walter Riester, der als U-Boot der großen Assekuranz-Konzerne das deutsche Rentenversicherungssystem beinahe sturmreif schoss, machten kein Hehl aus ihrer bedingungslosen Systemtreue. Die heutige Garde aber kündigt in höchster rabulistischer Vollendung stets das Gegenteil der späteren Beschlüsse an.


Wenn ein Wirtschaftsminister Gabriel verspricht, die Waffenexporte, vor allem die in Staaten außerhalb von EU und NATO, zu reduzieren, kann man davon ausgehen, dass mehr deutsche Waffen denn je an andere Länder, vor allem auch in Krisenregionen und in die Dritte Welt, geliefert werden. Die Verkäufe an den Kriegsteilnehmer Saudi-Arabien kann er angeblich wegen der vor seiner Zeit geschlossenen Verträge nicht stoppen, obwohl das Kriegswaffenkontrollgesetz solche Deals strengstens untersagt. Dann springt ihm natürlich sein Genosse, der seinerzeitige Justizminister Heiko Maas bei und erklärt sinngemäß, was damals Unrecht war, müsse jetzt Recht bleiben. Ein Gesetzesverstoß wird quasi durch Routine zu legalem Handeln.


Wenn sich die SPD wieder einmal verbal um die Umwelt sorgt, folgt de facto ziemlich schnell der Versuch, die deutsche Automobilindustrie vor schärferen Emissionsgrenzwerten und anderem Unbill zu schützen. Drohen Fahrverbote für Luftverpester in den Städten, einigt man sich in harmonischer Komplizenschaft mit der Union auf eine Gesetzesänderung, die ein wenig mehr tödlichen Dreckausstoß als bisher unter Straffreiheit stellt.


Redet Steinmeier vom Frieden, bereitet er als Geheimdienstkoordinator einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien mit vor. Lässt sich Schröder dafür feiern, dass er Deutschland aus dem Irak-Krieg heraushalte, späht der BND zur gleichen Zeit die Bombenziele im Zweistromland für die NATO-Verbündeten aus.

   

Die Dialektik der Anpassung


So weit, so schlecht. Man könnte die Beispiele für den parteieigenen Pinocchio-Effekt in ein zeit- und endloses Rollenmuster einpassen, sinnvoller aber scheint es, sich die Mechanismen dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit näher anzusehen.


Die deutsche Sozialdemokratie nennt eine ganz unangepasste, fast wilde Nachwuchsorganisation ihr Eigen, die Jungsozialisten. Viele Mandatsträger und Posteninhaber schärften erst bei den Jusos ihr Profil, ehe sie – dem Verformungsprozess bei Leprakranken ähnlich – die Konturen der politischen Physiognomie im Laufe der Karriere wieder verloren.


Was waren das doch für aufmüpfige Linke, die Juso-Bundesvorsitzenden, die Schröders, Nahles oder Annen – zumindest solange sie noch nicht an die Fleischtöpfe der Macht gelangt waren. Auf dem Weg dorthin streiften sie gewöhnlich ihren verbalradikalen Habitus  ab, bis ihre Widerborstigkeit glatter Flexibilität gewichen war. Selbst Klaus Uwe Benneter, der 1977 als Juso-Chef ausdrücklich (aber wohl eigentlich aus Versehen) wegen Linksabweichung  aus der SPD ausgeschlossen wurde, stellte sich nach seinem Wiedereintritt vorbehaltslos hinter die Politik des Dienstleisters für Unternehmer, Gerhard Schröder, der mit der Abschaffung der Vermögenssteuer und der Öffnung des Arbeitsmarktes für prekäre Beschäftigungsverhältnisse die Union wie eine Sozial-Partei aussehen ließ.


Im dialektischen Entwicklungsprozess der SPD-Junioren zeichnet sich eine lückenlose Anpassung des Bewusstseins an das Sein ab. Der Status quo darf keiner Wechselwirkung oder grundlegenden Veränderung ausgesetzt werden, der frühe Protest war austauschbare Attitüde für die Galerie, nicht Ausdruck inhaltlicher Analyse.


Wird die SPD noch gebraucht?


Ähnliches könnte man auch der CDU/CSU (und mittlerweile den Grünen) unterstellen, doch haben bei der Union Inhalte noch nie eine große Rolle gespielt. Sie vertraut auf grobgeschnitzte, bisweilen auch abgefeimte Personen (Persönlichkeiten?), den egoistischen Konservatismus der etwas Bessergestellten und die Schlagfertigkeit des Boulevard. Die SPD hingegen strampelt sich mit progressiven Thesen ab, um dann doch fast zwanghaft vor der von der Wirtschaft definierten Macht des Faktischen einzuknicken. Auch die Grünen befinden sich längst auf dem Marsch nach rechts, doch wirken sie noch nicht so verbraucht, erschöpft und unglaubwürdig wie die Genossen im Hamsterrad mit der Regierungsbeteiligung als Achse.


Ein sonderlich differenziertes politisches Bewusstsein kann man den Deutschen in der Mehrheit nicht unterstellen, dafür aber ein Gespür dafür, wann sie hinters Licht geführt, vulgo verarscht, werden. Den Rechten attestieren viele Wähler in diesem Fall allerdings eine gewisse Pfiffigkeit, eine bauernschlaue Skrupellosigkeit, die ihnen Achtung abzwingt, während die zuvor moralisierende, dann ungeschickt tricksende Sozialdemokratie von ihnen mit Häme und Stimmentzug abgestraft wird.


Dass einen angesichts der aktuellen Atomisierung der SPD-Relevanz ein ungutes Gefühl befällt, liegt an scheinbar peripheren historischen und geopolitischen Fakten: Immerhin stimmten die verbliebenen 94 im Reichstag verbliebenen Sozialdemokraten im März 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz (während ihre Fraktionskollegen am Zutritt zum Parlament gehindert wurden oder – wie die meisten kommunistischen Abgeordneten – schon verhaftet worden waren). Tod, Verfolgung und Flucht waren ihr Lohn. Immerhin saßen mit Peter Conradi, Dieter Strattmann oder Erhard Eppler einige bis zuletzt integere Sozialdemokraten im Bundestag oder sogar im Kabinett. Schließlich gab es auch noch einen Salvadore Allende in Chile, gibt es noch heute einen Jeremy Corbyn in Großbritannien.


Auch sind unter den eingeschriebenen Genossen immer noch Menschen, die Empathie für Benachteiligte empfinden, von internationaler Solidarität und einer Entflechtung von Politik und Großwirtschaft träumen. Umso bedauerlicher ist es, dass die heutige Spitzencrew der SPD die von der Automobilindustrie gestellte Parteikarosse mit Volldampf gegen alle verfügbaren Wände fährt.

10/2018

Dazu auch:

Der letzte Strohhalm im Archiv dieser Rubrik

Heikos irre Logik im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

   

            


Prinzip Belohnung


Als pädagogische Hilfsmittel bzw. Leitsätze für den Umgang mit Schulkindern, Arbeitslosen und Straftätern galten bisher die dialektischen Begriffspaare Belohnung und BestrafungFördern und Fordern sowie Mit Zuckerbrot und Peitsche. Die CSU hat solch veraltete Erziehungsregeln schon früh durch zeitgemäße  Ansätze, die nur positive Sanktionierungen vorsehen, ersetzt. Ihre Bundesminister wollen nun diese in Bayern kreierte progressive Didaktik auf die ganze Republik übertragen.


Bei Fehltritt vorrücken!


Es war beinahe rührend zu beobachten, mit welchem Eifer der Repräsentant der deutschen Automobilindustrie in der Bundesregierung, Andreas Scheuer, sich mühte, Unbill von seinen Auftraggebern abzuwenden, ja ihre der Volksgesundheit abträgliche Schadstoffproduktion noch zum Anlass für einen kleinen Extra-Profit umzuwidmen. Während sich das halbe Land fragte, warum nicht längst gegen die verantwortlichen Manager wegen vorsätzlicher Körperverletzung (bisweilen mit Todesfolge) ermittelt werde, versuchte Scheuer, den Umsatz der Konzerne durch ein Flottenaustauschprogramm zu steigern und technische Nachrüstungen zu vermeiden.


Der Bayer, der im Nebenberuf als Bundesverkehrsminister dem Volk dient, sieht sich dabei in einer von seiner Partei, der CSU, über Jahrzehnte hinweg gepflegten Tradition. Im Freistaat-Monopoly geht nämlich ein ertappter Frevler nicht über das Gefängnis, sondern rückt nach kurzer Anstandspause direkt zur Schlossallee vor – sofern er das Herz auf dem rechten Fleck hat. Unvergesslich bleibt in diesem Zusammenhang die gesundheitliche und politische Rehabilitation von Friedrich Zimmermann (in Bayern auch als Old Schwurhand bekannt). Das CSU-Schlitzohr leistete sich in der Spielbankenaffäre einen Meineid, wurde überführt, kam aber ungeschoren davon, weil ihm das Gericht eine Unterzuckerung zum Tatzeitpunkt attestierte. Als Zimmermann wieder gesund war, stieg er zum Partei-Vize und später zum Bundesinnenminister auf.


Otto Wiesheu wiederum war aufstrebender CSU-Generalsekretär, als er im Vollsuff einen polnischen Kleinwagenlenker totfuhr. Zwar wurde er zu milden zwölf Monaten auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, doch sorgte seine Partei für eine gründliche Resozialisierung, indem sie es bewerkstelligte, dass er nur zehn Jahre später seine reichen praktischen Erfahrungen in die Tätigkeit als bayerischer Wirtschafts- und Verkehrsminister einfließen lassen konnte.


Franz Josef Strauß höchstselbst war in so viele Skandale und Affären involviert, dass man darob die Übersicht verlieren könnte. Vielleicht schenkte das bayerische Wahlvolk seinem Landesvater gerade deshalb wiederholt die absolute Mehrheit. Töchterchen Monika Hohlmeier musste nach Postenschacherei und Manipulationen in der Münchner CSU als Kulturministerin zurücktreten, wurde aber wenig später mit der oberfränkischen (?) Spitzenkandidatur für das Europaparlament belohnt.


Wer sündigt, dem wird gegeben


Nein, die CSU lässt keinen Sünder fallen. Zeigen die Christsozialen Migranten und Flüchtlingen gegenüber gern alttestamentarische Strenge, demonstrieren sie bei Unterschleif in den eigenen Reihen eher Nachsicht und Vergebung im Stile Jesu. Da aber so eine gestandene Partei auch ihre Spezerln und Gönner in die tätige Barmherzigkeit einbeziehen sollte, ist die Besserung industrieller Sünder per Belohnung quasi obligatorisches Programm.


Die CSU-Verkehrsminister in Bayern und im Bund bewiesen ohne Unterlass ihre unverbrüchliche Treue zu den Machern der Automobilkonzerne. Sie hielten Schaden von ihnen fern, indem sie mit den Gleichgesinnten in der Union und bei den Koalitionspartnern, mal in der SPD, mal in der FDP, strengere Normen für den Schadstoffausstoß in der EU verhinderten.


Wurden Manager dennoch als schwarze Schafe enttarnt, so erteilten ihnen die Scheuers, Dobrindts und Konsorten rasch Absolution von den Umweltsünden und bemühten sich, eventuell dräuende Strafen abzumildern. Selbst ein nachträgliches Zuckerl für die Lausbuben war möglich, wobei die Minister stets vor einem Verlust von Arbeitsplätzen warnten, der den Lenkern an der Fertigungsfront selbst eigentlich ziemlich egal war, wie ihr Hang zum Outsourcen und zur Produktionsverlagerung nahelegt.

   

Die windelweiche Lösung


Wie ein Löwe kämpft Andreas Scheuer für seine Industrie-Mentoren, indem er für die am schlimmsten belasteten 14 Ballungsräume einen Austausch alter Dreckschleudern gegen unwesentlich weniger schmutzige Modelle fordert, für die allerdings die Kunden ordentlich draufzahlen sollen, nach Inanspruchnahme einer bescheidenen Prämie, zu der sich die Hersteller bequemen würden. Dies bedeutet gleich mehrfache Entlastung für die Konzerne, die

a) die üblichen Rabatte ganz uneigennützig in Prämien umwandeln können, 

b) die remittierten Autos ins Ausland oder in deutsche Regionen, die gern

    zu den 14 Drecklöchern aufschließen möchten, verscherbeln dürfen

    (wobei sich der Vorteil für die Umwelt auf stattliche Nullkommanull

    beziffert) und

c) sich die aufwändigere und kostspieligere technische Umrüstung ihrer

    Luftverpester sparen würden.

Da wollte selbst Frau Merkel nicht mehr mitspielen, ahnte sie doch, dass so ihr Kabinett unter dem Geschrei der betroffenen PKW-Besitzer, die nun für fremde Unterlassung zur Kasse gebeten würden, der AfD weitere 5 Prozent Wählerstimmen auf dem Silbertablett präsentiert hätte. Einer Partei also, die Umwelt für eine linke Erfindung hält, aber von jedem Fehler der Regierung unverhältnismäßig profitiert…


Folglich kreißte die Große Koalition und gebar ein Zwitterwesen, das der AfD höchstens noch 2,5 Prozent mehr bei den nächsten Wahlen garantiert: ein bisschen Umtausch, ein bisschen Nachrüstung, also mehr Umsatz auf der einen, mehr Kosten auf der anderen Seite für die Konzerne. Zuvor schon hatte nach Medienberichten die Regierung den Unternehmen signalisiert, sie werde in Brüssel eine nennenswerte Verschärfung der 

CO2-Grenzwerte durch die EU zu verhindern wissen. Wenn das keine listige Politik ist: die Diesel-Giftspritzen ein wenig zu entschärfen, aber dafür den Angriff der Benziner auf das Weltklima am Laufen zu halten!


Dumm nur, dass die Abgeordneten des EU-Parlaments nicht mitspielten und eine Senkung des Kohlendioxid-Ausstoßes von Neuwagen um 40 Prozent bis 2030 beschlossen. Und nun revanchieren sich die großen Hersteller an der Diesel-Front (besonders heftig BMW und Opel, diplomatisch verhalten Daimler und VW). Sie weisen darauf hin, dass sie zur kostspieligen Nachrüstung nicht verpflichtet seien, weil sie gegen keine Gesetze verstoßen hätten. In der Tat hat es die deutsche Politik versäumt, der Verpestung der Luft durch Diesel-Boliden mit Vorschriften und Normen verbindlich Einhalt zu gebieten. Es scheint, als hätten die Kanzler/innen und Minister/innen der letzten Regierungen beim Ablegen des Amtseids ein Wort verwechselt und das Volk außen vor gelassen, als sie schworen, Schaden von der deutschen Automobilindustrie abzuwenden. Sollte sich das bayerische Prinzip durchsetzen, dürfen die derart sich verschworen Habenden auf eine ordentliche Belohnung, von wem auch immer, hoffen.

10/2018

Dazu auch:

Karriere eines Klons im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

Tödliche Trickserei im Archiv der Rubrik Medien


                        


Die dümmsten Kälber


Rechte Populisten werben derzeit in ganz Europa damit, den sozial Abgehängten, den hart arbeitenden, aber dürftig verdienenden Massen eine Stimme zu geben. Ein Blick nach Österreich aber zeigt, dass die Nationalisten sich zwar den Unterprivilegierten anbiedern, tatsächlich aber die Interessen der Wirtschaft bedienen. Und die Wahlprogramme der AfD hierzulande offenbaren ein seltsames Faible für Besserverdienende und Unternehmer. Die „Kümmerer“ hetzen ihre Klientel gegen „Eliten“ und ausländische „Konkurrenten“ auf, um sie dann an die Etablierten zu verkaufen.

  

Die FPÖ legt die Maske ab


Die AfD blickt gebannt nach Österreich, wo die geistesverwandte FPÖ es mittlerweile in die Koalitionsregierung mit der unter Sebastian Kurz nach rechtsaußen gerückten ÖVP geschafft hat. Unter dem faschistoiden und zugleich finanziellen Durchstechereien zugeneigten Charismatiker Jörg Haider hatten die „Freiheitlichen“ den Weg aus der wirtschaftsliberalen Ecke ins populistische Lager angetreten; unter dem in deutschen und Südtiroler Neonazi-Kreisen politisch geformten Nachfolger Heinz-Christian Strache kam die Partei endgültig im extrem nationalistischen Bierzelt an.


Wie die AfD in Deutschland konnte auch die FPÖ in Austria beim Wahlvolk punkten, indem sie jedes denkbare soziale Problem auf Zuwanderung und „Fluchtwellen“ zurückführte (und das in einem einstigen Vielvölkerstaat!) und vorgab, die Interessen des kleinen Mannes in der großen Politik zu vertreten. Kaum an der Regierung, demonstrierte die Partei, dass sie ihre wirtschaftsaffine Vergangenheit aufs Trefflichste mit der chauvinistischen Gegenwart zu vereinbaren weiß: Vor wenigen Wochen setzte sie gemeinsam mit der ÖVP eine Gesetzesänderung durch, die es Unternehmern erlaubt, ihre Mitarbeiter täglich zwölf Stunden und wöchentlich 60 Stunden arbeiten zu lassen. Was früher die Genehmigung im Ausnahmefall erforderte, ist seit 1. September ohne Antrag und Gewerkschaftszustimmung möglich. Kein Wunder, dass die österreichische Industriellenvereinigung, angesichts so viel Kulanz von Seiten der Regierung keck geworden, gleich noch den Wegfall der Überstundenzuschläge forderte.


Wie versuchte FPÖ-Chef Strache dieses sozialstaatliche Rollback, das ihn zum neoliberalen Avantgardisten an der Seite Emanuel Macrons aufsteigen lässt, zu relativieren? Er behauptete, jeder Chef werde es akzeptieren, wenn jemand kurzfristig angeordnete Überstunden ablehne. Fragt sich, was mit der langfristig befohlenen Mehrarbeit ist und ob Strache weiß, dass im Kapitalismus alles, was möglich ist, auch praktiziert wird – ohne Rücksicht auf ein paar historische Errungenschaften und Rechte der lohnabhängigen Bevölkerungsteile. Es ist diese unheilvolle Allianz zwischen Marktliberalismus und rechtsradikaler Ideologie, die sich auch in den Programmen der AfD widerspiegelt, die aber im Getöse der plumpen und lauten Phrasendrescherei der Parteioberen kaum wahrgenommen wird.

   

Ausverkauf der Sozialstaatsreste


Die landläufige Meinung stuft die AfD als Partei der Unterschicht, der Arbeitslosen und des Bildungsprekariats ein. Statistiken allerdings relativieren diese Einschätzung. Zwar liegen die AfD-Wähler bei den Schulabschlüssen leicht unter dem Durchschnitt, aber zu ihnen zählen auch Akademiker, relativ viele Selbständige, kleine und mittelständische Unternehmer. Die Generation zwischen dreißig und sechzig Jahren ist überproportional vertreten, wobei Männer der testosterongeschwängerten Rhetorik wesentlich häufiger folgen als Frauen. Besonders erstaunlich ist die Popularität bei den Arbeitern, die die größte Wählergruppe bilden – obwohl gerade sie von den gesellschafts- und sozialpolitischen Plänen der Partei überhaupt nicht profitieren würden.


Gemäß dem Wirtschaftsprogramm von 2016 würde beispielsweise das Arbeitslosengeld I privatisiert. Der Arbeitnehmer müsste selbst für den Fall der Erwerbslosigkeit vorsorgen, der Arbeitgeberbeitrag fiele weg. So erschafft man ein El Dorado für Versicherungskonzerne. Wohltaten für Besserverdienende und Privilegierte sieht auch die AfD-Steuerpolitik vor: Reiche Nachkommen könnten sich über den Wegfall der Erbschaftssteuer freuen, während Häuslekäufer und Immobilienspekulanten die Abschaffung der Grunderwerbssteuer begrüßen würden. Dass sich die AfD gegen die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die eine angemessene Beteiligung Wohlhabender an der Solidargemeinschaft bedeuten würde, ausspricht, gehört zur neoliberalen Unterfütterung einer brachial-plumpen Ideologie, die alle soziale Ungerechtigkeit der Migration zuschreibt. Die Gewerbesteuer und damit die wichtigste Einnahme der Kommunen soll verschwinden, was Fabrikanten sicherlich goutieren, während sich der Normalbürger wundert, woraus die für die Lebensqualität und Mobilität notwendige Infrastruktur finanziert werden soll. Bei der Einkommenssteuer präferiert die AfD einen Stufentarif, wobei sie hier bei der FDP abgekupfert hat. Der Bund der Steuerzahler hatte bereits 2010 ausgerechnet, dass ein solches Modell den Reichen nützen, den Staat aber 20 Milliarden Euro im Jahr kosten würde.


Keine dieser „Reformen“ wäre im Sinne und zum Nutzen der Arbeiterschaft, ganz im Gegenteil wird durch sie die Kluft zwischen Lohnempfängern und Arbeitgebern wie Wohlhabenden weiter und in rasanterem Tempo vertieft. Die Beschäftigten haben aber – auch durch Desinformation seitens der anderen Parteien und der Medien bedingt – größtenteils verlernt, Inhalte zu prüfen, respektive erst einmal nach ihnen zu verlangen. Gefühle und Stimmungen prägen das Wahlverhalten, die stärkste Emotion ist die der Angst, und auf deren Klaviatur verstehen die rechtsextremen Gruppierungen hervorragend zu spielen.


Spielarten des Sozialdarwinismus


Die von Schröder und Konsorten eingeleitete „Öffnung des Arbeitsmarktes“ ist nicht nur als Begünstigung der Wirtschaft zu begreifen, sie hat auch zu befristeten, damit unsicheren sowie schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen geführt und das Tariflohnsystem teilweise ausgehebelt. Diese Entwicklung, die - kombiniert mit Grausamkeiten im Renten-, Gesundheits- und Sozialbereich - auch in anderen Ländern, etwa Frankreich und Spanien, von rechten Regierungen eingeleitet und dem armen Griechenland regelrecht aufoktroyiert wurde, verunsichert viele Menschen, ohne dass diese die Intentionen und Vorteile der Verursacher und Nutznießer klar wahrnehmen könnten.


In das Erkenntnisvakuum stoßen nun die Rechtspopulisten und Neonazis vor, indem sie behaupten, Flüchtlinge und Migranten als wahre Schuldige entlarvt zu haben. Einfache Lösungen entfalten – ungeachtet ihres (Un)Sinngehalts – für einfach gestrickte Menschen stets einen enormen Charme, vor allem wenn sie mit Neidgefühlen spielen und die latente Xenophobie verstärken. Von den neoliberalen Einschnitten, eigentlich als Service für die Wirtschaft gedacht, wird mit pseudo-kultureller Rabulistik abgelenkt, indem die Überlegenheit bzw. der Schutz der eigenen Rasse, Hautfarbe, Heimat, Religion, Tradition etc. zum alles beherrschenden Thema ausgerufen wird.


Zwei Maximen des Sozialdarwinismus ergänzen sich auf diese Weise glänzend: die ohne Rücksicht auf Verarmung ganzer Länder und Gesellschaften von den Global Players betriebene Profitmaximierung und das auf Kosten der Schwachen und Fremden durchgesetzte Recht des Stärkeren, mit dem die neuen Propagandisten materiell und geistig Minderbemittelten imponieren und das als „natürliche“ Rechtfertigung für jede Spielart des Chauvinismus und Rassismus, aber eben auch der Ausbeutung herhalten kann.


Der Trump-Effekt


Dass die AfD in ihrem bayerischen Wahlprogramm Diesel-Fahrverbote, Abtreibung und Inklusion ablehnt, belegt, dass sie gewinnträchtige Umweltverschmutzung und SUV-Omnipotenz gegenüber der Bürgergesundheit präferiert, dass sie das Selbstbestimmungsrecht von Frauen als der treudeutschen Familientradition untergeordnet betrachtet und dass behinderte Kinder schlichtweg nicht in ihr Weltbild passen. Vom Klimaschutz hält die Partei ohnehin nichts, da es Hitzeperioden und Eiszeiten schon immer gegeben habe, was zwar stimmt, aber die tödliche Intensivierung extremer Wetterphänomene durch menschliche Zutaten außen vor lässt.


Nicht nur, was die Umwelt-Ignoranz betrifft, ähneln die Positionen der AfD  denen des gegenwärtigen US-Präsidenten, und so fordert sie auch wie Trump den „wehrhaften Bürger“, solange er nur germanischer Abstammung ist. Im Bayern-Programm wird eine Verschärfung der Waffengesetze wegen der „sich drastisch verschlechternden inneren Sicherheit“ (eine jüngsten Statistiken widersprechende innere Gewissheit der Rechten) abgelehnt und stattdessen ein erleichterter Zugang zu Waffen für die „ordentlichen Bürger dieses Landes“, auch zur Selbstverteidigung, gefordert. Sicher ist dieser Freistaat offenbar erst, wenn nur noch Mitglieder bayerischer Schützenvereine mit deutschem Abstammungsnachweis (denn darauf soll das sich das Recht auf Staatsbürgerschaft künftig gründen) Massaker mit Schnellfeuergewehren verüben können.


Trump wurde von vielen US-Bürgern gewählt, weil er ihnen Linderung ihrer sozialen Leiden versprach und gegen die Etablierten, zu denen er selbst gehört, vom Leder zog. Die um ihre Jobs bangenden Arbeiter und der mittellose White Trash in den maroden Großstädten, die für ihn stimmten, haben nicht viel von seiner Politik, wohl aber die Konzerne und Banken, die er verteufelte und von denen er desavouiert wurde, ehe sie erkannten, dass er auf unkonventionelle Art ihr Geschäft betreibt. Auch die AfD wird wegen ihrer miefigen Propaganda und trotz einer amorphen, nationalistischen und im Zweifelsfall neoliberalen Politik viele Stimmen von Angehörigen der Unterschicht, mit deren sozialer Zukunft sie eigentlich gar nichts am Hut hat, bekommen. „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“, hatte Bertolt Brecht schon 1943 den völkischen Hype um die Fakes der Nazis kommentiert.

09/2018

Dazu auch:          

Etwas bleibt hängen in der Rubrik Medien   





Das andere Israel


Die Deutschen tun sich schwer mit Israel. Ein latenter Antisemitismus auf der Rechten (und leider auch von dürftig reflektierenden Teilen der Linken) lässt bei jeglicher Kritik am heutigen Nahost-Staat einen bösen Verdacht aufkommen. Andererseits darf man einer nationalistischen Regierung, die das Recht eines anderen Volkes ignoriert, zunehmend aggressiv agiert und wie ein Hort der Korruption wirkt, keine Generalabsolution erteilen (auch wenn die historische Mitverantwortung für solche Entwicklungen anerkannt wird). Dass es noch ein anderes Israel gibt, das Frieden und Aussöhnung anstrebt, wird im Diskurs oft vergessen. Die Nachricht vom Tod Uri Avnerys erinnert uns jetzt wieder daran.


Die Ängste der Opfer


Israel siebzig Jahre nach seiner Staatsgründung das Existenzrecht abzusprechen, bleibt unbelehrbaren Neonazis und einigen antijudaistischen Arabern („antisemitisch“ wäre in diesem Zusammenhang Unsinn, denn Semiten sind sie selber) vorbehalten, die historische Zusammenhänge leugnen und die Fragen nach Schuld wie Verantwortung bewusst falsch beantworten. Beinahe jede Nation, die im 20. Jahrhundert neu entstand, sicherte sich ihr Territorium mit militärischer Gewalt, und immer gab es Verlierer und Flüchtlinge. Grenzen, die einst mit Blut gezogen oder von den abziehenden Kolonialmächten am Reißbrett entworfen wurden, grundsätzlich revidieren zu wollen, würde heutzutage zu etlichen Regionalkriegen mit globalen Auswirkungen führen.


Die Sehnsucht vieler Juden, nach einer fast 2000 Jahre währenden, von Verfolgung und Massakern geprägten Heimatlosigkeit, nach dem von Hitler befohlenen Holocaust in Europa und angesichts der Orientierungslosigkeit britischer Verwalter des von den Osmanen hinterlassenen Vakuums ein Land ihr eigen zu nennen, manifestierte sich im zionistischen Kampf um Israel. Ihr Schutzbedürfnis, das sich in einer starken Armee widerspiegelt, ist nach den Vernichtungsphantasien, denen sie ausgesetzt waren, durchaus verständlich. Leidtragende aber waren und sind die Palästinenser, die ebenfalls kein Heimatland besaßen, damals als Flüchtlinge von ihren arabischen Brudernationen recht übel aufgenommen wurden oder heute erneut unter Fremdherrschaft auf dem eigenen Land leben müssen.

 

Anders verhielt es sich mit den nach dem „präventiven“ Sechstagekrieg 1967 völkerrechtswidrig und wider alle UN-Resolutionen okkupierten und teilweise annektierten Gebieten, also dem Westjordanland, Großjerusalem und dem Gasastreifen. Es hätte damals eine Möglichkeit gegeben, den bis dahin unter jordanischer Flagge dahinvegetierenden Palästinensern ein Staatsgebiet einzuräumen. Doch stattdessen siedelten sich israelische Kolonisten dort illegal an, ließen wechselnde Regierungen die Region zerstückeln und einzäunen, trennten Bauern von ihren Feldern und schnitten sie von der Wasserzufuhr ab. Die palästinensische „Selbstverwaltungsbehörde“ der PLO mag ineffizient und bestechlich sein und die Hamas im Gazastreifen fanatisch und rachsüchtig, doch machen diese gravierenden Unzulänglichkeiten nicht die entscheidende Frage überflüssig: Wie hätten sich unter solchen Belagerungsbedingungen staatliche Strukturen und ein funktionierendes Gemeinwesen entwickeln können?


Der einzige israelische Premier, der ernsthaft mit der PLO verhandelte und Frieden mit den arabischen Nachbarn schließen wollte, der Ex-General Jitzchak Rabin, wurde 1995 von einem rechtsextremen jüdischen Studenten erschossen. Danach wurde die Politik in Westjerusalem zumeist von erzreaktionären Kräften, sekundiert von religiösen Ultraorthodoxen und russischstämmigen Nationalisten, dominiert. So regiert derzeit wieder einmal Likud unter Benjamin Netanjahu, dessen Laufbahn mit Skandalen gepflastert ist, u. a. mit der Schas-Partei, für die das Verheißene Land Eretz Israel in erweitertem Umfang eine unumstößliche Tatsache darstellt , da im Alten Testament beschrieben, und der rechtsradikalen Partei Israel, unser Zuhause des Verteidigungsministers Avigdor Liebermann, der die Palästinenser am liebsten ins Meer jagen würde und dem Iran sowie anderen unliebsamen Staaten pausenlos mit Krieg und Vernichtung droht – seltsamerweise im Widerspruch zu den gefürchteten Geheimdiensten, die eine sehr viel gemäßigtere Haltung einnehmen.


Ähnliche politische Konstellationen existieren auch in anderen Staaten, etwa in den USA oder der EU, Chauvinismus und Korruption sind keine Alleinstellungsmerkmale Israels. Was allerdings bei der Berichterstattung über das Land oft zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass ein großer Teil der publizistischen und kulturellen Elite sich gegen das aktuelle Horrorkabinett stellt und die Aussöhnung mit den Palästinensern anstrebt: Mahner auf hohem geistigen Niveau, die zu wenig gehört werden. Der wohl entschlossenste und kompromissloseste Friedensaktivist und Kritiker der Besatzungspolitik des eigenen Staates, Uri Avnery, ist nun im Alter von 94 Jahren gestorben.

  

Die Aufrechten


Der Journalist und langjährige Knesset-Abgeordnete Avnery hat für seine Heimat gekämpft, aber nicht für das Israel der nationalistischen Hybris, die er zeit seines Lebens kritisierte. Im Palästinakrieg 1948 wurde er als Soldat der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte schwer verwundet. Zuvor hatte er sich 1938 der Untergrundorganisation Irgun, die einen Partisanenkrieg gegen die britische Mandatsmacht führte, angeschlossen. Er verließ die Gruppierung bereits 1942 wieder wegen ihrer „anti-arabischen und reaktionären Ansichten und Terrormethoden“.


Avnery wusste, das religiöse Orthodoxie, ob in christlicher, muslimischer oder jüdischer Ausprägung, nie zur Befriedung kultureller oder ethnischer Konflikte beitragen kann, und forderte folgerichtig die Trennung von Staat und Religion auch in Israel. Zu Jassir Arafat nahm er Kontakt auf, besuchte ihn im belagerten Beirut und stellte sich 2003 als „menschliches Schutzschild“ zur Verfügung, als der Verdacht, Premier Ariel Scharon (damals noch Likud) wolle den in seinem Haus in Ramallah umzingelten PLO-Führer liquidieren lassen, die Runde machte.


Schon 1993 hatte Avnery zusammen mit Freunden die Friedensinitiative Gusch Schalom gegründet, wofür er später mit dem „Alternativen Friedensnobelpreis“ ausgezeichnet wurde. In einem Radio-Interview hatte er 2006 den Anschlag der Volksfront zur Befreiung Palästinas auf einen rechtsextremen israelischen Politiker mit den gezielten Tötungen militanter Palästinenser durch israelische Streitkräfte verglichen und alle derartigen Aktionen ausdrücklich missbilligt. Diese Distanzierung von jeglicher Gewalt auf beiden Seiten unterschlug der Sender Kol Israel jedoch, worauf prompt der Spitzenkandidat der Jüdischen Nationalen Front für die Knesset-Wahl die „gezielte Tötung“ Avnerys durch die Armee forderte.


Der streitbare Publizist war ein Stachel im Fleisch der nationalistischen Politiker-Elite, er wurde bedroht, beschimpft und als Vaterlandsverräter verunglimpft, aber er war bei weitem nicht der Einzige, der die auf rücksichtslose und menschenverachtende Durchsetzung militärischer und ökonomischer Macht abzielenden Strategien israelischer Regierungen verurteilte. Eine glänzende Gilde jüdischer Intellektueller und Kunstschaffender mochte sich nicht mehr einer Doktrin, der zufolge gut sei, was der Nation nützt, auch wenn es den Nachbarn schadet, widerspruchslos fügen. Und sie waren nicht allein: Studenten, Journalisten und ehemalige Soldaten unterstützten die kritischen Stimmen, auch wenn diese weltweit zu wenig Beachtung fanden.


So gehörte der wohl bedeutendste Schriftsteller Israels, der Nobelpreisanwärter Amos Oz, zu den Gründungsmitgliedern der Bewegung Peace Now. Weniger konsequent in seiner politischen Analyse als Avnery, verteidigte er zunächst den Krieg gegen die Hisbollah im Libanon 2006 und den gegen die Hamas 2008, änderte aber rasch seine Haltung zur Offensive im Nachbarland und forderte später nach zwei Wochen brutaler Bombardierungen einen Waffenstillstand im Gazastreifen.


Der kaum weniger bekannte Autorenkollege David Grossmann, der u. a. 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wegen seines Eintretens für einen israelisch-palästinensischen Dialog und im letzten Jahr den international renommierten Man Booker International Prize für den Roman „A Horse Walks into a Bar“ erhalten hatte, machte darauf aufmerksam, dass auch die Palästinenser von Türken, Arabern, Engländern und Israelis unterdrückt worden seien und nach Freiheit und Demokratie hungerten. Grossmann, der einen Sohn im zweiten Libanon-Krieg verloren hatte, mahnte stets, man müsse auch die Interessen der jeweils anderen Seite sehen. Nur im Frieden könnten sich beide Völker erhalten, denn: „Weder Israel noch Palästina wird eine sichere Heimat sein, wenn nicht auch der Nachbar sie hat.“


Nicht nur wichtige Vertreter der schreibenden Zunft haben sich in Israel gedanklich und in Aktionen von der aktuellen Staatsdoktrin entfernt, auch der größte Musiker des Landes propagiert und realisiert einen ganz anderen Ansatz. Der in Buenos Aires geborene Daniel Barenboim, der neben der israelischen auch die spanische, argentinische und palästinensische (!) Staatsangehörigkeit besitzt, gründete zusammen mit dem arabischen Literaturwissenschaftler Edward Said und dem deutschen Kulturmanager Bertnd Kauffmann das West-Eastern Divan Orchestra, in dem je zur Hälfte israelische Nachwuchsmusiker und junge Virtuosen aus den palästinensischen Gebieten sowie aus den Nachbarstaaten spielen. Als Barenboim, der als einer der besten Dirigenten der Welt gilt, 2004 in der Knesset geehrt wurde, sorgte er für einen Eklat, weil er die Unabhängigkeitserklärung zitierte („Der Staat Israel… wird allen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.“) und dann fortfuhr: „In tiefer Sorge frage ich heute, ob die Besetzung und Kontrolle eines anderen Volkes mit Israels Unabhängigkeitserklärung in Einklang gebracht werden kann. Wie steht es um die Unabhängigkeit eines Volkes, wenn der Preis dafür ein Schlag gegen die fundamentalen Rechte eines anderen Volkes ist?“

    

Ein gefährlicher Weg


Der arabischen Bevölkerungsminderheit (1,7 Millionen) auf israelischem Staatsgebiet mag es ökonomisch besser gehen als den verwandten Volksgruppen in den Nachbarstaaten, sie muss doch immer wieder erkennen, dass die jüdische Mehrheit (über sechs Millionen) gleicher ist als sie. Wenn Araber enteignet werden (weil etwa Boden für Gedenkstätten benötigt wird), wenn uralte palästinensische Besitztitel von Behörden nicht anerkannt werden, wenn die Minorität bei Versorgung und Bildung benachteiligt wird, dann scheint das in der Öffentlichkeit  als business as usual  durchzugehen; wenn aber in der Stadt Afula ein Haus an arabische Israelis ganz legal verkauft werden soll, gehen rechte israelische Juden wochenlang auf die Straße. Was bisher eher durch einseitige Rechtsprechung, informelle Tricks oder latente Diskriminierung bewerkstelligt worden war, nämlich die Benachteiligung eines bedeutenden Bevölkerungsteils, wurde nun durch die ultra-rechte Regierung in Gesetzesform gegossen.

    

Das neue Nationalitätengesetz legt nun Hebräisch als einzige Amtssprache fest, dem bislang gleichberechtigten Arabisch wird nur noch ein „Sonderstatus“ zugebilligt. Jerusalem wird als Hauptstadt des „Nationalstaats für jüdische Menschen“ festgeschrieben. Zwar wurde eine krasse Passage in letzter Sekunde abgemildert, die die Errichtung rein jüdischer Siedlungen erlaubt hätte, doch bedeutet auch die abgespeckte Version ("Der Staat sieht die Entwicklung jüdischer Gemeinden als nationalen Wert an und wird diese ermutigen und fördern.") de facto den Einstieg in eine Apartheid light.


Kurz vor seinem Tod hatte Uri Avnery das Nationalitätengesetz als „halbfaschistisch“ bezeichnet. Immerhin stimmten 55 von 117 Knesset-Abgeordneten gegen die Vorlage, und Tausende (jüdische) Israelis demonstrierten gegen den offensichtlichen Bruch mit dem in der Unabhängigkeitserklärung festgeschriebenen Gleichheitsgrundsatz; doch wieder einmal setzte sich die unheilige Allianz aus korrupter Machtelite, rechtsextremem Lager und ultra-orthodoxen Zeloten durch und zementierte die Zweiklassengesellschaft. Die Weltöffentlichkeit aber starrt meist nur auf diese offiziellen Verlautbarungen und vernachlässigt die gar nicht so kleine und leise Friedensbewegung in Israel.


EU-Botschafter Emanuele Giaufret sah „rassistische Tendenzen“ in dem Gesetz, womit er wohl recht hat. Was er allerdings verschweigt, ist die traurige Tatsache, dass sich Israel damit wie ein ganz normaler Staat in eine feine Gesellschaft bürgerlicher Demokratien, die sich von Menschenrechtsprinzipien verabschiedet haben und der ehrwürdige Länder wie die USA, Polen, Ungarn, Österreich oder Italien angehören, einreiht.

08/2018

Dazu auch:

Die Unbombe im Archiv dieser Rubrik (2013)           

  




Völkermord als Test

 

Im Mai 2017 reichten Vertreter der Herero und Nama Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland vor einem New Yorker Zivilgericht wegen der Ermordung von 80.000 Menschen ein. Obwohl die BRD die Massaker der Jahre 1904 bis 1908 bereits 2015 als Völkermord anerkannte und laue, wenig stringente Verhandlungen mit dem Staat Namibia wegen eher symbolischer Wiedergutmachung (unter Ausschluss der Nachfahren von Überlebenden) begann, weigerte sie sich bis vor kurzem die Klage anzunehmen, wobei sie sich auf „Staatenimmunität“ berief. Dieses Verschleppen und Ausweichen ist typisch für die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ in Sachen Kolonialpolitik. Aber auch eine andere Frage werfen die damaligen Geschehnisse auf, etwa: Fand in Afrika die Generalprobe für Auschwitz statt?     

 

Blutspur des deutschen Kolonialismus

 

In der öffentlichen Meinung der noch jungen Bundesrepublik wurde der imperialistischen Politik des Kaiserreichs in Afrika das Etikett „Kolonialabenteuer“ aufgeklebt, es habe sich um eine geschichtliche Episode gehandelt, die ungleich friedlicher und menschenfreundlicher verlaufen sei als die Herrschaft des britischen Empires in anderen Gebieten. Die guten Schwarzen hätten die deutschen Siedler und Soldaten geliebt, und gegen die wenigen bösen begingen die „Schutztruppen“ und Migranten aus dem Reich Heldentaten. In der Tat machten sich alle europäischen Kolonialmächte, allen voran Belgien im Kongo, die Niederlande im heutigen Indonesien und später Frankreich in Algerien, ungeheuerlicher Verbrechen schuldig. Erst peu à peu sickerte die Erkenntnis durch, dass die Deutschen in der Reihe der Schlächter und Menschenrechtsbrecher ganz vorne gestanden hatten. Und im Gegensatz zu den Massakern durch andere Nationen sind ihre Auslöschungsaktionen nicht als zeitlich begrenzte Untaten zu begreifen, sondern als wichtige Glieder in einer verhängnisvollen historischen Kette, als Tatsachen, deren mangelnde Aufarbeitung bis heute die Ressentiments sowie die Fakes in den dumpfen Niederungen des sogenannten Volksempfindens begünstigt.

 

Mehr als 65.000 Herero starben während der deutschen Ausrottungskampagne (nur 20.000 blieben übrig), wenig später fielen einem ähnlichen Kriegszug 10.000 Nama zum Opfer. Die indigenen Völker hatten sich gegen die habgierigen Kolonialisten (die keinerlei Recht auf Dominanz in Südwestafrika hatten) erhoben, weil sie durch deren Landraub in Existenznöte geraten waren, keine Weiden für ihre Rinder mehr fanden. Laut Wikipedia lag ein weiterer Grund für den Aufstand im „rassistischen Verhalten der Siedler und der Organe der Kolonialverwaltung“. Nach anfänglichen Erfolgen mussten die Hereros der überlegenen Feuerkraft der Deutschen weichen und wurden – Männer, Frauen und Kinder – in die Omaheke-Wüste getrieben, die anschließend die Schutztruppe abriegelte.

 

Die Herero sollten von der Erde getilgt werden, wie Generalleutnant Lothar von Trotha in seiner als „Vernichtungsbefehl“ bekanntgewordenen Order andeutet: „Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. […] Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“ Kaiser Wilhelm II unterstützte das Kriegsziel ausdrücklich, am deutlichsten aber formulierte der Chef des Generalstabs, Alfred Graf von Schlieffen, die mörderische Absicht: „Der entbrannte Rassenkrieg ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.“ Im preußisch geprägten Geist der Militärs und Adligen fanden sich also damals schon Elemente der furchtbaren Ideologie, die Adolf Hitler später in „Mein Kampf“ aus zugespitztem Sozialdarwinismus, arischer Vulgär-Mythologie und gnadenloser Inhumanität anrühren sollte.

 

Welche Vergangenheit wurde bewältigt?

 

Durch die Entscheidung des New Yorker Gerichts, die Klage der Herero und Nama anzunehmen, geriet zwar wenigstens deren tragische Geschichte in die Medien (wenn auch nur als Randnotiz), das Geschehen in Deutsch-Südostafrika, also auf dem Gebiet der heutigen Staaten Tansania, Ruanda und Burundi, das ungleich mehr Opfer unter den dort heimischen Völkern forderte, bleibt aber weiterhin unbekannt.


Als dort 1905 der Maji-Maji-Aufstand losbrach, zerstörten die deutschen Truppen systematisch die Dörfer, Ernten, Vorräte und nahmen Angehörige der Rebellen in Sippenhaft. Die Kolonialarmee verlor rund 400 Männer, darunter nur 15 Europäer, auf Seiten der indigenen Bevölkerung starben zwischen 100.000 und 300.000 Menschen. Noch verheerender wirkte sich der einsame, gegen den Befehl seines Gouverneurs gefasste Entschluss des von Hitler später zum Recken hochgejubelten Kommandeurs der Schutztruppe, Paul von Lettow-Vorbeck, aus, während des Ersten Weltkriegs einen militärisch sinnlosen Feldzug gegen die überlegenen britischen Streitkräfte zu führen. Auf seiner ständigen Flucht ließ der „Held“ alles vernichten, was dem Feind hätte nützen können. Wegen dieser Strategie der „verbrannten Erde“ musste rund eine Million Menschen (in großer Mehrzahl afrikanische Zivilisten) das Leben lassen.

 

In diesen beiden Fällen hat die Bundesrepublik – anders als im Falle der Herero und Nama – noch nicht einmal anerkannt, dass Völkermord begangen wurde. Eine Entschuldigung aus Berlin haben allerdings auch die beiden südwestafrikanischen Völker noch nicht erhalten. Vor einer Entschädigung drückt sich die Bundesregierung und bedient damit die krude Phantasie der „Reichsbürger“, die bekanntlich dieser Republik jegliche Rechtsnachfolge diverser Deutscher Reiche absprechen.


Schon in der Adenauer-Zeit tat sich das institutionell und politisch von Nazis durchsetzte Westdeutschland mit Schuldanerkennung und Reparationen schwer. Es musste förmlich von außen zu Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung getrieben werden. Dann wurden vergangene Untaten hastig und oberflächlich abgehandelt, das Wirtschaftswunder stand vor der Tür.


Bei dieser Pflichtübung wurde übersehen oder verschwiegen, dass die Hitler-Gräuel nicht aus dem Nichts kamen, dass sie nur den Höhepunkt einer Reihe von fürchterlichen Ereignissen, von den Juden-Pogromen im (von den Nazis und den Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts so gepriesenen) Mittelalter über die Massaker in den Bauernkriegen und die Völkermorde in Afrika bis eben zum Holocaust, darstellen.


Juden wurden im Mittelalter auch in Spanien oder England verfolgt und vertrieben, Pogrome fanden auch in Frankreich statt. Nirgendwo aber wurde der Habgier und dem Rassenhass eine so perverse „moralische“ Fassade verpasst wie hierzulande. Und für spätere „Endlösungen“ bot Südwestafrika ein geradezu ideales Übungsfeld: die mithilfe damals modernster Waffentechnologie durchgeführte Vernichtung eines kleinen Volkes als Generalprobe für Größeres…

 

Unwissenheit macht Neonazis

 

Als sich die damals noch junge Bundesrepublik für die Kriegsverbrechen des Rechtsvorgängers, des Dritten Reiches somit, entschuldigte und (meist unzureichende) Entschädigungen versprach, da geschah dies nicht aus Schuldeinsicht oder wiedergefundenem Rechtsempfinden heraus, vielmehr beugte sie sich dem ökonomischen und moralischen Druck der Siegermächte sowie der einstmals besetzten und geschundenen Länder. Solchen Druck können zwei kleine Völker im Südwesten Afrikas nicht in ausreichender Intensität ausüben, und so ducken sich die Bundesregierungen der letzten Jahre weg, wenn es um eine offizielle Entschuldigung bei den Opfer-Nachfahren und um finanzielle Entschädigung geht.


Ende dieses Monats werden im Rahmen einer offiziellen Zeremonie in Berlin die Schädel von zwischen 1884 und 1915 gestorbenen Hereros und Nama übergeben, die von den weißen Herrenmenschen an deutsche Museen für deren Völkerkunde-Abteilungen verteilt worden waren. Nicht eingeladen wurde der traditionelle Herero-Führer Vekuii Rukoro – wohl weil er gegen die Bundesrepublik geklagt hat. Die schäbige Berliner Devise in diesen Tagen scheint zu sein: Ein wenig Betroffenheit heucheln, dann den Deckel drauf und den Mantel des Schweigen drüber gebreitet!

 

Dabei wäre es gerade jetzt, da die angeblichen Maximen dieser Gesellschaft, als da wären Toleranz, Menschlichkeit, Ablehnung von Rassismus und Xenophobie, von rechtsradikalen Hetzern, opportunistischen Politikern und bildungsfernen Kreisen infrage gestellt werden, könnte man den vorliegenden Fall für umfassende Aufklärung instrumentalisieren – wenn man ihn nicht lieber ins mediale Abseits stellen würde. Der historische Hintergrund des New Yorker Verfahrens bietet sich geradezu für Projektarbeiten in den Schulen an. Fragen nach den bis heute spürbaren Nachwirkungen des Kolonialismus, den Wurzeln der imperial-rassistischen Hybris des kaiserlichen Deutschlands und der damaligen methodischen wie militärischen Vorarbeit für die Nazi-Ideologie, Fragen also, wie sie heute nicht mehr gestellt werden, könnten die Augen öffnen für die Genese gegenwärtiger Probleme. Ein Jugendlicher, der ernsthaft nach Antworten sucht, der so an Informationen kommt, die den Mainstream derzeit nicht interessieren, der die Auswirkungen historischer Fakten bis in die heutige „öffentliche Meinung“ verfolgt und analysiert, geht den Neonazis und der AfD für immer verloren.

08/2018

Dazu auch:

Die guten Schlächter im Archiv dieser Rubrik (2015)     

 

 



Schmierenkomödianten


Was sich die staatstragende Politik in der Bundesrepublik zuletzt geleistet hat, ist mit rationaler Analyse kaum zu erfassen und verdient keine ernsthafte oder „konstruktive“ Kritik mehr. Angst vor Populisten führt zu Populismus, Angst vor Neuwahlen gebiert Opportunismus, billige Rechthaberei verdrängt Humanität – in der Flüchtlingsfrage führen die Regierungsparteien einen seichten Bauernschwank auf, dessen Nähe zum Absurden Theater unbeabsichtigt ist, während die Menschen, Betroffene und Verfolgte, aber auch Helfer und Verteidiger des Asylrechts, außen vor bleiben.


Die Farce


So geht Politik heutzutage: Angela Merkels CDU beerdigt – Menschenrechte hin, Flüchtlingskonvention her – die einst propagierte „Willkommenskultur“ auf dem Friedhof des konservativen Gewissens und nähert sich in der Behandlung von Asylbewerbern behutsam der Radikallösung des einst verfemten Viktor Orbán an. Das aber ist der bayerischen Schwesterpartei nicht genug. Die CSU will die AfD auf deren durch nationalistisch-rassistische Diktion markiertem Terrain angreifen und – wenn möglich – rechts überholen, stehen doch im Oktober Landtagswahlen an.


Der aus Bayern abgeschobene Bundesinnenminister Horst Seehofer will keine Flüchtlinge in Deutschland sehen, propagiert Abschiebungslager, die er euphemistisch „Transitzentren“ nennt, von denen aus Menschen, die irgendwo anders zuvor in der EU Asyl beantragt haben, sofort dorthin zurückverfrachtet werden können. Seine Maxime lautet nämlich „Wehe den Ländern an den EU-Außengrenzen oder am Mittelmeer!“ Dies entspricht dem auch als Dublin III bekannten Sankt-Florian-Prinzip, dem zufolge wegen der bevorzugten Lage Deutschlands im Schoße der Gemeinschaft, den höchstens Verfolgte, die sich ein Flugticket und die Bestechung von Botschaftsbeamten leisten können, ansteuern dürfen, die Randstaaten der EU die Drecksarbeit zu erledigen haben...


Merkel will im Grunde das Gleiche, aber doch nicht in so barscher Rhetorik. „Zurückweisung an den Grenzen“, „Transitzentren“ vertrügen doch freundlichere Umschreibungen. Und ein nationaler Sonderweg, wie etwa der Orbáns zur Reinhaltung der ominösen ungarischen Sub-Rasse, geht gar nicht. Also verpflichtet die Kanzlerin die Kollegen in Brüssel auf Vereinbarungen, an die sich niemand halten wird. Dann streiten sich Seehofer und Merkel. Dann einigen sie sich auf Seehofers Pläne, natürlich nicht ohne ein paar kosmetische Änderungen. Dann legt der Bayer erneut seinen „Masterplan“ vor, der sich jetzt wieder liest wie vor der Einigung, ganz ungeschminkt also.


Beim Versuch, seinen Brüdern im Geiste, den rechts-populistischen Innenministern Österreichs und Italiens die Rücknahme von Migranten aufzuschwatzen, holt sich Seehofer allerdings eine blutige Nase. Namentlich Herbert Kickl von Austrias Über-AfD, der FPÖ, ist ein noch gröberer Klotz als der Ingolstädter. Er möchte nämlich überhaupt keinen Asylbewerber mehr in Europa sehen, sondern Flüchtlinge gleich in bekannten exotischen Demokratien wie Libyen, dem Sudan oder Ägypten internieren lassen. Das ist etwa so, als würde der viel gescholtene Trump seine Mauer gegen lateinamerikanische Immigration mit Hilfe der Kokain-Mafia mitten in Mexiko errichten lassen.


Seehofer preist seine menschenfeindliche Linie in einer Rhetorik an, die Provokationslust, Altersstarrsinn und präsenile Symptome verrät – etwa, wenn er sich wie ein übermütiger Sprössling auf einem Kindergeburtstag darüber freut, dass ausgerechnet zu seinem 69. Wiegenfest 69 afghanische Flüchtlinge „rückgeführt“ worden seien. Dass einer der Afghanen sich anschließend aufgehängt hat, findet er allerdings nicht so toll.


Und die Dritte in dieser Koalition des Schreckens, die SPD? Sie duckt sich lange weg, fürchten doch die Genossen Neuwahlen, bei denen sie es zur „dritten Kraft“ hinter Union und AfD bringen könnten, wie der Teufel das Weihwasser. Also mäkeln sie ein wenig an den Formulierungen herum, vergessen ihre „Standpunkte“ von einst und akzeptieren inhaltlich alles. Den führenden Sozialdemokraten sei zu ihrem eigenen Besten empfohlen, nie mehr inhaltliche und programmatische Aussagen zu treffen sowie das Wort „Menschlichkeit“ nicht mehr in den Mund zu nehmen, damit nicht unversehens ihre Nasen länger werden und ihre Beine kürzer.


Spricht einer der „verantwortlichen“ Spitzenpolitiker von den Menschen, um die es geht, von der hoffnungslosen Zukunft der in diesem historisch schwer vorbelasteten Land gestrandeten Flüchtlinge? Natürlich nur in Nebensätzen, denn es gibt Wichtigeres zu berücksichtigen; etwa das Ranking der jeweiligen Partei in den Umfragen, das eigene Mandat oder Regierungsamt, die Stimmen der noch nicht zur AfD abgewanderten Migrantenhasser und der hartleibigen Alten, die glauben, alles Böse komme von draußen. Auch die Presse stuft die Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition eher als Stilfrage ein denn als böses Spiel mit der Zukunft der Verdammten dieser Erde (Frantz Fanon).


Die Tragödie


Und so sehen die Folgen der Politik aus: Am 5. Juni um 5.00 Uhr früh betreten zwei Polizistinnen und vier Polizisten eine Nürnberger Flüchtlingsunterkunft, dringen in das Zimmer einer hochschwangeren Tadschikin, die an diesem Tag 24 Jahre alt wird, ein, holen sie aus dem Bett und verfrachten sie in ein vergittertes Dienstfahrzeug. Sie soll umgehend abgeschoben werden. Dem Ehemann wird die Begleitung verboten. Die junge Frau bekommt Krämpfe und wird zu einem Arzt geschafft, der sie umgehend ins Klinikum Süd einweist, wo sie eine Woche lang stationär behandelt werden muss. Seit Mai hat der Regierung von Mittelfranken ein ärztliches Attest vorgelegen, das der Tadschikin eine problematische Schwangerschaft und einen schlechten Gesundheitszustand, der die Abschiebung nicht zulasse, bescheinigte.


Die werdende Mutter hatte in ihrem Heimatland als Geschichtslehrerin gearbeitet, ihr Mann war dort als Informatiker tätig gewesen. Beiden gelang die Flucht nach Deutschland relativ problemlos, so dass die brutale Härte eines Migrantenschicksals die Frau erst nach der Ablehnung ihres Asylgesuchs in Deutschland ereilte: „In diesem Fall fand die Ersttraumatisierung aber erst hier statt, durch den Polizeieinsatz“, sagte die Psychiaterin Dr. Susanne Simen den Nürnberger Nachrichten. Die junge Tadschikin leide seitdem unter Schlaflosigkeit, Alpträumen und Angstzuständen. „Das ist Gewalt gegen Schwangere und Kinder“, klagt Simen die Behörden an.


Dass der Abschiebungsversuch am 5. Juni stattfand, war sicherlich kein Zufall. Einen Tag später griff nämlich der Mutterschutz, der die Abschiebung einer Frau zumindest sechs Wochen vor und sechs Wochen nach der Geburt verhindert. Die mittelfränkische Bezirksregierung schiebt den schwarzen Peter für die eiskalte Terminierung dem Bamf und der Polizeiinspektion München zu.


Wie rigoros und inhuman (nicht nur, aber vor allem) im Freistaat abgeschoben und Integration verhindert wird, belegen auch Meldungen, dass im ganzen Bundesland junge Afghanen nicht mehr in die Schule kommen, sich verstecken oder flüchten. Der Bayerische Flüchtlingsrat geht davon aus, dass auf einen Afghanen, der abgeschoben wurde, zehn kommen, die sich auf den Weg nach Frankreich, Spanien oder Italien gemacht haben, dass die CSU-Regierung somit eine neue „Flüchtlingslawine“ losgetreten hat, unter dem Motto „Integriert euch schön, aber nicht bei uns“.


Der Jurist Markus Söder setzte dem Ganzen die Krone auf, als er – im Widerspruch zu internationalem Recht, aber auch zur deutschen Verfassung – forderte, dass die Insassen der künftigen Abschiebelager  keinerlei Rechtsmittel einlegen dürften, binnen 48 Stunden quasi als rechtlose Delinquenten den Entscheid (also die Ausweisung) zu erwarten hätten.


Dass die Hysterie nicht auf Bayern beschränkt ist, zeigt die Abschiebung eines Tunesiers durch die nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden, obwohl das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen diese ausdrücklich untersagt hatte. Dass es sich um einen mutmaßlichen früheren Leibwächter Osama bin Laden handelte, musste für die Richter zweitrangig sein, drohte dem Mann in seiner Heimat doch Folter. Die allzu laute schweigende Mehrheit wird allerdings den Vollstreckern, die vor lauter Eifer das Recht brachen, Beifall zollen, sind ihr Gesetz und der Schutz Fremder vor Tod und Misshandlung doch herzlich egal, solange dieses Land von andersgläubigen Verbrechern und „ethnischem Unrat“ gesäubert und mit brauner Politur auf völkischen Hochglanz gebracht werden kann.

   

Skrupellosigkeit ist Trumpf


Während in den Unionsparteien der Wettkampf tobt, wer die AfD am treffendsten nachahmt, und die SPD nach jedem Strohhalm, und handle es sich auch um den Galgenstrick der Verleugnung einstiger Grundwerte, greift, der sie vielleicht bei zwanzig Prozent halten könnte, verrohen öffentliche Meinung und „gesundes Volksempfinden“ hierzulande in atemberaubendem Tempo.


Die Haltung Seehofers und seine angekündigten Grausamkeiten dürften in Deutschland durchaus mehrheitsfähig sein, doch stoßen sein zänkisches Auftreten und seine erratischen Wendungen viele Menschen ab. Auch hat eine Bevölkerungsmehrheit das Thema „Flüchtlinge“ aus unterschiedlichen Gründen satt, so dass die CSU derzeit von ihrem populistischen Crashkurs nicht profitieren kann, zumal die AfD ihr nach jeder Schärfung des chauvinistischen Profils wie der Igel dem Hasen zuruft: „Ich bin schon da.“


Und tatsächlich: Selbst wenn der Ton allerorten undifferenzierter und bösartiger wird, können die Rechtspopulisten immer noch eine Schippe drauflegen, wie der AfD-Bundestagsabgeordnete Frank Pasemann in seinem Tweet zum Ende des Münchner NSU-Verfahrens demonstriert: „Nach über fünf Jahren und ca. 30 Mio. Zusatzkosten für den deutschen Steuerzahler, davon ca. 23 Mio. reine Anwaltskosten, geht heute der #NSU #Schauprozess vorerst zu Ende…“


Der Duden definiert den Schauprozess als ein „auf propagandistische Massenwirkung angelegtes öffentliches Gerichtsverfahren“. Berüchtigt waren die stalinistischen Schauprozesse, die als juristische Possen zur Liquidierung politischer Gegner dienten. Man mag Richter Götzl vorwerfen, dass seine Verhandlungsführung wenig Erhellendes zur Verwicklung der Behörden in die NSU-Morde beigetragen hat, man mag das eine oder andere Strafmaß kritisieren – aber Beate Zschäpe und ihre Komplizen als Opfer einer diktatorischen Pseudojustiz darzustellen, ist pures Gedankengut von Neonazis.


Es existieren offenbar für die Talfahrt des sprachlichen und geistigen Niveaus im „gesellschaftlichem Diskurs“ keine Bremsen und keine  Grenzen mehr. Die Seehofers, Dobrindts und Söders werden das mit Interesse zur Kenntnis nehmen.

07/2018

Dazu auch:            

Die Welt ist sicher im Archiv der Rubrik Medien  





Einäugiger Volkszorn


Nach weitgehend unterirdischen Leistungen musste die deutsche Nationalmannschaft ihre Zelte bei der WM in Russland abbrechen. Für die türkischstämmigen Nationalspieler Mesut Özil und Ílkay Gündoğan würde das ein Spießrutenlaufen in der neuen Saison bedeuten, stünden sie nicht zu ihrem Glück in England unter Vertrag. Sie haben beide schlecht gespielt, wenn sie eingesetzt wurden – wie ihre Kollegen auch. Doch Millionen von Fußballfans, sonst als tumbe Fanatiker verschrien, hatten sich als lupenreine Demokraten geoutet, indem sie den zwei Stars das Treffen mit dem Autokraten und Kriegsherren Erdoğan übelnahmen. Und sie verzeihen nicht, schon gar nicht nach dem sportlichen Debakel. Das unerwartete „politische Bewusstsein“ der Supporter und Hooligans riecht allerdings streng nach Nationalismus mit einem Schuss Rassismus.


Operative Kicker-Intelligenz


Auch als die WM bereits längst tobte, ebbte die Empörung darüber, dass sich zwei Sportmillionäre als willige Fotomodels für Erdoğans Wahlkampf einspannen ließen, im deutschen Fußballvolk nicht ab. Allerdings wurden dabei drei klärende Fragen verdrängt: Wie ist es um den analytischen Verstand von Özil und Gündoğan bestellt? Was treiben zur gleichen Zeit deutsche Politik und Wirtschaft in der Halb-Diktatur, für die ein Fußballer anscheinend nicht werben darf? Und:  Wurden und werden andere „Vorbilder“ für Schlimmeres ebenso rückhaltlos an den Pranger gestellt wie die beiden mit den undeutschen Namen?


Die erste Frage ist relativ schnell beantwortet: Viele Top-Spieler im Profi-Business erschöpfen ihre Intelligenz und ihr Urteilsvermögen restlos im Verstehen und Umsetzen taktischer Anweisungen sowie im Antizipieren und Gestalten neuer Spielsituationen, für das Lebenspraktische und den Marktwert sind Verein und Berater zuständig. Viel mehr ist da nicht an Reflexion, selbst wenn man wie Gündoğan das angeblich so hochwertige bayerische Abitur gemacht hat. Da man im Zweifelsfall für die Beschuldigten plädieren soll, könnte man ihnen politische Blindheit (statt nationalistischer Absicht) als mildernden Umstand zubilligen.

   

Übles Gebaren der Deutschen Post


Was aber forcieren die personifizierten Säulen unseres Staates, die sich ob der Foto-Entgleisung so pikiert zeigten, derzeit in der bösen Türkei (oder gestatten es zumindest)? Einige Leistungsträger der hiesigen Wirtschaft lassen Erdoğan unter den Augen der Bundesregierung tätige (nicht moralische) Unterstützung zukommen. Die Manager und Firmeneigner posieren nicht mit ihm vor dem Fotografen, sorgen aber diskret dafür, dass der soeben in Wahlen gestärkte Machthaber von Ankara seine Großmachtphantasien weiter ausleben kann. Ohne die gedeihliche Zuarbeit von Heckler & Koch, Rheinmetall oder Airbus gerieten die türkischen Streitkräfte bei ihren Kriegen gegen die Kurden im eigenen Land und in Syrien zumindest vorübergehend in Materialnöte. Von einem Shitstorm in deutschen Medien oder öffentlicher Entrüstung staatstragender Politiker diesbezüglich ist mir nichts bekannt.


Und da ist noch die Deutsche Post, einst Inbegriff teutonischer Zuverlässigkeit, dann ohne Not mehrheitlich dem „freien Markt“ zur Profitmaximierung überlassen, mittlerweile als Deutsche Post DHL Group zum EUROSTOXX50-Player avanciert, mit immer noch monopolistischen Privilegien und fragwürdigen Betriebspraktiken. Zuletzt geriet der entstaatlichte Konzern, der sich immerhin mit Klaus Zumwinkel achtzehn Jahre lang einen Chef leistete, der es mit seiner Steuererklärung nicht so genau nahm, vor allem durch überdimensionierte Portoerhöhungen und Drangsalierung seiner ohnehin überlasteten Briefausträger in die Schlagzeilen. In der Türkei aber zeigen die Verantwortlichen der Logistik-Sparte DHL derzeit, was sie sonst noch so alles an Grausamkeiten draufhaben, wenn die „Rahmenbedingungen stimmen“.


Die türkischen DHL-Mitarbeiter, denen von der Unternehmensführung erheblich weniger Rechte als ihren Kollegen, etwa in Deutschland, eingeräumt wurden, gründeten die Gewerkschaft TÜMTIS, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Obwohl diese Arbeitnehmervertretung sogar von der Regierung in Ankara  und von den türkischen Gerichten (zuletzt im vorigen Monat) anerkannt wurde, weigerte sich die DHL-Führung, in Verhandlungen mit ihr einzutreten, obwohl sie rechtlich dazu verpflichtet wäre. Seit einem Jahr befinden sich nun die Mitarbeiter im Ausstand und stellen Streikposten vor den Betriebstoren auf. Von Erdoğan und seinem Kabinett haben sie keine Hilfe zu erwarten, optiert der Sultan in spe doch offen für eine Mischung aus neoliberaler Spekulations- wie Profitsucht und feudalistisch anmutenden Beschäftigungsverhältnissen, in denen Gewerkschaften nur den gottgewollten Gang der Dinge stören. Insofern kann man die DHL-Taktik als Teil eines konzertierten Vorgehens begreifen: Der Präsident missachtet Menschenrechte in toto, das Unternehmen wiederum übernimmt seinen angestammten Part in diesem System und tritt Arbeiterrechte nach Herzenslust mit Füßen.


In Belgien, Dänemark und Kenia kam es wenigstens zu Solidaritätskundgebungen von DHL-Beschäftigten mit den türkischen Kollegen. In Deutschland hingegen war zu wenig zu hören über die Geschichte, schon gar nicht von den Meinungsmachern im Internet. Die waren damit beschäftigt, ihren Geifer über den Fehltritt zweier unglückseliger Fußball-Millionäre mit türkischen Wurzeln abzusondern. Und auch die maßgebliche deutsche Politik schweigt – und zwar in Mittäterschaft, besitzt der Bund doch immer noch über zwanzig Prozent der Anteile an Post und DHL!


Die falschen Namen


Politik und Wirtschaft seien bei uns halt die Bereiche, in denen es ohne Schmutz nicht abgeht, mag nun mancher einwenden, der Sport aber könnte wenigstens solcherart sauber bleiben, dass seine Stars und Spitzenfunktionäre sich nicht für Propaganda missbrauchen lassen. Letzteres kann man Özil und Gündoğan durchaus vorwerfen. Nur sollte man dann fairerweise die früheren Fauxpas der deutschen Fußballprominenz zum Vergleich heranziehen.


Der FC Bayern pflegte eine innige Beziehung zum ausgewiesenen Diktatorenfreund Franz Josef Strauß, die damals in der Presse (das Internet gab es noch nicht) kaum jemand kritisierte. Dann kam vor der WM 1978 in Argentinien – die Vergabe war milde von Teilen der damaligen Medien kritisiert worden – das beinahe zärtliche Bekenntnis des DFB-Präsidenten Hermann Neubergers zur Militärjunta in Buenos Aires, an deren mörderischer Effizienz ein Erdoğan allenfalls schnuppern kann – und Deutschland schwieg stille. Die heutigen Funktionäre des DFB täten gut daran, sich an die Aufarbeitung der Vergangenheit ihrer Organisation zu machen, bevor sie sich wie im jetzigen Fall mangelnder politischer Korrektheit als besorgte Demokraten gerieren.


Würden sie das aber tun, käme ja auch eine Lichtgestalt ins Gerede, nämlich jener Weltmeister von 1974, der später dem Verband in vielerlei Funktionen diente, für ein Ehrenamt Millionen einstrich und mithalf, der Wüstendiktatur Qatar die WM-Ausrichtung 2022 zu verschaffen. Doch der Mann heißt Franz Beckenbauer, ein urbayerischer Name, so wie Neuberger als altdeutsche Benennung durchgeht und Stefan Effenberg, ein Ex-Auswahlspieler, der einst wegen vulgärer Gesten gegenüber den WM-Fans von 1994 in der Kritik stand, jetzt aber als vor Dummdeutschtum strotzender „Moderator“ bei t-online-news fordert, dass Özil, der vor Spielen bisher weise schwieg, die Nationalhymne mitsingen solle (also die dritte Strophe von Hoffmann von Fallerslebens Chauvinisten-Schlager, dessen zweite wegen Kitsch und Schwulst und erste wegen nur von den Nazis tolerierter Unkenntnis der deutschen Grenzen peinvoll verschwiegen werden) der Abweichung vom germanischen Abstammungskanon durchaus unverdächtig ist.


Deshalb schießt sich der Mob auch nicht auf die Beckenbauers, Neubergers oder Effenbergs ein, sondern auf die Özils und die Gündoğans. Und Boateng, neben dem AFD-Gauland nicht wohnen möchte, sowie Khedira haben auch nicht gut gespielt, dürften also auch demnächst auf der Abschussliste deutscher Patrioten stehen, denn sie haben die falschen Namen und jetzt auch noch unsere WM vergeigt – geschenkt, dass sie vor ewigen vier Jahren den Titel holten. Rassismus ist eben flexibel: Er toleriert, was kurzzeitig dem Volk nutzt, verzeiht aber auf lange Sicht nichts, nicht das fremdartige Aussehen und schon gar nicht das Versagen auf dem grünen Feld der Ehre.

07/2018

Dazu auch:     

Fifa-Sepp, Licht-Franz im Archiv dieser Rubrik

„Deutscher Sang“ im Archiv der Rubrik Medien

 

                     

Ganz reale Ängste


Furcht empfindet man vor einer realen Bedrohung, einer Verschlechterung oder Gefährdung also, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Angst hingegen ist ein diffuses Gefühl, die unbestimmte Erwartung eines ganzen Konglomerats negativer Entwicklungen, die sich meist nicht exakt definieren lassen. Auf die Gesellschaft der Zukunft kommen etliche Umwälzungen (oder Regressionen) zu, die, da sich ihre Genese, der Zeitpunkt des Eintreffens und ihr Ausmaß oft nicht genau bestimmen bzw. nur vage prognostizieren lassen, Angst (nicht zielgerichtete Furcht) bei denkenden Menschen hervorrufen. Aus der langen Hitliste solch realer Ängste seien hier einige aufgeführt.


Vernachlässigung früh und ganz spät


Alles wird besser, behauptet wenigstens der Spiegel in einer Kolumne. Und tatsächlich überleben mehr Kinder die ersten Lebensjahre, und die Menschen werden – zumindest in der Ersten Welt – immer älter. Das Dumme ist nur, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht darauf eingestellt hat. Für die Jüngsten stehen nicht genügend Krippen- und Hortplätze zur Verfügung, und angesichts der Unterbezahlung, der den Herausforderungen wie Inklusion, Sprachförderung für Migrantenkinder sowie digitale Welt  kaum Rechnung tragenden Ausbildung und des niedrigen sozialen Status in einem neoliberalen System werden sich auf Jahrzehnte hinaus zu wenige Erzieher finden lassen. Wer will schon in einem Beruf arbeiten, in dem die Personalschlüssel nach rigiden Kostenvorgaben und nicht nach dem Bedarf der kleinen Klienten errechnet werden.


Am anderen Ende der Alterspyramide, deren Spitze sich immer mehr nach oben in ein gesellschaftliches Vakuum schiebt, stehen pflegebedürftige Alte, die Ansprache, sinnvolle Beschäftigung und Therapie benötigen. Krankenkassen und Versicherungen kalkulieren hier schwer begründbare Mindestsätze, und privatwirtschaftliche Unternehmen (aber auch Einrichtungen der Kirchen und der Wohlfahrt) knapsen sich von den mickrigen Summen auch noch Überschüsse ab, indem sie Fließband-Leistungen von ausgepowertem Personal (siehe oben) ausführen lassen. Oma muss rasch abgehakt werden, Opa wartet.


Deutschland ist stolz auf eine Altersstatistik, die dummerweise auch beinhaltet, dass immer mehr Menschen in Pflegefabriken dem Ende entgegen dämmern. Und die Gesetzgeber brüsten sich mit einem Recht auf Krippenplätze, dessen qualitative Unterfütterung so dünn ist, dass die Kluft zwischen Gebildeten und funktionalen Analphabeten durch soziale frühkindliche Selektion für alle Zeiten zementiert wird. 

      

Die Digital-Verblödung


Alle machen sich öffentlich Sorgen über die Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt. Wird Kollege Roboter bald alle Produktionsjobs übernehmen? Und was machen wir dann mit all den „freigesetzten“ Fach- und Hilfsarbeitern? Es ehrt Zukunftsforscher und Journalisten, sich über die künftige Enthumanisierung der jetzt schon oft inhumanen  Fabriktätigkeiten Gedanken zu machten, nur sollten sie dabei den Blick auf das Hier und Jetzt nicht vernachlässigen, auf eine digitale Umgebung, die bereits im Anfangsstadium ihre Bewohner hoffnungslos überfordert.


Kommunikation war einst ein wertvolles immaterielles Gut, über weite Distanzen hinweg sogar fast nicht praktikabel, zumindest für die meisten unerschwinglich. Dass sich dies geändert hat, ist zunächst positiv, verbinden die neuen Medien doch Menschen in verschiedenen Regionen und Ländern, machen den schnellen Kontakt zu Verwandten, Freunden, Arbeitspartnern und den internationalen Wissensaustausch möglich. Eigentlich ist an einem Smartphone, das gleichzeitig auch noch als Lexikon dient, per se nichts negativ, doch gehen viele Benutzer nicht sorgsam damit um. Das Geschehen eines Augenblicks wird nicht mehr verarbeitet, reflektiert, sondern sofort an möglichst viele vermeintlich Interessierte weitergeleitet. Über What´s App, Facebook, Twitter etc. kolportiert man das eigene Innerste nach außen, ehe man es einer kritischen Betrachtung unterzogen hat nach dem Motto „Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor es alle Welt weiß“. Zu welchen exhibitionistischen Exzessen dies führt, lässt sich in der U-Bahn und im Café oder anhand der häufigen Logorrhoe-Anfälle des derzeitigen US-Präsidenten beobachten.


Und es wird schlimmer werden: Oft sieht man Mütter, die einen Buggy vor sich her schieben oder ein kleines Kind an der Hand führen, am Smartphone hängen, die Augen scheuklappenartig auf das Display gerichtet, weg vom Nachwuchs. Der oder die Kleine fragen etwas, weisen auf etwas hin, weinen wegen etwas – die Mutter kümmert es nicht, sie hat die unmittelbare Kommunikation längst gegen den virtuellen Chatroom ausgetauscht. Die Wissbegier der Kleinen bleibt ohne Resonanz und Ermutigung. Viele dieser Kinder werden so auf AD(H)S vorprogrammiert, werden später vielleicht nie genügend Konzentration aufbringen, ein Buch zu Ende zu lesen, verlieren früh schon den Zugang zu analytischem und kritischen Denken. Ihre Kenntnisse werden sie vorwiegend aus zweiter (virtueller) Hand gewinnen, Erfahrungen werden nicht mehr in der direkten Realität mit anwesenden Freunden erworben, sondern per Datenkonsum adaptiert.

 

Desinformation von oben und unten


Vielen (auch von den Medien als seriös etikettierten) Politikern kommt dies entgegen. Wer erinnert sich schon noch daran, dass Kanzlerin Merkel den großen Stromversorgern Milliarden in den Schlund warf, weil sie das Gesetz der „grün-roten“ Vorgängerregierung zum Atom-Ausstieg kippte, nur um wenige Monate später unter dem Schock von Fukushima wieder zurückzurudern und den Staat regresspflichtig zu machen? Wer spricht heute davon, dass die Bundesrepublik im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien durch logistische und/oder geheimdienstliche Unterstützung mithalf, aus schlecht regierten Ländern unregierbare Höllen für die Einwohner zu machen, dass sie mit eigenen Bombardements in Serbien das Völkerrecht brach. Die wenigsten Leute können sich heute noch auf ein einigermaßen funktionierendes Gedächtnis verlassen, die anderen verlassen sich aufs Internet.


Man kann im Netz so ziemlich alles finden, aber man müsste zuerst wissen, wonach man sucht (auch das übrigens eine Vorleistung des Gedächtnisses), was man fragen will (zielgerichtetes Denken) und dass man die Resultate genau abwägen muss, denn die virtuelle Community speichert mindestens ebenso viele Lügen und Idiotien wie nachprüfbare Wahrheiten. Solche Sorgfalt ist nicht jedem gegeben, und das nützen die neuen „Vordenker“ der Nation, die Urheber von Fake-News, Verschwörungstheorien und Hetzkampagnen. Aber auch Politiker und Journalisten bedienen sich  auf seltsam reziproke Weise der „gefilterten Information“.

Während Neonazis, Xenophobe und Populisten das Internet für Hetze, Fake und Propaganda instrumentalisieren, üben sich die „Qualitätsmedien" bei ihren Netzauftritten in der ähnlichen Kunst des dezidierten Schweigens zu tatsächlichen polit-ökonomischen Machtverhältnisse  und der euphemistischen Umschreibung der fundamentalen Verfehlungen deutscher Regierungen, die sie bereits im Print- und Funkbereich beinahe zur Perfektion entwickelt haben. Insofern kann nicht von einer „Lügenpresse“ die Rede sein, es handelt sich vielmehr um Organe einer staatsaffinen Omerta, insgesamt eine Truppe von Artisten des eleganten Umschreibens und Weglassens.


Wie sollen also unsere Kinder und Jugendlichen an eine kritische Auseinandersetzung mit Nachrichten, Informationen und Thesen aus dem digitalen Kosmos herangeführt werden? 


Doch nun sollen also alle Schulen digital aufgerüstet werden, nach dem Dafürhalten der maßgeblichen (aber auf diesem Gebiet zumeist ahnungslosen) Politiker müsste der richtige Umgang mit virtuellen Potentialen bereits im Kindergarten gelehrt werden. Und das, obwohl Psychologen und Kinderärzte davor warnen, den Freiraum der frühen Jahre, in denen sich die Kleinen die Natur, das menschliche Beziehungsgeflecht, die Grundlagen der Mechanik oder gesellschaftliche Werte erst sinnlich aneignen, einer vorschnellen Gewöhnung an die Egoismen des Cyberspace opfern! Kinder können dann zwar PCs und Smartphones bedienen, sie verantwortlich zu handhaben und mit den auf sie einprasselnden Infos umzugehen, lernen sie so früh aber keinesfalls. Macht nichts, könnte ein MdB, sekundiert von Microsoft, Facebook oder Google, sagen, die Lehrer, die es ihnen beibringen sollten, haben es ja auch nie gelernt. Es droht eine Besiedlung der Welt mit vereinsamten und zu keiner Analyse fähigen Nerds und Cyber-War-Freaks.


Lizenz zum Vergiften


Was einem nicht in mittlerer oder ferner Zukunft angst und bange machen sollte, sondern jetzt (und damit auch schon reichlich spät), ist die Unterwürfigkeit der EU-Regierungen gegenüber den systemisch und systematisch die Umwelt und die sozialen Absicherungen zerstörenden Konzernen. Im Falle der Merkel-Kabinette  ging und geht das bis zur unverhohlenen Kumpanei, etwa mit der Automobilindustrie. Welch lächerliches Feigenblatt stellt ein „Ministerium für Umweltschutz“ dar, wenn die gesamte Regierung Luftvergifter, Verbrauchstäuscher, Krankheitserreger (im wahrsten Sinne des Wortes) unkontrolliert agieren lässt und diese Täter selbst nach Aufdeckung der Verbrechen und ihrer minutiösen Überführung nicht nur vor Strafverfolgung, sondern sogar vor der fälligen Widergutmachung an Millionen von Opfern (betrogenen Autobesitzern wie chronisch Kranken) schützt?


Natürlich gilt ähnliches auch für die Pharmabranche, die Rüstungsindustrie, die großen Energieversorger oder die Lebensmittelgiganten, die für das solide Wachstum von Fettsucht und Diabetes in der Bevölkerung verantwortlich zeichnen. Die Politik begleitet die Aktivitäten der Konzerne wohlwollend, wird als Schildwache vors Tor geschickt, wenn Trump, die Chinesen oder aufmüpfige Drittweltstaaten irgendwelche Profitmodelle oder Monopole in Frage stellen, und lässt sich ansonsten von gut vorbereiteten Lobbyisten und Wissenschaftlern, die üppige Honorare dem trocken Brot der reinen Lehre vorziehen, die Gesetzesvorlagen diktieren. Dier Allmacht der Wirtschaft muss man nicht mehr an die Wand malen, sie ist schon längst über uns gekommen.

  

Die Entglobalisierung der Solidarität


Die Rezeption solcher Herrschaftsverhältnisse wird durch die wenig aufklärerische Arbeit der Medien (deren qualitative Gewichtung und Beurteilung durch das unübersehbare Angebot im Internet nicht leichter wird) erschwert und nicht mittels Transparenz und Aufklärung unterstützt, was die eigentliche Aufgabe des Journalismus wäre. Der natürliche Widerpart des staatswirtschaftlichen Interessentrusts, die Gewerkschaften, sind hierzulande wiederum teilweise organisatorisch oder inhaltlich gespalten (Lokführerstreik, Konkurrenz zwischen Ver.di und IG BCE) oder sie machen sich die Ziele ihrer eigentlichen Gegner in den Chefetagen zu eigen: Man hat manchmal das Gefühl, für die IG Metall könne es gar nicht genug kriegerische Auseinandersetzungen und Bundeswehrinterventionen auf der Welt geben – schließlich geht es um deutsche Arbeitsplätze in der Waffenproduktion!


Doch auch weltweit verlieren die Gewerkschaften an Einfluss und Legitimation. So lassen sich die Arbeitnehmerorganisationen von den heimischen Wirtschaftsführern, deren Omnipotenz sie doch eigentlich bekämpfen sollten, für fremdenfeindliche Kampagnen einspannen, wenn die nationalen Profite durch Einfuhren bedroht sind, mithin auch als Konkurrenten ihrer Kollegen im Ausland. Der Gewerkschaftsbewegung von heute scheinen der Internationalismus, der Pazifismus und das perspektivische Denken abhanden gekommen zu sein.


Dies ist nur eine kleine Auswahl realer Ängste, die einem die Zukunft als Sackgasse ohne Ausweg erscheinen lassen können. Doch unser Prinzip Hoffnung beruht darauf, dass immer wieder Funken von Vernunft und Verantwortlichkeit  am Ende des Tunnels aufleuchten. So haben es etliche wirre bis skrupellose Machthaber bis heute nicht geschafft, die Erde in Schutt und strahlende Asche zu legen, obwohl seit mehr als 70 Jahren die Möglichkeit dazu bestünde. Zur menschlichen Leitkultur (So viel Parodie auf den Flachsinn der Söders und Seehofers sei gestattet!) gehören eben auch Überlebenswille, Friedenssehnsucht und geistiger Widerstand.

06/2018

Dazu auch:

Schöne neue Kindheit  im Archiv der Rubrik Medien

 

 

  

 

 

 

DGB am Scheideweg

 

Vor anderthalb Wochen endete in Berlin still und leise der DGB-Bundeskongress. Das minimale Medieninteresse erklärt sich einerseits aus der Börsen- und Marktpräferenz der für das Ressort Wirtschaft und Soziales zuständigen Journalisten, zum anderen aber auch aus mangelnder Präsenz des Dachverbands deutscher Gewerkschaften beim gesellschaftlichen Diskurs, etwa über die Perspektive und Nachhaltigkeit von Arbeitsformen sowie die Konstanz undemokratischer Produktionsverhältnisse. Beim überlebenswichtigen Thema Klimaziele schrammte der DGB sogar nur knapp an einem inhaltlichen Super-GAU vorbei.

 

Prozente statt Perspektiven

 

Gäbe es die Einzelgewerkschaften des DGB nicht, würde sich zwar das Machtgefüge dieses Landes ähnlich darstellen wie jetzt, aber nicht wenigen abhängig Beschäftigten ginge es erheblich schlechter. In den Verhandlungen mit den Arbeitgebern (von denen allerdings immer weniger tarifgebunden sind) gelingt es ihnen in bescheidenem Rahmen, geringe Reallohnsteigerungen zu erreichen und Verschlechterungen bei der Arbeitszeitregelung zu vermeiden. Der Lebensstandard der Entgeltempfänger kann so in etwa gehalten werden, deren Besitzanteil am Gesamtvermögen schrumpft indes weiter.

 

Einst waren die Gewerkschaften angetreten, ein Gegengewicht zur übermächtig scheinenden Kapitalseite zu bilden, eine schlagfertige Interessenvertretung der arbeitenden Massen in Konkurrenz zur pur profitorientierten Wirtschaftselite aufzubauen, sich in die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft einzumischen, kurz: um den Staat nicht den Magnaten zu überlassen.

 

Ein halbherziges Mitbestimmungsmodell wurde hierzulande aber nicht  als Möglichkeit, Alternativen zur unternehmerischen Maxime bedenkenlosen Gewinnstrebens und medial abgesicherter Systemsteuerung durchzusetzen, verstanden, sondern diente nicht selten dazu, Gewerkschaftsfunktionären zu lukrativen Posten zu verhelfen, die sie in inniger Kooperation mit den Kapitalvertretern ausfüllten. Die perspektivische Dimension gewerkschaftlicher Arbeit wurde vom DGB sträflich vernachlässigt, und so muss er heute registrieren, dass AfD-Populisten in die Betriebsräte drängen: Wer das politische Terrain freiwillig räumt, darf sich nicht wundern, wenn es von anderen besetzt wird.

 

Bis vor kurzem konnte man sich als Gewerkschaftsmitglied wenigstens noch mit der Hoffnung trösten, die drei Forderungen Frieden, internationale Solidarität und Umweltschutz gehörten zu den unveräußerlichen Bestandteilen der DGB-Agenda. Dann aber musste man zur Kenntnis nehmen, dass die IG Metall, die einst die Konversion (Überführung der Rüstungsproduktion in zu zivile Fertigung) propagiert hatte, mittlerweile in Arbeitskreisen zusammen mit Bundeswehroffizieren und Industriellen Einsatzmöglichkeiten für hochmoderne Vernichtungswaffen auslotet und gegen die Exportbeschränkungen für Kriegsgerät wettert. Von einigen der großen Einzelgewerkschaften hörte man wenig, als es um die zum Teil durch westliche Handels- und Militärstrategien ausgelösten Flüchtlingsströme nach Europa, insbesondere Deutschland, ging, und auf dem Bundeskongress hätte der DGB-Vorstand beinahe die Berliner Regierung in puncto Klimaziel-Negierung rechts überholt.

 

Arbeitsplätze gegen Umweltschutz?

 

Vor allem die mächtige IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie)

agitiert schon seit geraumer Zeit gegen alle (bescheidenen) Versuche der Politik, die grob fahrlässigen bis kriminellen Eingriffe in die Umwelt sowie die eklatante Steigerung der Luft- und Grundwasserverschmutzung wenigstens abzumildern. Nachdem sich Union und SPD in den jüngsten Koalitionsverhandlungen von dem 2002 von „Rot/Grün“ beschlossenem Ziel, die Treibhausgasemissionen von 1990 bis 2020 um 40% zu senken, verabschiedet hatte, um stattdessen Besserung für das ferne Jahr 2050 zu geloben, sah die IG BCE, die ohnehin seit langem als Lobby-Organisation der Kohle- und Fracking-Wirtschaft gilt, die Chance gekommen, gegen „Abschaltbeschlüsse“ mobil zu machen.

 

Offensichtlich auf ihr Betreiben hin strich der DGB-Vorstand im Vorfeld des Bundeskongresses jegliche Festlegung auf irgendein Jahr aus seiner Konzeption und überholte damit sogar die Regierung, die wenigstens noch den Schein (für das Jahr 2050) wahren wollte, auf der rechten Ignorantenspur. Von den großen Einzelgewerkschaften wehrte sich nur Ver.di gegen diese Zumutung. (Allerdings hat auch die Dienstleistungsgewerkschaft ihre Leiche im Vorstand: Der Vorsitzende Frank Bsirske, übrigens ein „Grüner“, hatte sich einst als Aufsichtsratsmitglied  des Energie-Konzerns RWE dezidiert für den Braunkohle-Tagebau, das Dreckigste an Umweltverschmutzung, ausgesprochen!)

 

Dennoch wäre es eine folgenschwere Blamage geworden, hätten nicht Gewerkschafter auf der Petitionsplattform WeAct  eine interne Unterschriftenaktion gestartet, die innerhalb weniger Tage von 45.000 DGB-Mitgliedern unterzeichnet wurde.  Um eine Kampfabstimmung zu verhindern, lenkte der Vorstand ein und präsentierte eine sich an die windelweiche 2050-Vertröstung der Bundesregierung anlehnende Kompromisslösung, mit der offensichtlich jeder (wenn auch keiner gut) leben konnte.

 

Fazit: Dem infamen Ende aller Umweltpolitik per Konzernanbiederung gerade noch einmal von der Schippe gesprungen, aber im Grund niemanden überzeugt und erst recht niemandem geholfen!

 

Wenn der stellvertretende DGB-Vorsitzende Stefan Körzell erklärt, dass die Gewerkschaft die Klimaziele unterstütze, aber auf eine sozialverträgliche Umsetzung dränge, dann gibt er unbewusst zu, dass die Kollegen Spitzenfunktionäre das Primat jeglicher Sozialverträglichkeit, nämlich verträgliche Umweltbedingungen für Lebenserwartung und Gesundheit, ignoriert haben und nun Bedingungen für einen Bewusstseinswandel fordern, den sie selbst längst hätten einleiten sollen.

 

Selbst die umweltpolitische DGB-Sprecherin Lisa Badum war nicht sehr glücklich über die lauwarme und unverbindliche Erwähnung von Umweltstandards, die erst in mehr als 30 Jahren greifen sollen: „Dass nun der zur Erreichung der Klimaschutzziele notwendige Klimaschutzplan nur noch als sinnvolle Grundlage verstanden wird, greift aber leider zu kurz. Völlig unverständlich ist auch, dass notwendige Anstrengungen für das Klimaziel 2020 außen vor bleiben.“

  

Komplizenschaft mit der SPD

 

Es ist im Grunde das ewiggleiche Mantra, das die DGB-Oberen intonieren: Es gehe um den Erhalt von Arbeitsplätzen. Ob Waffenproduktion, Automobilbau oder Kohleverstromung – die Funktionäre solidarisieren sich gern mit den Bossen. Dass umweltfreundlichere und nachhaltigere Produktion möglich wäre, lässt sich gerade auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien belegen: Dort arbeiten inzwischen um ein Vielfaches mehr Menschen als im Kohlebergbau.

 

Doch die Strukturen auf den Führungsebenen des DGB und der meisten seiner Einzelgewerkschaften sind verkrustet. Das Totschlagargument  des Arbeitsplatzerhalts (auch wenn die Fortführung einer Produktion Umweltzerstörung sowie Verkürzung der Lebenszeit und den Anstieg chronischer Leiden für Millionen mit sich bringen mag) wird auch häufig bemüht, um lukrative persönliche Verflechtungen mit der Wirtschaft zu kaschieren.

 

Und dann ist da noch die enge (gern auch in Personalunion ausgelebte) Bindung an die SPD, eine Partei, die seit Generationen eine konzernfreundliche und (inhaltlich) arbeitnehmerfeindliche Politik betreibt und in Sachen Umweltschutz an beängstigendem Rückenmarksschwund zu leiden scheint. Da der DGB keine gesellschaftliche Perspektiven aufzeigt, nicht mitgestaltet, die Politik nicht mit programmatischen Forderungen vor sich her treibt, sondern brav hinter der einstigen Volkspartei her zockelt, droht ihm früher oder später der „solidarische“ Sturz in die Bedeutungslosigkeit: „Brüder, ins Dunkel, in Feigheit…“

05/2018

Dazu auch:

Ceta spaltet DGB im Archiv dieser Rubrik

 

 

 

                                          

 


Mit nacktem Finger

 

Wenn Kindern Manieren beigebracht werden sollen, heißt es oft: „Mit nacktem Zeigefinger deutet man nicht auf angezogene Menschen.“ Im übertragenen Sinne kann dies auch bedeuten: Lenk nicht von deiner eigenen befleckten Weste ab! Genau dies aber praktizieren die Berliner Moralhüter, wenn sie lautstark angebliche oder tatsächliche Chemiewaffen-Einsätze anprangern und die vermeintlich Schuldigen in Damaskus oder Moskau orten, aber kein Wort über die Beteiligung des eigenen Landes am fürchterlichsten Giftgas-Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg verlieren. Dass erst die Klage von neun Hinterbliebenen damaliger Opfer gegen deutsche Firmen den Massenmord von Halabdscha und die Mithilfe unserer Industrie wieder ins Bewusstsein rücken musste, belegt die Scheinheiligkeit von Politik und Wirtschaft hierzulande.

 

Saddam Husseins Vernichtungsfeldzug

 

Nachdem der Recherche-Verbund von SZ, NDR und WDR unlängst enthüllt hatte, dass 1961 die damalige Bundesregierung die USA vergeblich um die Lieferung von Chemiewaffen für den Einsatz gegen den Warschauer Pakt gebeten hatte (ARD-Magazin Panorama am 3. Mai), lässt sich die fromme Legende vom friedliebenden Menschenrechtshort Deutschland nicht mehr aufrechterhalten. Was allerdings Unternehmen aus diesem unserem  Land unter den (zugekniffenen) Augen von Politikern und Geheimdiensten im Irak anstellten, könnte glatt unter die Rubrik „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ fallen. 

 

Zur klammheimlichen Freude und mit tatkräftiger Unterstützung des Westens überfielen Saddam Husseins Truppen 1980 den Iran. Das dortige Revolutionsregime galt den USA und ihren Verbündeten als Hauptfeind, den es mithilfe des Despoten in Bagdad zu vernichten galt. Doch die iranische Armee schlug zurück und drang sogar auf irakisches Terrain vor, so dass sich Saddam Hussein nur mittels enormer Waffenlieferungen aus den NATO-Staaten halten konnte.

 

Acht Jahre lang lieferten sich die Armeen beider Länder blutige Schlachten, ohne dass sich eine von ihnen entscheidend durchsetzen konnte. Im letzten Kriegsjahr eroberten mit dem Iran verbündete kurdische Kräfte die Stadt Halabdscha im Nordosten des Irak. Nur einen Tag später, am 16. März 1988, setzte die Luftwaffe Bagdads Senfgas und Sarin über dem Ort ein. Binnen weniger Stunden starben dort 5000 Menschen, 10.000 weitere wurden verletzt.

 

Die damaligen Edel-Adressen der deutschen Rüstungsindustrie wie Rheinmetall oder Degussa hatten teils unter Umgehung, teils mit Genehmigung der Bundesregierung den irakischen Diktator (und bisweilen auch die Gegenseite) mit konventionellen Waffen beliefert. Sowohl das damalige Bonner Kabinett, das Exporte in ein Krisengebiet hätte verhindern müssen, als auch die Konzerne hatten damit bereits gegen das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen. Doch nun kam ein weiterer – völkerrechtlicher – Tatbestand hinzu: Ohne deutsche Hilfe wäre die irakische Armee wohl gar nicht zu dem Giftgasangriff auf Halabdscha fähig gewesen. Die Unternehmen, die Logistik und Komponenten bereitgestellt hatten, somit für die Proliferation von Massenvernichtungswaffen verantwortlich waren, hatten mutmaßlich gegen das damals noch geltende Genfer Protokoll zum Verbot von Chemiewaffen verstoßen und sich der Beihilfe zum Massenmord schuldig gemacht.

 

Nun hat der US-Anwalt Gavi Mairone im Namen von neun Hinterbliebenen und deren Familien Klage gegen mehrere europäische Firmen, darunter die deutschen Unternehmen Tui AG, Karl Kolb GmbH und Heberger Bau, eingereicht. Die Kläger fordern Entschädigungen in Höhe von insgesamt mehr als vier Milliarden Dollar – keine zu hoch angesetzte „Wiedergutmachung“ für die Komplizenschaft bei der Ermordung von 5000 Menschen…      

 

Deutsche Technik für die Mörder

 

Es mag überraschen, dass der Touristikkonzern Tui auf der Liste der Beklagten steht, doch erklärt sich das aus der Übernahmestrategie des Bergbau-Unternehmens Preussag: Als das Minengeschäft nicht mehr richtig lief, stiegen die Prospektoren bei Hapag-Lloyd ein, übernahmen so zunächst Anteile an Tui und dann den gesamten Reiseveranstalter. Der so entstandene Mischkonzern benannte sich später in Tui um. In der Hannoveraner Zentrale reagierte seine Rechtsabteilung nun scheinbar gelassen auf die Klage: „Die Forderungen entbehren jeder tatsächlichen und rechtlichen Grundlage. „Die juristische Klärung wurde bereits in den Jahren 1987 bis 1996 (...) abgeschlossen.“

 

Ganz so einfach dürfte es für die deutschen Hussein-Kollaborateure aber nicht werden. „Es steht außer Frage, dass deutsche Firmen im Irak unterirdische Fabriken gebaut haben, die sie Bunker genannt haben, um Pestizide zu produzieren“, sagt Rechtsanwalt Mairone. „Sie selbst haben in ihren Dokumenten offen gelegt, dass die Pestizide dazu da waren, Perser und Israelis zu töten.“ Seit Oktober 1980 hätten Mitarbeiter der fraglichen Firmen mit Offiziellen des Saddam-Regimes in Kontakt gestanden, um die Konstruktion von Chemiewaffenfabriken im Irak sowie die Herstellung von Nervengiften zu planen.

 

Gavi Mairone ist kein juristisches Leichtgewicht, nicht der Sozius irgendeiner auf astronomische Schadensersatzforderungen spezialisierten Kanzlei von Winkeladvokaten. Er ist vielmehr Mitbegründer der Stiftung Law MM, die sich mittlerweile auf die Vertretung der Opfer von (staatlichem) Terror, Folter und Menschenhandel spezialisiert und auch schon gegen eine arabische Bank obsiegt hat. Mairone wurde 2016 von US-Juristen als Verfahrensanwalt des Jahres ausgezeichnet. Den Einwand von Tui, die leidige Sache sei rechtlich bereits aufgearbeitet worden, kontert er mit dem Hinweis, damals sei es „um rein technische Anschuldigungen von illegalem Waffenhandel“ gegangen, jetzt gehe es „um eine Zivilklage wegen Völkermordes“.

 

Acht Jahre lang wurden Beweise gesammelt und Zeugen befragt. Dass Mairone und seine Kollegen dabei Gerichtsverwertbares gefunden haben, legen schon frühere, hierzulande nur wenig oder überhaupt nicht beachtete, Untersuchungsergebnisse nahe:

- Das Simon Wiesenthal Zentrum in Los Angeles zählte 1990

  zweiundzwanzig deutsche Firmen auf, die beim Aufbau des irakischen

  Chemiewaffenprogramms geholfen haben.

- In einem 1995 den Vereinten Nationen vorgelegten Bericht über das

  irakische Chemiewaffenprogramm findet sich an 248 Stellen der Verweis    auf Lieferungen aus Deutschland: Glasrohre, Behälter, Kondensatoren

  und vieles mehr.

Natürlich werden die deutschen Firmen auf Unwissenheit, Blind- und Taubheit plädieren, wie immer, wenn ihre Produkte des dual use zufällig das Sterben und nicht das Leben einer Zivilbevölkerung erleichtern. Doch bereits 2013 belegte die ausführliche Studie „Niemals wieder?“ Komplizenschaft deutscher Chemie-Unternehmen beim kurdischen Genozid des angesehenen BERKELEY JOURNAL OF INTERNATIONAL LAWdass die Geschäftspartner Saddam Husseins keineswegs naiv gewesen sein können, dass sie vielmehr im Zentrum des Terrors kreativ und planerisch tätig waren.


So führt das Magazin detailliert auf, dass deutsche Unternehmen wie KlöcknerCeilcoteHoechst und Schott Glas den Irak mit chemischen Komponenten und anderen Materialien zur Kriegsführung belieferten und zum Teil sogar Produktionsanlagen dort betrieben. Über die im hessischen Dreieich angesiedelte Firma Karl Kolb GmbH schreiben die Autoren, ihr Fall zeige „vielleicht am besten die schiere Entschlossenheit eines modernen deutschen Unternehmens, Profit zu suchen, sein Potenzial zu maximieren und dann bedenkenlos Geschäfte zu machen, ohne sich um Moral oder Regeln zu kümmern“. Kolb baute in Samarra, damals einer der weltweit größten Komplexe zur Herstellung chemischer Waffen, sechs Produktionslinien für Giftgase wie Sarin, Tabun oder Senfgas auf. Mit den tödlichen Stoffen wurden in einem unterirdischen „Verpackungszentrum“  Artilleriegeschosse, Raketen und andere Munitionsformen befüllt.


Laut dpa bedauert die Firma, „dass US-amerikanische Anwälte die Tragödie von Halabdscha wider besseres Wissen (...) zu ihren Geschäftszwecken missbrauchen.“ Sie weist jeden Vorwurf zurück, dass in den Irak gelieferte Produkte „für die Produktion von Kampfstoffen hätten verwendet werden können oder missbräuchlich verwendet wurden“. Die Karl Kolb GmbH und ihr Ableger Pilot Plant wollen also ahnungslos in Saddam Husseins tödlichster Giftküche vor sich hin gewerkelt haben, während eines Kriegs gegen den Iran und während eines Chemie-Feldzugs gegen die Kurden, der insgesamt an die 100.000 Todesopfer forderte? Wider besseres Wissen leugnet eine deutsche Firma die Beteiligung an einem Völkermord ab und beschuldigt unverfroren investigativ arbeitende US-Anwälte (und damit indirekt die Hinterbliebenen) der Lüge!


Fünfzehn Jahre später ein Kriegsgrund


Da Saddam Hussein zeitweise zu den (schmuddeligen) Alliierten des Westens zählte, blieben seine Verbrechen lange Zeit ungesühnt, zumal die Kurden bis heute als mal hofierte, mal geopferte Manövriermasse auf den Schlachtfeldern des Nahen und Mittleren Ostens angesehen wurden. So brauchte man die PKK und YPG noch vor kurzem dringend zur Rettung der Jesiden und zum Kampf gegen den IS; inzwischen kann man sie getrost dem türkischen NATO-Partner zur Liquidierung überlassen.


Auch das Massaker von Halabdscha blieb lange eine Fußnote der Geschichte, bis es sich trefflich für die Interessen der USA instrumentalisieren ließ. Fünfzehn Jahre, einen Überfall Saddam Husseins auf Kuweit, einen ersten Irak-Krieg und das Ende des World Trade Center später suchte Präsident George W. Bush einen Grund, um das Zweistromland erneut anzugreifen. Inspektoren konnten ihm den nicht liefern, weil der Diktator von Bagdad nun wirklich keine Massenvernichtungswaffen mehr besaß. Also entsann man sich in Washington der 5000 Opfer von Halabdscha und konstruierte (auch) aus diesem Geschehen nachträglich einen Casus Belli.


In einem Interview des Senders n-tv mit dem damaligen Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker, Tilman Zülch, erklärte dieser damals auf die Frage, ob ein solcher Rückgriff legitim sei: Leider nicht, weil als Halabja passierte, viele Firmen und Regierungen entweder Giftgas geliefert haben oder bei der Kontrolle versagt haben, das betraf auch Deutschland.“ Seine Mahnung blieb ungehört, die USA und ihre Verbündeten legten den Irak in Schutt und Asche – und die toten Kurden von Halabdscha wurden posthum noch missbraucht – zur Rechtfertigung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges.

05/2018

Dazu auch:

Tod aus Deutschland im Archiv dieser Rubrik

 

 

 

 

 

                  

Geht hin und hört ab


Ein mexikanischer Enthüllungsjournalist und eine Aserbeidschanerin, ausgezeichnet mit dem Alternativen Nobelpreis, klagen gegen ein bundesdeutsches Geheimdienstgesetz, dessen Novellierung zunächst als Eindämmung wahl- und grenzenloser Spionage gedacht war, das dann aber die Lizenz zur weltweiten Ausspähung erteilte. Selten hat die Legislative hierzulande die notwendige Zügelung einer Datenkrake derart geräuscharm und schamlos ins Gegenteil verkehrt wie im Dezember 2016. Der Aufschrei in den Medien hielt sich in Grenzen, weil deutsche Reporter und Menschenrechtler nicht betroffen schienen - wie fälschlicherweise anfangs angenommen wurde.


Der Nachhall des NSA-Skandals


Vor viereinhalb Jahren fielen nach Bekanntwerden der NSA-Lauschattacken auf die Bundeskanzlerin jene Merkel-Woprte, die  den Gipfel – je nach Sichtweise – einer fahrlässigen Ahnungslosigkeit oder einer selten dreisten Heuchelei markierten: "Ausspähen unter Freunden - das geht gar nicht." Wenig später wurde dann ruchbar, dass der deutsche Auslandsgheimdienst BND der NSA in Sachen Lauschangriff auf befreundete Regierungen in nichts nachstand. Böse Zungen behaupten, eine Regierungschefin, die von solchen Aktivitäten der eigenen Agenten nichts gewusst haben will, sei entweder ignorant, dumm oder verlogen.


Das Volk, soweit es interessiert war, zeigte sich verwirrt bis empört, und so debattierten seine emsigen Berliner Vertreter in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss die verquere Sachlage. Am 23. Dezember 2016 beschloss schließlich der Bundestag mit der Koalitionsmehrheit von Union und SPD eine Änderung des BND-Gesetzes. Wer nun angenommen hatte, den übereifrigen Abhörern würden Ohrenklappen aufgesetzt, sah sich getäuscht, das Gegenteil war der Fall: Was zuvor illegal geschah, wurde nun legitimiert, die Botschaft des Paragraphen 6 im Abschnitt 2 („Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung“) lautete in beinahe christlichem Sinne „Gehet hin in alle Welt und belauschet Freund und Feind!“.


Geht draußen spielen!


Die Voraussetzungen für eine Bespitzelung von Personen in Deutschland und von EU-Institutionen, als da wären konkreter Verdacht und richterlicher Beschluss, wurden für das Ausland großzügig fallengelassen, stattdessen benannte man drei Anlässe im § 6, wie sie schwammiger und einladender kaum sein könnten. Menschen und Organisationen dürfen abgehört werden, um

1.   frühzeitig Gefahren für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland

     erkennen und diesen begegnen zu können.

2.   die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu wahren oder

3.   sonstige Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung über Vorgänge zu

     gewinnen, in Bezug auf Art und Umfang durch das Bundeskanzleramt im Einvernehmen mit

     dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium (BM) des Innern, dem BM der Verteidigung

     und dem BM für Wirtschaft und Energie und dem BM für wirtschaftliche Zusammenarbeit

     bestimmt werden.

Die nie sehr zimperlichen Spione des BND müssen sich wie Zocker in einem Würfelspiel gefühlt haben, bei dem jeder Wurf gewinnt, weil alle Würfelflächen sechs Augen haben: Die BRD ist nur sicher und kann nur handeln, wenn sie alles weiß, und für die genannten Ministerien sind grundsätzlich alle Vorgänge im Freundes- und Feindesland von Bedeutung. Solch großzügigen Interpretationen von Anlass und Interesse setzen in der Schnüffel-Praxis keinerlei Grenzen…


Sieben NGOs und Verbände, darunter die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Reporter ohne Grenzen (NOG) und die Ver.di-Journalistenvertretung dju, haben Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Zu den Klägern gesellen sich auch drei renommierte Rechercheure bzw. Juristen: der Mexikaner Raul Olmos, dem der Nachweis gelungen war, dass die Regierung seines Landes Malware israelischer Provenienz für 32 Millionen Dollar gekauft hatte, um kritische Journalisten und Menschenrechtler auszuhorchen zu können; die Aserbeidschanerin Khadija Ismajilova, die für ihren Einsatz gegen Korruption 2017 den Alternativen Nobelpreis erhielt, und der deutsche Anwalt Michael Mörth, der in Guatemala mit Menschenrechtsverteidigern zusammenarbeitet.


Dr. Ulf Buermeyer, GFF-Vorsitzender, weist darauf hin, dass für die schöne neue Auslandsspionage kein Schutz von  Berufsgeheimnisträgern, etwa Journalisten, Juristen oder Ärzten, mehr gilt. Die „extrem vagen Zwecke“ erlaubten die Überwachung in einem Maße, dass es „de facto keine Einschränkung für die Bespitzelung durch den deutschen Auslandsgeheimdienst“ mehr gebe.


Dass für investigativ arbeitende Aktivisten wie die genannten Individual-Kläger, aber auch für in Deutschland recherchierende und schreibende Journalisten das neue Big Brother-Gesetz enorme Gefahren für den Schutz ihrer Daten und Informanten, die Effizienz ihrer Recherchen, ja sogar (im gar nicht so unwahrscheinlichen Fall) die Unversehrtheit ihres Lebens drohen, hat seinen Grund in der gedeihlichen Zusammenarbeit der verschiedenen Geheimdienste.

  

Gefahr durch Ringtausch der Spione


Hört der BND einen Aktivisten irgendwo auf der Welt ab, wird er seine Kontaktdaten speichern, auch wenn sie aus der Kommunikation mit deutschen Ansprechpartnern stammen. Die telefonischen und digitalen Links Letzterer darf er aber aus oben erwähnten Gründen nicht nachverfolgen (wenn wir annehmen, deutsche Spione verhielten sich ausnahmsweise mal korrekt), doch bleibt nun ein perfider, aber vorläufig legaler Weg, suspekte oder einfach politisch unbequeme Personen im Inland ausschnüffeln zu lassen, denn der Dienst arbeitet mit diversen Kollegen im Ausland zusammen.


Denkbar wäre, so ROG-Geschäftsführer Christian Mihr, ein gefährlicher „Ringtausch“, bei dem der BND etwa die Washington Post abhört und die so gewonnenen Erkenntnisse mit der NSA teilen würde, die wiederum im Auftrag der deutschen Agenten einen unbequemen Journalisten der Süddeutschen Zeitung überwachen könnte. Beide Geheimdienste hätten so mithilfe der jeweiligen Partnerorganisation Zugriff auf Ergebnisse von Lauschangriffen sowie auf die Kontaktdaten der jeweiligen „subversiven“ Person im eigenen Land. Der Inlandsaufklärung durch den BND wären de facto Tür und Tor geöffnet.


Noch viel bedenklicher erscheint die Tatsache, dass die Bundesrepublik freundschaftliche Beziehungen zu einer ganzen Reihe der weltweit brutalsten und kriminellsten Regimes pflegt, dass mithin der BND seit jeher mit für Mord und Folter bekannten Staatsschutzorganen auf partnerschaftlichem Fuße verkehrt. Gehörten früher die Militärjunten in Chile, Argentinien oder Guatemala zu den bevorzugten Ansprech- und Handelspartnern, so tauscht sich Berlin heute auf Geheimdienstebene rege mit höchst korrupten, mafiösen oder totalitären Regierungen, etwa in Mexiko, im Kosovo oder in Ägypten, aus.


Es ist also kein Wunder, dass sich exponierte Journalisten aus Mexiko oder Aserbeidschan einer deutschen Verfassungsklage anschließen, müssen sie doch mit der Bespitzelung durch den BND und der anschließenden Weitergabe der Erkenntnisse an die Repressionsbehörden ihrer Heimatländer rechnen – und damit um ihr Leben fürchten.

04/2018

Dazu auch:

Doofe Spione? im Archiv dieser Rubrik

Blindes Argusauge und Hässliches Profil im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund 

  

 

                            

 



Das Jammern der Wölfe


„Wie unfair, Donald!“ riefen unisono EU-Politiker, weil sie nach Trumps Ankündigung von Strafzöllen auf Stahlimporte weitere Maßnahmen zum Schutz der wenig konkurrenzfähigen US-Industrie fürchteten. Der Freihandel sei gefährdet, schrie am lautesten die Polit-Prominenz des Export-Weltmeisters Deutschland und barmte, der Protektionismus löse Handelskriege aus, aus denen niemand als Sieger hervorgehen könne. „Handelskriege sind gut und leicht zu gewinnen“, tönte dagegen der US-Präsident, und hinter vorgehaltener Hand stimmten ihm die hiesigen Wirtschaftsexperten zu, führt doch die EU mit ihrem Leitwolf BRD an der Spitze einen klandestinen, aber höchst profitablen Handelskrieg gegen die Dritte Welt.


Wie du mir, so ich anderen


Nach vielem Betteln und Verhandeln sind die US-Strafzölle für Stahl und Aluminium aus Europa zumindest vorübergehend vom Tisch. Ungeachtet der Trump-Rüpeleien muss sich Berlin aber fragen lassen, wie fairer Warenverkehr vor sich gehen soll, wenn einer der Partner sein wirtschaftliches Übergewicht mit fragwürdigen Mitteln hält und weiter ausbaut. So ist der Außenhandelsüberschuss, den die Bundesrepublik gegenüber ihren EU-Partnern verzeichnet, weniger der deutschen Wertarbeit zu geschuldet als vielmehr den vergleichsweise niedrigeren Arbeitsentgelten (und Mindestlöhnen) hierzulande. Billig hergestellte Produkte werden auf diese Weise nach Süd- und Westeuropa exportiert, worauf dort die eigene Fertigung mangels inländischer (und deutscher) Nachfrage stagniert. Dass dieses Missverhältnis nicht zu lautstarken Protesten oder gar (weiteren) Austritten aus der Europäischen Union führt, ist der Strategie zu verdanken, die germanische Binnendominanz durch eine gemeinsame aggressive Handelspolitik gegenüber dem Rest der Welt zu relativieren.


Wenn die EU afrikanischen oder asiatischen Staaten Handelsverträge diktiert, die den (oft auch noch durch nationale Bürgschaften abgesicherten) Warenfluss aus Europa von jeder Kontrolle befreien, während Importe aus den Entwicklungsländern mit Zöllen belegt oder kontingentiert werden, profitieren auch ihre schwächeren Mitglieder davon, denn der Wirtschaftskraft etwa eines Staates in der Sahelzone ist selbst eine rückständige Balkan-Ökonomie haushoch überlegen.


Bei den Handelsbeziehungen zu Washington ist es nicht ganz so einfach, die europäische (und vor allem deutsche) Dominanz zu behaupten. Brüssel (noch mehr Berlin) braucht den nordamerikanischen Markt, schließlich konsumieren die US-Bürger mehr als die biederen Europäer und verschulden sich gern, um die importierten Gebrauchsgüter oder Luxusartikel nach Herzenslust erwerben zu können. Wenn nun das Weiße Haus erste Strafzölle ankündigt, um Teile des produzierenden US-Gewerbes zu schützen und so das Außenhandelsdefizit zu mindern, mag das zwar imperialem Gehabe und letztendlich fruchtlosem Wunschdenken geschuldet sein, aber es trifft doch die Konzerne und ihre Politiker auf dem alten Kontinent ins Mark.


Wie lächerlich wirkte dagegen die Brüsseler Ankündigung von Gegenmaßnahmen, vor denen allenfalls ein paar Bike-Monteure, Whiskey-Brenner und Jeans-Schneider hätten zittern müssen – viel mehr US-Export in die EU ist ja nicht. Droht Trump dagegen die Einfuhren der europäischen Automobilindustrie in die Vereinigten Staaten drastisch zu verteuern, löst das helle Panik zwischen München, Stuttgart und Wolfsburg und bei den Berliner Lobbyisten im Ministerrang aus.


Mit anderen Nationen springt das Brüsseler bzw. Berliner Establishment – bisher  noch ungestraft – viel rüder um. So wurden 27 chinesische Produzenten mit Antidumpingmaßnahmen überzogen, vor allem, um „die europäischen Stahlhersteller vor unfairen Handelspraktiken“ zu schützen. Im Schnitt müssen mit EU-Strafzöllen belegte Importeure aus dem Reich der Mitte knapp 46 Prozent des Warenwertes berappen, „zum Schutz“ des deutschen Süßstoffherstellers Celanese waren es für den weltweit einzigen Konkurrenten aus China sogar 126 Prozent. Auch so kann man ein Monopol zementieren...


Im Falle Chinas, das inzwischen zum wichtigsten Handelspartner der Bundesrepublik aufgestiegen ist, wird diese Spielart von Protektionismus nicht mehr lange aufrechtzuerhalten sein, die Volksrepublik ist ökonomisch zu mächtig geworden. Wehe aber den Ländern der Dritten Welt, die zu Zielen europäischer Außenhandelsstrategien auserkoren wurden!


Philanthrop mit dubioser Taktik


Etlichen ost- und westafrikanischen Ländern zwang die EU „Freihandelsabkommen“ auf, die etwa deutschen und französischen Unternehmen gestatten, ihre auf dem heimischen Markt unverkäuflichen oder gesundheitsschädlichen Produkte auf dem schwarzen Kontinent loszuwerden, während umgekehrt landwirtschaftliche Erzeugnisse von dort auf dem alten Kontinent chancenlos sind. Europäische Kompanien verkaufen minderwertige Hühnchenteile nach Kamerun oder Gabun, werfen Konserven in Togo auf den Markt oder fischen das Meer vor der Küste des Senegal leer.


Die Folge ist das Ende jeder Hoffnung auf landwirtschaftliche Autarkie, denn die Kleinbauern als Garanten für die Selbstversorgung müssen unter dem Konkurrenzdruck der europäischen Agrar-und Fleischindustrie aufgeben – und reihen sich oft genug in die über das Mittelmeer fliehenden Scharen ein. Schadstoffe aus der EU machen westafrikanische Müllkippen zu ökologischen Zeitbomben, korrupte Eliten, mit denen es sich am marktgerechtesten zusammenarbeiten lässt, werden hofiert und, wo nötig, mit Truppen, Beratern und Waffen im Kampf gegen die eigene Bevölkerung unterstützt. Wenn französische und deutsche Soldaten in Mali stehen, ist dies kein humanitärer Akt, sondern der Versuch, die Sahel-Zone als Rohstofflieferant und Absatzmarkt zu sichern.


Soeben wurde im neuen GroKo-Kabinett ein Minister im Amt bestätigt, der einst Hoffnungen weckte, weil er so empathisch über die Not in den Krisenregionen der Welt sprechen konnte und in Aussicht stellte, die Gebühr, die der deutsche Staat für die Lizenz der deutschen Wirtschaft zur Ausbeutung der Dritten Welt hinterlegt, gemeinhin als Entwicklungshilfe bekannt, würde künftig im Wortsinn verwendet werden: Gerd Müller warb so treuherzig für die Unterstützung von Drittwelt-Staaten, dass sich sogar der Kabarettist Markus Barwasser alias Erwin Pelzig bei einer seiner gefürchteten „Unterhaltungen“ beeindruckt zeigte und mutmaßte, der so integere oberste Entwicklungshelfer sei nur in der falschen Partei.


Keine Angst, Gerd Müller ist in der CSU gut aufgehoben, wie sich rasch herausstellt, wenn man die Intentionen hinter seiner Altruisten-Rhetorik näher beleuchtet. So schlug der bayerische Schwabe im Januar 2017 einen Marshallplan für Afrika vor, in Erinnerung an den Wiederaufbauplan, mit dem die USA nach dem Zweiten Weltkrieg die notleidende deutsche Bevölkerung unterstützten und gleichzeitig die alliierten Westzonen kompatibel für den Kapitalismus angelsächsischer Prägung machten. Für Müller wäre ein solches Hilfspaket lediglich humanitär verbrämtes Mittel zum eigentlichen Zweck, nämlich einer bedingungslosen Bedienung europäischer und besonders deutscher Marktinteressen durch afrikanische Staaten.


„Reformpartnerschaften“ schlägt der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, der wie seine Vorgänger nie ohne eine Entourage von Konzernrepräsentanten in die Dritte Welt reist, den Afrikanern vor und nennt gleich als entscheidendes Kriterium die „Orientierung an den Bedürfnissen des Privatsektors“. Befriedigt werden sollen folglich die Wünsche korrupter Eliten in den armen Ländern und die Gewinnphantasien expansionsfreudiger Manager in der EU. Marita Wiggerthale, deutsche Agrarexpertin der Hilfsorganisation Oxfam, kritisiert, dass Müllers Masterplan mit der Markterschließung für BRD-Unternehmen und einer „neoliberalen Handels- und Investitionspolitik“ verknüpft sei.


Der senegalesische Autor Magaye Gaye wies in der renommierten Zeitschrift Jeune Afrique darauf hin, dass ein solcher Marshall-Plan nur funktionieren könne, wenn der Schwarzgeld-Strom von Afrika nach Europa gestoppt werde. Undenkbar! Generieren doch die Multi-Milliarden, die Banken in der EU für befreundete Kleptokratien südlich des Mittelmeers waschen, immense Überschüsse für unseren Finanzsektor.


Müller möchte bald auch Marokko und Ägypten als Reformpartner ins Boot holen. Dafür seien aber noch Fortschritte in den Bereichen Menschenrechte (aus EU-Sicht vernachlässigbar), gute Regierungsführung (Geschmackssache) und Reformen für ein verbessertes Investitionsklima (unbedingte Priorität!) notwendig. Wo Kinderhände rote Teppiche für deutsche Spitzenmanager weben, sollte man ja wohl nicht alle unappetitlichen Aspekte eines Regimes unter die Lupe nehmen…


Wenn aber ein „Partnerland“ die eigene rudimentäre Landwirtschaft schützen will und Einfuhren, die das zarte Pflänzchen der Selbstversorgung niederwalzen, mit handelsüblichen Zöllen belegt, hat der Spaß ein Ende. Zehn Jahre lang weigerten sich fünf ostafrikanische Staaten das „Freihandelsabkommen“ EPA mit der EU zu unterzeichnen, weil sie auf 83 Prozent der Einfuhrabgaben auf subventionierte Agrarprodukte aus Europa hätten verzichten müssen. Als sie schließlich einknickten, wollte Kenia ausscheren. Flugs erhöhte die EU die Zölle auf den Import von Schnittblumen, Röstkaffee, Tee und Hülsenfrüchte um bis zu 30 Prozent, und schon war ein renitentes Land mithilfe weit schmerzhafterer Daumenschrauben, als sie Trump je anlegen könnte, auf Kurs gebracht.


Wie es aber ausgeht, wenn sich ein armer „Partner“ gehorsam dem Diktat einer übermächtigen Wirtschaftsgemeinschaft fügt, lässt sich am Beispiel Tunesiens beobachten.

 

Ein Land wird zu Tode gerettet


In Tunesien begann vor mehr als sieben Jahren der Arabische Frühling, jener länderübergreifende Aufstand der von ihren Regierungen enttäuschten Massen, der auch dank verdeckter oder offener Interventionen und Waffenlieferungen der EU-Staaten den Nahen Osten ins Chaos stürzte. Das Land, das als erstes sein korruptes Regime stürzte, kam am glimpflichsten, sprich: ohne Bürgerkrieg und größere Massaker, davon, die Armut aber blieb – nur hat sie jetzt andere Ursachen. 


Eigentlich hört es sich ja gut an, dass mit wohlwollender Begleitung von Minister Müller deutsche Unternehmen mehr als 350 Millionen Euro in dem nordafrikanischen Land investiert haben und der Autozulieferer Leoni gar zum größten Arbeitgeber vor Ort avanciert ist.


Doch Tunesien zahlt einen hohen Preis für dieses Engagement: Um den Standort attraktiv für die Schnäppchenjäger der deutschen Industrie zu halten, verfolgt es eine Niedrigststeuerpolitik, was fortlaufend zu einem Rückgang der Staatseinnahmen, zu höherer nationaler Verschuldung und einer Verschlechterung der infrastrukturellen Lebensbedingungen führt. (Potenteren Volkswirtschaften wirft Berlin in ähnlichen Fällen gern Steuerdumping vor – allerdings nur, wenn die heimischen Konzerne nicht  profitieren.) Zusätzlich bezuschusst die klamme Regierung in Tunis auch  die berufliche Ausbildung durch die deutschen Unternehmen und fördert deren Exportkapazitäten. Zum trüben Gesamtbild trägt noch bei, dass die Profite aus Tunesien abfließen, die Jobs in der Kabel- oder Spielzeugfertigung mies bezahlt sind und keinesfalls zu den qualitativ hochwertigen Beschäftigungen mit Perspektive zählen. Know-how und Gewinne verbleiben in der Bundesrepublik, aber der „Reformpartner“ (Müller) hat für die günstigen Rahmenbedingungen des operativen Geschäfts zu sorgen.


Da es in Tunesien inzwischen wieder zu sozialen Protesten kommt, hat die deutsche Exportwirtschaft in enger Zusammenarbeit mit der Berliner Regierung auch gleich das geeignete Gegenmittel parat: Sie liefert Rüstungsgüter, darunter die weltweit beliebten Sturmgewehre von Heckler & Koch, an die tunesische Polizei, die wiederum von deutschen Sicherheitskräften trainiert wird.


Auch ein anderer Reformpartner kann ein Lied singen vom Segen des EPA-Abkommens mit der EU: Zwar ist Ghana einer der großen Ananas-Produzenten Afrikas, wer aber Ananassaft in einem Supermarkt in Accra kaufen will, muss zu einer Dose des österreichischen Konzerns Rauch, die in Ungarn befüllt wurde, greifen. Die hehren Termini Freihandel und Partnerschaft waren für die EU-Wirtschaft Umschreibungen für die Chance, die westafrikanische Getränkeindustrie plattzumachen.


Natürlich gebärden sich Juncker, Merkel oder Macron weniger chauvinistisch und grobschlächtig als der krankhafte Egomane im Weißen Haus und geben sich konzilianter, doch es bleibt die Frage, ob die diskreten kleinen Handelskriege, die sie im Namen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit initiieren, sich auf Dauer nicht verheerender für die Menschen in ökonomisch schwachen Staaten auswirken als die maulstarken Showdowns des blondierten Kontrahenten im nordamerikanischen Bruderstaat.

03/2018

Dazu auch:

Die Erpressung im Archiv dieser Rubrik

            

  


Wieder was geschafft


Neuen Vereinbarungen und Gesetzen auf nationaler wie internationaler Ebene begegnet man zunächst einmal mit Misstrauen – zu häufig sind sie auf die Partikularinteressen der Märkte abgestimmt. Doch mit der Selbstverpflichtung zur Inklusion schienen UNO und EU-Staaten tatsächlich etwas Gutes angestoßen zu haben: Weg von der als Integration getarnten Assimilationspflicht für Minderheiten, hin zum Recht einer jeden Person, sich unter Einbeziehung ihrer ethnischen und sozialen Genese oder ihrer geistigen wie körperlichen Möglichkeiten voll zu entfalten. Was sich aber in der deutschen Praxis abspielt, wie vollmundig sich die politisch Verantwortlichen zu der neuen Aufgabe bekannten, nur um gleich darauf die Fachkräfte allein und ohne Mittel zu lassen und schließlich die Decke des Schweigens über das Desaster zu breiten, ist wieder einmal die Chronik eines angekündigten Scheiterns.

 

Das Versagen aussetzen?


Einige Sequenzen eines Interviews, das die WELT mit dem Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, führte, schafften es bis in die Rundfunknachrichten. Nur für kurze Zeit natürlich, wird das Thema an sich im ökonomistisch und tagespolitisch dominierten Medienspektrum doch als zweit- bis drittrangig eingestuft, tauglich allenfalls als Lückenbüßer zwischen zwei Konfliktreports oder Crash-Personalien. „Was wir jetzt brauchen, ist ein Moratorium bei der Inklusion“, sagte der Ober-Pädagoge und fordert eine Bestandsaufnahme dessen, was funktioniere und was nicht laufe.


Nun sind Vorbehalte von Lehrern gegen die Inklusion, die eine gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung postuliert, mit Vorsicht zu genießen, zu sehr fürchten manche Schulmeister das Unbekannte, die fachliche Überforderung oder schlicht die Mehrarbeit. Auch glauben sie, das Leistungsniveau in den Klassen nicht halten zu können, wenn Schüler mit geistigen Defiziten oder Sinneseinschränkungen dem Unterricht folgen sollen. Auch Meidinger greift diese Bedenken auf und kommuniziert sie im typischen Tonfall des um die Pisa-Ergebnisse besorgten Bildungsbürgers mit Faible für messbares Oberflächenwissen: „Wenn die Leistungsheterogenität eine gewisse Schwelle überschreitet, dann stellt sie nicht nur das Lehrpersonal vor Herausforderungen – sondern gefährdet mit Sicherheit den Lernfortschritt aller.“


Leider kein Wort darüber, dass soziales Lernen, Empathie und Interesse für die anders ausgeprägte Persönlichkeit eines Klassenkameraden zum Bildungskanon gehören sollten, dass – wie die Erfahrungen in fortschrittlicheren Ländern belegen – starke Schüler davon profitieren, dass sie Kindern mit Handicaps beim Begreifen helfen, weil sie sozusagen durch solidarisches Lehren selbst lernen, dass die Leistungen der „normalen“ Pennäler so eher besser als schlechter werden.


Immerhin betont Meidinger aber in dem WELT-Interview, er sei „ein absoluter Anhänger der Inklusion“, und wenn er die Versäumnisse des Systems benennt, macht das durchaus Sinn: „Man wird dann zu dem Schluss kommen, dass es ohne massive zusätzliche Finanzmittel nicht gehen wird. Im Endeffekt braucht jede Klasse, die Inklusionsschüler hat, eine Zweitlehrkraft.“ Korrekt ist auch seine Kritik an der gängigen Praxis, wenn er feststellt, „…aber in vielen Bundesländern haben wir den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht, also Förderschulen geschlossen, ohne die Regelschulen auf Inklusion vorzubereiten.“


Inklusion wäre eine sinnvolles Anliegen gewesen (und ist es noch), doch schon früh zeigte sich, dass ein geistiger Aufbruch, der mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Ex-Außenminister Steinmeier, Ex-Bundespräsident Köhler und die ewige Kanzlerin beschlossen schien, in den endlosen Untiefen ignoranter Passivität versanden würde, dass schon damals im geistigen Repertoire wortgewaltiger, aber untätiger Bildungspolitiker des Bundes und in den Ländern jene folgenlose Aktionsrhetorik verankert war, die später Angela Merkel während der "Flüchtlingswelle" mit den Worten „Wir schaffen das!“ perfektionieren sollte.


Ein Funken Humanität


Innerhalb einer rigoros auf die Interessen der Wirtschaft abgerichteten Gesellschaft ist der Gedanke, Angehörige von Minderheiten - ob ethnischer, sozialer, kultureller Ausprägung oder durch psychische bzw. physische Einschränkungen/Besonderheiten gekennzeichnet - in ihrem Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensgestaltung der Bevölkerungsmehrheit zwingend gleichzustellen, einer jener seltenen Funken von Humanität, die eine positive Veränderung der sozialen Umwelt möglich erscheinen lassen.

An welchem Begegnungs- und Tätigkeitsort aber wäre die Einführung der Inklusion wohl wünschenswerter, praktikabler und obligatorischer als in der Schule? 


Im Wesentlichen sind es drei Gruppen, die hier in einer jede Diskriminierung und Aussiebung a priori vermeidenden Atmosphäre und im bestärkten Bewusstsein der eigenen Gleichwertigkeit sowie unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Förderbedarfs stressfrei lernen könnten: auffällige Schüler aus sozial schwachen Elternhäusern, Kinder mit Migrations- oder Fluchthintergrund und solche mit körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderungen.


Da gab es anfangs keinen Kultusminister, der nicht eilfertig Lippenbekenntnisse bezüglich der Bereitschaft seines Bundeslandes zum Vollzug inklusiver Maßnahmen abgesondert hätte, da wurden Modellprojekte den Medien und der Fachöffentlichkeit vorgeführt – und da versäumte man es flächendeckend, die finanziellen und personellen Voraussetzungen für eine wegweisende Pädagogik zu schaffen. Das Ergebnis war ein Desaster, über das die Bildungspolitiker nun wiederum nicht so gerne sprechen.


Was bereits 2007 Dieter Katzenbach und Joachim Schroeder als Fazit einer staatenvergleichenden Studie festgestellt hatten, gilt bis heute: „Deutschland entwickelt sich trotz der zaghaften Versuche in Richtung Gemeinsamer Unterricht gegen den internationalen Trend und gegen politische Willenserklärungen weiter in Richtung separierender Maßnahmen.“ Nur Belgien und die Schweiz schoben damals in Europa mehr benachteiligte Schüler in Sonder- bzw. Förderschulen ab. Im Gegensatz etwa zu den skandinavischen Ländern wurde die Unterschicht-Spreu so früh wie möglich vom gutsituierten, bereits durch das Elternhaus kultivierten Weizen getrennt, eine Auslese, die Millionen von Kindern den Weg in die Niederungen der eintönigsten und prekärsten Erwerbsarbeit vorzeichnete.


Gerade erst ist eine weitere Studie mit dem bezeichnenden Titel „Schule als Sackgasse. Jugendliche Flüchtlinge an segregierten Schulen“ erschienen, die belegt, dass die Kultuspolitik höchst effizient gegen die Inklusion arbeitet, indem sie minderjährige Gestrandete en masse in Problemschulen mit hohem Migrantenanteil abschiebt und sie so weitgehend von den deutschen Buben und Mädchen fernhält. Für viele Flüchtlingskinder hat man inzwischen einen besonders perfiden Weg der Exklusion gefunden. Man holt sie aus den Regelklassen, untersagt ihnen den weiteren Besuch öffentlicher Schulen und steckt die oft prächtig im Unterricht Zurechtkommenden stattdessen in Deutsch- und Integrationskurse für neu angekommene Asylbewerber.


Auf ganz andere Weise entlarvend ist der Umgang mit dem die behinderten Schüler betreffenden Inklusionsgebot. Hier witterte anfangs so mancher Landespolitiker eine Chance zur Kosteneinsparung und gibt heute vor, den Scherbenhaufen, vor dem er direkt steht, nicht zu sehen.

          

Es geht, aber man muss es wollen


Vor genau fünf Jahren habe ich in dieser Rubrik vor den falschen Versprechungen der bayerischen Landesregierung gewarnt, die für ihr Hoheitsgebiet die Inklusion behinderter Kinder als quasi vollbracht feierte. Ausgerechnet der Freistaat, der selbst in der Integration (etwa der Eingliederung beeinträchtigter Bewerber in den öffentlichen Dienst, bei der man den letzten Platz unter den Bundesländern belegte) krachend versagte, wollte diese wesentlich anspruchsvollere Aufgabe glanzvoll bewältigt haben.


Nach ein paar Festakten und Pressekonferenzen war der Lack ab. Kultusminister Ludwig Spaenle hatte zwar kein Konzept, aber stolz die ersten 41 „Inklusionsschulen“ präsentiert, doch nur zehn von ihnen mit den Mitteln für die zwingend benötigten „Tandems“ aus Lehrern und Sonderpädagogen ausgestattet. Mittlerweile haben bereits einige engagierte und verantwortungsvolle Rektoren den Ehrentitel ohne Wert „Inklusionsschule“, zurückgegeben, nachdem sie aus dem Ministerium erfuhren, dass es nicht mehr Stellen geben werde. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Kultusbürokratie davon ausgegangen war, Gelder durch die Schließung von Förderschulen für behinderte Kinder einsparen zu können, doch werden etliche dieser Institutionen, etwa im Gehörlosenbereich, auch in absehbarer Zukunft nicht überflüssig, während andere nur bei gelungener Inklusion verzichtbar würden.


Tatsächlich sind für einen tatsächlichen Einschluss gehandicapter Schüler (also nicht den Etikettenschwindel à la Bayern) aber mehr Mittel, mehr Vorbereitung, mehr Personal und eine spezifische wissenschaftliche Evaluation unabdingbar. Zu den Grundvoraussetzungen der Inklusion würden u. a. zählen:


- Reduzierung der Klassenstärken (was allen Schülern zugutekäme)

  Die Kooperation von Lehrern und Sonderpädagogen sowie ggf.

  Sozialpädagogen

- Schulungen der Lehrer hinsichtlich verschiedener Behinderungsarten

  sowie spezifischer Unterrichts- und Vermittlungsmethoden

- Arbeit mit den Eltern (vor allem der „normalen“ Schüler), denn die

  Ausgrenzung körperlich oder geistig beeinträchtigter Klassenkameraden

  entspringt nicht Kinderhirnen, sondern elterlichen Vorurteilen.


All das und noch viel mehr haben Bayerns Chefstrategen natürlich nicht bedacht, sie wollten aus PR-Gründen nur den schnellen Vollzug melden – und lassen die latente Pleite nun im öffentlichen Desinteresse an soziokulturellen Themen verschwinden. Doch viel besser als im Süden der Republik sieht es auch in anderen Bundesländern nicht aus. Bildung, Privileg und Separation sind nun mal Begriffe, die sowohl im konservativen als auch im neoliberalen Denken schlichtweg zusammengehören.

          

Nichts tun, aber gut darüber sprechen


In der bundesdeutschen Politik nickte man also unter hehren Bekundungen wieder einmal ein humanitäres Vorhaben ab, um den guten Worten keinerlei gute Taten folgen zu lassen. Die Aufregung der Opposition darob hielt sich in Grenzen, lässt sich doch in einem Staat, dessen Rechtsvorgänger unter überwiegendem Stillschweigen der Bevölkerung den Begriff des unwerten Lebens eingeführt hatte, mit dem Einsatz für behinderte Menschen anscheinend auch heute noch kein Blumentopf gewinnen, zumal das Thema von vielen Medien außerhalb der Vorweihnachtszeit mit ihren Rühr- und Spendengeschichten weitgehend ignoriert wird. Für eine Öffnung der Gesellschaft, die Mitteleinsatz und Engagement erfordert, existiert nun mal keine Lobby, schließlich kann man damit – im Gegensatz zu den eher klandestinen Machenschaften der Automobilindustrie oder Pharmabranche – kein großes Geld verdienen; und Minderheitenrechte werden ja auch nicht an der Börse gehandelt.


Die UN-Konvention, das einst veritable Inklusionsansätze enthaltende Sozialgesetzbuch IX, die Erfahrungen progressiverer Länder und die eigentlich aufrüttelnden Forschungsergebnisse landeten also allesamt in den Ablagen oder Papierkörben von Bürokraten, die hilflose Lehrkräfte ohne Rückhalt und fachliche Vorbereitung an den Fassaden Potemkinscher Dörfer, die allein als Glamour-Kulissen für die Politik gedacht waren,  herumpfuschen ließen. Das Verb „schaffen“ kann mit der winzigen Vorsilbe „ab“ ins negative Gegenteil verkehrt werden, und im Volksmund bedeutet die Feststellung „Ich bin geschafft“, dass man fix und fertig, somit ausgelaugt, ist, und nicht, dass man etwas bewerkstelligt hat…

3/2018

Dazu auch:

Inklusionslügen im Archiv dieser Rubrik

     

 


 

                                   

Überall Wiedertäufer


In Zeiten, da ganze Regierungen, Bündnisse und Parteien der Charakterlosigkeit und des Opportunismus geziehen werden, nur weil sie Glaubenssätze verleugnen, die sie zuvor für sakrosankt erklärt hatten (und das, ohne bevor ein Hahn gekräht hätte), haben findige Leute herausgefunden, wie man sein Gesicht wahren kann, auch wenn man es ins Genick gedreht trägt: Man gibt den brisanten Sujets, umstrittenen Personen oder dubiosen Gruppen einfach neue Namen, und schon lassen sich Inhalte anpassen und Meinungen ohne Ansehensverlust ändern. Was die GroKo-Unterhändler derzeit praktizieren, ist in den Allianzen der anständigen Staaten schon längst gang und gäbe.


Die erste Taufe gilt nicht


Als Wiedertäufer bezeichnete man im 16. Jahrhundert Protestanten, die Luthers Reformationsthesen um soziale Komponenten erweitern und gleichzeitig eine puristische Glaubenslehre implementieren wollten. Die Ur-Paten heutiger Evangelikalen-Sekten, die in Münster kurzzeitig einen Gottesstaat (oder eher ein Gottesstädtchen) errichteten, waren völlig zu Recht der Meinung, dass es nichts bringt, wehrlose Babys nach irgendwelchen Heiligen zu taufen, sie tunkten die früh Begossenen deshalb lieber in reiferem Alter nochmals ins Wasser – in der wirren Annahme, dass solcherart verliehene Namen himmlischen Segen eintrügen.


Heutzutage sind es vor allem Politiker, die, frei von jeglichem religiösen Fanatismus, allerlei Objekte neu taufen, Eigenschaften umbenennen oder der ursprünglichen Bedeutung entgegengesetzte Benennungen für unbequeme Tatsachen erfinden, in der Hoffnung auf den Segen des Volkes, das sich an die früheren Namen und Definitionen nicht mehr erinnern kann. Die SPD findet nach ihrer Niederlagenserie in den Koalitionsverhandlungen für ziemlich viele Substantive und Adjektive neue (Reziprok-)Bezeichnungen: So wird aus einer klaren Übervorteilung durch die Unionsunterhändler ein „schönes Ergebnis“, und die Preisgabe der wesentlichen eigenen Forderungen auf ganzer Linie kommt als „Durchsetzung wichtiger Inhalte“ daher.


Und selbstredend darf man auch einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen und – damit verbunden – der Aussetzung des Familiennachzugs zustimmen, wenn man die Obergrenze nicht mehr Obergrenze, sondern Spanne, Kontingent oder Bremse nennt. Effizienter als die Genossen beherrscht allerdings CDU-Innenexperte Stephan Mayer die Klaviatur der inhumanen Euphemismen: Er taufte die weitestgehende Grenzschließung für Verzweifelte etwas kryptisch auf Atmender Deckel. Doch die für die Berliner Flüchtlings- und Außenpolitik typische Neigung zur Verharmlosung der Beihilfe zu Tod und Elend lässt sich, praktisch realisiert, auch im fernen Afrika konstatieren.


Die Wandlung der Sklavenhändler


In einer gelungenen Großaktion vor sechs Jahren half die NATO, die Staatlichkeit Libyens vollständig zu zerstören. Das Land wurde anschließend marodierenden Kriegsherren und islamistischen Fanatikern überlassen. Zwar existiert eine von der UNO anerkannte Regierung, aber sie existiert eben lediglich für die Vereinten Nationen. Tatsächlich hat sie nur in wenigen Gegenden das Sagen, doch auch dort gibt es de facto weder eine funktionierende Verwaltung noch eine Exekutive, die einigermaßen für Sicherheit sorgen könnte.


Nun vegetieren in dem libyschen Chaos bis zu 900.000 Flüchtlinge, die Mehrzahl aus den Staaten südlich der Sahelzone, mittlerweile aber auch Menschen aus Pakistan, dem Jemen und Bangladesch darunter, denen andere Routen nach Europa versperrt worden waren. Diese Elendsmigranten werden gewöhnlich von Milizionären, Banditen, Piraten und Schleusern beraubt, inhaftiert, zu Zwangsarbeit oder Prostitution gezwungen und nicht selten umgebracht. Etliche werden auf maroden Seelenverkäufern zusammengepfercht und gen Italien geschippert; viele von ihnen ertrinken – meist, ohne Spuren oder Namen zu hinterlassen, manchmal aber doch vor europäischen Augen.


Das gefällt nun den Regierenden der Länder nördlich des Mittelmeers überhaupt nicht. Die EU ist bedenkenlos in der Verfolgung ihrer Ziele und in der Wahl ihrer Mittel, aber sensibel in ihrer Selbstdarstellung. Statt mehr Flüchtlinge aufzunehmen, schuf sie eine Institution, die nur als Fiktion für Medien und Placebo für besorgte Gutmenschen gedacht ist, aber per Namensgebung  eigentlich die Umwidmung des Bocks zum Gärtner, oder besser: des Wolfs zum Hirten, vornimmt. All die Mörder, Sklavenhalter, Erpresser, Vergewaltiger und Warlords, die bislang Flüchtlinge ausnahmen oder massakrierten, werden im Sammelbegriff nun zur „libyschen Küstenwache“ erklärt. Mit einer Bande, die diesen offiziellen Namen führt, kann man darüber verhandeln, wie Europa vor Hilfesuchenden zu schützen sei, koste es, was es wolle, im Notfall auch Menschenleben. Hauptsache, die Form stimmt, wenn schon der Inhalt faul ist, und es wird nicht zu viel Aufmerksamkeit erregt und Empathie geschürt in Europa.


Hunderttausende hilfloser Menschen werden Gangstern und Söldnern überantwortet, allerdings erst, nachdem man diese durch neue Namensgebung salonfähig gemacht hat. Wer glaubt, damit sei der Gipfel westeuropäischer Perfidie erreicht, sollte sich einen anderen Etikettenschwindel zum Behuf des Flüchtlingsstopps näher ansehen, den Berlin und die EU in unübertrefflicher Skrupellosigkeit und Menschenverachtung in Szene gesetzt haben.

            

Das sudanesische Wunder


In der Region Darfur im Westen des Sudan brach 2003 ein Bürgerkrieg aus, in dem Rebellen, die mehr Mitbestimmung und materielle Unterstützung für die schwarzafrikanischen Völker forderten, gegen die Zentralregierung in Khartum kämpften. Präsident Omar al Bashir setzte arabische Reiter-Milizen, die sich als Janjawid (etwa: Dämonenreiter) einen Schreckensnamen machten, gegen die Aufständischen ein. Es kam zu zahllosen Massakern an der Zivilbevölkerung, und bereits Anfang 2008 gingen die UN von 300.000 (mehrheitlich zivilen) Opfern aus: eine Zahl, die sich nach Schätzung von Experten bis heute verdoppelt haben dürfte.


Menschenrechtsorganisationen sprachen von Völkermord, die USA reihten den Sudan unter die Schurkenstaaten ein, NATO und EU versuchten, das Regime in Khartum zu stürzen. Die Bundesrepublik bewog den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, einen Haftbefehl gegen Al Bashir zu erlassen. Dies alles geschah, bevor Hundertausende von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegs- und Elendsstaaten Ostafrikas sich auf den langen Marsch in Richtung Europa machten und etliche von ihnen dabei den Sudan durchquerten…


Inzwischen sieht die regionale Situation ganz anders aus: Gegen Omar al Bashir besteht zwar immer noch ein internationaler Haftbefehl (den etliche Länder allerdings offensiv ignorieren), doch er ist weiterhin der starke Mann in Khartum – und er hat sich dem Westen angenähert. Sein gefürchteter Geheimdienst arbeitet mittlerweile mit der CIA zusammen, und als Bollwerk gegen die „Flüchtlingsflut“ ist sein Regime inzwischen hofierter Partner der EU. Zudem nimmt der Sudan an der Seite der saudi-arabischen NATO-Lieblinge am Vernichtungskrieg im Jemen teil: Al Bashir ist jetzt unser Mann.


Seit 2014 beraten in der EU – Horn of Africa Migration Route Initiative, gern als Khartum-Prozess abgekürzt, alle EU-Mitglieder, dazu noch Norwegen und die Schweiz, mit elf afrikanischen Staaten, wie die Flüchtlingsströme nach Norden zu stoppen sind. Erlaubt scheinen dabei alle Maßnahmen zu sein. In der Steuerungsgruppe, der jeweils fünf Staaten jedes Kontinents angehören sitzen Deutschland und der Sudan einträchtig beim bösen Planspiel nebeneinander.

   

In Darfur wird zwar immer noch gemordet, doch wenigstens hat die Terror-Miliz Janjawid mittlerweile einen anderen Namen angenommen und sichert nun als RSF (Rapid Support Forces) die Außengrenzen des Sudan. Diese neue „Migrationspolizei“ hält Flüchtlinge auf, kassiert sie ab, deportiert sie in ihre Heimatländer oder verfrachtet sie in Camps, die den Konzentrationslagern in Libyen ähneln, wie die auf Menschenrechte fokussierte internationale Presseagentur INRI NEWS berichtet. Von der EU erhielt der Sudan bislang mehr als 200 Millionen Dollar für seinen Türsteher-Job. 


Zwar behauptet Brüssel, die Mittel dienten dazu, die Flüchtlinge zu schützen, doch rechnete die Hilfsorganisation Oxfam vor, dass ganze drei Prozent dieser nach Ostafrika fließenden Gelder tatsächlich für Schutzmaßnahmen verwendet würden, der große Rest ginge für militärische Aufrüstung der Grenzposten, politische Lobby-Arbeit, die Migrantenkontrolle und  -identifizierung sowie Anti-Flüchtlings-PR drauf.


Auch die dem deutschen Entwicklungshilfeministerium unterstellte Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GiZ) ist im Sudam tätig, um „Flüchtlinge zu schützen“, scheint aber mit Blindheit geschlagen und problemlos mit vom Regime arrangierten Lagervisiten ruhigzustellen. Projektleiter Martin Weiß wiegelte gegenüber IRIN NEWS ab, er sei nicht der Auffassung, dass staatliche Übergriffe gegen Migranten im Sudan „ein großes Risiko“ darstellten. Schließlich entsende die EU regelmäßig Kontrollpersonal in das Land. IRIN weist darauf hin, dass die Sicherheitsbehörden in Khartum diese Besuche intensiv kontrollieren und Polizisten sowie Geheimdienstmitarbeiter alle Gespräche mit Flüchtlingen lückenlos mitprotokollieren.


Mit anderen Worten: Wir sollen (oder wollen?) in Europa gar nicht wissen, wie Menschen, denen wir durch unsere Handelspolitik die Existenzgrundlage geraubt haben, auf ihrem Marsch nach Norden gestoppt werden, wohin sie verschwinden und wo sie möglicherweise verscharrt werden. Hauptsache, sie werden aufgehalten – und wenn wir dazu das Know-how und die Ausrüstung liefern müssen, dann tun wir es. Wirklich widerlich aber ist dabei, wie zynisch unsere politisch Verantwortlichen in Brüssel und Berlin ihre Abschottungsdeals und Herrschaftsambitionen umtaufen, um dann den Begriff Menschenrechte gern und oft in den Mund nehmen zu können.

02/2018

Dazu auch:

Vorsicht: Hilfe! im Archiv dieser Rubrik

Fata Morgana Libyen im Archiv der Rubrik Medien

   

        

 

                          

 



Blut, Boden, Reisepass


Der katalanische Unabhängigkeitsdrang der Bessergestellten, von der starren Haltung des spanischen Ministerpräsidenten Rajoy noch befeuert, hat in Europa Begehrlichkeiten geweckt und altvordere Chauvinisten auf den Plan gerufen. Zu den dubiosesten Mikro-Nationalismen gehört der Südtiroler Separatismus, dem nun von der österreichischen Rechtsaußen-Regierung wieder ein Wachtrunk gereicht wurde, nachdem er in der Rumpelkammer der Geschichte entschlafen zu sein schien.


Arrangements nach Habsburg


Nach den beiden Weltkriegen wurden im vergangenen Jahrhundert nicht nur im Nahen Osten oder in Vorderindien Grenzen mit dem Lineal bzw. gemäß den vorherrschenden Machtinteressen gezogen; auch in Europa fand sich manche Volksgruppe unversehens in einer Nachbarnation wieder, eine damals übliche globale Disposition, die heute in Frage zu stellen eine Unzahl von Kriegen auslösen würde. Das Habsburger Großreich wurde nach der Niederlage an der Seite Deutschlands 1918 zerschlagen, Österreich zu einem Kleinstaat eingedampft und Südtirol im Friedenvertrag 1919 Italien zugeschlagen – geographisch sinnvoll, von der Bevölkerungsstruktur her eher fragwürdig.


Etliche Jahrzehnte hindurch lebte die überwiegend deutschsprachige Bevölkerung mehr schlecht als recht unter römischer Oberverwaltung, wurde unter Mussolini nicht sehr nett behandelt, konnte aber ihre Sprache sowie ihre Traditionen pflegen und weitgehend über den Landbesitz verfügen. Nicht einmal der größtdeutsche Österreicher Adolf Hitler mochte an diesem modus vivendi etwas ändern, zumal er die verbündeten italienischen Faschisten nicht reizen wollte. Angesichts dieser unüblichen Zurückhaltung wunderte ich mich schon, als mir noch zu Beginn der 1970er Jahre Südtiroler Sezessionisten erzählten, sie optierten nicht für einen Anschluss an den mickrigen „Operettenstaat“ Austria, sondern fühlten sich als „Reichsdeutsche“.


Als unlängst die neue Regierung in Wien ankündigte, sie wolle die deutschsprachige Mehrheit, gut 60 Prozent der 520.000 Südtiroler (dazu noch die vornehmlich in den Dolomiten beheimatete etwa vier Prozent stellende ladinische Minderheit) auf Wunsch mit österreichischen Pässen ausstatten, fachte sie in der allerorten von separatistischen Umtrieben geplagten EU ohne Not ein Feuer neu an, das in den letzten Jahrzehnten bis auf wenige Glutreste niedergebrannt war. Die Zeiten hatten sich nämlich ganz im Sinne der Südtiroler geändert, und es bedurfte schon der auswärtigen Schützenhilfe durch eine revanchistische Partei wie die FPÖ, um die verhängnisvolle Blut- und Boden-Ideologie südlich des Brenners wieder aufleben zu lassen. Bundeskanzler Sebastian Kurz, Autokrat seiner Neuen Volkspartei (früher ÖVP), ist zwar ein Opportunist, der jedes Schneebrett lostritt, wenn er damit nur Stimmen gewinnen kann, als treibende Kraft hinter dem gefährlichen Vorstoß aber steht Heinz-Christian Strache, Vorsitzender der rechtsradikalen Liberalen in Wien, ein Mann mit einer Vergangenheit, die ihn für künftige nationalistische Provokationen geradezu prädestiniert.

   

Alte und neue Südtiroler Leitkultur


Noch vor gut vierzig Jahren sah man eine recht arme und rückständige Region, wenn man nach Bolzano-Alto Adige/Bozen-Südtirol reiste und nicht nur mit strandtouristischen Scheuklappen die kürzeste Route zwischen dem Brenner und Rimini durch dieses Gebiet nahm. In den abgelegenen Bergorten um Brixen etwa fehlte es oft noch an Elektrizität, im Winter, den viele Dörfler größtenteils auf den Holzbänken um die riesigen Kachelöfen verbrachten, musste der Pfad zum Plumpsklo mit der Schneeschaufel gebahnt werden. Obwohl schon damals in den Tälern ein eher bescheidener Zulauf an Ski- und Wandertouristen zu verzeichnen war, bildeten Wiener Schnitzel und Selchkarree (gepökeltes Schweinefleisch) mit Kraut und Erdäpfeln die kulinarischen Höhepunkte der einheimischen Gastronomie.


Die allgemeine Unzufriedenheit der deutschsprachigen Bevölkerung mit der ökonomischen Situation wollten in den 1950er und 60er Jahren rechtsradikale Burschenschaftler sowie Alt-Nazis ausnützen und begannen, mit diskreter Rückendeckung aus Österreich und der Bundesrepublik (etwa von Franz Josef Strauß) die Provinz zu destabilisieren. In ihrer „Glanzzeit“ töteten sie italienische Polizisten und Gebirgsjäger und verübten Anschläge auf Versorgungsinstallationen, was ihnen den Beinamen „Mastenbomber“ eintrug. Die Reaktionen der verunsicherten und verängstigten Alpini und Carabinieri fielen erwartungsgemäß hart und bisweilen unverhältnismäßig aus.


Als geistiger Urheber der Gewalttaten fungierte der Unternehmensberater Norbert Burger (Dissertation an der Uni Innsbruck: „Die italienische Unterwanderung Deutsch-Südtirols“), der dem SPIEGEL 1967 auf die Frage, ob er glaube, dass Attentate Südtirol nützten, erklärte: „Jawohl, das glaube ich. Sie sind heute notwendiger denn je.“  Zu den Terroristen, die damals verurteilt wurden, gehörte Burgers Weggefährte Rudolf Watschinger, dessen Sohn 1994 den „Gesamttiroler Freiheitskommers“ organisierte und nun den Gesetzesentwurf zu den Pässen, der jetzt zwangsläufig zu Spannungen zwischen Austria und Italien führen wird, mit verfasste. Für den ganz großen Brückenschlag zwischen der Neonazi-Bewegung in Deutschland und den Südtiroler Mastenbombern sorgte wiederum FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, neuerdings Minister für öffentlichen Dienst und Sport in Wien: Bei der Wiking-Jugend war er stets gern gesehener Gast, und 1992 wohnte der inzwischen zum Vizekanzler Aufgestiegene der Beerdigung des Terror-Paten Norbert Burger bei.


Doch bereits 1972 hatte das politische und soziale Geschehen in Italien den ethno-nationalistischen Ungeist und seine Protagonisten überrollt, und zwar endgültig, wie man glaubte: In diesem Jahr wurde der Südtiroler Provinz ein so weitgehender Autonomie-Status zugebilligt, wie ihn kaum eine Region in ganz Europa innehat. Zudem investierte der chronisch klamme italienische Staat erstaunlich großzügig in die Infrastruktur am Südhang der Alpen, um Versäumnisse der Vergangenheit zu korrigieren. Neue Straßen wurden gebaut, Elektrifizierung und Kanalisation erreichten bald den letzten Weiler, moderne Schulen entstanden, der öffentliche Nahverkehr erreichte einen Standard und eine Taktung, von der ländliche Gebiete in Deutschland nur träumen dürfen. Der Tourismus boomte, eine kleine, aber feine Industrie siedelte sich an, die schäbigsten Hütten mit ein paar Wiesen davor waren in der nun begehrten Idylle Millionen wert, kurz: Viele Menschen wurden reich, etliche fanden ein solides Auskommen, und Südtirol gehörte plötzlich zu den wohlhabendsten Regionen in Italien (und Europa).


Am verblüffendsten aber war der Wandel im sozio-kulturellen Umfeld, in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die früher italophoben Deutschsprachler begrüßten sich unversehens mit Buongiorno! und Ciao und dankten mit mille grazie, es entstand eine exquisite Mischküche, die regionale Produkte vom Milchlamm über Kastanien bis zu Steinpilzen mit mediterranen Gewürzen, handgefertigter Pasta, Polenta und erlesenen Saucen kombinierte. Die einst als stur und verschroben denunzierten Bewohner der Provinz begannen, einen Hang zu südländischem Savoir-vivre zu entwickeln. Und die Südtiroler Volkspartei, lange Jahrzehnte so etwas wie die Hyper-CSU an der Etsch, stand den römischen Parteien in puncto Vetternwirtschaft und Unterschleif bald in nichts mehr nach. Insgesamt keine guten Voraussetzungen mehr für kleinkarierten Lokal-Nationalismus, sollte man meinen. Von wegen.

              

Die Erben der Mastenbomber


Der deutschsprachigen Bevölkerung Norditaliens geht es also vergleichsweise gut, ihr Idiom, ihre kulturelle Identität und ihr wirtschaftlicher Status sind nicht bedroht, und ihre gestalterische Autonomie gilt in Europa als vorbildlich. Nicht zuletzt um kritische Traditionalisten zu besänftigen, hatte der italienische Staat aus der Südtiroler Provinz eine Modellregion für das Zusammenleben unterschiedlicher Volksgruppen gemacht. Doch es ist wie in Bayern (unterschwellig) oder in Katalonien (radikal): Wenn in Europa prosperierende Landesteile von der Solidargemeinschaft um eine Kompensation für infrastrukturelle Vorleistungen gebeten werden, kennen sie kein Föderalsystem mehr und leiden plötzlich unter sozialer Amnesie. So kochte folgerichtig der Unmut im Land zwischen Bozen und Sterzing hoch, als aus Rom die Kunde kam, auch Alto Adige müsse zu den  Einsparungen beitragen und die Kürzungen des Staatshaushalts hinnehmen, welche die von Berlin beaufsichtigten Sparkommissare der EU den Italienern befohlen hatten.


Sofort entsannen sich die Ethno-Nostalgiker in Südtirol der 2009 propagierten Forderung völkischer Nationalisten in Österreich, für die deutschsprachige Volksgruppe sei deutsches Blutrecht anzuwenden. Die Südtiroler Volkspartei, die lange Zeit unangefochten vom Entgegenkommen Roms profitiert hatte, sprach sich plötzlich für die doppelte Staatsbürgerschaft aus, vielleicht auch, weil sie erstmals Konkurrenz aus der rechtsextremen Ecke verspürte, nämlich von der Süd-Tiroler Freiheit, einer Partei, die für die Abspaltung von Italien plädiert und eng mit Straches FPÖ und - als Mitglied der Dachorganisation European Free Alliance im EU-Parlament - auch mit den deutschen Grünen (!)  zusammenarbeitet. Vor dieser arg populistisch anmutenden Szenerie wirkt der Vorstoß der neuen Regierung in Wien wie ein besonders perfides und gefährliches Spiel um die Gunst der Rückwärtsgewandten beiderseits der Grenze.

      

Nun ist Österreich nicht allein auf weiter Flur bei dem Versuch, sich als Schutzmacht für alle, bei denen es einen Hauch von austro-nationaler Sprache, Abstammung oder Tradition wittert, aufzumandeln. Auch Italien gibt Ausweise an Bürger Sloweniens und Kroatiens mit lateinischen Wurzeln aus. Und Berlin hat bereits 240.000 deutschsprachige Bürger Polens mit bundesrepublikanischen Reisepässen beglückt (und das, obwohl sich bei der Volkszählung 2011 dort nur 148.000 Menschen als deutsche Volkszugehörige bezeichnet hatten!). Es beschleicht einen das Gefühl, die Überwindung des Nationalismus in der EU soll durch die Verleihung von gleich zwei Nationalitäten erreicht werden…


Richtig brisant wird die Situation aber, wenn solche Praktiken von erzreaktionären Kräften angewandt werden, um historische Grenzen in Frage zu stellen und den Blut-und-Boden-Wahn der Vergesslichen zu bedienen. Wenn etwa die Regierung in Budapest eine Million Bürger der Slowakei und Rumäniens, deren Ahnen dort vor Jahrhunderten aus der Puszta eingewandert waren, einbürgert und großungarische Gebietsansprüche anmeldet; oder wenn die nationalistische Koalition in Wien alte Ressentiments heraufbeschwört, mit denen sie altdeutsche Kampfhunde weckt!


Mit Recht fragte die Süddeutsche Zeitung, wie Kanzler Kurz und sein Vize Strache wohl reagieren würden, wenn Slowenien und Kroatien Pässe an die slawische Minderheit in Kärnten ausgeben und sich als deren Schutzmächte aufspielen würden.   

01/2018

Dazu auch:          

Gefährder aus Austria und Europa im freien Fall im Archiv dieser Rubrik




2017




Unwörter dieser Jahre


Die sogenannte Zeit zwischen den Jahren ist gekennzeichnet von Aufrufen, Ansprachen und Appellen diverser Staatsoberhäupter, geistlicher Würdenträger und Ökonomen. Oft tauchen Wörter und Begriffe in den Reden auf, die eigentlich positiv besetzt sind, sich bei näherem Hinsehen im politischen und sozialen Kontext aber als wahre Drohungen entpuppen. Die Bevölkerung möge sich nicht verunsichern lassen und der Zukunft tatkräftig und zuversichtlich entgegensehen, heißt es staatstragend immer wieder, dabei sollte sie angesichts von frohen Botschaften, die selektiv im Sinne einer bestimmten Gruppe von Meinungsbildnern für die Empfängermassen kreiert wurden, noch ein wenig beunruhigter sein als zuvor schon.


Des Optimismus dunkle Seite


Hoffnungsvoll sollen wir also ins nächste Jahr gehen, die dazu notwendigen Scheuklappen liefern uns die Wirtschaftsweisen, Staatsoberhäupter und Polit-Auguren gleich gratis mit, allen voran die Koryphäe von Washington. Zwar assoziieren wir Optimismus vorwiegend mit Esprit und Jugendlichkeit, doch ist der alte Mann im Weißen Haus nicht zu schlagen, wenn es darum geht, im großen Misthaufen die vergoldeten Pferdeäpfel auszumachen. Er verkörpert quasi die Definition von Optimismus im Wörterbuch des Teufels von Ambrose Bierce, derzufolge es sich um die Lehre oder den Glauben handelt, „dass alles gut sei, besonders das Schlechte; dass alles richtig sei, auch das Verkehrte“. Bierce nennt dies „eine intellektuelle Krankheit, die jeder Behandlung trotzt und die nur der Tod heilt“.


Wenn Trump die einst von Obama gestoppte Erdöl-Pipeline Keystone XL durch Naturschutzgebiete und den Indianern heiliges Land weiterbauen lässt, dann spricht er von „28.000 wunderbaren Jobs“, die entstehen, auch wenn das beauftragte Unternehmen nur 13.000 temporäre Arbeitsplätze sieht und nach der Inbetriebnahme ganze 50 langfristig zu besetzende Stellen übrigbleiben; dann kümmern die Gefahren für das Grundwasserreservoir ebenso wenig wie die Rechte der Ureinwohner. Dass Trump diese Minderheit nur beachtet, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, einen lockeren Witz über sie zu reißen, ist bekannt, ebenso, dass Umweltschutz ihm als unternehmensfeindlich gilt – und  die durch fossile Brennstoffe beschleunigte Klimaerwärmung ist für ihn ohnehin ein einziger Fake.


Donald Trump sieht nur die glänzende Legierung der gesamtgesellschaftlichen Medaille, eine Schicht, die in etwa so dünn ist, wie die nachhaltig von seiner Politik profitierende Clique von Oligarchen, Spekulanten und Investoren winzig. Die Meldungen vom Olymp des Kapitalismus überschlagen sich nach einem Jahr Trump: Die Wallstreet sonnt sich in ständig neuen Kursrekorden, die US-Wirtschaft boomt, und bald werden manche Mittelständler niedrigere Steuern zahlen – und ganz wenige Hyperreiche viel niedrigere. Da lassen sich die Kennzeichen der Bleimasse auf der dunklen Rückseite der Medaille leicht übersehen: todbringende Luftverschmutzung, versiegende Flüsse, Hoffnungslosigkeit von Menschen, die drei Jobs benötigen, um überleben zu können, dafür aber nun keine Krankenversicherung mehr haben, Migrantenkinder, die nur die USA kennen, jetzt aber in die ihnen fremden "Heimatländer" ausgewiesen werden, drohende Ölpest, hemmungslose Ausbeutung humaner und natürlicher Reserven bis zur endgültigen Erschöpfung etc.


Aber warum denn in die Ferne schweifen, liegt das Merkel-Land mit ähnlicher, wenn auch vorsichtiger servierter Politik doch beängstigend nahe: Da verkündet eine Bundesregierung in fröhlichem Optimismus, die Steuereinnahmen sprudelten wie nie zuvor und der Wirtschaft und damit der ganzen Republik gehe es super-gut. Nur eingefleischte Skeptiker werden angesichts solcher Frohbotschaften noch darauf verweisen, dass die Alters- und die Kinderarmut ständig wächst, dass die Mindestlöhne oft nicht zur Gründung einer Familie oder auch nur zur Anmietung einer winzigen Wohnung in München, Hamburg oder anderswo reichen, dass die prekären Beschäftigungsverhältnisse, handle es sich nun um stundenweise, befristete oder von rüden Zeitarbeitsfirmen angebotene Jobs, kontinuierlich zunehmen. Nein, richtig zufrieden dürften mit der Berliner Regierung eigentlich nur die rundum verwöhnten Automobil-, Rüstungs- und Chemiekonzerne sein.


Das sind dann Zeiten, in denen die vom Wähler abgestraften Genossen von der SPD plötzlich nach Veränderung und neuen Zielen rufen. Und schon nehmen Schulz und Konsorten das Zauberwort Aufbruch in den Mund, wobei sie in gnädiger Amnesie vergessen, dass der einzige nennenswerte Aufbruch der deutschen Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten der in die Umverteilung von unten nach oben per Agenda 2010 und Abschaffung der Vermögenssteuer unter dem großen Zampano Schröder war. Wenden wir uns doch besser dem Ausland zu.

    

Aufbruch allerorten! Aber wohin?


In Österreich setzt der altersjunge, aber leider geistig regressive Überflieger Sebastian Kurz, gerade zum Allmächtigen der notorisch korruptionsgeplagten ÖVP gekürt, zusammen mit der ebenso notorisch skandalumwitterten FPÖ, einer Partei, die einer unzüchtigen Beziehung der hiesigen FDP mit dem Austrofaschismus entsprungen sein könnte, zur Rolle rückwärts in die selige Zeit klarer Machtverhältnisse an: Gewerkschaftsfeinde, Fremdenhasser und Neoliberale möchten das Land zwischen Donau und Brenner wieder groß machen, vielleicht sogar größer, als es die EU erlaubt. Was anders konnte Kurz im Sinne haben, als er den deutschsprachigen Südtirolern, gehätschelten italienischen Bürgern, den österreichischen Pass anbot? Zwar nahm die Volkspartei in Alto Adige die Offerte dankbar an, schließlich kann man so den Welschen in Rom den Angstschweiß auf die Stirn treiben, die wirklich Rechten in Brixen, Meran und Bozen aber dürfte die Option kalt lassen. Die wollen nämlich nicht zu Austria, die sehnen sich nach Reichsdeutschland…


Einen Aufbruch in die Gewaltenreduzierung unternimmt derweil Kaczińskys PiS in Polen, indem sie die Judikative abschafft bzw. am Gängelband führt. Künftig spricht die Politik in Warschau nicht nur viel, laut und demagogisch, sondern auch Recht. Des Ungarn Orbans Start in die neue schöne Welt eines autoritären Regimes ist hingegen schon so weit abgeschlossen, dass er allenfalls noch die altvorderen Jobbik-Neuerer von noch intensiverer Brauntönung fürchten muss.

   

Wie schön, dass es in Frankreich einen jungen Messias gibt, der das Land so jovial aufbricht, dass sogar deutsche Sozialdemokraten wie sitzengelassene, aber noch hoffende alte Jungfern ins Schwärmen geraten. Im Grunde geht die Macronisierung Galliens nicht anders vonstatten als der gesellschaftspolitische Rückmarsch in Österreich oder in den USA, aber sie wirkt ungleich optimistischer. In der Sache allerdings gebärdet sich der zum französischen Staatspräsidenten gereifte Ex-Investmentbanker wie das Produkt einer Liaison des Grauens von Spezialdemokrat Gerhard Schröder mit der Radikal-Kapitalistin Margaret Thatcher. Wie der Deutsche schafft Emanuel Macron die Vermögenssteuer ab, hebelt das Arbeitsvertragsrecht aus und beginnt damit, das Rentensystem zu modifizieren; wie die Britin will er die Gewerkschaften kastrieren und das Streikrecht einschränken. Damit auch jeder die Selbstlosigkeit seiner Partei En Marche in ihrem Bemühen, die Wirtschaft zu deren vollster Zufriedenheit zu bedienen, erkennt, lässt er einen Gesetzestext zur Moral in der Politik ausarbeiten – von seinem Vertrauten und Justizminister, der gleich danach wegen der Verstrickung in eine Affäre aus dem Bilderbuch der Vetternwirtschaft zurücktreten muss!


Reformatoren als Plünderer


Solche Aufbrüche werden in der europäischen Politik meist flankiert von den Zauberformeln Reform bzw. Modernisierung des Arbeitsmarktes. Dies bedeutet nichts anderes als die Plünderung des ohnehin dürftigen Besitzstandes der Arbeitnehmer an rechtlichen Absicherungen und Ansprüchen auf  anständige Bezahlung sowie angemessene Beschäftigungsdauer.


Was man der eigenen Bevölkerung zumuten kann, das lässt sich verschärft auch den Schuldnerstaaten im Süden aufbürden, denken die Reformatoren in Berlin, Brüssel und neuerdings Paris. Und so fordern sie von der griechischen Regierung nicht nur die Entlassung von Staatsbediensteten oder die Kürzung der Renten, um die Geldverleiher und Spekulanten der Finanzwelt zufriedenzustellen, sondern auch die Veräußerung des öffentlichen Tafelsilbers, etwa von zukunftsfähigen Flughäfen an den deutschen Großbetreiber Fraport. Auch hierzulande wurde mit Hilfe der SPD die Privatisierungsmaschinerie bereits diskret angeworfen (siehe privaten Autobahnbau), in Staaten, die sich nicht wehren können, aber nehmen die EU-Granden mittlerweile die Ramschauktion gesellschaftlichen Eigentums selbst in die Hand.


Spanien oder Griechenland, rigide zum Gehorsam gezwungen, werden anschließend für Fortschritte gelobt, die u. a. eine stattliche Jugendarbeitslosigkeit und den teilweisen Zusammenbruch des Gesundheitssystems bedingen. Reformen sind hier keine Erneuerungen oder Verbesserungen, sondern Rückschritte in ein frühkapitalistisches Abhängigkeitssystem. Als Modernisierung geht ausschließlich eine Maßnahme durch, die den Markt in seiner Allmacht weiter festigt.


Den Staaten der Dritten Welt kann man nur raten, misstrauisch zu werden, wenn ihnen die EU ein faire Partnerschaft anbietet. Die Umwidmung afrikanischer Länder zu Abnehmern woanders unverkäuflicher Ware, zu Deponien für Sondermüll aus Europa oder zu Lieferanten, die jede Preisvorstellung des Abnehmers akzeptieren müssen, zeigt, dass Fairness in diesem Spiel nur dann existiert, wenn die Schäubles, Junckers und Macrons die Regeln festlegen und auch noch den Schiedsrichter stellen dürfen.


Sind es also lauter Lügen, die wir aus den Ministerien unserer Hauptstädte hören, verbreiten die Wirtschaftsredaktionen der Medien ausschließlich Fakes? Mitnichten. Es handelt sich vielmehr bei den zitierten Termini um Begrifflichkeiten, die unsereins mit dem Duden unter dem Arm noch klassisch linguistisch-semantisch versteht, während die Meinungs- und Wirtschaftsführer sie längst systemimmanent-marktkonform interpretieren. Bleibt uns angesichts dieser Sprachtrennung nur, mit Woody Guthrie zu fragen: „Which side are you on, boys?“ Die Girls seien bei dieser Erkundigung natürlich nicht ausgeschlossen.

12/2017

Dazu auch:

Der Markt ist blind in dieser Rubrik

Die EU im freien Fall im Archiv dieser Rubrik

Lechts und rinks in der Rubrik Medien    

 

 

  

                                                 

Die süße Mafia


Tötet Cola? Oder andersherum gefragt: Kann Verbrechen süß sein? Auf solch scheinbar absurde Fragestellungen kann man kommen, wenn man in den New York Times einen Artikel über die Praktiken der Softdrink-Industrie in Kolumbien und anderswo liest. Dass Coca Cola & Co. die Konsumgewohnheiten von vielen Millionen mittels massiven Werbeeinsatzes steuern und mit geballter Lobbyisten-Macht Regierungen von der Überprüfung späterer Gesundheitsschäden abhalten, gehört inzwischen zum gehobenen Allgemeinwissen. Dass aber Gegner der Sirup-Dealer durch Androhung physischer Gewalt und finanzieller Vernichtung mundtot gemacht werden, charakterisiert eine höhere Ebene krimineller Energie.


Krank machen darf man, kritisieren nicht


Dass auch in Europa und den USA der Einfluss der Limonaden-Giganten enorm ist, können Ärzte und Ernährungswissenschaftler bestätigen, die auf die gesundheitsschädlichen Folgen des Softdrink-Konsums hinweisen und restriktive staatliche Maßnahmen, etwa durch eine „Zucker-Steuer“ fordern, sich aber milliardenschweren Reklame-Kampagnen, die Glück durch den Strohhalm suggerieren, und einer mächtigen Lobby, die es versteht, die Politik zu umgarnen, zu beschwichtigen und zu lenken, gegenübersehen. In der Dritten Welt jedoch, wo der Freihandel so frei ist, ohne skrupulöse Euphemismen über Leichen zu gehen, kann Widerstand gegen die Allgegenwart des fett- und krankmachenden Seims gefährlich werden, wie das Beispiel Kolumbiens zeigt.


Unlängst berichteten die New York Times (NYT) über Anfeindungen und Zensurmaßnahmen, denen sich kolumbianische Verbraucherschützer, die für eine Steuer von 20 Prozent auf die süßen Sodagetränke geworben hatten, ausgesetzt sahen. Die Mitarbeiter von Educar Consumentes (Konsumenten erziehen) erhielten  Drohanrufe von Unbekannten, ihre Computer wurden gehackt, ihre Telefone abgehört und sie selbst beschattet. Dr. Esperanza Cerón, Vorsitzende der Organisation, wurde in ihrem PKW während der Rush Hour in Bogotá von zwei Motorradfahrern gestellt, die gegen die Autofenster schlugen und ihr eine eindeutige Botschaft zuschrien: „Wenn du dein Maul nicht hältst, weißt du, was die Konsequenzen sein werden.“


Diese Warnung würde überall ernstgenommen werden, in Kolumbien aber, einem Land, dessen latenter Bürgerkrieg, schlicht als La Violencia bekannt, allein in den letzten Jahrzehnten an die 300.000 Menschenleben gefordert hat, in dem bezahlte Killer billig, Alkoholiker und Drogensüchtige schwer bewaffnet und die Methoden der Kokain-Kartelle unvergessen sind, klingt sie wie eine sehr realistische Morddrohung.


Natürlich vermutete man die Drahtzieher in den Reihen der Softdrink-Abfüller, dominiert von Coke, Pepsi und dem einheimischen Unternehmen Postobón, natürlich dementierten deren Repräsentanten die Verstrickung in solch rohe Überzeugungsarbeit. Und tatsächlich bleiben den Konzernen elegantere Möglichkeiten, mediale wie juristische Wege einzuschlagen, um Kritiker einzuschüchtern. Der kolumbianische Soda-Produzent Postobón, der übrigens auch Pepsi vertreibt, ist Teil eines riesigen Konglomerats, das u. a. Zuckerrohrplantagen, Zuckermühlen und die RCN Televisión, größte Mediengruppe des Landes, umfasst. So war es leicht, die Initiative des Gesundheitsministers Gaviria Uribe, der eine Steuer von 20 Prozent auf die Limos angeregt hatte, in Funk und Fernsehen zu diskreditieren. Als Dr. Ceróns Gruppe mit TV-Werbung und Blogs, in denen einschlägige Untersuchungsergebnisse der Weltgesundheitsorganisation (WHO) präsentiert wurden, veröffentlichte, schlug das Imperium großflächig zurück.


Auf Veranlassung der staatlichen Agentur für Verbraucherschutz, die von der süßen Mafia alarmiert worden war, verschwanden die Anti-Softdrink-Infos von den Bildschirmen, und Educar Consumadores wurde bei einer Strafgeldandrohung von 250.000 Dollar verboten, die Gesundheitsrisiken von Zucker öffentlich zu diskutieren. Zugleich bearbeiteten 90 Lobbyisten die Parlamentarier in Bogotá höchst erfolgreich: Am 31. Dezember 2016 stimmte die Mehrheit gegen die Einführung der Limo-Steuer, obwohl sich 70 Prozent der anscheinend wach gewordenen Bevölkerung in Umfragen dafür ausgesprochen hatten.


Letzten Monat errang die unbotmäßigen Zucker-Frondeure einen verspäteten juristischen Sieg, der den Triumph der Softdrink-Konzerne aber nicht mehr gefährden konnte. Der kolumbianische Verfassungsgerichtshof kassierte das Verdikt der staatlichen Verbraucheragentur und wies diese an, „in Zukunft davon Abstand zu nehmen, irgendwelche Werbung, die sich auf die öffentliche Gesundheit bezieht, zu zensieren“.


Die Zuckerseite des Freihandels


Der Konsum von Coke, Sprite oder Red Bull ist überall auf der Welt gesundheitsschädlich. Seitdem sich aber zumindest die Mittelschichten in Europa ein wenig bewusster ernähren und auch in den USA der Absatz der Zuckerwässer kontinuierlich sinkt, werden die wirklich großen Schlachten um Marktanteile und ungehinderten Absatz in der Dritten Welt geschlagen. Inzwischen ist Lateinamerika mit Mexiko an der Spitze der weltweit größte Absatzmarkt für Softdrinks, deren übermäßiger bis maßloser Konsum im Verbund mit Fertiggerichten, Tiefkühlpizza, Hamburger, Taco oder Hotdog fast zwangsläufig zu Fettleibigkeit und Diabetes führt.


All diese „Genussmittel“ sind vergleichsweise billig, entsprechen mit ihren künstlichen Aromen den einfachen Geschmacksvorstellungen von Kindern wie Jugendlichen und verschaffen vor allem den ärmeren Schichten einer Bevölkerung den leicht zu beschaffenden, kurzeitige Glücksgefühle auslösenden Kick, während sich bei sorgfältig und mit Geduld zubereiteten Mahlzeiten und Getränken das Wohlgefühl nicht sogleich, dann aber nachhaltig einstellen würde. Vor allem der flüssige Zucker, der sich als „Erfrischungsdrink“ tarnt, mobilisiert beinahe Suchtpotential und fördert die Anfälligkeit für Volkskrankheiten. In Kolumbien, wo sich in einigermaßen sanierten Slums ein stufenloser Übergang von der Mangelernährung zur Adipositas beobachten lässt, korreliert der exponentiell steigende Konsum von Softdrinks mit der rapiden allgemeinen Gewichtszunahme. Wer glaubt, hierbei handle es sich um einen tropischen Trend, möge sich die Konsumgewohnheiten von Prekariatsfamilien hierzulande näher ansehen.


Es geht um einen Markt, auf dem Hunderte von Milliarden Dollar zu verdienen sind, daher verteidigen die großen Konzerne ihr Privileg, die Massen zu verführen und dabei gesundheitlich zu schädigen, mit Zähnen, Klauen und Schmiergeldern gegen staatliche Versuche, das Übel wenigstens einzudämmen. In postkolonialer Zeit übte die American Fruit Company eigene Gerichtsbarkeit auf ihren Ländereien in Honduras oder Guatemala aus. Das ist für Coke und Pepsi jetzt nicht mehr so einfach möglich, folglich kauft man sich die Legislative und Justiz eines Landes, über die Medien verfügt man sowieso weitgehend. Und vom internationalen Multi Nestlé hat man gelernt, wie Kritiker zum Schweigen zu bringen sind, indem man ihnen als Strafe für lautstarke Opposition gegen die Food-Global-Players des „Freihandels“  die Vernichtung ihrer Existenz in Aussicht stellt.


So ist es fast ein Wunder, dass sich etliche Staaten, gerade in der Dritten Welt, dennoch dazu durchgerungen haben, die mittel- bis langfristig für die Volksgesundheit gefährlichen Limonaden zu besteuern. Dass es nicht noch mehr waren, ist der aufopferungsvollen Lobbyarbeit, den schier unerschöpflichen finanziellen Ressourcen und der Praxis der Limo-Magnaten, wissenschaftliche Expertisen mit positiven Werbebotschaften zuzukleistern sowie Ländern mit dem Verlust von Arbeitsplätzen zu drohen, geschuldet.


Wo bleiben die EU-Gesundheitspolitiker?


Die Brisanz und die Reichweite der Auseinandersetzung beschreiben die NYT-Journalisten Andrew Jacobs und Matt Ritchel so: „Die Schlacht um die Besteuerung zuckergesüßter Getränke ist einer der grimmigsten politischen Kämpfe weltweit – ein Zusammenprall von Wissenschaft, Politik und Geld in Dutzenden von Ländern und Städten.“ Und die Softdrink-Industrie führt diesen Wirtschaftskrieg mit allen Mitteln. Allein in den USA hat sie seit 2009 über hundert Millionen Dollar ausgegeben, um auf staatlicher und lokaler Ebene die Einführung von Steuern und Warnhinweisen auf den Flaschen zu verhindern. Ein Daten-Leak bei Coca Cola machte publik, mit welch perfiden Strategien das Unternehmen Minister und andere Verantwortliche in Bosnien-Herzegowina, Portugal, Ecuador sowie Regionen Spaniens vom Vorteil der abgabenfreien Vergiftung des Geschmacksinnes und der Menschenmästung durch Soda-Drinks „überzeugte“.


Immerhin erheben aber große Länder (und damit Absatzmärkte) wie Indien, Südafrika oder Thailand inzwischen Steuern auf die liquid candies. In der Europäischen Union, die sich mehr und mehr eine globale Vorreiterrolle anmaßt, aber meist einen Schmusekurs gegenüber den Handelsgiganten fährt, ist man da eher zögerlich. Immerhin besteuert Frankreich seit 2012 die süßen Dickmacher, und ausgerechnet Großbritannien, das die EU verlässt, ging 2016 ebenfalls mit gutem Beispiel voran.


Die Bundesrepublik hingegen ignoriert die Forderung der WHO, zuckerhaltige Getränke mit höheren Steuern zu belegen. Dies ist kein Wunder, verstehen sich doch deutsche Regierungen seit jeher als Leibwächter, Befehlsempfänger und Erfüllungsgehilfen mächtiger Wirtschaftsbranchen, wie die devote Haltung gegenüber der Automobilindustrie in Sachen Abgaswert-Manipulation und Emissionsreduzierung sowie der Eifer, mit dem verschiedene Ministerien Konzernen beim Waffenexport behilflich sind, sattsam belegen. Mit beträchtlichem Stolz wird ein Wachstum beschworen, das nicht unwesentlich durch die Befriedigung „unechter“, per Massensuggestion und Statusschimären künstlich erzeugter, Bedürfnisse generiert wird.


Am sozialen Ist-Zustand soll sich ja nichts Entscheidendes ändern: Die Kinder des Mittelstandes sind oft von dicklicher Statur, weil sie in SUV-Dreckschleudern bis vor die Schultüre gekarrt werden, wo sie die durch Coke und Hamburger fett gewordenen Sprösslinge der Unterschicht nie treffen werden, da die ganz andere Pennen besuchen müssen. Das ist die marktgegebene Ordnung der Dinge.

12/2017

Dazu auch:            

Tödliche Trickserei im Archiv der Rubrik Medien       






Der U-Boot-Krimi


In Israel wandern die Beteiligten reihenweise ins Gefängnis, hierzulande genehmigt die Bundesregierung zunächst den Verkauf von drei Unterseebooten, will sogar ein paar hundert Millionen dafür springen lassen und ziert sich nun doch ein wenig, den Deal endgültig durchzuwinken: Ginge es nicht um ein höchst brisantes und fragwürdiges Rüstungsgeschäft – man könnte sich köstlich amüsieren über eine Gaunerkomödie, in der die deutschen Verantwortlichen gleich drei besonders unappetitliche Fliegen mit einer Klappe schlagen.


Früher war alles so simpel kriminell


Wie war es einst doch so einfach, sich über Gesetze hinwegzusetzen und im Rücken der Öffentlichkeit ohne störende Skrupel guten Freunden die Waffenarsenale und anderen Kumpels die Geldbeutel zu füllen. Zwischen 1957 und 1965 war es deutschen Firmen strikt untersagt, Rüstungsgüter nach Israel zu liefern, lag dieses Land doch in einem Krisengebiet, befand sich in einem permanenten Kriegszustand mit seinen Nachbarn und unterhielt damals auch keine diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik. Einen umtriebigen bayerischen Politiker allerdings trieb die Sorge um die endgültig ins westliche Lager gewechselten Freunde im gelobten Land und um die Exportchancen seiner Unternehmer-Spezis dazu, kreative Lösungen zu entwickeln. Gemeinsam mit dem fränkischen Rüstungsproduzenten Karl Diehl, ehemals Hitlers rühriger Wehrwirtschaftsführer, ließ Franz Josef Strauß deutsche Waffen illegal nach Israel verschieben.


Natürlich blieb Franz Josef Allmächtig, nachdem dieses Vergehen wie so viele andere seiner Skandale ruchbar geworden war, auch diesmal von kleinlicher Strafverfolgung verschont, so dass er sich später in amüsiertem Anekdoten-Ton erinnern durfte: „Wir haben die Israel zugesagten Geräte und Waffen heimlich aus den Depots der Bundeswehr geholt…“

Da mussten die Strauß-Geschwister im Geiste später schon viel vorsichtiger vorgehen und geschmeidiger argumentieren, um den Verkauf von Kriegsware made in Germany an Jerusalem zu rechtfertigen. Und sie scheuten zu diesem Behuf auch nicht davor zurück, eigenes früheres Fehlverhalten als moralischen Grund für neue Export-Frevel anzuführen.


Die Leichen im Keller


Im Zweiten Golfkrieg war aufgedeckt geworden, dass deutsche Unternehmen Saddam Hussein nicht nur bei der Produktion chemischer Waffen, sondern auch bei der Reichweitenerhöhung seiner Scud-Raketen, mit denen er Israel direkt bedrohen wollte, zur Hand gegangen waren. Nach dem Sturz des irakischen Diktators griff aus Gründen der tätigen Reue oder (wie böse Zungen behaupten) wegen der geänderten Geschäftslage ein rasantes Umdenken in den Köpfen bislang ignoranter Politiker und nach neuen Ufern strebender Rüstungsmanager um sich. Nun sollte auch die Regierung in Jerusalem ganz offiziell an moderner deutscher Todestechnologie teilhaben dürfen.


In dem derzeit hohe Wellen schlagenden Fall, den Bau und die Lieferung von drei U-Booten der Dolphin-Klasse betreffend, argumentierte die Bundesregierung gar, sie fühle sich für die Sicherheit des Staates Israel „besonders verantwortlich“ und kündigte an, das Geschäft im Gesamtwert von 1,5 Milliarden Euro mit 540 Millionen bezuschussen zu wollen. Deutsche Steuergelder sollen also von Thyssen Krupp Marine Systems in Kiel verbaut werden, um das Drohpotential im Nahen Osten noch ein wenig aufzupeppen. Pech nur, dass einige essentielle Kriterien gegen die Legitimität des Handels sprechen und dass sich die Geschäftspartner gegenseitig in einen Sumpf von Korruption tunkten. 


Ausschlusskriterien ausgeschlossen


Rüstungsexporte sind per se Auslöser und Katalysatoren von Elend, Vertreibung und Flucht (schlaue Produzenten- und Lieferantenstaaten davon ausgenommen). Wenn man sie aber schon nicht verbieten kann, weil der freie Markt ja sonst behindert würde, möchte man sie wenigstens ein wenig gemäß moralischer Gesichtspunkte dezimieren. So wenigstens lauten die Lippenbekenntnisse bürgerlicher Politiker (wenn sie keinen Rüstungskonzern im eigenen Wahlkreis haben). Doch der U-Boot-Deal mit Israel belegt wieder einmal, wie leicht und locker über die Ausschlusskriterien von Waffenverkäufen hinweggegangen wird.


Nun ist das nicht ungewöhnlich: So erhält Saudi-Arabien deutsche Rüstungsgüter, weil es in den Augen der deutschen Kontrollinstanzen in keinen militärischen Konflikt verwickelt ist. Den Völkermord, den die Wahhabiten derzeit im Jemen begehen, stuft die Bundesregierung offensichtlich als Friedensexpedition mit bedauerlichen Kollateralschäden ein. Und den deutschen Sturmgewehren, Drohnen und Patrouillenbooten wird vermutlich vor der Auslieferung eingeschärft, dass sie sich nicht gegen die jemenitische Zivilgesellschaft verwenden lassen dürfen.


Gegen das Geschäft mit Israel sprächen mehrere triftige Gründe,  die aber totgeschwiegen bzw. vorsichtshalber als Kriterien ausgeschlossen werden:


Entgegen früherer (offizieller) Gepflogenheiten wird militärisches Material

  in eine Region verkauft, in der seit Jahrzehnten kein Frieden herrscht.

  Zwar ist das teilweise auf die langjährige Borniertheit der Autokraten in

  arabischen Ländern zurückzuführen, die einem Staat, der de facto

  existiert, kein Existenzrecht zubilligen wollten, auch auf die

  Festschreibung archaischer Stammesrechte oder auf islamistische

  Tendenzen, etwa bei der Hamas, aber ebenso auf die illegale Aneignung

  von Gebieten und den laut UN-Vollversammlung und Den Haager

  Gerichtshof völkerrechtswidrigen Siedlungsbau im Westjordanland durch

  Israel, das notfalls die krude Rechtfertigung für Okkupation und

  Annexion aus dem Alten Testament ableitet. Wollte man alle einst

  willkürlich oder fahrlässig gezogenen Grenzen in Afrika und Asien einer

  Revision unterziehen, würde man einen globalen, wenn auch parzellierten

  Krieg riskieren; eine Tatsache, die aber niemanden dazu berechtigt, sich

  weitere Territorien einzuverleiben. In jedem Fall aber ist der Nahe Osten

  keine Weltregion, die noch ein paar Waffensysteme mehr verträgt.

- Die drei U-Boote von ThyssenKrupp können mit atomwaffenfähigen

  Marschflugkörpern nachgerüstet werden. Israel ist eine Nuklearmacht,

  und es geriert sich bisweilen mindestens so aggressiv und bedrohlich wie

  sein Hauptfeind Iran. Jerusalem hat den Atomwaffensperrvertrag nicht

  unterzeichnet und sich nachweislich der Proliferation, der Verbreitung

  von A-Bomben, schuldig gemacht, als es dem Apartheid-System in

  Südafrika Know-how und praktische Hilfe zum Bau andiente. Für die

  von der Bundesregierung beschworene „Sicherheit des Staates Israel“

  wiederum sind Transportvehikel für Raketen mit atomarer

  Vernichtungskraft sicherlich nicht die geeigneten Schutzmittel, sie 

  würden nur die seit langem vorhandene gefährliche Hybris in der

  Netanjahu-Regierung  bestärken.

- Die deutschen Anbieter und die potentiellen israelischen Empfänger sind

  sich in inniger Korruptionsbrüderschaft verbunden. Der deutsche Staat

  scheint den Mäzen für diese ehrenwerte Gesellschaft spielen zu wollen.


Wenn schon der Inhalt nichts taugt (oder sogar gefährlich ist), sollte

wenigstens die Form stimmen, behauptet der Volksmund. In dem derzeit

aufgeführten Schurkenstück aber stimmt gar nichts.


Korruption fördern? Oder besser nicht?


Rüstungsgeschäfte sind nicht nur tödlich, sondern auch schmutzig. Insofern kann das U-Boot-Geschäft als besonders griffiges Lehrbeispiel für die auf dem freien Markt übliche Betrugsmentalität dienen. Denn eigentlich wollten die israelischen Sicherheitsberater (die wie manche Generäle manchmal nüchterner als das Kabinett aus Likud, Siedlerpartei und Ultra-Orthodoxen denken) die deutschen U-Boote gar nicht. Die seien zu teuer, andere Waffensysteme schienen den Experten effizienter. Um den Milliardenauftrag nicht zu verlieren, musste die deutsche Seite tätig werden, und zwar in konzertierter Aktion:


Während die Bundesregierung die Übernahme eines guten Drittels der Kosten in Aussicht stellte, bestachen ThyssenKrupp-Repräsentanten in Jerusalem so ziemlich jeden, der nach ein wenig Einfluss aussah. Dabei konnten sie sich des Wohlwollens von höchster Stelle sicher sein, arbeitete doch David Shimron, Cousin und Rechtsberater des chronisch unter Korruptionsverdacht stehenden Regierungschefs Benjamin Netanjahu, für den Konzern von Rhein und Ruhr. So traf folgerichtig der von Vertrauten zärtlich Bibi genannten Premier seine Entscheidung gegen den Widerstand des Verteidigungsministeriums zugunsten der deutschen Bewerber - womit sich aber die israelische Justiz leider nicht zufriedengeben wollte.


Im vergangenen Juli verhaftete die Polizei im Zusammenhang mit der Auftragsvergabe sieben Personen, darunter Politiker, Anwälte sowie ThyssenKrupp-Vertreter, wegen des Verdachts der Geldwäsche, des Betrugs und diverser Steuervergehen. Im September folgten drei weitere Festnahmen. Dies schockte die um ihren Ruf (nicht um tatsächliche Integrität) besorgte Bundesregierung. Sie erteilte zwar die Genehmigung zum Verkauf des Kriegsgeräts, behielt sich aber vor, das Geschäft doch noch zu stoppen, sollten nicht alle Ermittlungen eingestellt und alle Verdachtsmomente ausgeräumt werden, wie das Kanzleramt, das Außen- und das Verteidigungsministerium es in einem gemeinsamen Memorandum of Understanding formulierten.


Wie immer die Sache ausgeht – selbst im kaum anzunehmenden Fall einer Aufkündigung der Vereinbarung wird es sicherlich ein anderes Zuckerl für die Rüstungsindustrie geben. Schon jetzt aber bleibt Erstaunliches zu konstatieren: Statt die Ankündigung des vorletzten Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel, deutsche Waffenexporte in Länder außerhalb der NATO einzuschränken, umzusetzen (ganz im Gegenteil wurde noch nie so viel Tod ausgeführt wie unter seiner Regie), subventioniert Berlin großzügig Lieferungen, die jenseits bundesdeutscher und internationaler Legalität zu orten sind – und außerdem erst durch bilaterale kriminelle Machenschaften in Israel ermöglicht wurden.


Doch die Bundesregierung wird vermutlich schon einen (diskreten) Weg finden, die durch die störende israelische Polizei losgetretene Affäre für beendet zu erklären, um ThyssenKrupp nach solch ambitionierter Gaunerei nicht im Regen stehen zu lassen. Immerhin berichteten die Agentur Reuters, das Handelsblatt, der Spiegel und der NDR pflichtschuldig über das Gangsterstück, allerdings in gebotener Kürze und ohne weitere Nachfragen sowie Hintergrundanalysen. Die Medien wissen ja, wie es auf dem Markt und somit in unserem System so zugeht, und werden den natürlichen Gang der Dinge nicht über Gebühr in Frage stellen wollen…

11/2017

Dazu auch:

Professor Persil (Strauß/Diehl-Affäre) im Dossier Coburger Schande in der Rubrik Medien

 

 

 

 

                                

 

Der Markt ist blind


Die FDP ist wieder in den Bundestag eingezogen, der Neoliberalismus hat seine parlamentarische Werbetrommel zurück. Die auch von der Union und der SPD betriebene Entmündigung und Enteignung der öffentlichen Hand wird an Fahrt gewinnen, auch wenn die missglückten Privatisierungen in Großbritannien und die profitorientierte Beschneidung des Gemeinwohls in den USA zur Warnung hätten dienen können. Wie es sich hierzulande auswirkt, wenn Unternehmen den Staat als Vollstrecker und Hüter der Infrastruktur ersetzen oder kommunale Versorger sich wie börsennotierte Konzerne organisieren, soll im Folgenden  aufgezeigt werden.


Gewinn statt Lebensqualität


Bund, Länder und Kommunen sind in Deutschland eifrig dabei, die durch Steuern und Abgaben alimentierten Kernbereiche der sozialen und infrastrukturellen Gewährleistung outzusourcen, zu Gelddruckmaschinen für private Investoren umzugestalten oder sie gar an die Börse zu bringen. Das spart Stellen im öffentlichen Dienst, ermöglicht eine rigorose, rein auf Kostenminimierung fixierte Kontrolle von Zeit und Aufwand bei Tätigkeiten, die im Grunde eigentlich eher auf Effizienz und Akzeptanz zu überprüfen wären, und entlastet Verwaltungen, die per se nichts verdienen dürfen, aber wie im Märchen Hans im Glück alles weggeben, um so fremde Schnäppchenjäger zufriedenzustellen.


Natürlich gibt es jede Menge Schlendrian in den Behörden, werden Entscheidungen endlos vertagt, existiert Vetternwirtschaft bei der Auftragsvergabe, werden weltfremde Beschlüsse umgesetzt; aber es handelte sich bei den Entscheidern und Ausführenden immer noch um Beamte und Angestellte, die sich zumindest formal verpflichtet haben, für das Wohl der Gemeinschaft tätig zu sein, und nicht um auf schnelle Gewinne erpichte Anleger oder Finanzhasardeure wie etwa jene Leasing-Spezialisten aus den USA, auf die so manche deutsche Kommune hereinfiel.


Wie es sich anfühlt, wenn öffentliche Dienstleister sich nicht mehr am Bedarf ihrer Auftraggeber, der Financiers und Bürger also, orientieren, sondern am auf Profit fokussierten Diktat der personellen „Verschlankung“, Einsparung und Reduzierung des Services hat die Mehrheit in diesem Land längst erlebt, ohne allerdings Ross und Reiter auf der Rennbahn in die Privatwirtschaft benennen zu können: Der Fremdvergabe von Wartungsarbeiten geschuldete Verspätungen und Zugausfälle waren und sind die für „Fahrgäste“ spürbare Kollateralschäden der Bemühungen der Deutschen Bahn, endlich irgendwann eine richtige Aktiengesellschaft zu werden. Dass man seit der Privatisierung auch in Großstädten zu einem „Amt“ der Deutschen Post mehrere Kilometer zu laufen hat und sich dann in eine lange Warteschlange einreihen muss, um ein Paket aufzugeben oder abzuholen, gehört zum Erfahrungsschatz der unzufriedenen, aber ratlosen Kunden. Wenn die Straßen der ärmeren Viertel einer Kommune nicht mehr sehr oft und gründlich genug gereinigt werden, dann liegt dem eine Zeit/Kostenrechnung zugrunde, die aufgestellt wurde, ohne die Wünsche der Anwohner auch nur im Geringsten zu beachten. Doch werden diese Einschränkungen mittlerweile als gottgegeben hingenommen.

     

Das Risiko bleibt staatlich


Wenn irgendetwas Weiterwirkendes aus der letzten Legislaturperiode im Bewusstsein bleiben sollte, dann sicherlich die Grundgesetzänderungen, die von der Union und ihrer sozialdemokratischen Handlangerin im Auftrag der  Wirtschaft kurz vor der Wahl durchgepeitscht wurden. Aus freien Stücken gab die Große Koalition Hoheitsrechte des Staates preis, um Investoren und mächtigen Anlegern, etwa Versicherungen und Banken, nicht nur den Weg an die Fleischtöpfe öffentlicher Arbeiten zu bahnen, sondern ihnen auch gleich die Filetstücke, etwa Autobahn-Teiltrassen, mundgerecht zu servieren. In einer Null-Zins-Periode verzichtet die Berliner Republik darauf, billiges Geld aufzunehmen und die eigenen Hausaufgaben günstig zu erledigen, um stattdessen private Goldgräber mit der Planung, Durchführung und der Betrieb von Projekten zu beauftragen, nicht ohne ihnen Zinsen zu garantieren, die sie auf dem „freien“ Markt nie bekommen hätten, und die Steuerzahler bei etwaigen Verlusten einspringen zu lassen. Selbst die nicht gerade als wirtschaftsfeindlich bekannten Experten des Bundesrechnungshofes (BRH) schütteln ob solcher „Geschenke“ den Kopf.


Wie gründlich solche Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP) in die Hose gehen können (selbstredend nur für die Steuerzahler), belegen die Vorkommnisse um Ausbau und Betrieb der Autobahn A1 zwischen Hamburg und Bremen. Der Finanzjongleur John Laing hatte der ÖPP-Betreibergesellschaft A1 mobil GmbH üppig verzinste Kredite über 600 Millionen Euro mit einer Laufzeit bis 2038 von fünf Banken verschafft. In einer Zeit, da Kleinsparer mit dem Wertverlust ihrer Einlagen rechnen müssen, wollten Unicredit, Caja Madrid, Deka-Bank, DZ-Bank und Commerzbank so mehr als eine Milliarde Gewinn einstreichen. Die ÖPP-GmbH als Schuldnerin hingegen sollte 30 Jahre lang vom Bund Anteile aus der LKW-Maut bekommen. Als aber die Geschäftsgrundlage gefährdet schien, weil ab 2008 weniger Lastverkehr als erwartet die Strecke passierte, forderten die Banken eine Änderung des Vertrages und verklagten den deutschen Staat auf eine Zahlung von 787 Millionen Euro. Den Tatbestand, dass die BRD, die laut BRH eine Milliarde gespart hätte, hätte sie das Projekt selbst organisiert, sich nun Regressforderungen und einem teuren Rechtsstreit gegen Geldinstitute, die erst kürzlich bei der Finanzkrise durch Steuergelder gerettet wurden, gegenübersieht, charakterisiert das Ver.di-Magazin publik zutreffend als „die große Abzocke“.


Klinik gesund, Patient am Ende


Doch auch wenn das infrastrukturelle Tafelsilber nicht direkt an die Privatwirtschaft verscherbelt wird, ziehen in Behörden und kommunalen Einrichtungen Zustände wie in den Großunternehmen ein, die bekanntlich nicht dem Bürger als Souverän, sondern der Kostensenkung und Profitmaximierung verpflichtet sind. Ein besonders schönes Beispiel für einen solchen „Wertewandel“ in der Intention lieferte kürzlich der Klinikverbund des Bezirks Mittelfranken.


In Bayern existieren sieben Bezirke, Gebietskörperschaften, die als überörtliche Sozialhilfeträger u. a. Reha-Institutionen betreiben und deren Parlamente (Bezirkstage) von der Bevölkerung gewählt werden. In Mittelfranken ist der Klinikverbund, der 3000 Mitarbeiter beschäftigt und 1500 Betten etwa in Ansbach und Erlangen vorhält, die größte Einrichtung, die von einem aus Volksvertretern (Bezirksräten) gebildeten Verwaltungsrat kontrolliert wird. Lange Zeit schrieben die Krankenhäuser rote Zahlen, bis ein vermeintlicher Retter in Gestalt des Managers Helmut Nawratil den Chefposten übernahm und den Verbund in die (materielle) Gewinnzone zurückführte.


Sogleich setzte der CSU-Bezirkstagspräsident Richard Bartsch eine Erhöhung von Nawratils Grundgehalt von 260.000 auf 380.000 Euro im Jahr durch. Die Opposition dagegen hielt sich in Grenzen, bis durchsickerte, dass der positiven ökonomischen Bilanz so ziemlich alles geopfert wurde, was die notwendige Qualität der Gesundheitsfürsorge garantiert. Richard Bartsch, der sonst sein Gesicht in jede Kamera hielt, wurde plötzlich pressescheu und übt sich mittlerweile in medialer Versenkung, während nun das bayerische Innenministerium als Aufsichtsbehörde permanente Aufklärung fordert.


Manager Nawratil hatte nicht nur bei der Vergabe von Aufträgen undurchsichtig agiert, er war vor allem bei der Behandlung der Mitarbeiter wie ein AG-Vorsitzender aufgetreten, der in seinem Personal lediglich einen den Shareholder-Value beeinträchtigenden Kostenfaktor sieht. Von „unangemessenem Umgang mit Untergebenen“ sprachen die anderen Bezirkstagsparteien, während sich Bartsch und seine CSU in Schweigen hüllten. Abmahnungen wurden stapelweise versandt, etliche Ärzte, Schwestern, Pfleger und Therapeuten verließen die Kliniken oder wurden gekündigt, was wiederum zu erheblichen Kosten für Abfindungen, Prozesskosten und Interimslösungen führte. Nawratils Führungsstil sprach sich in Fachkreisen so weit herum, dass mögliche Bewerber einen großen Bogen um die mittelfränkischen Bezirkskliniken machten. Das eigentlich Fatale an dieser Situation aber war die sukzessive Verschlechterung der Patientenversorgung.


Da es an Stellen fehlte, fielen bindend vorgeschriebene Reha-Maßnahmen aus, Schwerkranke wurden überhaupt nicht oder zu selten therapiert. Als die Ärzteschaft am Erlanger Neurologie-Zentrum einen Hilferuf wegen des Personalmangels aussendet, werden auch die Krankenkassen aufmerksam. Die Kernkompetenz von Kliniken besteht darin, Kranke zu heilen und gesundheitlich zu rehabilitieren, und nicht im Schreiben schwarzer Nullen oder gar in der Aufhäufung von Gewinnen. Dass ökonomische Vernunft und medizinischer Standard dennoch vereinbar sind und sogar von einem Chef, der nicht in Nawratils Gehaltsklasse angesiedelt ist, zusammengeführt werden können, beweist das Beispiel der Bezirkskrankenhäuser Unterfranken. Dort sorgt ein Beamter für knapp 100.000 Euro im Jahr erfolgreich dafür, dass keine Verluste anfallen und dennoch ordentliche Reha durchgeführt wird. Ins Schwarze traf Michael Kaperowitsch von den Nürnberger Nachrichten mit einer Bemerkung über die Präferenzen der CSU in Mittelfranken: „Sie verließ sich in diesem Fall ausnahmsweise einmal auf die freie Liebe, und zwar die zum weitgehend ungezügelten Unternehmertum.“


Und die Moral aus solchen Geschichten? Ganz gleich, ob die öffentliche Hand sich wie ein turbokapitalistischer Konzern aufführt oder ihre Rechte und Verpflichtungen gleich an Investoren abtritt – das Resultat ist ähnlich, weil der Markt anarchisch, profitgeil und schnelllebig ist. Er weiß nichts von den Bedürfnissen der Menschen und ignoriert das Gebot der Nachhaltigkeit. Der Markt ist blind wie taub, und nicht selten ein wenig kriminell.

10/2017

Dazu auch:

Verramschter Verkehr in diesem Archiv

                       

 


German Angst


Obwohl es eigentlich kaum eine Wahl hatte, hat Deutschland gewählt, und jetzt zeigen sich Journalisten, Demoskopen und Politiker erstaunt bis entsetzt über den Erfolg der AfD. Warum eigentlich? Das rechte Potential hierzulande dürfte zwischen 60 und 80 Prozent liegen, doch wird den Pegida-Kumpanen der endgültige Durchbruch kaum gelingen – fünf Parteien, die sich auch aus eben diesem Reservoir bedienen, versperren den nationalistischen Ultras den Weg.


Große Koalition oder Jamaika? Egal!


Schafft Seehofer in Sachen Obergrenze den Schulterschluss mit grünen Rechtsaußen wie Winfried Kretschmann und Boris Palmer? Gelingt es Christian Lindner, den Abbau der Sozialsysteme und die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur signifikant zu beschleunigen? Wird Angela Merkel zur unangefochtenen Mutter deutschen Strebens nach wirtschaftlicher Hegemonie und militärischer Dominanz in Europa? Vier Parteien ringen um einen Koalitionskonsens,  der, wenn er denn zustande kommt, inhaltlich vermutlich auch von der AfD mitgetragen werden könnte.


Und von der SPD. Sollten die Grünen wider Erwarten ein Rückgrat zeigen oder die Liberalen zu hoch pokern, könnten sich die Sozialdemokraten doch noch als Retter des Abendlandes anbieten. Schließlich unterscheidet sich ihre Programmatik von der Merkels nur in Nuancen. In der Presse heißt es deshalb bisweilen, die CDU sei nach links gerückt, was aber nur beweist, dass sich Journalisten generell nicht mehr mit den Zielen, Inhalten und Grundlagen einer politischen Richtung befassen. Denn die fünf bürgerlichen Parteien stehen allesamt im Lager der Privatwirtschaft und sind rechts, sie unterscheiden sich nur noch in Schattierungen. Dazu kommen noch die AfD mit einer völkischen und offen rassistischen Komponente (der sich auch die CSU ab und zu befleißigt) und die Linke, bei der man noch nicht genau weiß, was an ihr links und was bereits staatstragend konformistisch ist.


Eine Geistesgeschichte zum Gruseln


Wie kann es sein, dass ein Land, in dem die extreme Rechte einst derart durchschlagend Tabula rasa nach ihrer Faςon machte, dass ganze Ethnien beinahe verschwunden wären und die halbe Welt mit Krieg überzogen wurde, mehrheitlich reaktionär wählt? Nun, so richtig aufgearbeitet wurde der „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte eigentlich nicht, sonst hätte man den Schoß, aus dem das kroch, benennen müssen und unser geheiligtes Wirtschaftssystem wäre desavouiert worden. Stattdessen nahmen die Politiker in unserer lupenreinen Demokratie lieber das hehre Wort „Menschenrechte“ in den Mund, wenn es nicht gerade um die postkoloniale Ausbeutung der Dritten Welt, geostrategische Überfälle auf die Zivilbevölkerung am Hindukusch und anderswo  oder das Ausbremsen von „Flüchtlingsströmen“ ging.


Und der Normalbürger hat die ewige Vergangenheitsbewältigung ohnehin satt, er sehnt sich im Gegenteil frühere Zeiten zurück, als noch Zucht und Ordnung herrschten, in der U-Bahn Deutsch gesprochen wurde und Bleichgesichter auf den Straßen dominierten. In der Globalisierung haben sich nur die Banker und Manager bequem eingerichtet, die Bevölkerung tendiert in ihrer Majorität eher zur nationalistischen und isolationistischen Haltung, weil sie Angst hat vor dem Verlust von Arbeitsplatz und sozialer Sicherheit (völlig zu Recht) und dem Fremden, das in Form von Menschen in unsere biedere Gesellschaft einsickert (völliger Blödsinn). Und schon wird die Vergangenheit beschworen, in der alles geordneter, korrekter und treudeutscher ablief: ein Phänomen, das es in spezifischer nationaler Ausprägung auch in England oder Frankreich gibt, aber nicht ganz so mythisch überlastet und konsequent in der Rassenhybris.


Schon die deutschen Romantiker des 19. Jahrhunderts sehnten sich angesichts turbulenter Zeitläufte zurück ins Mittelalter, als die Burgfräulein noch keusch und schön, die Ritter noch tapfer und die Vasallen noch demütig und fromm waren. Während in Frankreich eine Revolution ein neues Zeitalter ankündigte, propagierten die Teutonen, deren rebellische Kraft durch nationalistische Burschenschaften repräsentiert wurde, eine klare Festschreibung des Oben und des Unten, soweit sich Einfluss und Reichtum nicht in den Händen des jüdischen Bürgertums befanden. Kein Wagner und keine Fichte haben die geistige Verfassung der (sich damals noch entwickelnden) Nation so zutreffend pervers abbilden können wie das Nibelungenlied: Für viele Leser dieses urdeutschen Epos war Hagen von Tronje, der in seinem Kadavergehorsam zum Mörder wird, der eigentliche Held. Und folgerichtig schwor die Mehrheit der Deutschen später einem Adolf Hitler die Nibelungentreue.


Als der Kapitalismus die ökonomischen und herrschaftlichen Strukturen von Mittelalter und Absolutismus hinwegfegte, ersetzte kein neues tragfähiges Gedankengebäude die Ruinen teutscher Leitkultur, denn die kultische Verehrung des Marktes blieb auf eine dünne Oberschicht sowie deren journalistische und politische Herolde beschränkt. So waberten in vielen Hirnen archaische Relikte weiter, geprägt von der Ausgrenzung Andersdenkender und der emotionalen Ablehnung von Fremdem und Neuem. Jenes diffuse Bedrohungsgefühl, im Ausland als German Angst bekannt, ist einer epochalen Desinformation durch Eltern, Lehrer, Medien und bürgerliche Politik geschuldet. Obwohl die neoliberale Doktrin nur als Gebrauchsanleitung zur Ausbeutung und nicht als sinnstiftende Gesellschaftstheorie taugt, entwickelt man keine progressiven Ideen, sondern entsinnt sich lieber ferner Idole vom Format des Bauernschlächters Luther. Wo auch noch Großmannssucht brauner Provenienz dazukommt, erntet die AfD, aber nicht nur die: Auch Merkel und Gabriel lassen keine Gelegenheit aus, militärische Potenz in allen möglichen Weltgegenden zu demonstrieren. Während die Wirtschaft immer neue Dominanzmodelle auflegt, marschiert das politische Bewusstsein in die andere Richtung: rückwärts.

 

Vom Lamm zum Löwen?


Auch von den Sozialdemokraten, sollten sie denn in die Opposition gehen, ist keine Revision ihres rechten Kurses, sondern allenfalls eine Änderung der Attitüde zu erwarten. Sie hatten den Sozialabbau, die reale Rentenkürzung und die Reichenbegünstigung eingeleitet, als sie den Kanzler stellten, und sie trugen als Juniorpartner unter Merkel brav allerlei Ungerechtes und Törichtes, von der Erhöhung der Mehrwertsteuer bis zur Maut für Ausländer, mit. Und gemeinsam mit der Union beschlossen die Genossen der Bosse die Grundgesetzänderungen, die es möglich machten, infrastrukturelles Tafelsilber an Öffentlich-Private-Partnerschaften, jene Wohlfühloasen und Gelddruckmaschinen für Investoren, zu verschleudern.

Jetzt soll also aus dem Koalitionslamm ein Oppositionslöwe werden, ohne dass die rechtsbürgerlichen Inhalte auf den Prüfstand gestellt werden. Doch es reicht nicht mehr, mit Gebrüll über den Mangel an linken Positionen und progressiven Ideen hinwegzutäuschen. So eingeschränkt das Kurzzeitgedächtnis der Wähler auch sein mag – derartig kurz ist es denn doch nicht.


So wird die SPD letztendlich den Weg einschlagen, den die Ministerpräsidenten der Union Tillich, Haseloff und Seehofer mit der scheinheiligen Begründung, man müsse die Menschen (braune Ignoranten) in ihren Besorgnissen („ethnische Durchmischung“) ernstnehmen, schon vorgezeichnet haben: im Galopp in die rechte Ecke. Die AfD muss sich nicht mehr in die „politische Mitte“ bewegen, um eine Akzeptanz ihrer kruden Parolen im Volk zu erlangen – die anderen Parteien und die ominöse Mitte kommen ihr schon entgegen.

10/2017

Dazu auch:

Gefährliche Spießer in diesem Archiv          

Der letzte Strohhalm ebda. 




Dem Fürsten sein Land

 

In diesem drögen Wahlkampf, der seinen Höhepunkt fand im TV-Duell zwischen einem Vertreter, der unter der Haustür die eigene Glaubwürdigkeit an den Mann bringen wollte, und Robot-Muttchen, das seine Leerformeln wie Mantras herunterleierte, ist man für jeden Anflug von (unfreiwilligem) Humor oder Skurrilität dankbar. Ausgerechnet in jener gesegneten Gegend, in dem das weltberühmte Tegernseer Bauerntheater mit seinen Schwänken den Geist von Geriatrie-Touristen und krachledernen Eingeborenen erfrischt, stieß ich auf plakatgewordene Realsatire. Um es in der Diktion des Komödienstadls auszudrücken: Der Fürscht zoagts denen Politikern – in seiner neuen Rolle als Volkstümelnder.

 

Populismus im Paradies

 

Das Tegernseer Tal gehört mit den umliegenden Bergen und den Nobelorten Rottach-Egern, Bad Wiessee oder Gmund zu den schönsten und beliebtesten Regionen des bayerischen Voralpenlandes. Die Gestade des sauberen Gewässers weisen eine der höchsten Millionärsdichten in der Republik auf, und wer von den Einheimischen nicht durch Verkauf eines Ackers steinreich geworden ist, makelt sich zumindest wohlhabend durchs Leben. In den Niederungen des Dienstleistungsgewerbes, in Restaurants, Hotels und bei der Müllabfuhr also, hört man meist preußischen, sächsischen, polnischen, italienischen oder sonst wie ausländischen Zungenschlag – die meisten Ur-Tegernseer haben für Migranten erfreulich viele Jobs freigemacht, die sie selbst nicht mehr ausüben müssen oder wollen.

 

Wenn in einer solchen von der Natur sowie den Reichen und Schönen bevorzugten Landschaft Wahlkampf tobt, ist von vornherein klar, wem die Dominanz im Straßenbild gebührt. Man präferiert eben die CSU, jene Partei die besonders eifrig dafür sorgt, dass sich an „gewachsenen“ Hierarchien nichts ändert – auch wenn sie nun leider ihr geliebtes Wildbad Kreuth eben wegen jenes Mietwuchers, den sie so konsequent toleriert hatte, räumen musste. Mit ihren Plakaten, auf denen Sheriff Joachim Herrmann, ab und zu auch Alt-Star Edmund Stoiber und flankierend dazu ein paar Lokalgrößen prangen, beherrscht sie das Panorama weitgehend. Ab und zu lächelt Martin Schulz verschmitzt in einer Kurve, seltener duckt sich ein Grünen-Poster verschämt in seine Schmuddelecke. Wahlwerbung der Linken? Fehlanzeige! Vermutlich wurde der letzte Linke im Tegernseer Tal kurz nach dem Ende der Münchner Räterepublik erschlagen.

 

Doch eine Partei bietet der CSU halbwegs Paroli, und scheint sogar dieselbe Werbeagentur beauftragt zu haben: die AfD. Fordert die CSU im Befehlston „Der Soli muss weg!“, verlangen die anderen Rechtspopulisten in ähnlich imperativer Tonlage, aber wesentlich kosmopolitischer: „Raus aus dem Euro!“

 

Ein wenig stutzt man schon: Was haben die dumpfen Nörgler im Paradies verloren, wer will sie hier wählen? Doch dann sieht man auf einem ihrer Plakate das lächelnde Antlitz ihres Direktkandidaten für den hiesigen Wahlkreis und begreift, dass für den Tegernsee, der ja etwas ganz Besonderes ist, auch ein ganz besonderer Stimmenfänger her musste. Fürst Constantin von Anhalt erklärt den staunenden Wahlberechtigen, es handle sich bei ihrer Umgebung um Unser Land – Unsere Heimat. Zwar möchte ich dem Fürsten sein Land lassen, da ich mich dort ohnehin nicht heimisch fühlen würde, doch wirft das Engagement von Durchlaucht die Frage auf, was die selbsternannte Elite per Abstammung politisch ausgerechnet im Kreise vulgärer Grobiane zu suchen hat.

 

Der Adel der AfD

 

Nun hat die AfD ja mit der Oldenburger Herzogin Beatrix von Storch noch eine Person, deren Adern von blauem Blut durchflossen werden, in ihren Vorstandsreihen: eine gefürchtete Megäre, die nicht nur Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch für Verbrechen hält, sondern auch gern an den Grenzen auf Flüchtlinge schießen ließe. Zwei Erklärungsansätze für solch klassen- und niveauübergreifende Bündnisse zwischen Nobilität und unterstem Niveau sind denkbar: Der europäische Hochadel hat sich durch ausgeprägte Inzucht selbst seiner intellektuellen bzw. differenzierenden Fähigkeiten begeben, und/oder den deutschen Aristokraten ist es ziemlich egal, mit wem sie koalieren, wenn sich nur ihr rechts-nationalistisches Weltbild durchsetzen kann und ihre Pfründen erhalten bleiben – eine Haltung, die in der Weimarer Republik bis zum Untergang gepflegt wurde (und die Graf Arco wenig nobel auf die Spitze trieb, als er bereits 1919 hinterrücks den linken bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner erschoss).

 

Allerdings können beide Gründe für die fürstliche Hoheit Constantin nicht angeführt werden, denn – im Gegensatz zu der Blut-und-Boden-Adligen von Storch, entstammt er keiner der ellenlangen Linien edler deutscher Geschlechter. Zwar behauptet er, den Fürsten Eduard, Oberhaupt der erlesenen Anhaltiner Sippe, Onkel zu nennen, doch weiß dieser nichts davon. Der Clan-Chef erklärt vielmehr, den reingeschmeckten Neffen gar nicht zu kennen, und mutmaßt, die eigene geschäftstüchtige Schwester Marie Antoinette, die schon mancher illustren Person aus dem niederen Volk, etwa einer Schneiderin aus Garmisch, in den Hochadel verholfen hatte, habe Constantin im Erwachsenenalter adoptiert. Dieser Weg zum Second-Hand-Fürsten ist ebenso legal wie absurd.

 

Doch Constantin protzt nicht nur mit dem erworbenen Titel, sondern auch mit imaginären Lebensleistungen. Er habe Kunst in München und Wirtschaftswissenschaften in Calw studiert, Karriere im berühmten Auktionshaus Sotheby`s gemacht und sei vom Malteserorden zum Ritter geschlagen worden. Dies ergäbe eine veritable Laufbahn für einen adligen Schmarotzer – wenn denn die Fakten stimmen würden. Weder in München noch in Calw existieren die Hochschulen, an denen der AfD-Kandidat seine Ausbildung zum Künstler/Kunstwissenschaftler bzw. Ökonom (übrigens ohne Abitur) absolviert haben will. Bei Sotheby`s brachte er es gerade mal zum Praktikanten, und dem deutschen Malteser- oder Johanniterorden ist der Prinz unbekannt. Allerdings zerfielen die einstigen Kreuzritter, die Jerusalem gegen die Muslims halten wollten, aber stattdessen auf einem Felsen im Mittelmeer landeten, in unzählige Zirkel, ansässig in verschiedenen Ländern. Irgendeine von diesen Splittergruppen wird Constantin schon das Schwert auf die Schulter (oder auf den Kopf?) gehauen haben.

 

In den elysischen Tegernseer Gefilden glaubt die AfD, mit einem Paradiesvogel, der sich sein Gefieder selbst eingefärbt hat, Stimmen einheimsen zu können. Doch die CSU hat etwas gegen populistische Emporkömmlinge, die in ihrem Revier wildern, und sie kann auf ein Stehaufmännchen aus uraltem Adel in der eigenen Mannschaft verweisen.

 

Eine Frage der Etikette

 

Keine Frage, Karl-Theodor von und zu Guttenberg musste nirgendwo an Sohnes statt angenommen werden, er ist einfach qua Geburt von hehrem Geblüt. Da Horst Seehofer den falschen Doktor nach dessen tätiger Reue in den USA wieder für ministrabel, sogar im Bund, hält, könnte sich für eine Kaste, die mangels Inhalten streng auf Etikette achtet, folgendes Problem auftun: Sollten sich der fränkische Ritterabkömmling und der oberbayerische Neo-Adlige in Berlin begegnen, müsste erörtert werden, wer wem den Vortritt zu lassen hat.

 

Einerseits nimmt Constantin als Fürst den Vorrang gegenüber einem schlichten (wenn auch vom Hauch der Jahrhunderte umwehten) Freiherrn ein, andererseits sollten aber auch die persönlichen Verdienste gewürdigt werden. Und da hat Karl-Theodor eindeutig die Nase vorn: Er war schon einmal Verteidigungsminister, nicht nur Kurzzeit-Praktikant im Verteidigungsministerium. Und was das Frisieren der eigenen Biographie angeht, interessieren sich für Constantins phantasievolle Retuschen weder Staatsanwälte, noch Hochschullehrer oder Malteser, während sich eine ganze Legion von Professoren damit beschäftigte, den Unterschleif des gegelten Barons aufzudecken und ihm den Doktortitel abzuerkennen.

 

Die Bäume der AfD werden am Tegernsee nicht in den Himmel wachsen. Dafür sorgt eine CSU, die auf einen groben nationalistischen Klotz einen noch dezidierter chauvinistischen Keil setzt (und wenn sie dazu eine Leitkultur ersinnen muss) und die im Notfall auf die effektiveren Hochstapler zurückgreifen kann.

 

09/2017

Dazu auch:

Union der Verhinderer im Archiv dieser Rubrik

 

   

 

                

Mörder und ihre Helfer


Weitgehend abseits der Weltöffentlichkeit spielt sich im ärmsten Land der arabischen Halbinsel eine humanitäre Katastrophe ab. Im Jemen wird ein brutaler Stellvertreterkrieg geführt, den Menschen dort fehlt es an Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und sauberem Wasser, was mittlerweile zur verheerendsten Cholera-Epidemie der Gegenwart geführt hat. Die Bundesregierung schweigt nicht etwa nur zu den Kriegsverbrechen, die Deutschlands Bündnis- und Handelspartner Saudi-Arabien im Jemen flächendeckend begeht, sie stattet vielmehr die Täter auch noch mit Material und militärischem Know-how aus.


Das gebeutelte Land


Außer Weihrauch gibt es im Jemen eigentlich wenig zu holen. Das Land verfügt kaum über Bodenschätze, es regnet fast nie, unfruchtbare Gebirgszüge und Wüste prägen die Landschaft, die bitterarme Bevölkerung ist auf Lebensmittelimporte angewiesen. Doch die strategisch wichtige Lage am Golf von Aden, dem Horn von Afrika gegenüber, weckten früh die Begehrlichkeiten von Großmächten. Das Osmanische Reich und Großbritannien teilten lange Zeit den Jemen unter sich auf, das erstarkende Saudi-Arabien versucht bis zum heutigen Tag, den zerrissenen Staat unter seine Kontrolle zu bringen, schon, weil fast die Hälfte der jemenitischen Bevölkerung der den wahhabitischen Eiferern in Riad verhassten Islam-Sektion der Schiiten angehört.


Nach der Unabhängigkeit setzte eine beinahe ununterbrochene Reihe von Bürgerkriegen ein. So kamen allein in den 1960er Jahren rund 200.000 Menschen im Kampf der von den Saudis und den USA unterstützten Monarchisten des Nordens gegen die von der UDSSR und Ägypten favorisierten Republikaner des Südjemen ums Leben – eine wahnwitzige Zahl, die wohl im augenblicklichen Konflikt noch übertroffen werden dürfte, wenn man die Kollateralschäden durch Hunger und Seuchen mit einrechnet. Das Land, mal in zwei Teile gespalten, dann wiedervereinigt, wurde zwangsläufig zum failed state, in dem bis heute Bergstämme, al-Qaida oder der IS eigene Regionen beherrschen, in dem heute eine von der UN-Staatenmehrheit anerkannte Regierung, quasi eine Marionettentruppe der Saudis, nichts zu sagen hat: ein Scherbenhaufen à la Libyen, allerdings von der blutigen Dimension Syriens.


Ein verlässlicher Partner


Wie unlängst eine ARTE-Reportage dokumentierte, geht das Zeloten-Regime der Saudis in Riad derzeit mit brutaler Härte gegen die schiitische Minderheit im eigenen Land vor. Selbst Minderjährige fallen einer Hinrichtungswelle zum Opfer, weil sie demonstriert haben oder mit den falschen Menschen verwandt sind. Als nun im Jemen die schiitischen Huthi-Rebellen 2015 die Regierung aus Sanaa verjagt und einen Großteil des Landes erobert hatten, griffen die wahhabitischen Kriegsherren an der Spitze einer multinationalen Eingreiftruppe ein. Den Saudis gelang es, mit Landstreitkräften Aden zu erobern, dann aber blieb ihr Vorstoß stecken und sie verlegten sich darauf, den Westen des Landes, der fast vollständig unter der Kontrolle der Huthis ist, mit Bombenterror aus der Luft zu überziehen und durch eine Seeblockade auszuhungern.


Ermuntert von den USA, gründete Saudi-Arabien im Dezember 2015 eine Islamische Koalition, zu deren 34 Mitgliedern so prominente Wahrer der Menschenrechte wie Ägypten, der Sudan, die Vereinigten Emirate, Bahrein oder die Türkei gehören. Diese saubere Allianz, pro forma für den Krieg gegen den Terrorismus, de facto für den Kampf gegen den Iran, die Schutzmacht der Schiiten, zusammengeschweißt, zerbombt derzeit im Jemen Schulen, Krankenhäuser, Kraftwerke und Wohnviertel. Gleichzeitig blockieren ihre Schiffe die Häfen und verhindern so, dass dringend benötigte Medikamente und Nahrungsmittel, von deren Import rund sechs Millionen Menschen abhängig sind, ins Land gelangen. Auf Bayern 5 warfen zudem NGOs den Saudis vor, gezielt die Wasserversorgung zu zerstören, um jeden Zugang zu sauberem Trinkwasser unmöglich zu machen – eine besonders perfide Strategie in den Zeiten der Cholera.


Nach Artikel 8 Abs. 2b des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs sind Kriegsverbrechen u. a.  „schwere Verstöße gegen die (…) im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche, nämlich jede der folgenden Handlungen: i)  vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als solche (…); ii) vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte (…); iv) vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte (…) verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen; v) der Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, die nichtmilitärische Ziele sind (….)“.


All diese Verstöße können den Saudis und ihren Verbündeten zur Last gelegt werden. Mit anderen Worten: Bei der von Riad angeführten Kriegskoalition handelt es sich um einen Haufen von Kriegsverbrechern.

Doch auch der entschlossenste Mörder benötigt zuallererst das Handwerkszeug für die Ausführung seiner Untaten. Und hier kommt (neben der US-Administration) die Berliner Regierung ins Spiel. Bereits 2015 hatte der geheim tagende Bundessicherheitsrat den Export von Teilen für Kanonen- und Pistolenmunition, von Drohnen, Teilen für gepanzerte Fahrzeuge sowie von Kampfflugzeugen und Geländewagen nach Arabien genehmigt. Zwei berüchtigte Markennamen der deutschen Rüstungsindustrie tauchten im Lieferantenverzeichnis auf: Diehl verkaufte u. a. 330 Sidewinder-Raketen an die Vereinigten Arabischen Emirate, während Heckler & Koch den Saudis eine Waffenfabrik einrichtete, in der das Sturmgewehr G-36 in Lizenz produziert wird. Außerdem bildet die Bundeswehr Militärpersonal aus dem Königreich in Deutschland aus. Für den Massenmord?


Eigentlich darf die deutsche Rüstungsindustrie nach hehren politischen Vorgaben nicht in Krisengebiete exportieren, doch was stört eine deutsche Regierung das Geschwätz von gestern, wenn lukrative Aufträge winken und ein islamistisches Terror-Regime punktgenau ins eigene geostrategische Konzept passt. Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken bezüglich der Lieferung von Patrouillenbooten an die Kriegsherren von Riad antwortete die Bundesregierung im März 2017 wortwörtlich: „Sicherheit und Stabilität gehören zu den erklärten außenpolitischen Prioritäten Saudi-Arabiens.“ So beschreibt man einen verlässlichen Partner im Kampf um wirtschaftliche, politische und militärische Vorherrschaft.


Keine Fahrlässigkeit, sondern Mitschuld


Deutsche Ingenieurskunst tötet im Jemen mit, mittels Bombenflugzeugen, deren Komponenten von EADS hierzulande gefertigt wurden, mittels Gewehren sowie Munition und mittels Patrouillenbooten, die eine Bevölkerung, in der geschätzte fünf Millionen Menschen vom Hungertod bedroht und weitere 600.000 an Cholera erkrankt sind, vom Nachschub an Nahrung und Medikamenten abschneidet. Auch die Bundesregierung kennt diese Fakten, aber sie hat sich schon zu lange auf den Teufelspakt eingelassen.


In Riad gaben sich die SPD-Minister Steinmeier und Gabriel, die CDU-Kriegsministerin von der Leyen sowie Kanzlerin Merkel die Klinke in die Hand, meist begleitet von hochrangigen Repräsentanten der deutschen Rüstungsindustrie. So ist es auch kein Wunder, dass der Verkauf von 48 Patrouillenbooten an die saudische Kriegsmarine vorab anstandslos abgenickt wurde. Und auch jetzt noch, mitten in einem Vernichtungskrieg, darf die Lürssen Werft die Schiffe paarweise ausliefern.


Es wäre falsch, der Kanzlerin und den zuständigen Ministern sowie Sicherheitsberatern  Ahnungslosigkeit oder Fahrlässigkeit zu unterstellen. Sie wissen genau, was sie tun. Würde sich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag nicht aus Opportunitätsgründen vorrangig mit afrikanischen Schlächtern ohne westliche Lobby befassen, säßen wohl bald auch deutsche Regierungsvertreter auf der Anklagebank. Wegen Beihilfe zu schweren Kriegsverbrechen im Jemen.

 

08/2017

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Gefährder aus Austria

 

Während viele Europäer die Wahlen in Frankreich und den Niederlanden besorgt beobachteten, weil sie einen Sieg rassistischer und chauvinistischer Kräfte befürchteten, während hierzulande ein gutes Ergebnis der AfD befürchtet wird,  vollzieht sich ganz ungeniert, aber wenig beachtet, in Österreich ein Rechtsruck ungeahnten Ausmaßes. Der Doktor, der die sieche bürgerliche Gesellschaft dort zu kurieren verspricht, könnte sich als extremer Gefährder entpuppen.

 

Auf rechter Überholspur

 

Wenn alles so läuft, wie die Meinungsforschungsinstitute es prognostizieren, wird nach den Nationalratswahlen am 15. Oktober ein smarter Senkrechtstarter, dann gerade erst 31 Jahre alt, als nächster österreichischer Bundeskanzler vereidigt werden. Seit Außenminister Sebastian Kurz den Vorsitz der behäbigen ÖVP (und damit quasi die ganze Partei) im letzten Mai okkupiert hat, liegen die Konservativen in der Wählergunst weit vor SPÖ und FPÖ, die sich ein Kopf- an Kopfrennen um die Silbermedaille zu liefern scheinen. Erleichterung kommt auf in Europa, hatte man doch einen Durchmarsch des rechtsradikalen EU-Gegners Heinz-Christian Strache von der FPÖ gefürchtet. Doch wer jetzt aufatmet und einen „weiteren Sieg der Vernunft“ feiern will, verkennt zwei Dinge: Einerseits haben Le Pen und Wilders zwar nicht persönlich triumphiert, doch haben sie dafür gesorgt, dass die Politik und das gesellschaftliche Klima in ihren Ländern insgesamt nach rechts gerückt sind. Zum anderen könnte mit Kurz ein machthungriger Opportunist eine ihm hörige Regierung bilden, der kaum weniger populistisch und nationalistisch argumentiert als Strache.

 

Die einst in Programm und Bedeutung an die bundesdeutschen Liberalen erinnernde FPÖ hatte sich unter dem Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider zur ernsthaften nationalistischen Konkurrentin der in Proporz-Gerangel und Postenschacherei erstarrten „Volksparteien“ SPÖ und ÖVP gemausert. Als Haider und seine Gefolgsleute die Partei verließen, wurde Heinz-Christian Strache Bundesobmann. Zwar verfügte er nicht über das rhetorische Charisma seines skandalumwehten Vorgängers, doch brachte er die FPÖ noch stringenter auf nationalistischen Kurs und unterhielt beste Beziehungen zu geistesverwandten Parteien, etwa dem Front National oder der AfD, sowie zur internationalen Neonazi-Szene. Noch im Mai dieses Jahres lagen die „Freiheitlichen“ in den Umfragen vorne – dann wurde Sebastian Kurz neuer ÖVP-Chef und zeigte sogleich, dass er noch besser auf der Klaviatur von Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingsphobie zu spielen versteht als der erklärte Chauvinist Strache.

 

Als Außenamtschef wurde Kurz auch noch Integrationsminister, was er dazu nutzte, Gesetze, die Asylsuchenden eine österreichische Leitkultur (?) und den Chancenreichen unter ihnen erst mal neun Monate gemeinnützige Arbeit ohne Bezahlung zu verordnen – prächtige Ausbeutung und eine Billig-Konkurrenz für einheimische Pflegekräfte oder öffentliche Mitarbeiter. Obwohl die Koalition aus SPÖ und ÖVP die Obergrenze für Flüchtlinge (von der hierzulande Seehofer nur träumen darf) auf läppische 37.500 Aufzunehmende in diesem Jahr festgesetzt hat, gibt Kurz weiter den Retter Austrias vor einer drohenden Invasion, begrüßt die Grenzschließungen und Stacheldrahtzäune in Ungarn und auf dem Balkan, bereitet empfindsame Seelen auf Kollateralschäden bei der Zurückweisung verzweifelter Menschen vor: „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“ Den Organisationen, die Schiffbrüchige aus dem Mittelmeer retten, attestiert er „NGO-Wahnsinn“, der beendet werden müsse. „Keiner in Österreich will eine Schließung des Brenner“, besänftigt er zunächst das Nachbarland Italien, dessen Pech es ist, über Küsten zu verfügen, um dann zu drohen: „Aber wenn jeden Tag Flüchtlinge und Migranten weitergewunken werden, haben wir keine anderen Möglichkeiten…“

 

Die grobe Wortwahl überlässt er dabei seinem ÖVP-Kollegen, dem Innenminister Sobotka, der auf die Kritik des italienischen Außenministers Alfani zu Wiener Plänen, einen 400 Meter langen Zaun am Brenner zu bauen, mit Drohungen reagierte: „Wir machen den Brenner zu, wenn die Zahl der illegalen Einwanderer nach Österreich steigt … Binnen 24 Stunden können wir mit Soldaten die grüne Grenze abriegeln und mit Zoll und Polizei scharfe Grenzkontrollen realisieren.“ Das also bleibt von einer der wenigen tatsächlichen Errungenschaften der EU, den offenen Grenzen in Europa, wenn Rechtskonservative auf Stimmenfang gehen…

 

Die österreichischen Grünen warfen Kurz unterdessen vor, die „Hasspolitik der FPÖ“ zu übernehmen. Noch schärfer reagierte der Bürgermeister von Lampedusa, nachdem der Kanzlerkandidat gefordert hatte, die Flüchtlinge von der (ohnehin überfüllten) Insel nicht mehr aufs Festland zu lassen: „Dieser Herr ist ein Rassist, Landsmann eines alten Mitbürgers, der dann in Deutschland eingebürgert wurde und eine Katastrophe für Europa und die Welt war.“

 

Nun, man muss Sebastian Kurz nicht unbedingt mit Hitler vergleichen, ein wenig von dessen Machtbesessenheit und Hang zum Personenkult schimmert aber auch bei diesem gegenwärtigen Populisten durch.

 

Alleinherrscher der ÖVP

 

Als der neue Popstar der Rechten im Mai die abgehalfterte ÖVP übernahm, um sie vom dritten auf den ersten Platz der nationalen Polit-Hitparade zu führen, bedang er sich zwei Befugnisse aus, die so in einer bürgerlichen Demokratie nicht vorgesehen sind: So werden Kurz ein Vetorecht gegen die von den Landesorganisationen aufgestellten Kandidatenlisten für den Bund und die alleinige Entscheidungsgewalt über die Bundesliste eingeräumt. Eine innerparteiliche Mitbestimmung sieht anders aus. Zudem soll die ÖVP künftig nur noch den Kern einer politischen Bewegung bilden, in der sich auch Nichtmitglieder um die Lichtgestalt scharen können, nach der die sich frische Rechtsfront benennt: Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei.

 

Gewiss, mit ähnlicher Hybris ging auch Emanuel Macron, der französische Phönix aus der Asche, an dessen Lack allerdings bereits die ersten Kratzer sichtbar werden, vor, doch hatte der sozusagen wenigstens das Copyright für seine République en Marche, während Kurz die siechende ÖVP bei lebendigem Leib ausschlachtet, um sie zu seiner persönlichen Kampforganisation umzugestalten. Und das kommt anscheinend an bei den rechten Wählern. Wahlforscher mutmaßen, dass er der FPÖ bis zu 300.000 rechtskonservative bis faschistoide Wähler abspenstig machen und so die Verhandlungsposition des potentiellen Koalitionspartners schwächen könnte.

 

Denn Sebastian Kurz will erklärtermaßen nach der Wahl nicht mehr mit der SPÖ koalieren, bleibt also zur Mehrheitsbeschaffung im künftigen Parlament nur noch die FPÖ. Rechts zu Rechts gesellt sich gern – und hat es 2000 auch schon einmal getan. Damals bildete die ÖVP für zwei Jahre eine Regierung mit Haiders FPÖ, obwohl die anderen EU-Regierungen (zumindest für die Galerie) Sturm gegen diese Mesalliance liefen. Inzwischen sind die Tabus gefallen, Europas konservative Mandatsträger distanzieren sich nur lau von den Rechtspopulisten, zumal sie in deren Wählerreservoir mit inhaltlich von diesen geklauten Parolen fischen wollen. Und von der anderen Seite des bürgerlichen Spektrums ist ebenfalls kaum Widerstand zu erwarten.

 

Kapitulation aus freiem Willen

 

Der amtierende SPÖ-Bundeskanzler Christian Kern, ein Ex-Manager, hat die Anti-Flüchtlingspolitik eines Sebastian Kurz mitgetragen, die bösartigen, Wählerstimmen heischenden Verschärfungspläne indes lässt auch er lieber einen Parteigenossen, den Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil, vortragen. Der fordert wie ein Seehofer hoch drei gleich eine Obergrenze für die gesamte EU. Außerdem sollen nach seiner Vorstellung Asylanträge nur noch außerhalb Europas gestellt werden können, also in den Elendslagern Libyens, Ägyptens oder Nigers, wo er eine sorgfältige Prüfung wundersam zu garantieren können glaubt. Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen zählen während eines Wahlkampfes in Österreich (und anderswo) offenbar nicht mehr viel. Doskozils erstaunliches Kredo zur Abschottung der Ersten Welt gipfelt in dem Satz „Hilfe und Solidarität heißt Rückführungen“. Bei Abschiebungen nach Afghanistan dürfte es sich wohl eher um Sterbehilfe handeln, und unsere Solidarität gehört anscheinend vor allem einem ägyptischen Militärdiktator und rassistischen Schreiern auf unseren Straßen.

 

Es ist die erbärmliche Haltung der Sozialdemokratie fast überall in Europa (mit Corbyns Labour Party als bemerkenswerter Ausnahme), diese schleichende Anpassung an nationalistische und xenophobe Milieus, die jede Hoffnung auf eine inhaltlich relevante Veränderung, auf eine intelligente Gestaltung unser multikulturell gewordenen Gesellschaften im Keim erstickt. Merkels redundante Beschwörung von der „Alternativlosigkeit“ birgt leider einen wahren Kern in sich: Von den Konservativen über die Genossen bis hin zu den meisten Grünen fehlen emanzipatorische Ideen. Die einen sind mit dem Status quo zufrieden, weil sie von ihm profitieren, die anderen glauben sich keine leisten zu dürfen, weil sie Wählerstimmen kosten könnten. Was bleibt, ist eine beinahe ununterscheidbare „Parteienvielfalt“ zum Pläsir von geistigen Kleinbürgern und im Dienst der Wirtschaft.

 

Sebastian Kurz gehört zur Kategorie der politischen Gefährder, aus eigenem Machttrieb heraus und durch keinerlei moralische Fußfessel gebremst. Und so könnte sich in Österreich – auch mit Zutun der SPÖ – unter aller Augen die rechte Metamorphose, die Verwandlung der bürgerlichen Republik in ein hassgetriebenes und in jeder Hinsicht enges Land vollziehen, eben das, was man für Frankreich und die Niederlande gefürchtet hat (und was auch ein Stück weit geschehen ist). Aber über Austria regt sich keiner mehr auf. 

 

07/2017

Dazu auch:

Fürchtet Europa! in der Rubrik Politik und Abgrund     

 

                                       

 


Verhältnismäßigkeit


In Hamburg tagte die politische Elite der Welt: Merkel, Trump, Macron, Putin, Erdoğan und der wertvolle Rest. In Hamburg gingen Hunderttausende von Demonstranten auf die Straße, wobei eine Minderheit von ihnen darunter glaubte, unbedingt die Konfrontationsstrategie der Polizeiführung bedienen und subalterne Uniformierte in ihrer Gesundheit gefährden zu müssen, als befänden sie sich in einer leibhaftigen Revolution. Das Verdikt und die Erinnerung der Öffentlichkeit sind eindeutig: Aufs Schafott mit den Übeltätern! und im zweiten Atemzug (zu den Gipfel-Inhalten) Viel ist nicht dabei herausgekommen, na wennschon… . Tatsache ist, die Einen wollen kaputtmachen, was uns kaputtmacht und zerdeppern dabei lediglich das Nachtgeschirr, die anderen machen wirklich kaputt, was wir zum Überleben benötigen.


Der Informationspflicht enthoben


Der unvermeidliche bayerische Innenminister Joachim Hermann, der zur juristischen Hilfskraft der Union avancierte Sozialdemokrat Heiko Maas und dazu ein paar Polizeigewerkschaftler, ein Impresario wie Wolfgang Ischinger, der ähnlich nutzlose Konferenzen in München organisiert, und das nun arg gebeutelte hanseatische Grinsgesicht Olaf Scholz bestimmen die Schlagzeilen: Das darf nicht mehr passieren! Nie wieder brennende Autos, eingeschlagene Schaufensterscheiben, Polizisten in Angst um ihr Leben. Alles muss künftig kontrolliert und reglementiert werden: Einschränkung des Demonstrationsrechts, europäisches Zentralregister für linksradikale Gewalttäter, Einreiseverbote, drakonische Strafen, schärfere Überwachung, Fußfesseln etc.


Den Scherz schlechthin sonderte Hermann ab, als er insistierte, der Linksradikalismus müsse künftig genauso ernstgenommen und ähnlich erfolgreich bekämpft werden wie der Rechtsextremismus. Den schwarzen Block bei all seiner sinnlosen Aggressivität auf eine Stufe stellen mit dem mörderischen NSU? Und Autonome ebenso einfühlsam unter die Fittiche von Verfassungsschutz und BKA nehmen wie Neonazi-Schläger? Womöglich könnte man auch noch ein Grundsatzprogramm für Anarchisten mit ausarbeiten, wie man es auf der anderen Seite bei der NPD bereits erfolgreich getan hat. Ganz auszuschließen ist nach einschlägigen Erfahrungen auch nicht, dass in Hamburg besonders engagierte V-Leute als agents provocateurs an vorderster Front mitmischten.


Einer der wenigen Kommentatoren in den Leitmedien der Republik, die sich gegen das wahllose Demo-Bashing seiner Kollegen stellten, war Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Er warf der Polizei und dem Hamburger Innensenator „paramilitärische Taktiken“ à la Trump sowie den in der Hansestadt mitregierenden Grünen feiges Abtauchen angesichts der Aushöhlung des Rechts auf Kundgebungsfreiheit vor. Ansonsten aber widmeten die Edelfedern der deutschen Journaille den Ausschreitungen übermäßig viel Aufmerksamkeit, während die wesentlich folgenreicheren Flops der Hauptdarsteller unter ferner liefen abgehandelt wurden.


Die 32 Journalisten, denen aufgrund dubioser (zum Teil wohl aus Ankara stammender) Verdächtigungen nach anfänglicher Zulassung zum Gipfel die Akkreditierung entzogen worden war, können hingegen wenig berichten und nichts bewerten – der Verfassungsschutz macht`s möglich. Viele Kollegen aber, die keinen Anstoß erregten, weil ihre Wahrnehmungsfähigkeit in Think Tanks oder wirtschaftsfreundlichen Redaktionen geschult worden war, schwiegen sich weitgehend über die Vertuschungen, Banalitäten und Realitätsverluste der G-20-Cracks aus, glaubten sie sich doch angesichts der billigen, aber vermarktbaren Randale auf Hamburgs Straßen jeglicher Verpflichtung zur kritischen Informierung über die Gipfel-Inhalte enthoben. Und dabei hätte es so viel zu gewichten, kommentieren und entlarven gegeben…

Die Heuchlerin und die Autokraten


Nehmen wir die Klimapolitik: Trump, der Schurke, bekräftigt den Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen, die neue Wortführerin der Guten, Angela Merkel, verkündet, dass dann halt die restlichen 19 versammelten Staaten die Welt retten würden, was sich aber zumindest einer ihrer Lenker, Recep Erdoğan, noch zusätzlich bezahlen lassen will. Ausgerechnet die Bundeskanzlerin, die bislang unüberschaubare Milliardenkosten für den Steuerzahler zu verantworten hat, weil sie nach ihrem zweifachen Meinungswechsel in Sachen Atomenergie die Konzerne weitgehend aus der Verantwortung für den AKW-Rückbau und die Brennstäbe-Entsorgung entließ, die in Brüssel intervenierte, wenn die EU-Kommission den Fälschern und Luftverschmutzern der Automobilindustrie, allen voran der deutschen, das Handwerk legen wollte, die sich um die selbst formulierten, schon nicht mehr erreichbaren Klimaziele einen Dreck schert, wenn Wahlkampf ist, ausgerechnet diese Heuchlerin als Lichtgestalt!


Da wirken selbst Autokraten wie Putin, der außenpolitisch relativ vernünftig agiert, im Inneren seines Landes aber ein beinahe zaristisches Gebaren an den Tag legt, oder Erdoğan, der Kritiker verfolgen lässt, aber wenigstens öffentlich dazu steht, wie aufrichtige Vertreter, nicht unbedingt ihrer Völker, aber zumindest ihrer eigenen Machtansprüche. Auch eine Lachnummer wie Macron, der ein Gesetz gegen Vorteilsannahme in der Politik von einem Minister ausarbeiten ließ, der anschließend selbst wegen Vetternwirtschaft zurücktreten musste, geht angesichts der Merkel`schen Bigotterie als eher zweitrangig durch.

  

Und dann einigt man sich auf eine Erklärung, die Frau Merkel in dem ihr eigenen Grundton tiefster Unredlichkeit so wertete:  "Ich bin sehr zufrieden, dass es gelungen ist zu sagen, dass die Märkte offengehalten werden." Vor allem die Hungermärkte der Dritten Welt für Giftschrott und minderwertige Nahrungsreste aus der EU. Außerdem solle laut Kanzlerin der Protektionismus bekämpft werden, ebenso wie „unfaire Praktiken“. Ein afrikanischer Staat, der seine Kleinbauern durch Agrar-Einfuhrzölle schützt, foult nach dieser Logik die Export-Multis des „freien Marktes“.

  

Ursache und Wirkung – ein wenig verdreht


Alles kein Thema für die meisten Journalisten der De-Luxe-Medien: Für sie standen die sinnlose Gewalt, die unvorstellbaren Ausschreitungen, die bürgerkriegsähnlichen Attacken im Mittelpunkt, die eigentlichen Auslöser, die politischen Strippenzieher und ihre kruden Machenschaften blieben gänzlich im wohltuenden Hintergrund oder wurden nur zart von kritischer Berichterstattung gestreift. Nebenher wurde auch das streckenweise brutale Vorgehen der Polizei, die in ihre Statistik eigener Verletzter vorsorglich alle Kranken und Invaliden der letzten Wochen vor dem Gipfel mit eingerechnet hatte (geschickt eingefädelt, nur leider aufgeflogen), sorgsam ausgespart.


Es mögen etliche Autonome keinen sehr dezidierten politischen Hintergrund gehabt haben, und manche wollten wohl die Eskalation unbedingt, während sich andere durch das martialische Auftreten der Polizei provoziert fühlten – in jedem Fall bleibt die von den Kriegsberichterstattern in den Medien nicht angesprochene Frage: Woher kommt die Wut, die übrigens auch die friedlichen Demonstranten empfanden? Da treffen sich zwanzig Spitzenpolitiker und beschließen ein Weiter so!, eine hemmungslose Vermehrung großenteils unnützer Güter auf Kosten natürlicher Ressourcen und abhängiger Arbeitskräfte, gesteigerte Produktion und grenzenlosen Handel mit allem und damit irgendwo neue Kriege und den ungleichen Konkurrenzbedingungen geschuldete Hungersnöte. Da ist keine Verantwortung und keine nachhaltige Planung erkennbar (von ein paar Klimazielen, die Deutschland und andere ohnehin nicht einhalten werden, abgesehen). Und das alles, damit das Naturgesetz des globalen Kapitalismus, die schrankenlose Vermehrung von Geld und Macht in den Händen weniger, durchgesetzt wird.


Nun mag einer einwenden, auch die AfD, Pegida und rechte Verschwörungstheoretiker offenbarten diese Wut und griffen die Anonymität der Macht sowie das einschlägige Schweigen der Medien an. Hier ist die Frage nach den Motiven entscheidend: Die extremen Nationalisten stellen den Status quo an sich nicht in Frage, sie sehen vielmehr ihre eigene Position gefährdet oder fühlen sich von Erfolgreicheren benachteiligt und wehren sich, indem sie nach oben schimpfen und nach unten treten, vorzugsweise in schwarze oder braune Gesichter. Die Wut der Linken entzündet sich hingegen an der Erkenntnis, dass der politisch-wirtschaftlich-militärische Machtkomplex wider alle wissenschaftlichen Warnungen und jede gesellschaftliche Verantwortung die Welt entsolidarisiert und zugrunde richtet.


Auch wenn einige Autonome mit fatalen Folgen Bürgerkrieg spielen wollten, weil ihnen die Einsicht abgeht, dass in unseren hochgerüsteten Staaten eine bewaffnete Revolution angesichts des Sicherheits-, Überwachungs- und Propagandaapparats nicht mehr möglich ist, es sei denn als allgemeines Blutbad, so wird ihnen doch von der falschen Seite vorgeworfen, sie seien keine Linken mehr. Ausgerechnet SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz, ebenso wie Angela Merkel ein fanatischer Kämpfer für den Freihandel, welcher mithilfe eines Waffenarsenals vom Schlage TTIP oder CETA das weltweite Oben und Unten zementiert, maßt sich die Deutungshoheit über eine per se progressive politische Ausrichtung an. Schulz ist ein prominenter Vertreter des Systems, was links ist, weiß er schon lange nicht mehr – oder will es nicht mehr wissen.


07/2017

Dazu auch:

Clowns ohne Ende in der Rubrik Helden unserer Zeit       
 

 


 

 

Der Outsider


Während in Frankreich und den Niederlanden die sozialdemokratischen Parteien von den Wählern in die Bedeutungslosigkeit zurückgestuft wurden, während der SPD hierzulande am 24. September ein Debakel ohnegleichen droht, gewinnt die Labour Party in Großbritannien an Mitgliedern und Stimmen. Ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn ist im illustren Chor der neoliberalen Parteiführer in sozialdemokratischem Schafspelz in jeder Beziehung ein Außenseiter.


Daseinsberechtigung im Zweifel


Man mag der europäischen Sozialdemokratie vorwerfen, dass sie das kapitalistische Produktions- und Herrschaftssystem nie wirklich infrage stellen wollte, dass sie lediglich an den Symptomen herumdokterte, sich aber nicht an die Ursachen von Ausbeutung und Ungerechtigkeit heranwagte. Dennoch hat sie einige bemerkenswerte Köpfe und aufrechte Politiker hervorgebracht – in der Vergangenheit. Was sich in den letzten Jahrzehnten an der Spitze der SPD und ihrer Schwesterparteien in Österreich, Frankreich, Spanien oder den Niederlanden tummelte, war wirtschaftsliberales Epigonentum mit verbal-sozialen Alibi-Vignetten.


Dabei hätten die Sozialdemokraten angesichts der Tatsache, dass in Europa eine fundamentale Veränderung der Besitz- und Machtverhältnisse in absehbarer Zukunft nicht ansteht, in eine historische Rolle schlüpfen können, nämlich die der Schützer der Unterprivilegierten, der Wahrer von Arbeitsrechten, der Dompteure jenes unkontrollierten Wildwuchses von merkantiler Gier und informeller Apartheid, der sich „freier Markt“ nennt, der Bremser bei der Abkoppelung der Massen von Selbstbestimmung, Information und Bildung. Doch um die Funktion des Wächters, der in Zeiten globaler Ausbeutung und medialer Verschleierung versucht, das eingetrübte Bewusstsein und die verlorengegangene Solidarität durch Aufklärung wenigstens teilweise wiederherzustellen, auszufüllen, reicht es nicht, wie Martin Schulz ein wenig soziale Flickschusterei zu betreiben, man müsste die richtigen Fragen stellen, die unbequemen Antworten geben, und man müsste integer, also ehrlich und frei von Lobbyisten-Einflüsterungen, sein.


Man könnte nun resignieren, weil es solche Kräfte zumindest in der Sozialdemokratie nicht zu geben scheint. Martin Schulz ist ein Mann des Systems, der sich scheut, den Kahlschlag, den sein ultra-rechter Genosse Schröder einst anrichtete, umfassend zu beheben. Noch inniger ins Establishment eingebunden ist der ehemalige Investmentbanker Emmanuel Macron, von der FAZ als „neulinks“ (Frechheit!) apostrophiert, der folgerichtig eine Liste der Grausamkeiten, die u. a. die Aushöhlung des Arbeits- und Vertragsrechts vorsieht, für die ganz unten ankündigt, allerdings zunächst damit beschäftigt ist, alle Mitstreiter, die ihm unter Korruptionsverdacht derzeit von der Stange gehen, zu ersetzen.


Die SPÖ in Austria, die PSOE in Spanien? Unscharfe Abziehbilder der rechten Parteien, an denen ein paar „volksnahe“ Retuschen vorgenommen wurden. Man könnte tatsächlich verzweifeln, gäbe es da nicht ausgerechnet im von konservativen Finanzmarkt-Imperialisten regierten Großbritannien einen Mann und seine Partei, die Hoffnung machen: Selbst wenn er letztendlich scheitern sollte, haben Jeremy Corbyn und die Labour Party bewiesen, dass linke Positionen und Widerstand gegen die Konzerne noch mehrheitsfähig sind, dass die arbeitende Bevölkerung aus dem von Wirtschaft und Staatsführung verordneten Koma aufwachen kann, wenn die eigentlichen Probleme und deren mögliche Lösung angesprochen werden.

     

Ehrlichkeit und Inhalte


Viele Chefs sozialdemokratischer Parteien in Europa haben ihre Karrieren als linke Hoffnungsträger begonnen und sind dann in Amt und Würden zu Butlern der Hochfinanz mutiert. Jeremy Corbyn hat auf dem linken Flügel von Labour angefangen, und er ist auch als Vorsitzender bei seinen Forderungen geblieben, deren Realisierung das System nicht beseitigen, aber doch erheblich umgestalten würde. Während die Genossen in der Rest-EU jede Entstaatlichung infrastruktureller Aufgaben sowie der Daseinsvorsorge willig mittragen und sich eifrig das von Investoren aufgezäumte trojanische Pferd der öffentlich-privaten Partnerschaften (PPP) in den Stall holen, tritt Corbyn für die Re-Verstaatlichung privatisierter Energie- und Transportunternehmen ein (ein nach dem Versagen der profitorientierten Betreiber mittlerweile populäres Ansinnen in Großbritannien) und lehnt die PPP, jene Geldmaschinen für Versicherungen, Finanzjongleure und Großbanken, generell ab.


Corbyn propagiert die Wiedereinführung der Reichensteuer und die Erhöhung der Gewerbesteuern, um u. a. das Gesundheitswesen besser zu alimentieren, sowie die Abschaffung von Studiengebühren, um annähernd gleiche Bildungschancen zu schaffen. Er ist als Pazifist Gegner der britischen Nuklear-Rüstung und hält auch einen Austritt seines Landes aus der NATO für möglich. Lediglich die von ihm gewünschte Abschaffung der Monarchie wird er vorerst nicht weiter betreiben, kennt er doch das skurrile Faible seiner Mitbürger für den kostspieligen Mummenschanz von Windsor.


Ein sozialdemokratischer Führer, der Überzeugungen der frühen Jahre treu bleibt, ist ein Unding, mochte sich der ehemalige Premierminister Tony Blair gedacht haben und begann, sich auf Corbyn einzuschießen. Kurz vor dessen Wahl zum Vorsitzenden warnte Blair, der einst unter dem Label „New Labour“ die Partei zum Dienstleister für die Wirtschaft umgestaltet hatte (ebenso wie Schröder die SPD in Deutschland), die Labour Party stehe nach den nächsten Wahlen vor der „Auslöschung“. Doch einem notorischen Irakkrieg-Lügner nimmt man solche Schreckensszenarien nicht mehr ab. Corbyn wurde 2015 von knapp 60 Prozent der Mitglieder und Sympathisanten gewählt. Als ein Jahr später wegen eines Putsches des Labour-Establishment, dem sich die Mehrzahl der Unterhaus-Abgeordneten anschloss, eine weitere Ur-Wahl fällig wurde, steigerte Corbyn seinen Stimmenanteil auf über 60 Prozent.


Im Gegensatz zu allen anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa (von drei Wochen Schulz-Besoffenheit hierzulande mal abgesehen) verlor die Labour-Party in den letzten zwei Jahren keine Anhänger, sondern steigerte die Zahl ihrer Mitglieder von 200.000 auf über eine halbe Million, darunter viele junge Menschen.


Labour ging nicht nur nicht unter, wie Blair geunkt hatte, die Partei erreichte ganz im Gegenteil mit 40,5 Prozent bei den Unterhauswahlen im Juni ihr bestes Ergebnis seit vielen Jahren. Man könnte fast glauben, Ehrlichkeit und Primat von Inhalten zählten etwas in der Politik.


Feinde allerorten


Vermutlich wird Jeremy Corbyn letztendlich scheitern, zu zahlreich sind seine Feinde, die buntscheckigen Verteidiger des Status quo. Die englische Presse, allen voran die Boulevard-Blätter, angesichts deren Propaganda-Stakkato BILD wie eine dezente Apothekenpostille wirkt, wütet gegen den Labour-Vorsitzenden, nennt ihn einen Madman. In der Sunday Times kündigte 2015 ein nicht namentlich genannter General für den Fall eines Labour-Wahlsiegs eine Rebellion der Streitkräfte an. In der EU wurde – mit der SPD ganz vorne in der Meute – zur Hatz auf Corbyn geblasen, als dieser ankündigte, den NATO-Rüstungswahnsinn nicht mehr mitmachen zu wollen. Und die im Westen (und großteils auch im Osten) selbstverständlich gewordene Koalition aus nationaler Politik und internationalem Geld wird sicherlich zu verhindern suchen, dass das schöne Vorhaben, England zu einer einzigen großen Cayman-Insel für steuermüde EU-Konzerne umzugestalten, durch einen hergelaufenen Linken gestört wird.

 

Nach dem überraschenden Ergebnis der britischen Unterhaus-Wahl twitterte Martin Schulz indes, er habe sogleich den gefühlten Wahlsieger Corbyn angerufen. Es waren wohl die Prozentzahlen, die den sich im Untergangsstrudel an jeden Strohhalm klammernden SPD-Vorsitzenden dazu bewogen, nicht irgendwelche politischen Übereinstimmungen – oder gar ein Lernbedürfnis. Der Mann, der als EU-Parlamentspräsident den Lobbyisten ungehinderten Zugang zu den Herzen und Geldbeuteln seiner Abgeordneten ermöglichte, dessen Partei Kriegseinsätze der Bundeswehr in failed states ebenso goutierte wie Rüstungsexporte, durch die solche missratenen Staatsgebilde überhaupt erst geschaffen wurden, die Vermögenssteuern abschaffte und derzeit per Gesetz die Filetstücke deutscher Autobahnen zu privater Ausbeutung feilbietet, hat dem Abrüstungsbefürworter und Sozialreformer Corbyn eigentlich nichts zu sagen.


Der wiederum hat immerhin – selbst wenn er nie Premierminister werden sollte, weil sich das System als zu stark erweist – gezeigt, dass sich mit wirtschafts- und militärkritischen Denkansätzen auch heute noch politisches Bewusstsein aufbauen und linkes Engagement initiieren lässt, während die SPD und ihre europäischen Schwesterparteien (ähnlich wie die Öko-FDP der Grünen) in rechtsbürgerlicher Ununterscheidbarkeit verschwinden.

06/2017

Dazu auch:       

Clowns ohne Ende im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit






Lustige Kriegsspiele


Während nach und nach ein Terrornetzwerk in der Bundeswehr aufgedeckt wird, werben unsere Militärs mit munteren Kriegsspielen um Kinder und Jugendliche. Politiker wie der CDU-MdB Patrick Sensburg fordern indessen schon seit einiger Zeit die Wiedereinführung der Wehrpflicht, damit die deutschen Interessen tunlichst weltweit durchgesetzt werden können. Parteifreunde springen ihm mittlerweile auch aus anderen Gründen bei: Sie glauben, dass sich in einem „Volksheer“ weniger Extremisten wie Franco A. tummeln würden als in einer Berufsarmee. Doch antidemokratisches Verhalten und Denken ist so oder so von oben verordnet.


Nachwuchs für die Front


Der Nationale Tag der Bundeswehr steht vor der Tür, und wieder einmal wirbt die Truppe an verschiedenen Standorten unter dem Motto „Technik, Action, Karriere und Spaß für die ganze Familie“ um die Jungen und Jüngsten. Kinder dürfen in Mini-Phantoms Platz nehmen, Panzer und Drohnen bestaunen, das „Leben im Felde“ schon mal für den Kriegsfall üben und mit MPs sowie Schnellfeuergewehren spielen. Die Profi-Armee benötigt Nachwuchs, kein Zweifel. Aber manchen Politikern graut angesichts brauner Traditionspflege, ordinärer Hooligan-Rituale und handfester Putschphantasien aus neonazistischer Ecke vor dem, was man da heranzüchtet.


Die 2010 beschlossene Aussetzung (nicht Abschaffung!) der Wehrpflicht rückgängig zu machen, scheint manchen Schreibtischstrategen ein probates Mittel, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, will sagen: die Mannschaftsstärke für weitere Auslandseinsätze zu erhöhen und eine reaktionär dominierte Söldnerarmee mit bürgerlichen Elementen zu infiltrieren. Nur ist leider nicht damit zu rechnen, dass sich sehr viele geschichts- und politikbewusste junge Menschen zum Dienst an der Waffe einfänden, nur um sich von militaristischen Offizieren und nationalistischen unteren Dienstgraden herumkommandieren und ein Denkverbot erteilen zu lassen.


Demokratie befehlen!


Das Grundprinzip jeder Armee ist nun mal undemokratisch. Und wenn ein paar idealistische Frischlinge dies zu ändern trachteten, würden sie bald von den altgedienten Spitzensöldnern, ihren Standortvorgesetzten und der gesamten Bundeswehrführung also, zur totalitären Disziplin verdonnert. Frau Merkel lehnt die Wiedereinführung der Zwangsverpflichtungen ab, wohl aus Rücksicht auf den Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften, vielleicht aber auch, weil sie ahnt, dass unter den Rekruten, den Jungen somit, die weder verweigern noch sich drücken würden, nicht wenige wären, die dem Chauvinismus ihrer Oberen Sympathien entgegenbrächten, und möglicherweise auch den Ideen rechtsradikaler Offiziere.


Demokratisches Verständnis kann man nicht befehlen, und ein Soldat, der zu viel denkt, vielleicht sogar – Gott bewahre! – in die pazifistische Richtung, ist ein potentieller Wehrkraftzersetzer. Also bleiben wir lieber bei den modernen Landsknechten, die sich die Bereitschaft zu töten bezahlen lassen, und passen künftig besser auf, dass sie sich anständig benehmen (nationalistisch bitte sehr, aber ja kein Faible für Putsch und Bürgerkrieg!).


Bleibt die Frage, wozu wir in langanhaltenden Friedenszeiten eine so große Söldnertruppe (oder überhaupt eine) benötigen. Bundespräsidenten wie Köhler, Gauck und Steinmeier sowie Kriegsministerin von der Leyen haben darauf längst sinngemäß ähnliche Antworten gegeben: Wir sind wieder wer in der Welt, wir müssen die Interessen unserer Wirtschaft und unsere Sicherheit überall „vorwärtsverteidigen“. 


…und morgen die ganze Welt!


Nach den glänzenden Siegen der Bundeswehr in Afghanistan (100 Benzindiebe massakriert), Serbien (Bomben auf Infrastruktur-Ziele abgeworfen) und Somalia (deutsche Einheit erfolgreich von indischen Blauhelmen geschützt) streben die Berliner Wehrstrategen weitere Triumphe an. Und wenn einem die Feinde ausgehen, schafft man sich eben neue.


Als Scharfmacher trieben deutsche Außenpolitiker und Verteidigungsminister nicht nur die Zerschlagung Jugoslawiens, sondern auch die vertragswidrige Einkreisung Russlands durch die NATO voran und gaben in der Ukraine-Krise so richtig Zunder. Dass außerdem die Sicherheit der Bundesrepublik, die Handelswege und Absatzmärkte am Hindukusch, in der Sahara oder sonstwo geschützt werden müssen und der Waffenindustrie Exporte in alle erdenklichen Kriegsgebiete zu ermöglichen sind, gehört mittlerweile zum Konsens der Koalition aus Union, SPD und einer grünen Realo-Mehrheit.


Es gibt also einen Haufen Gründe für eine hochgerüstete (wenn auch nicht unbedingt effektive) Bundeswehr. Und um für den personellen Nachschub zu sorgen, fixt man rechtzeitig Kinder mit Kriegsspielzeug an. Da darf man sich nicht wundern, wenn Offiziere wie Franco A. in ihrem Drang, das Vaterland, das Volk, die Rasse vor menschlichem Abschaum zu schützen, ein wenig zu weit gehen. Wäre die allgemeine Wehrpflicht schon wieder Regel gewesen, hätte er vielleicht noch ein paar naive Rekruten auf seinen rassistischen Amoklauf mitnehmen können.

05/2017

Dazu auch: 

Neue Alte Kameraden im Archiv der Rubrik Medien 

 






Schreckliche Freunde


Der Volksmund hält stets die passende Binsenweisheit parat: Seine Freunde kann man sich nicht aussuchen wäre so eine. In der Tat hätte ein Staat wie die Bundesrepublik Probleme damit, nur zu integeren, friedensbewegten und gerechten Regierungen gute Kontakte zu unterhalten (zumal man in Berlin selbst nicht in diese Kategorie fiele). Wenn die Merkel-Administration aber eine enge politische, wirtschaftliche und vor allem militärische Kooperation mit einem der gefährlichsten Regimes weltweit, der Wüsten-Theokratie in Saudi-Arabien, eingeht, dann kann man dies nur mit einer weiteren Redewendung aus dem Sinnspruch-Repertoire der deutschen Sprache kommentieren: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.


Nette Gespräche mit Schlächtern


Einen ganzen Tag nahm sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer Arabien-Tournee Zeit, um sich in Dschidda umfassend zu informieren und nach einer erstaunlich lapidaren Erwähnung kritischer Tatbestände vor allem das Positive, Verbindende und Lukrative hervorzuheben. Denn die in Riad herrschende Dynastie der Sauds scheint neben den heiligen Stätten von Mekka vor allem den Heiligen Gral westlicher Wirtschafts- und Militärpolitik zu schützen. Es ist nicht nur die Potenz als wichtigster Erdöl-Lieferant, sondern auch die Rolle des finanzstarken Importeurs von Luxuswaren und militärischen Gütern, die deutsche Unternehmen leicht vergessen lässt, dass sie mit einem Gottesstaat, der weltweit religiöse Intoleranz anheizt, in etlichen Krisengebieten zündelt und schwerer Kriegsverbrechen im Jemen beschuldigt wird, handelseinig sind.


Mit dem für sie typischen schonungslosen Euphemismus kommentiert Frau Merkel die Tatsache, dass sich Frauen in Saudi-Arabien nicht mit einem fremden Mann auf der Straße zeigen dürfen, dass es ihnen untersagt ist, Auto zu fahren, und ihnen das Recht auf einen freien Willen hinsichtlich der Kleidung, der Verheiratung und des bescheidensten Ansatzes von Gleichberechtigung verweigert wird: „Es gibt Beschwernisse bei der Frage, wie Frauen ihre Rolle finden, es gibt aber auch Erfolge.“


„Beschwernisse“ ortet die Kanzlerin messerscharf auch bei den allgemeinen Menschenrechten, die von den wahhabitischen Wüstenprinzen als Rechte, Angehörige anderer Religionen, aber auch kritische Blogger zu verfolgen, Arbeitskräfte aus Südostasien wie Sklaven zu halten oder ausländische Dienstmädchen zu vergewaltigen, interpretiert werden. „Natürlich werden die großen Defizite, die wir hier sehen, auch angesprochen“, meint sie dazu, um gleich vielsagend zu beschwichtigen: „Saudi-Arabien befinde sich in einer interessanten Phase.“ Interessant zumindest für die bundesdeutsche Wirtschaft, deren Interessen Angela Merkel vor Ort als Chef-Lobbyistin vertritt.


Dann allerdings verwechselt sie offenbar etwas. Sie glaubt allen Ernstes, Riad sei ein wichtiger Partner im Kampf gegen den „Terrorismus und den IS“. Das Land, aus dem Milliarden an die Taliban, an Jihadisten-Milizen in Syrien und Libyen flossen, in dem die Sippe Osama bin-Ladens Geld scheffelte, während der saudische Geheimdienst Kontakt zum verlorenen Sohn hielt, ein Staat, ohne dessen materielle und logistische Unterstützung Al-Quaida und der IS womöglich gar nicht existierten, als Verbündeter in der Terroristen-Abwehr? Das hieße, den Bock zum Gärtner zu machen oder den fanatischen Wolf zum Hüter der der naiven Geißlein.


Nein, Deutschland benötigt das grausame Herrscherhaus als Katalysator des eigenen Wirtschaftsbooms, und die NATO unterstützt gern und ohne Bedenken einen Feind des erstarkenden Iran. Denn das schiitische Regime in Teheran, ähnlich anti-säkular wie das in Riad, aber weitaus toleranter gegenüber anderen Religionsgemeinschaften (auch die Juden entsenden dort Vertreter ins Parlament) und fortschrittlicher, was die Mitbestimmung der Bürger, die IT-Medien oder die Bildung (auch für Frauen) angeht, gilt dem Westen als zu unbotmäßig. Daher vereinbarte das deutsche Verteidigungsministerium anlässlich des Merkel-Besuchs mit seinem Kontrahenten auf der arabischen Halbinsel auch leichthändig die Ausbildung arabischen Militärpersonals in Bundeswehrkasernen. Damit die saudischen Truppen im Jemen künftig effizienter Tod und Schrecken verbreiten können...

   

Die schreckliche Lehre der Wahhabiten


Die NATO glaubt, Saudi-Arabien für die eigenen Ziele und Zwecke instrumentalisieren zu können, und teilweise darf sie dies auch. Allerdings waren die Könige und Prinzen in Riad nie reine Marionetten der westlichen Allianz, vielmehr begannen sie bald, ihr eigenes strategisches Süppchen zu kochen, im Bewusstsein ihrer ökonomischen Stärke – und ohne Rücksicht auf die Interessen irgendwelcher Verbündeten. Dass sie sich noch skrupelloser über Vereinbarungen, Treueschwüre oder Friedensbemühungen hinwegsetzen konnten als die USA, Frankreich oder Deutschland, verdanken sie ihrer speziellen Spielart des Islam, die ihnen im Prinzip vorschreibt, alle Nicht-Wahhabiten als Abtrünnige vom wahren Glauben zu sehen, denen man keinerlei Rücksichtnahme oder zumindest Ehrlichkeit schuldet.


Alle monotheistischen Religionen sind dann völlig unerträglich, wenn ihre aktuellen Interpreten Kadavergehorsam gegenüber den Lehren ihrer Heiligen Bücher fordern. Ein wenig relaxter wird es, wenn die Theologen die Anpassung an gewandelte Zeiten oder ein Laissez-faire gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften propagieren, etwa wenn Christen die bluttriefenden Märchen des Alten Testaments übergehen und sich lieber die Bonmots aus der Bergpredigt picken, oder wenn sich Moslems auf den kulturellen Höhepunkt des mittelalterlichen Europas, das tolerante Kalifat von Cordoba im 10. Jahrhundert, besinnen. Aber natürlich gibt es allerorten Holzköpfe, die das erst langsam anlaufende Rad der Vernunft und Weltoffenheit wieder zurückdrehen wollen.


Im kargen Zentralarabien begann im frühen 18. Jahrhundert der sunnitische Rechtsgelehrte Muhammad ibn Abd Al-Wahhab damit, den philosophisch und theologisch eher weniger interessierten Beduinen die buchstabengetreue Auslegung und Anwendung des Koran einzutrichtern. Neuerungen waren des Teufels, desgleichen Christen, Juden, Schiiten (von denen Al-Wahhab zunächst gelernt hatte), Polytheisten, und Agnostiker wie Atheisten sowieso. Die Osmanen verfolgten die Anhänger und Nachfolger des Zeloten, aber als ihre Macht erodierte und die Saud-Dynastie aufstieg, wurde seine Doktrin zur Staatsreligion. Die Scharia in ihrer radikalsten Form mit Auspeitschungen, Steinigungen und Enthauptungen gehörte ebenso wie das strafbewehrte Verbot von Musik, Genussmitteln, aber auch jeglicher abweichenden Meinung zu den unverrückbaren Glaubensartikeln der gefährlichsten aller Sekten. Und bis heute ist die zum Dogma erhobene militante Intoleranz das Hauptmotiv für Riad, Salafisten und Jihadisten in aller Welt auszurüsten und zu instruieren.


Lange Zeit begnügten sich die frommen Wahhabiten (die heutzutage ihre Sexorgien nicht auf heiliger Muttererde, sondern lieber im westlichen Ausland feiern) damit, ihre Profite aus dem Ölgeschäft in dekadentem Luxus zu verzehren. Mittlerweile haben sie den Wert von High-Tech erkannt; und da sie sich von wissenschaftlichem und digitalem Know-how bis zu modernsten Waffensystemen so ziemlich alles leisten können, haben sie beschlossen, als Global Players im Spiel um die Macht auf eigene Rechnung mitzumischen.


Kriegsverbrechen? Wir sind dabei!


Schon während der rot-grünen Koalition im Bund begannen die deutschen Waffenexporte nach Saudi-Arabien kontinuierlich zu steigen, bis sie 2016 das Volumen von mehr als einer halben Milliarde Euro erreichten. Zusätzlich beteiligte sich Rheinmetall, eine Edel-Adresse der hiesigen Kriegsindustrie, am Bau einer Munitionsfabrik in Al Kharj, in der Artilleriegeschosse und Fliegerbomben produziert werden. Vor allem letztere wurden im Jemen von der Allianz sunnitischer Staaten unter der Führung Saudi-Arabiens erfolgreich gegen Schulen, Krankenhäuser und Hochzeitgesellschaften eingesetzt, im Rahmen einer Kriegsführung, deren völkerrechtswidrige Grausamkeit immer wieder dem syrischen Machthaber Assad und bisweilen auch den USA zur Last gelegt wird - während über die Verbrechen Riads nur relativ wenig an die Öffentlichkeit dringt.


Überhaupt spielt sich im Medienpanorama der Krieg im Jemen weitgehend unter ferner liefen ab, obwohl hier mit dem Iran und Saudi-Arabien die beiden größten Regionalmächte des Mittleren Ostens involviert sind und zusätzlich noch die US-Navy vor der Küste kreuzt. Doch das fragile Staatsgebilde, eigentlich nur wegen der strategischen Lage gegenüber dem Horn von Afrika interessant, erblickte quasi schon als failed state das Licht der Welt, blieb stets bettelarm und wurde permanent von Separatisten jeglicher Couleur bedroht. Mal war das Land in einen erzkonservativen Nordteil um Sanaa und eine südliche Volksrepublik um Aden gespalten, dann wurde es gewaltsam wiedervereinigt, um immer erneut in Stammesfehden, Separatismus und Stellvertreterkriegen zu versinken. In der Folge nisteten sich Al-Qaida und der IS in den unzugänglichen Regionen ein, die daraufhin zu Übungsplätzen von US-Drohnen mutierten. Als die schiitischen Huthi-Rebellen, verbündet mit einem sunnitischen Ex-Präsidenten, in Sanaa einmarschierten und die amtierende Regierung verjagten, griff das wahhabitische Herrscherhaus in Riad ein und hievte den Bürgerkrieg auf „syrisches Niveau“.


Die saudi-arabische Luftwaffe schickte Tornados und Eurofighter los, deren Komponenten zu einem bedeutenden Teil in Deutschland, übrigens auch Heimat der ebenfalls im Jemen eingesetzten Drohne Luna, produziert wurden. Mehr als 10.000 Zivilisten starben bei den Bombardements, die möglicherweise deshalb so effektiv ausfielen, weil die Piloten zuvor mit der Bundeswehr hatten trainieren dürfen. Verhängnisvoller noch als die Luftangriffe wirkt sich die Seeblockade durch die arabische Allianz aus, da vier Fünftel der 28 Millionen Jemeniten auf maritime Importe von Nahrungsmitteln angewiesen sind. UN-Experten sprechen von einer „von Menschen gemachten Hungersnot“, da bereits 2,2 Millionen Kinder unterernährt und 500.000 von ihnen vom Verhungern bedroht seien. Während der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Idriss Jazairy, eine sofortige Aufhebung der Seeblockade fordert und sogar das Europaparlament im Februar 2016 ein striktes Waffenembargo gegen Saudi-Arabien propagierte, genehmigte die Bundesregierung gerade eben die Lieferung von fünf Patrouillenbooten an Riads Marine. Diese seien für den Kampf gegen Schmuggler und Piraten gedacht, hieß es offiziell, eignen sich de facto aber auch vortrefflich für die Abriegelung eines darbenden Landes von Hilfslieferungen.


Bei Merkels Besuch in Saudi-Arabien hatten ihre Gesprächspartner das volatile Kanzlerinnen-Gewissen mit dem Hinweis beruhigt, künftig sei Riad nicht mehr an deutschen Waffenlieferungen interessiert: Kein Wunder, der Gottesstaat hat ja schon fast alles, und was er noch braucht, kann er mit deutscher Hilfe im eigenen Land herstellen. Außerdem werden künftig saudische Krieger noch intensiver von der Bundeswehr geschult, damit sie die Präzisionsprodukte made in Germany auch todsicher im Jemen handhaben können.

05/2017

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Schweinehund-Theorien im Archiv der Rubrik Medien






Union der Verhinderer


Die besorgten Politiker fordern (nicht nur, aber vor allem) in Bayern von jungen Flüchtlingen, die Quadratur des Kreises zu bewerkstelligen, und zwar in einem Tempo, das an Hexerei grenzt: In Windeseile sollen sie die schwierige deutsche Sprache lernen, gleichzeitig die hiesige Leitkultur, die selbst den Einheimischen ein Buch mit sieben Siegeln ist, verinnerlichen und dazu berufliche Grundqualifikationen erwerben. Dann haben sie sich für Arbeit und Ausbildung bereitzuhalten – doch nun treten die Verhinderer in den Amtsstuben auf den Plan, wie eine jeglicher Gefühlsduselei unverdächtige Institution, der Bayerische Industrie- und Handelskammertag (BIHK), unlängst beklagte.


Was sie müssen, dürfen sie nicht


Die bayerische Wirtschaft beschwert sich sicherlich nicht aus humanitären Gründen über die Aussperrung von Flüchtlingen, vielmehr benötigt sie in einer Periode der Fast-Vollbeschäftigung (auf durchschnittlich niedrigem Lohnniveau) Arbeitskräfte und Auszubildende in Metiers, die oft physisch auslaugend, zeitlich unangenehm oder gefährlich aufgrund der Tätigkeiten bzw. gesundheitsschädlich wegen der verwendeten Werkstoffe sind. So fehlt es im Handwerk, von den Bäckergesellen über die Raumausstatter bis zu den Dachdeckern an geeigneten Bewerbern; und auf dem Dienstleistungssektor möchten auch nicht mehr viele als Gebäudereiniger malochen.


Doch auch wenn die Vorwürfe des BIHK ein wenig nach Eigennutz und Ausbeutung riechen, thematisieren sie immerhin den letzten Ausweg für Menschen, die in der Enge ihrer Asylheime und in erzwungener Untätigkeit dahinvegetieren. Aber etliche bayerische Beamte sehen das anders und mauern, obwohl doch sogar die sich wie ihre gottgewollte Arbeitgeberin gerierende Staatspartei in einem ansonsten unsäglichen „Integrationsprogramm“ den Weg zumindest für einige Aspiranten freigemacht hat.


Ein Flüchtling, der arbeiten will, benötigt eine Arbeitsgenehmigung, doch die Behörden in mehreren Landkreisen, etwa Eichstätt und Freising in Oberbayern sowie Hof in Oberfranken, üben sich in Totalverweigerung oder im Zeitspiel. Besonders bitter ist dies für Jugendliche, die eine Lehrstelle gefunden haben und sie nicht antreten können. „Die Aufnahme einer Ausbildung wird zur Zeit massiv behindert“, stellte laut Münchner Merkur der BIHK-Hauptgeschäftsführer Peter Driessen kürzlich fest. Dies gelte sowohl für abgelehnte Asylbewerber, die aber wegen der gefährlichen Situation in ihrer Heimat nicht abgeschoben würden, als auch für Flüchtlinge, die aufgrund ihrer Nationalität geringe Anerkennungschancen hätten. Und natürlich für junge Immigranten ohne Ausweisdokumente, die offenbar ihren Reisepass auf Routen durch die Wüste, auf dem überfüllten Schlauchboot im Mittelmeer oder als Opfer räuberischer Überfälle nicht sorgsam genug gehütet haben, die zu Hause vielleicht gar keinen Ausweis beantragt hatten, um nicht als Deserteure verhaftet zu werden, oder die von den Konsulaten ihrer Herkunftsstaaten in Deutschland einfach keine Papiere ausgestellt bekommen…


Nach dem von der CSU durchgedrückten „Integrationsgesetz“ muss sich der Flüchtling, der auf Bleibe in Bayern hofft, bis zur Selbstaufgabe anpassen. Er muss Deutsch lernen, er muss Berufsvorbereitung und inhaltlich fragwürdige Integrationskurse durchlaufen, und er tut es auch. Und dann muss er sich seinen Lebensunterhalt verdienen, und er will es auch – aber er darf es nicht, weil sich die Behörden zur (bisweilen inaktiven, oft ablehnenden) höchsten Instanz aufschwingen.


Schicksale aussitzen


Wer jemals mit jungen Menschen aus Afrika dem Nahen oder Mittleren Osten gearbeitet und dabei registriert hat, mit welchem Eifer die meisten auf die maßlos hohen Hürden, die ihnen die deutsche Politik in den Weg stellt, losstürzen, der wird sich nicht wundern, dass reihenweise die Psyche beschädigt und der Überlebenswille gebrochen werden, wenn man ihnen nach allen Bemühungen eine Ausbildung vorenthält oder eine trotz aller Hindernisse erfolgte berufliche Eingliederung mit der Abschiebung belohnt wird. Dabei böte selbst das unsägliche bayerische Integrationsgesetz zumindest temporär für viele eine Lösung: Denn darin ist eine Regelung enthalten, der zufolge auch abgelehnte Asylbewerber mit Duldungsstatus eine dreijährige Lehre absolvieren und anschließend zwei Jahre im Land bleiben dürfen.


Doch nicht genug damit, dass die Asylgründe recht willkürlich geprüft und oft aus wenig nachvollziehbaren Gründen als nicht stichhaltig bewertet werden, setzte die bayerische Staatsregierung ihr eigenes Gesetz für einen großen Teil der Betroffenen nach Gutsherrenart wieder außer Kraft: Im Dezember 2016 erließ sie die Weisung, Geflüchteten aus Afghanistan, Pakistan und Nigeria keine Arbeitserlaubnis mehr zu erteilen, da diese zur Gruppe derer zählten, die keine positive Bleibeperspektive hätten. Ohne Einzelfallprüfung, ohne (ehrliche) Analyse der Situation in den besagten Ländern und vor allem ohne Skrupel erklärt die Staatspartei CSU also Staaten, die unter dem Ansturm von Taliban, IS und Boko Haram zusammenzubrechen drohen, zu „sicheren Herkunftsländern“.


Die bayerischen Landkreise – 50 von 71 sind fest in CSU-Hand – können nach eigenem Ermessen entscheiden, wem und wann sie die Genehmigung zur Aufnahme einer Ausbildung erteilen. Dass sie sich viel Zeit lassen, teilweise so viel, dass nicht nur die Bewerber, sondern auch interessierte Betriebe verzweifeln, weil sich so kurzfristig schlecht planen lässt, belegt eine Beobachtung der IHK München: „In manchen Landkreisen wird generell keine Beschäftigungserlaubnis vor dem 1. Juni ausgestellt, wenn ein Betrieb einen Flüchtling zum 1. September als Azubi einstellen will.“ In anderen wird erklärtermaßen Anfang Juni erst mit der „Bearbeitung der Anträge“ begonnen. So verhindern Behördenmitarbeiter, vielleicht mutwillig, vermutlich aber auf höhere Weisung, die Möglichkeit der Integration in den Arbeitsmarkt.


CSU, AfD und Beamte im Schulterschluss


Seltsamerweise scheint es die Verantwortlichen im Freistaat überhaupt nicht zu stören, dass nebenbei auch noch viel Geld in den Sand gesetzt wird: Da hat man Jugendliche und junge Erwachsene für zwei Jahre in Berufsintegrationsklassen gezwungen, deren Qualität unterschiedlich, deren Kostenbedarf aber erheblich ist, und dann stellt man fest, dass an die 80 Prozent der Absolventen (insgesamt in diesem Jahr 5.400, im nächsten 12.000) zu der Gruppe zählen, deren Duldung aus o. a. Gründen unwahrscheinlich ist, für die folglich statt Ausbildung und Berufstätigkeit die Abschiebung vorgesehen ist.


Die zuständigen Beamten tun ein Übriges, um auch den willigsten Arbeitgebern das Engagement für Azubis aus Krisengebieten zu vergällen, indem sie ihnen einen aufwendigen Papierkrieg aufzwingen. Irgendwo schließt sich in Bayern ein circulus vitiosus, in dessen Verlauf die CSU im Dienst die Vorstellungen von Pegida und AfD heimlich aufgreift (in den Bierzelten tut sie es öffentlich), sie nach gutbürgerlicher Faςon realisiert und so die Integration junger Flüchtlinge erschwert oder verunmöglicht, wobei sie sich auf die Mithilfe von manchen Beamten in den Landkreisen und in den Ausländerämtern der Städte verlassen kann. Hier werden Ressourcen für den Arbeitsmarkt vergeudet, Steuermittel verschwendet – vor allem aber werden Menschenleben vernichtet.

04/2017

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Die Welt ist sicher… im Archiv der Rubrik Medien





Tödlicher Sehfehler


Mit einigem Recht wurden die Bombardierungen von Stadtvierteln in Aleppo durch die syrischen und russischen Luftstreitkräfte kritisiert. Wesentlich gedämpfter hingegen fallen die Reaktionen im Westen aus, wenn US-Flugzeuge bei ihren Einsätzen gegen den IS, ob in Mossul oder in Rakka, Zivilisten massakrieren. Soldaten der Bundeswehr sitzen bei solchen Blutbädern zwar nicht selbst am Drücker, dirigieren aber die Bomber der Alliierten per Luftaufklärung und scheinen mittlerweile den Unterschied zwischen Kombattanten und harmlosen Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, verlernt zu haben.


Die Mär von den Kollateralschäden


In den letzten Wochen haben die Verluste unter der Zivilbevölkerung durch Luftschläge der internationalen Koalition gegen den IS in Gebieten, die noch von den Islamisten kontrolliert werden, stark zugenommen. In zumindest einem Fall fungierten deutsche Tornado-Jets, die vom türkischen Stützpunkt Incirlik aufstiegen, als Ausspäher und „Wegbereiter“: Sie lieferten die „Aufklärungsfotos“, nach deren Auswertung US-Kampfflugzeuge eine Schule, in der Flüchtlinge untergebracht waren, zerstörten, wobei mindestens 33 Menschen starben. Wenige Tage zuvor hatten Bomber der Airforce ein dreistöckiges Gebäude in einem vom IS gehaltenen Viertel in Mossul in Schutt und Asche gelegt, was an die 100 Bewohner das Leben kostete. US-Generalleutnant Stephen Townsend, Kommandeur der Anti-IS-Allianz, sprach von einem „unbeabsichtigten Kriegsunfall“, Beobachter mutmaßten, dass unter Präsident Trump eine bedenkenlosere Strategie gefahren werde.


Beide Bewertungen treffen nicht den Kern der Sache. Tatsache ist zwar, dass Trump aggressiver formuliert als seine Vorgänger, Fakt ist aber auch, dass die US-Streitkräfte fortsetzen, was sie schon immer als unverzichtbaren Bestandteil ihrer Kriegsführung betrachtet und früher sogar mit noch mehr Intensität betrieben haben: die fahrlässige/tolerierte/absichtliche Herbeiführung von Kollateralschäden. Oder man geht – um es metaphorisch auszudrücken – davon aus, dass, wenn in einem Krieg gehobelt wird, Späne fallen und im Notfall sogar große Bevölkerungsteile zu Spänen zerfallen können. In Vietnam, Laos und Kambodscha gingen diese „unbeabsichtigten“ humanen Kollateralschäden in die Millionen. In Afghanistan verging kaum ein Monat, ohne dass man von einer „versehentlich“ bombardierten, beschossenen, manchmal völlig liquidierten Hochzeitsgesellschaft, Ältestenversammlung oder Dorfgemeinschaft hörte. Seit My Lai weiß man, dass diese Kriegsverbrechen teils willkürlicher Brutalität der GIs, teils dem strategischen Kalkül, Angst und Schrecken zu verbreiten, geschuldet sind. Seit 2010 weiß man auch, dass deutsche Militärs, Spione und Politiker tief in die Massaker verstrickt sind.


Peepshow für Informanten


Damals wurde ruchbar, dass Deutschland, das Gerd Schröder 2003 angeblich so heldenhaft aus Bushs Irakkrieg herausgehalten hatte, in Wirklichkeit der Koalition der Willigen  höchst effizient zu Dienste war. BND-Agenten spähten in Bagdad Angriffsziele für die Bombenflugzeuge der Alliierten aus und gaben die Koordinaten an die Kollegen vom US-Militärgeheimdienst DIA weiter. Für wie viele Kollateralschäden die deutschen Spürhunde, die sich wie in einer Peepshow gefühlt haben müssen (zuschauen, aber nicht handgreiflich werden) verantwortlich waren, ließ sich später nicht mehr feststellen.


Genauer weiß man das im Falle des Oberstleutnant Klein, der am 4. September 2009 bei Kundus US-Flugzeuge anforderte, um 91 Dorfbewohner, darunter Frauen und Kinder, die Treibstoff von zwei gestohlenen Tanklastwagen abzweigen wollten, kurzerhand umbringen zu lassen. Zum Dank wurde Georg Klein nur vier Jahre danach zum Brigadegeneral befördert, hatte er doch in Afghanistan die Freiheit oder – wie es Ex-Bundespräsident Köhler genauer formulierte – die Freiheit unserer Handelswege am Hindukusch kompromisslos gegen ein paar Benzindiebe verteidigt.


Dass wir überhaupt von der Beteiligung deutscher Soldaten am jüngsten Massaker in Syrien erfuhren, ist der Süddeutschen Zeitung und der ARD zu verdanken. Von offizieller Seite kam zunächst nichts, zumal der Verteidigungsausschuss des Bundestags erst in geheimer Sitzung von dem Desaster erfuhr und Ursula von der Leyens Kriegsministerium aus Geheimhaltungsgründen den Vorfall nicht einmal bestätigen wollte, ihn aber vorsichtshalber prophylaktisch entschuldigte: Es gehöre zur Routine der Tornados, Bilder möglicher Ziele zu machen. Offenbar zählt es demnach zu den liebgewonnenen Marotten der Bundeswehr, Fotos von Schulen, in denen Flüchtlinge untergebracht sind, an die US-Kanoniere weiterzureichen.


Die Schwere der Schuld


Einer aber wollte nicht schweigen, weil dies mit seinem Naturell unvereinbar wäre. Außenamtschef Sigmar Gabriel, früher Minister für Wirtschaft und Rüstungsexporte, äußerte sich stellvertretend für alle Wiedergänger von Pontius Pilatus auf Erden: „Nach meinem Kenntnisstand ist der Tornado-Einsatz nicht verantwortlich dafür, was da gemacht worden ist.“


Näher an der Wahrheit war da schon die ansonsten häufig irrlichternde Sahra Wagenknecht in einem DPA-Interview:  "Natürlich ist es kein geringeres Verbrechen, unschuldige Zivilisten in Syrien mit Bomben zu ermorden, als in Pariser Restaurants und Konzerthäusern um sich zu schießen. Das eine ist individueller, das andere staatlich verantworteter Terror." Fast ins Schwarze getroffen! Allerdings wird in Strafverfahren dem Beschuldigten, der kaltblütig einen Mord aus der Ferne plant und durchführen lässt, eine höhere kriminelle Energie bescheinigt als dem verführten Fanatiker. dem minderbemittelten oder psychisch labilen Amokläufer.


In den deutschen Medien wurde das Massaker ziemlich beiläufig, quasi in der Rubrik Vermischtes, abgehandelt. Die Öffentlichkeit will nicht verstehen, dass ein Bordschütze, der aus großer Entfernung eine winzige anonyme Figur am Boden abknallt, das Gleiche bezweckt und ausführt wie ein Terrorist, der seinem Opfer wenigstens noch in die Augen schauen muss, bevor er ihn aufschlitzt. Dies gilt ebenso für den Drohnen-Navigator, der von vornherein billigend jede Menge Kollateralschäden in Kauf nimmt, und den Aufklärer, der die Bombe ins Ziel lenkt – es galt in noch höherem Maße für den Vernichtungsbeamten Eichmann, obwohl der keinen einzigen Juden mit eigenen Händen umgebracht hat.


Offenbar ist der Sehfehler, an dem manche deutschen Soldaten leiden – schließlich scheinen sie Zivilisten nicht von Feinden und Schulen nicht von Mörderhöhlen unterscheiden zu können -, den Medien und der Politik peinlich. Möglicherweise trösten sich die Verantwortlichen auch damit, dass die Auslöschung von 33 Menschenleben zwar nicht korrekt war, aber wenigstens von der richtigen Seite bewerkstelligt wurde.

4/2017

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Kleine Drohnenkunde in diesem Archiv 

 

            



Fürchtet Europa!


Die EU, eine weltbekannte Philanthropen-Vereinigung, möchte nicht nur als Wegbereiterin europäischer Großkonzerne die globalen Märkte domestizieren und abendländische Kultur in die entferntesten Winkel unserer Erde tragen, sie strebt nun auch eine maßgebliche Rolle im militärischen Who-is-Who des Planeten an. Während an allen Ecken und Enden Separatisten, Rechtsradikale und Fremdenhasser am internationalistischen Anspruch der Union nagen, kann einem bei den Großmachtphantasien der Vordenker von Brüssel angst und bange werden.


Noch ̕ ne Militärmacht?


Wer immer das Hohelied auf die EU singt, hebt ihre friedensstiftende  Rolle hervor. In der Tat hat die Existenz dieses Clubs, der in erster Linie eine Wirtschaftsverein und nur nebenher eine Gemeinschaft für den kulturellen oder zwischenmenschlichen Austausch ist, das Aufflammen kriegerischer Konflikte für lange Zeit unwahrscheinlich gemacht – in Mittel- und Westeuropa. Doch die meisten EU-Staaten sind als NATO-Mitglieder direkt in diverse blutige Auseinandersetzungen in Asien oder Afrika verwickelt, haben in der Ukraine verdeckt Partei für dubiose Warlords und Oligarchen ergriffen und beliefern Regimes wie Qatar oder Saudi-Arabien, die ihrerseits wiederum im Nahen und Mittleren Osten zündeln, mit Waffen, um die heimischen Rüstungskonzerne zu fördern – eine Art von Wirtschaftsankurbelung, die mittelbar zu Massenflucht führt, was wiederum das Geschäft der Stacheldraht-Hersteller beflügelt.


Mit der behauptet defensiven Haltung soll aber jetzt Schluss sein. Die EU-Minister der Verteidigungs- und Außenressorts kamen überein, eine gemeinsame militärische Kommandozentrale zur Koordinierung von Auslandseinsätzen zu schaffen. Ursula von der Leyen, Berliner Kriegsministerin mit einfachem Weltbild, schwärmt bereits, damit werde die Sicherheits- und Verteidigungsunion konkret. Der Schritt sei längst überfällig geworden. Tatsächlich könnte Wladimir Putin, innenpolitisch ein Autokrat mit reaktionären Tendenzen, außenpolitisch eher ein Realist, sein Land langsam von Überfällen bedroht sehen, angesichts der Tatsache, dass NATO und EU die Zusicherungen gegen Ende der UDSSR, sich nicht in den Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs einzunisten, leger brachen, und in Anbetracht der gegenwärtigen Unterlegenheit Russlands in Sachen Truppenstärke, Luftwaffe oder Nuklearrüstung. Die NATO ist also ohnehin der stärkere von zwei Militärblöcken, wozu braucht es an ihrer Seite da noch einen dritten Player im Neuen Kalten Krieg, sozusagen eine EU-Supermacht?


Rüstung ja, aber ohne Trump-Diktat


Donald Trump, der die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten durch neue atomare Hochrüstung  weiter ausbauen will, bittet die Europäer zur Kasse, gemäß seiner Business-Doktrin, dass Mexiko für Mauern gegen Mexikaner zahlen und die Europäer Schutzgelder für das Privileg, US-Security auf eigenem Terrain beherbergen zu dürfen, abdrücken sollen. Gut, irgendwann einmal hatten sich die NATO-Staaten in lockerer Rüstungsrunde beschwatzen lassen, ihren Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, die meisten aber, am nächsten Tag wieder nüchtern geworden, beschlossen, ihr Geschwätz von gestern sofort zu vergessen. So sind es in Deutschland nur zuletzt 1,2 Prozent geworden – immer noch viel Geld, das nötig wäre, um in Kindergärten und Schulen das soziale Aussieben der halben nachwachsenden Generation zu verhindern.


Aber noch weitere 30 Milliarden pro Jahr in Tötungsmechanismen zu investieren, kommt den meisten etablierten Politikern hierzulande, mit Ausnahme von Calamity-Ursula, wie ein Stalingrad realistischer Etatplanung vor. Klar, Deutschland soll nach ihrem Dafürhalten wieder eine Macht mit militärischer Potenz werden, aber das muss doch billiger zu haben sein…


Trump hat der EU gedroht, wenn sie nicht ordentlich aufrüste, würde sie von seinen Sheriffs nicht mehr geschützt werden. Schließlich brächten die USA 3,6 Prozent ihres BiP für das Militär auf. Dabei verschweigt er aber, welche immense Bedeutung der „Militärisch-industrielle Komplex“ (Dwight D. Eisenhower) für die Staaten hat: Ein Land, das weitgehend auf ein Sozialsystem und auf Zukunftsvorsorge verzichtet, in dem die Verantwortung für die Infrastruktur und ihre Erhaltung ohne nationalen Masterplan in den Händen von oft korrupten oder unfähigen Wahlbeamten liegt, muss dafür sorgen, eine wirtschaftliche Hegemonie per Handelsdiktat notfalls militärisch durchsetzen zu können. Denn im Geflecht einer zunehmend in die internationale Zweitklassigkeit abgleitenden Industrieproduktion ist die durch Regierungsaufträge befeuerte Rüstungsindustrie noch der Leuchtturm der Nation in einer Fertigungsebbe und gleichzeitig der letzte relativ störungsfrei laufende Motor nordamerikanischer Hybris. Heraklits Satz, der Krieg sei der Vater aller Dinge, feiert nach mehr als 2500 Jahren fröhliche Urständ in den USA, die in permanenter Kriegswirtschaft leben.


Mitentscheiden möchte Brüssel natürlich schon, auch wenn es um militärische Interventionen geht. Wer so aggressiv wie die EU-Staaten seine Marktmacht in der Dritten Welt per Freihandelsvereinbarungen (besser: Knebelverträge) durchsetzt, sollte ein paar Truppen zur Absicherung in der Hinterhand haben. Und Russland von dessen Nachbarstaaten aus in der Doppelfunktion als NATO-Mitglied und EU-Kampfverband drohen zu können, hätte gerade für die sich ihrer historisch redlich erworbenen Minderwertigkeitskomplexe entledigenden Deutschen einen diskreten Charme. Wenn man jetzt noch via friedliche Instrumentalisierung Frankreichs oder eigene Findigkeit in Atombomben-Besitz (angesichts jüngster Überlegungen in Medien und Think Tanks kein Tabu mehr) gelänge, wäre man wieder wer im internationalen Konzert… 

    

Der heimliche Trendsetter


Also soll die EU demnächst auch als Militärmacht, am besten unter deutscher Prokura, glänzen. Aber sehen wir uns näher an, in welchem inneren Zustand sich dieses Imperium in spe befindet: Vorreiter einer immer stärker werdenden Fraktion von Reaktionären jenseits der bürgerlichen Standard-Demokratie ist der ungarische Regierungschef Viktor Orban, der dem autoritären Gebaren eines Wladimir Putin eine widerliche völkische Komponente hinzufügt. Davon abgesehen, dass er Presse, Justiz und Andersdenkende kujoniert, hat er es geschafft, sein freies Land einzuzäunen (Trump ist nicht das Original!), um Hilfesuchende aus Afrika oder Asien, Angehörige fremder Ethnien, von der Puszta fernzuhalten. Und waren zunächst alle Stellungnahmen im freien Europa des Tadels voll über solchen Mauerbau, so begannen bald einige Regierungen, etwa in Bulgarien oder der Slowakei, ihn punktgenau nachzuahmen, andere, wie Österreich, seine Maßnahmen für eigene Zwecke zu modifizieren, und wieder andere, man denke an das deutsche Willkommensland, sein Stacheldrahtmodell klammheimlich als effektive Bremsvorrichtung zu feiern.


In Polen haben wir eine vom Vorsitzenden Kaczynski wie eine Schülertruppe gelenkte Regierungspartei, deren Hauptaufgabe darin zu bestehen scheint, den ganz persönlichen Revanche-Gelüsten ihres Führers gegenüber Russland und eigenen Landsleuten zur Befriedigung zu verhelfen. Eine tolle Vorstellung, mit solchen Leuten militärstrategisch gemeinsame Sache zu machen. In Frankreich drängt der Front National an die Macht, in den Niederlanden Geert Wilders Ein-Mann-Partei, und in Italien sind die Rassisten der Lega Nord und die Spaß-Reaktionäre des Komikers Beppe Grillo auf dem Sprung. Allesamt stehen sie der EU eher feindlich gegenüber, sollten sie sich aber in Regierungsverantwortung doch zum Bleiben entschließen, würden sie tolle Verbündete abgeben, wenn die Verteidigungsunion im Baltikum oder in der Ukraine ins Manöver zieht, um neckische Kriegsspielchen an Russland Grenzen zu veranstalten. Und was ist mit Spanien? Würde für die neue Allianz nicht der Bündnisfall eintreten, wenn sich Katalonien abspalten und dann den Ordnungskräften der Madrider Zentralregierung aktiv widersetzen sollte?

   

Große Pläne – kleine Geister


Das ist also der Haufen, der sich anschickt, als frischgebackene militärische Großmacht unter Führung Deutschlands, assistiert von Frankreich, die Weltbühne, die in diesem Falle – wäre das Vorhaben nicht so blutig ernst zu nehmen – eher an die Bretter des Komödienstadls erinnert, zu betreten. Und wie selektiv Berlin seine Pflichten als stärkste Wirtschaftsnation und damit selbsternannter Primus inter Pares der EU wahrnimmt, hat sowohl die anderen Mitgliedsstaaten als auch Ökologen und andere kritische Geister immer wieder verblüfft:


Als die BRD die gemeinsam ausgehandelte Obergrenze für die

  Neuverschuldung klar überschritt, was Sanktionen hätte bedeuten

  müssen, erklärte Gerhard Schröder, der Genosse der Bosse, nonchalant,

  besondere Umstände machten diesen Regelverstoß nötig.

- Als die EU wirklich niedrige KFZ-Abgaswerte festlegen wollte,

  intervenierte die Berliner Regierung erfolgreich unter der früheren

  Umweltministerin  Merkel, um den deutschen Produzenten luxuriöser

  Dreckschleudern Verbote, Strafen und Profit-Einbußen zu ersparen.

- Und während sich Wolfgang Schäuble zum Zuchtmeister über das von

  gierigen Finanzspekulanten übervorteilte Griechenland erhob, verbot die

  EU-Kommission auf Betreiben Berlins dem Tsipras-Kabinett, den

  Militärhaushalt (mit 2,4 Prozent des BiP der höchste in der Union) zu

  senken. Der Grund: Deutsche Konzerne hätten die Stornierung von

  Aufträgen, die mit der korrupten Vorgängerregierung vereinbart worden 

  waren, erdulden müssen. Ex-Manager der Rüstungsindustrie hatten zuvor

  etliche Millionen an Schmiergeldern in Athen verbraten, um die

  Verantwortlichen dort zum Waffenkauf zu „überreden“. Als Griechenland

  schließlich zahlungsunfähig war, flossen Hilfsgelder in Milliardenhöhe an 

  die Gläubigerbanken, aber auch an die deutschen Rüstungskonzerne, die

  daraus ihre jetzt anhängigen Strafen wegen aktiver Bestechung locker 

  begleichen können.


Dies sind die innere Verfassung und der überprüfbare Zustand der EU. Auch wenn man die Gründe der Nationalisten in verschiedenen Ländern, die Union zu verlassen, in keiner Weise tolerieren kann, kommt man doch nicht um die Frage herum, welche „Wertegemeinschaft“ unter deutscher Ägide man an den Grenzen Russlands, am Hindukusch und in den Wüsten Nordafrikas eigentlich noch verteidigen will. Großbritannien ist schon weg, die Rest-EU bröckelt an den Ecken, ist im Kern der Implosion nahe, und in Brüssel träumt man von der Waffenbrüderschaft der Wirtschaftsfreunde. Es ist zum Fürchten.

03/2017

Dazu auch:

Zur Bombe drängt… in diesem Archiv           

EU im freien Fall in diesem Archiv   




Zur Bombe drängt…

  

Die Begehrlichkeit der Besitzlosen äußert sich bisweilen in selbstmitleidigem Gejammer, wie bei Gretchen in Goethes „Faust“: Nach Golde drängt/Am Golde hängt/Doch alles. Ach wir Armen! Nun soll hier   nicht vom materiellen Elend der Unterprivilegierten die Rede sein und einer Umverteilung der materiellen Ressourcen das Wort geredet werden. Nein, es geht um ein ähnlich hohes Gut, wie es einst das unerreichbare Gold darstellte, das den Deutschen vorenthalten wird und das nun immer mehr honorige Leute – bar früherer (wohlweislicher) Bescheidenheit – für unser Land fordern: die Lizenz, die Welt vernichten zu können. So mancher hing wohl schon lange an dieser   berückenden Wunschvorstellung, zu äußern hatte er es aber lange Jahre wegen gewisser Vorkommnisse in unserer Vergangenheit nicht gewagt. Jetzt aber scheint die Zeit reif, ein wenig zu drängen und Führungskompetenz auch bei der Entscheidung über das globale Sein oder Nichtsein anzustreben. 

Wasser predigen

Waren das noch Zeiten, als kritische Pazifisten wie Peter Merseburger und Klaus Bednarz in TV-Magazinen wie Panorama oder Monitor die Aufrüstungspolitik der Bundesregierung kritisch hinterfragten und damit die Unionsparteien bis zur   Weißglut reizten! Mittlerweile beschäftigen sich „linksliberale“ Fernsehjournalisten erneut mit den Machtphantasien einer parteiübergreifenden politischen Elite, aber nun klingen ihre Kommentare ganz anders: Da wird im NDR-Format Panorama allen Ernstes eine „offene Debatte“ über eine „deutsche Atombombe“ gefordert. Gut, das größte Kriegsverbrechen in der Geschichte der Menschheit liegt inzwischen mehr als 70 Jahre zurück, aber reicht diese Zeitspanne aus, um den Erben der damaligen Urheber ein nukleares Overkill-Potential anzuvertrauen (zumal sie früheres Unrecht nicht optimal   reflektiert haben, wie virulenter Nationalismus, latenter Rassismus und offene oder heimliche Kriegsbeteiligungen belegen)?

Ganz zu schweigen von jener in Deutschland populären Art politischer Verantwortung, die Spötter gern doppelte Moral nennen: Als Lautsprecher innerhalb der Staatengemeinschaft verurteilen die Friedensfreunde von Berlin angebliche Anstrengungen des Iran, an die Atombombe zu kommen, und ahnden sie mittels der Embargo-Peitsche – lassen aber, davon ungerührt, Diskussionen aufkommen, ob man nicht selber vielleicht ein wenig, vielleicht so einen kleinen nuklearen Sprengsatz... Mit anderen Worten: Das erratische Mullah-Regime soll bei schwerem Wasser und friedlicher Nutzung der Kernenergie bleiben, während die vernünftigen Deutschen sich sehr wohl ein wenig am süßen Wein der Macht über Leben und Strahlentod berauschen dürfen. In einem Augenblick kleinmütiger Bescheidenheit hatte man zwar die Unterschrift unter den   Atomwaffensperrvertrag gesetzt, doch jetzt, da wir wieder wer sind, lassen sich solche Flüchtigkeitsfehler sicherlich revidieren.

  

Atommachtträume

Denn auf die USA sei für Europa kein Verlass mehr, meinen die Panorama-Macher. Kein Staat könne sicher sein, dass ein Präsident Donald Trump „bedingungslos andere NATO-Verbündete verteidigen“ werde. Zu dumm: Da hat man Russland in den letzten Jahren so lange mit einer   aggressiven Einkreisungsstrategie provoziert, bis man jetzt dessen Reaktion, die wiederum dem großen Bruder neuerdings egal zu sein scheint, fürchtet. Um Moskau durch „Abschreckung“ von einem Angriff auf Verbündete abzuhalten, benötige man also Nuklearwaffen in nationaler Verfügungsgewalt, folgern die   Mitarbeiter des TV-Magazins. Auch wenn Trump schon genug Schaden angerichtet hat – als wandelnde Argumentationshilfe für die deutsche Atombombe lässt er sich schlecht instrumentalisieren.

  

Es muss aber gar nicht eine rein germanische Wunderwaffe sein. Jaroslaw Kaczyński, der starke Mann hinter seiner polnischen Marionettenregierung und eine leuchtende Fackel der EU-Demokratie neuen Zuschnitts, erklärt, er würde eine „Atom-Supermacht Europa begrüßen“. Darauf könnte sich Berlin auch einlassen: ein europäischer Doomsday-Button, der selbstverständlich von einem Vollstrecker aus der führenden Nation in der Union betätigt würde. Zwar hat die EU schon zwei kleinere Atommächte, aber die eine, Großbritannien, macht sich gerade vom Acker, und das Arsenal Frankreichs ist einfach zu mickrig. Wenn Deutschland erst für die Gemeinschaft die Sache in die Hand nähme, würde teutonisch geklotzt, nicht welsch gekleckert.

  

Schon Franz Josef Strauß träumte einst von der BRD als Atommacht, nur war die Zeit dafür noch nicht gekommen. Zu nachtragend gerierten sich all die Länder, die einst von der deutschen Armeen überfallen worden waren. Doch jetzt scheint die Schamfrist vorüber, man kann das Undenkbare wieder denken und sogar im öffentlich-rechtlichen Fernsehen äußern. Argumentationshilfe leistet dazu Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz und früherer   Kohl-Berater, ein Schreibtisch-Stratege, der eigene Theorien zu einer neuen delikaten Machtverteilung entwickelt hat.

  

Sicherheit durch Irrwitz?

  

„Die USA taugen jetzt leider nicht mehr als Führungssymbol des Westens“, sagt Ischinger. „Die Ankunft von Trump bedeutet das Ende des Westens, bei dem die USA der Fackelträger sind.“ Weg mit der Statue of Liberty, her mit dem Atomium von Brüssel oder gleich mit dem Hermannsdenkmal bei Detmold. Es ist nämlich jetzt „Europas Aufgabe…, diesen Verlust zu ersetzen, damit der Westen als Modell und Vorbild – Stichwort Menschenrechte, Freiheit, Würde und Rolle des Einzelnen – nicht ganz verloren geht“. Im Klartext: All die handels- und militärpolitischen Schweinereien Washingtons müssen von nun an ins europäische Repertoire (das ja auch bisher schon nicht ganz ohne war) übernommen werden. 


Wenn Ischinger es wiederkäut, kann das Substantiv Stichwort wirklich richtig wehtun: Von Vietnam bis zum Irak, von Chile bis zum Kongo – es gibt kaum eine Region in der Dritten Welt, ob Lateinamerika, der Nahe wie der Mittlere Osten, nicht zu vergessen: Südostasien und Afrika, die nicht die durch die USA brachial betriebene Implementierung von ganz speziellen Menschenrechten, einer sorgsam reglementierten Würde und der selektiven Freiheit, ein Land ausplündern zu können, erleiden musste. Das soll also künftig gemäß der Ischinger-Doktrin die EU übernehmen. Und damit man auf diese hört, braucht sie nukleares Droh-Potential.

Sollten aber die Bombenfans in der Politik und den Medien wider Erwarten nicht den Aufstieg Deutschlands zur globalen Militärmacht, sondern den Weltfrieden im Auge haben, müssen wir ihnen Geschichtsblindheit attestieren. Möglicherweise wirkte sich das sowjetische Gegengewicht zur US-Atommacht während des Kalten Krieges noch stabilisierend für die „Balance des Schreckens“ aus. Doch in den letzten fünf Jahrzehnten versetzte jedes Debüt einer Nation auf der Bühne nuklearer Erstschlag-Kapazität die Menschheit in immer größeren Horror. Kaum zündete Indien sein erste A-Bombe, folgte sein Erzfeind, das islamistisch   gefährdete Pakistan, auf dem Fuße; aber niemand wird ernsthaft behaupten wollen, das Gleichgewicht des Irrsinns am Himalaya nutze der internationalen Entspannung. Dass Nordkoreas Diktator Kim Il-sung mit atomaren Sprengsätzen drohen kann, beunruhigt die ganze Welt, dass sich Israel als Nuklearmacht um keine UN-Resolution zum Siedlungsbau mehr schert, verewigt den Nahost-Konflikt und hält eine Lunte am Glimmen, die nicht im Westjordanland endet. Für eine partielle Beruhigung der bedrohten Menschheit sorgten lediglich Nelson Mandelas Verzicht auf die südafrikanische Bombe sowie die Übereinkunft Brasiliens und Argentiniens in den 1980er Jahren, ihr nukleares Wettrüsten einzustellen - zwei Beispiele für den umgekehrten Weg somit.

  

Und jetzt eine Europäische Union als Atommacht – mit den lupenreinen Demokraten Viktor Orban, Wladimir Kaczińsky, Heinz-Christian Strache, Marine Le Pen und Geert Wilders an der Macht oder auf dem Sprung dorthin? Und mit Deutschen vom Schlage einer Ursula von der Leyen, deren Gedanken unter den sturmerprobten Dauerwellen frei sind von historischem Ballast und supranationalem  Verantwortungsgefühl, in der Kommandozentrale?

  

Da fühlt man sich ja fast bei den USA besser aufgehoben, kann man angesichts der dort üblichen Gepflogenheiten doch wenigstens darauf hoffen, dass die CIA einen Scharfschützen in der Nähe des Hysterikers Trump platziert hat, für den Fall, dass dieser in ungebührlicher Weise an seinem Atomkoffer fingert.

Übrigens gewinnt Fausts Gretchen das ersehnte Gold, ein Schmuckkästchen, verliert aber in der Folge das Leben, endet also zumindest im Diesseits nicht glücklich mit dem Objekt der Begierde.

02/2017

Dazu auch:

Die Unbombe im Archiv dieser Rubrik 

 

   

Alle Kreter lügen


Was haben wir gelacht: Da schickt Donald Trump, sauer über den mauen Publikumszuspruch bei der Inthronisation, seinen Regierungssprecher Sean Spicer vor, der ungeachtet aller Fernsehbilder, Fotovergleiche und Polizeischätzungen keck behauptet, dass nie zuvor so viele Menschen der Amtseinführung eines US-Präsidenten beigewohnt hätten. Und als Journalisten auf die vergleichsweise schüttere Menge im Jubelmodus hinwiesen, setzte die Trump-Beraterin Kellyanne Conway noch eins drauf. Spice habe doch nur alternative Fakten präsentiert, raunte die neue Sphinx im Weißen Haus. Allerdings hätten wir Deutschen gar nicht nach Washington blicken müssen, um uns herzhaft über einen postfaktischen, ja karnevalesken Umgang mit der Wahrheit amüsieren zu können: Unsere Bundesregierung ist, konfrontiert mit UNO-Berichten, noch zu ganz anderen Absurditäten in der Lage.


Das Afghanistan-Paradoxon


Der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell bescheinigte einem bekannten Zitat aus einem Brief des Apostel Paulus Erstrangigkeit unter allen logisch-mathematischen Paradoxien: „Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.“  Wie man den Satz auch dreht und wendet, er ist in sich komplett widersprüchlich und daher unsinnig. Der Aussage des Epidemenides darf man nicht glauben, denn er kann die Wahrheit nicht ausgesprochen haben, da er Kreter ist und somit lügt. Hat er aber die Unwahrheit gesagt, wären die Kreter grundehrlich – auch das aber kann nicht sein, eben weil er gelogen hat.


So sophisticated, wie es Sir Russell liebte, fabuliert die deutsche Bundesregierung natürlich nicht, doch auch sie hat es im Zusammenwirken mit der UNO zu einer kryptischen Feststellung von hohen erratischen Graden gebracht, die wir hier der Einfachheit halber als das Afghanistan-Paradoxon bezeichnen wollen. Wortführer war Innenminister Thomas de Maizière, der – seit Flüchtlinge ins Land strömen und Terrorgefahr aus Ländern, die wir bis dahin unter paternalistischer Kontrolle hatten, droht – unter oraler Inkontinenz zu laboriert und sein Leiden pausenlos öffentlich macht. Darüber hinaus zeigt er Symptome einer galoppierenden  Bewusstseinseintrübung.


Derzeit hat er es sich zur Aufgabe gemacht, 12.000 abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan in ihr Heimatland zurückzuschaffen. Geht nicht, könnte nun ein welt- oder eher politikfremder Menschenrechtler einwenden, Flüchtlinge darf man nicht in ein Kriegsgebiet abschieben. Geht schon, entgegnet da der notorische Pannenminister, viele Regionen in Afghanistan seien nämlich „hinreichend sicher“. Im Humanitären Aktionsplan der Vereinten Nationen liest sich das ganz anders. Für 2017 erwartet die für das Papier verantwortliche UN-Koordinationsagentur OCHA eine weitere Verschlechterung der Situation im vergangenen Jahr: Mehr als neun Millionen Afghanen müssten in höchster Existenznot leben, fast das gesamte Land sei vom Konflikt betroffen, rund 1500 Menschen flöhen tagtäglich aus ihren Dörfern und zudem sorge die erzwungene Rückkehr einer Million Flüchtlinge aus Pakistan für soziale Spannungen. Das Resümee der OCHA: Afghanistan bleibt "eines der gefährlichsten und gewalttätigsten Länder der Welt".


Würde man das Epimenides-Rätsel analogisch bemühen, müsste man sich fragen, ob die UNO grundsätzlich lügt, während Sicherheitsfreak de Maizière stets die unverbrüchliche Wahrheit von sich gibt. Aber dann kommt einem in den Sinn, dass der Innenminister für die Bundesregierung spricht, die ihrerseits den deutschen Staat repräsentiert – und der ist wiederum Mitglied der UNO und trägt in den wichtigen Unterorganisationen die Erklärungen und Pläne mit. Folglich können die Vereinten Nationen gar nicht immer und überall lügen, wenn de Maizière ehrlich ist. Selbstredend ist der Umkehrschluss erlaubt, der deutsche Innenminister habe … . Nein, nein, von Fake oder dem L-Wort kann keine Rede sein, allenfalls äußerte sich der Chef des Innenressorts ein wenig postfaktisch oder er servierte, wie es auf Trumpisch heißt, alternative Fakten.


Die gefühlte Wahrheit


Die Taliban sind in Afghanistan auf dem Vormarsch. Das ganze Land ist unsicher, darüber hinaus gesellt sich zu ihnen seit einiger Zeit der IS, der sich am Hindukusch auf der Suche nach einem Terrain für seinen Gottesstaat befindet, nachdem es in Syrien und im Irak nicht mehr so recht klappen will. Das von de Maizière gebriefte Innenministerium antwortet aber auf die (rhetorische) Anfrage, ob sich dadurch die Sicherheitslage verschlechtert habe, in unnachahmlicher Eriwan-Manier: „Die Sicherheitslage bleibt auch über 2015 hinaus volatil und weist regionale Unterschiede auf. Eine Verschlechterung der Sicherheitslage im gesamten Land kann daher nicht bestätigt werden." In irgendeinem Hinterhof irgendeiner Kleinstadt scheint die Gefahr also nicht gestiegen zu sein.


Und so richtig bedrohlich sei die Lage für den gemeinen Afghanen ohnehin nicht, wiegelt die Pressestelle des Ministeriums ab. Fürchten müssten sich eigentlich nur „Regierungsangestellte und westliche Besucher“. "Für die zivile Bevölkerung in den Gebieten unter militantem Einfluss ist die Bedrohung dagegen geringer."  Tausende von Opfern bei Anschlägen in abgelegenen Dörfern, auf Sportveranstaltungen, bei Konzerten, schiitischen Gottesdiensten und in Mädchenschulen gehören also überwiegend dem Beamtenapparat oder Reisegesellschaften aus den USA und Europa an? Es muss wohl so sein, denn die Mitarbeiter von Security-Thomas schieben noch ein köstliches Indiz für ihre Behauptung nach: Die Taliban hätten „wiederholt glaubhaft“ versichert, „zivile Opfer zu vermeiden und die zivile Infrastruktur zu schonen“.


Bei dem Versuch, eine „gefühlte“ Wahrheit, die es de Maizière ermöglicht, sich dem rechten Mob hierzulande als knallharter Abschieber zu präsentieren, mit immer abstruseren „Fakten“ zu erhärten, versteigen sich seine Beamten sogar dazu, die mörderischen Zeloten zu fairen Gegnern in einem ritterlichen Kriegsspiel zu verklären. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)  berücksichtigt in den Leitsätzen für seine Mitarbeiter das Bemühen des Ministers, ein Land – zumindest in großen Stücken – verbal sicher zu machen. Dass es auch bei den größten Erzählern zu Ungereimtheiten kommen kann, ist unvermeidlich, die Wirklichkeit richtet sich halt selten nach der Fiktion, selbst wenn die von einem Thomas de Maizière entworfen wurde. So erklärte der Mann noch Anfang 2016, Deutschland werde Afghanen zurückschicken. Viele kämen nämlich aus „sicheren Regionen, etwa im Norden“. Dumm nur, dass einige Monate später die Taliban die nördliche Großstadt Kunduz einnahmen und mehrere Tage lang hielten. Das BAMF trug dem Rechnung und wich in seinem Leitfaden auf andere Idyllen aus, in die Asylsuchende auszuweisen seien. So wird die Hauptstadt Kabul genannt, in der die Regierung die Lage weitgehend im Griff habe. Will sagen: Flüchtlinge ab in die Slums einer Metropole, in der die Taliban alle Augenblicke ein Feuerwerk auf den Straßen veranstalten.


Scheuers Angstvision entschärft


Es gibt Experten im Bundesamt, die nicht so recht an die afghanischen Oasen des Friedens glauben wollen, von denen der Innenminister schwärmt, die sich auch mit den Textbausteinen, die ihnen die Leitsätze der Behörde für die Ablehnung von Hilfesuchenden vorschreiben, nicht abfinden wollen. Gegenüber der Zeit sagte ein langjähriger BAMF-Mitarbeiter (der anonym bleiben wollte, weil seine aus Erfahrung gewonnene nicht neben der alternativen Wahrheit geduldet wird): "Eigentlich geben uns das Grundgesetz und das Asylrecht vor, wer bleiben darf und wer nicht. Dass jetzt so viele Afghanen abgelehnt werden, ist politisch so gewollt."  Der Mann beklagt, dass Menschen wider besseres Wissen in ein lebensgefährliches Land zurückgeschickt werden, weil es die Bundesregierung so befiehlt.


Gegen alle Proteste beharrt de Maizière auf seiner Flüchtlingspolitik à la Trump. Die umstrittene Praxis werde „behutsam“ fortgesetzt, verspricht er. Behutsam werden Familien, deren Töchter mittlerweile aufs Gymnasium gehen, darüber informiert, dass sie ihre Perspektive fürderhin in einem Bürgerkriegsland zu suchen hätten, behutsam werden junge Afghanen, die fließend Deutsch sprechen, aus Ausbildungen gerissen oder Erzieher, die über Jahre zu Vertrauenspersonen für deutsche Eltern wurden, abgeschoben, behutsam deuten die Ausländerbehörden dem Handwerksmeister an, dass er gefälligst unwillige germanische Lehrlinge statt geschickter orientalischer Azubis einzustellen habe.


Gegenüber einem Bruder im Geiste aus der Schwesterpartei verhält sich de Maizière jedoh tatsächlich behutsam und zuvorkommend – bis zur Erfüllung jedes Seelenwunsches und Befreiung von allen subtilen Ängsten: CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, der sich so vor dem Fußball spielenden, ministrierenden Senegalesen, den man nie mehr abschieben könne, gefürchtet hat, kann ganz ruhig sein. Kumpel Thomas retourniert dessen afghanischen Schicksalsbruder auch dann in den Bürgerkrieg, wenn er wie Beckenbauer spielt und sich der Papst für ihn einsetzt.

01/2017

Dazu auch: 

Die Welt ist sicher in der Rubrik Medien

Sichere Herkunft? im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund  

 

                       



Blindes Argusauge


Das Staatsverständnis wandelte sich seit der beginnenden Industrialisierung immer wieder einmal: Den Nachtwächterstaat 

(Lassalle), der allenfalls zum Schutz des (groß)bürgerlichen Lebens und der Geschäfte eingreift, wünschten sich die liberalen Begüterten, den Sozialstaat propagierten die Verfechter von ein bisschen Frieden im Kapitalismus, und den starken Staat fordert nun Thomas de Maizière. Man muss dem Bundesinnenminister eine Art kalkulierter Sehschwäche attestieren.


Mal mehr, mal weniger Kontrolle


Derzeit überbieten sich die meisten Parteien im Bundestag geradezu mit konstruktiven Vorschlägen, wie die innere Sicherheit am effektivsten – also zum großen Teil auf Kosten von Flüchtlingen - gewährleistet werden könnte. Seehofer treibt die Unionsschwester CDU mit Obergrenzen, Desintegrationsgesetzen und Leitkulturen vor sich her, SPD-Justizminister Maas hechelt als Cheftheoretiker in Sachen Turbo-Abschiebung, Vorratsdatenspeicherung und Knastverlängerung hinterher, während sein Parteichef Gabriel alle fünf Minuten schneller ausweisen möchte – am liebsten in die legendären sicheren Dritt- oder Herkunftsländer von Marokko bis Afghanistan (von der lupenreinen Demokratie Türkei als Sammelzentrum ganz zu schweigen). Und die Grünen, einst die Partei der Spontis und Antiautoritären, deren letzter glaubwürdiger Mandatsträger Hans-Christian Ströbele bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr antritt, schickt mit dem wendigen Cem Özdemir und dem Flachmann Robert Habeck aus dem hohen Norden gleich zwei Propagandisten des todsicheren Deutschlands in die Urwahl zur Spitzenkandidatur.


Natürlich geht es nicht nur um die Säuberung der Heimat von unliebsamen Migranten, sondern auch um eine flächendeckende TV-Überwachung, die wirklich jeden unserer Schritte sicher aufzeigt, um schärfere Gesetze, härtere Richter und viel mehr Kompetenzen für eben jene Behörden, die schon mit ihren bisherigen nicht umzugehen wussten. Und ähnlich wie Horst Seehofer, der die Parole „Damit Deutschland Deutschland bleibt“ ausgibt, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der die Welt froh sein konnte, dass Deutschland nicht mehr dasselbe Deutschland bleiben durfte, zieht nun Bundesinnenminister Thomas de Maizière vom Leder und fordert den „starken Staat in schwierigen Zeiten“.


Nein, damit ist nicht der potente Staat gemeint, der sich gegen die Wirtschaft durchsetzt, wenn es um die Umwelt geht, wenn es sich um gleiche Bildungschancen oder eine Umkehr der Vermögensverteilung von unten nach oben handelt – da bevorzugt Herr de Maizière doch eher den Nachtwächterstaat; angepeilt wird der Staat, der auf unterer Ebene überwacht, abhört, bespitzelt, zugreift und – zwecks Abwehr der allzu geistesnahen AfD-Emporkömmlinge – mit Asylsuchenden umspringt, wie die 80 Prozent rechten Wähler hierzulande dies fordern: der Security-Rambo also.

    

Ein großer Sumpf statt sechzehn Tümpeln


Natürlich muss der Überwachungswahn die Wirtschaft aussparen. Wenn etwa VW die Kohlendioxid-Emissionen seiner Fahrzeuge herunterrechnet oder alle wichtigen Automobilhersteller den Feinstaubausstoß ihrer Diesel-PKWs mittels Messungen zur rechten Zeit minimieren, dann verkürzt das zwar wesentlich mehr Leben bundesdeutscher Bürger, als es der internationale Terrorismus je fertigbrächte, aber es handelt sich um betriebstechnische Methoden innerhalb unseres Systems; und wer wollte schon die konzernaffine Balance des Großen und Ganzen sowie die Herkunft unseres selektiven Wohlstands bohrend hinterfragen? Ähnliches gilt für die große Vermögen schonende Steuerungerechtigkeit, die Spielwiesen und Luxus-Kuren, die dem Bankensektor ungehemmten Auslauf ermöglichen, die Lizenzen und Rabatte für Agrarmonopole oder Pharmakonzerne und so weiter. Eine gedeihliche Lobbykratie sollte weder von Behörden, noch von der Justiz und erst recht nicht von der Politik in ihrem Tatendrang gehindert werden (kleine, durch peinliche Veröffentlichungen notwendig gewordene Korrekturen ausgenommen).


Viele Menschen spüren in ihrem Unterbewusstsein, dass sie oder zumindest ihre Geschicke anonym gesteuert werden, erkennen aber die Gründe nicht, sehen keine Perspektiven und resignieren. Manche aber verfallen in einen dumpfen Zorn, der nach dubiosen Identifikationsfiguren und klaren Feindbildern giert, der Figuren wie Trump und Ressentiment-Clubs wie Pegida nach oben schwemmt. Zur Sedierung dieser Klientel hält de Maizière jetzt den auf aussehens- und herkunftsauffällige Individuen und Gruppen spezialisierten Überwachungs- und Büttelstaat  parat – selbstredend auch, um den AfD-Völkischen vor Wahlen das Wasser abzugraben.


Statt gründlich darüber nachzudenken, wie es in jüngster Vergangenheit möglich war, dass der allbekannte Kriminelle Anis Amri trotz ständiger Überwachung ein LKW-Attentat begehen und trotz engmaschiger Fahndung aus Deutschland entkommen konnte, verkündet der Innenminister sofort, was künftig zu tun sei: Die Befugnisse des Bundeskriminalamts müssten ausgeweitet werden, die Landesämter für Verfassungsschutz seien zugunsten einer Bundesbehörde (die es eigentlich schon gibt) aufzulösen, ein länderübergreifendes Rückführungszentrum sollte für rasche und einvernehmliche Abschiebungen sorgen, und überhaupt sei „Europa krisenfest“ zu machen, wann immer eine Migrationswelle drohe.


Davon abgesehen, dass keine der letzteren beiden Maßnahmen im Fall Amri gegriffen hätte, sind sie ja eigentlich nur für unbescholtene, naive Flüchtlinge, die sich aufgreifen und ausweisen lassen, geeignet, hat de Maizière nicht begriffen, dass es nicht um die Schaffung eines zentralistischen Wasserkopfes, wie er autoritären Staaten gut ansteht, gehen kann, sondern um Fähigkeit und Intelligenz. Wären beide Eigenschaften vorhanden gewesen, hätte das BKA, auch ohne Aufplusterung zum Super-FBI, Amri schon im Herbst festsetzen können, als es von marokkanischen Sicherheitsbehörden vor dessen Terrorabsichten gewarnt wurde.


Und was den Verfassungsschutz betrifft, gleicht die Forderung des Innenministers dem Ruf schwarzbrauner Kröten, sechzehn trübe Tümpel zu einem stattlichen Morast zusammenzulegen. In einem muss man de Maizière schon recht geben: Die Landesämter und Abteilungen der Innenministerien, die angeblich die Einhaltung des Grundgesetzes überwachen, könnte man sofort auflösen, ohne dass der Bundesrepublik Schaden entstünde – ganz im Gegenteil: Die notorisch rechtslastigen Schlapphüte (Linke würden dort nicht arbeiten wollen und dürfen!) haben jede Mange Unheil angerichtet.


So versorgten und deckten die thüringischen, sächsischen und hessischen Behörden die NSU-Mörder oder zumindest deren (teilweise vom Staat alimentierte) Helfershelfer, während das bayerische Landesamt gemeinsam mit der Kripo erheblich dazu beitrug, dass nach dem Oktoberfest-Attentat 1980 sämtliche Spuren, die eine ziemlich dünne Einzeltäter-Hypothese erschüttert hätten, gründlich verwischt wurden. Und gemeinsam mit den Kollegen vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) unterwanderten die V-Leute der föderalen Dienststellen die NPD so nachhaltig, dass sie am Ende den Bundesvorstand fast majorisierten und federführend an den Programmen mitarbeiteten. Und welcher Staat kann schon einen Neonazi-Verein verbieten, bei dessen staatsfeindlicher Satzung er als Koautor mitgewirkt hat?


Aber wenn man diese fürchterlichen Schützer des Grundgesetzes in den Ländern zum Teufel jagt, sollte man ihnen die Kollegen vom Bundesamt gleich hinterher schicken, statt sie zu gesamtdeutschen Allround-Agenten hochzupuschen. Schon die Anfänge des BfV deuten an, dass hier Böcke gewissenhaft zu Gärtnern gemacht wurden. Auferstanden aus den Ruinen der Nazis und weitgehend gestützt auf das alte Personal, wussten die bundesdeutschen Geheimdienste nach Kriegsende aus Erfahrung, dass der Feind links steht. Folgerichtig bespitzelten Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst eifrig jeden Lehramtsanwärter, der an einer Friedensdemo teilnahm, bzw. alle Ausländer, die sich nicht mit den hierzulande wohlgelittenen Militärdiktaturen in ihrer Heimat abfinden mochten. Aber das BfV mischte auch aktiv in der Szene mit, stattete Wirrköpfe mit Sprengstoff für Attentate in Berlin und Celle aus, um die gesamte Linke zu diskreditieren. Dass diese Verfassungsschützer, vor denen uns eigentlich die Verfassung schützen müsste, immer noch desselben Geistes Kinder sind, bewies ihr derzeitiger Chef Hans-Georg Maaßen, als er vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags dreist erklärte, Nachfragen zur dubiosen Rolle seines Dienstes erschwerten nur dessen Arbeit.


Starker Staat mit Rechenschwäche


Nein, diese Dienste, die de Maizière ohne stichhaltige Begründung zentralisieren möchte, gehören abgeschafft - sie haben nichts Positives bewirkt, nichts Negatives verhindert; in ihrer undemokratischen Ausrichtung und mit ihren unsauberen Methoden haben sie keine Daseinsberechtigung, zumal von ihnen eine Gefahr ausgeht, deren Ausmaß und Brisanz schwer wir einschätzen können. Vielleicht sollte man die eingesparten Gehälter zur Aufstockung einer ganz anderen Behördenbesatzung, die für die Kontrolle am oberen Rand der gesellschaftlichen Hierarchie zuständig ist, verwenden.


Während nämlich der Innenminister den starken Kontroletti-Staat zur Abschiebung von Asylsuchenden, zur Datensammelei sowie zur Bekämpfung von Einbruchs- sowie anderer Kleinkriminalität und vor allem in der Hoffnung auf den Beifall der berüchtigten schweigenden Mehrheit propagiert, folgen er und seine Kabinettskollegen stillschweigend dem laissez-faire-Prinzip, wenn es um unsaubere Machinationen von Unternehmen (etwa der Kfz-Konzerne), Mitwirkung von Lobbyisten an der Gesetzgebung (Pharma-Industrie) oder Steuerverkürzung (Volkssport der deutschen Finanzwirtschaft) geht. Statt sämtliche hundert Argusaugen, die eigentlich nur bei Linksverdacht weit offen sind, dem Blick nach rechts und in die Chefetagen zu verschließen, würde es sich rechnen, Tausende von Steuer- und Betriebsprüfern zusätzlich einzustellen und die weltweiten Transfers von großen Profiten und Vermögen überwachen zu lassen. Aber dann hätten wir keinen liberalen Nachtwächterstaat mehr, denn liberal geht es nur zu, wenn die Oligarchie so frei ist…

01/2017

Dazu auch:

Doofe Spione? im Archiv der Rubrik Medien




2016




Ende der Maskerade


Entsetzt müssen Polit-Journalisten, Wirtschaftsauguren und Freihandelspropagandisten erkennen, dass ihre Hoffnung, Donald Trump werde sich vom Verbalberserker (im Wahlkampf) zum nachgiebigen Weichei (im Amt) wandeln, getrogen hat. Der künftige US-Präsident hat seine Minister benannt und dabei auf die übliche Maskerade von bürgerlicher Wohlanständigkeit, vorgeblichem Interessenausgleich und moderater Diktion für die Galerie verzichtet. Was er präsentiert, ist echter Kapitalismus, ungeschminkt sozusagen, unplugged, aber in höchster Lautstärke.


Milliardäre ins Amt!


Sieht man sich die Liste der designierten Minister, Berater und Behördenleiter an, so wird man zu dem Schluss gelangen dass Donald Trump die Auswahl nach drei Maximen getroffen hat:


-  Lobbyismus erübrigt sich in den USA (vorerst), weil das Big Business,

  das früher durch dieses Instrument die Regierungen zu lenken pflegte,

  nun höchstpersönlich die Regierung bildet.

Der militärisch-industrielle Komplex stellt diesmal von vornherein die

  Minister, wohingegen er früher die Amtsinhaber erst kaufen oder

  überreden musste.

- Eine Kontrollinstitution oder ein Ministerium mit Aufsichtspflichten

  kastriert man am effektivsten, indem man die zu Kontrollierenden als

  Leiter bestellt.


Nun hat es in den letzten Jahrzehnten keinen Präsidenten oder Minister in den USA mehr gegeben, der nicht Millionär gewesen wäre. Aber was heißt das schon? Der simple Millionär fungierte dort mehr oder weniger als Laufbursche, Anwalt oder Steuerberater der Superreichen – oder er vertrat deren Interessen in der Regierung. Jetzt aber nehmen die Milliardäre selbst am Kabinettstisch Platz, wodurch sich auch das Männleinlaufen der von Großkonzernen angemieteten Lobbyisten erübrigt: Wer braucht noch einen Klinkenputzer, um einem Minister den Kurs zu diktieren (und den Gehorsam zu honorieren), wenn er in eigener Sache als zuständiger Ressortleiter residiert?


Natürlich wird man mittelfristig wieder Lobbyisten benötigen, da die geschlagene Fraktion des Großkapitals, die Clinton-Clique der global aufgestellten Handelskonzerne also, sich nach dem Lecken der Wunden neue Einflussmöglichkeiten erschließen muss; der Trump-Flügel der Erdöl-, Rüstungs- und Bau-Giganten aber nimmt erst einmal das Schicksal der Nation selbst in die Hand.


So kennt sich der künftige Finanzminister Steven Mnuchin aus mit dubiosen Bankengeschäften, arbeitete er doch früher für die Investmentbank Goldman Sachs, die Mitverantwortung für die Finanzkrise trug und nicht zuletzt deshalb von Trump im Wahlkampf angegriffen worden war. Später kaufte er Hypothekenpapiere auf und drängte Familien, die Tilgung und Zinsen nicht mehr aufbringen konnten, besonders rasch aus ihren Häusern. Jetzt will er den Unternehmenssteuersatz auf 15 Prozent senken, um Kollegen wie den Wirtschaftsminister in spe Wilbur Ross zu entlasten. Der machte seine Milliarden, indem er angeschlagene Firmen übernahm, ohne Rücksicht auf die Mitarbeiter „fit für den Markt“ machte und wieder verscherbelte.


Betsy DeVos, deren Vermögen auf über fünf Milliarden Dollar geschätzt wird, soll als Ministerin das nationale Bildungsniveau heben. Tatsächlich tritt sie dafür ein, dass Eltern die Schulen für ihre Kinder frei auswählen können. Die Lehrergewerkschaft NEA befürchtet allerdings, dass DeVos das öffentliche Bildungssystem privatisieren will und damit die soziale Diskriminierung weiter verschärfen wird, denn gute Schulen und Universitäten stehen schon heute nur denen offen, deren Eltern genügend Kleingeld erübrigen können. Andrew F. Putzder hingegen ist nach Trump ̉scher Logik hervorragend für den Job als Arbeitsminister geeignet: Der Besitzer einer Burger-Kette lehnt Mindestlöhne ab, ist überhaupt gegen Regulierungen und natürlich auch gegen die Bezahlung von Überstunden.


Ein absoluter Coup aber gelang Trump mit der Ernennung des künftigen Außenministers: Rex Tillerson, Chef des Erdöl-Giganten ExxonMobil, war zwar politisch bisher eher unauffällig, ließ seine Prospektoren aber die Umwelt in mehr als 50 Ländern zerstören. Zu all diesen internationalen Erfahrungen kommt noch der friedenstiftende Reminiszenz, dass ihm von Trumps Männerfreund Wladimir Putin 2013 der Freundschaftsorden verliehen wurde – verdientermaßen, denn mit Russland hat Tillerson gute Geschäfte gemacht.

    

Militärs an die Heimatfront!


Früher haben die US-Amerikanern ab und an Generäle zu Präsidenten gewählt; in den Vor-Trump-Zeiten dachte man noch, der Herr des Weißen Hauses werde sich in Zurückhaltung üben und seine persönlichen Vorlieben hintan stellen. Damit aber die Krieger ebenso wie die Kriegsgewinnler auf ihre Kosten kamen, verwoben beide Seiten ihre Intentionen zu einem mächtigen Interessengeflecht, genannt militärisch-industrieller Komplex, mit dem man auch eine Supermacht beherrschen konnte. Ausgerechnet Präsident Dwight D. Eisenhower, der es als Ex-General ja wissen musste, warnte 1961 in seiner Abschiedsrede vor der unheiligen Allianz von Militärs und Konzernlenkern: „Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet.“


Spätestens jetzt wissen wir, dass Eisenhowers Appell ungehört verhallt ist. Trump hat nämlich neben den Milliardären auch die Militärs in seine Regierung eingebunden, wobei er letzteren zum Teil bislang Zivilisten vorbehaltene Positionen zuschanzte und so die Unterschiede zwischen Friedenssicherung  und Kriegsoperation oder Auslandseinsatz und Inlandsfürsorge verwischte. Dass der hochdekorierte General James Mattis (Spitzname: Mad Dog) Verteidigungsminister wird, scheint da noch am ehesten verständlich. Vermutlich gefällt Trump, dass Mattis nach der sicher auch der National Rifle Association genehmen Devise „Erst schießen, dann denken!“ handelt. Und ein gewisses Vergnügen an der rauen Gangart artikuliert der Mann, der dereinst die US-Truppen auf andere Länder loslassen kann, so: „Es gibt ein paar Arschlöcher auf der Welt, die einfach erschossen gehören.“  Leider trifft man statt der „Arschlöcher“ bisweilen andere Menschen, was dann als Kollateralschaden abgehakt wird. So ordnete Mattis laut SZ im Irak den Angriff auf ein Haus, in dem er sunnitische Aufständische vermutete, an. Im Kugelhagel starben aber 40 Zivilisten, die an einer Hochzeit teilgenommen hatten.


Der pensionierte Drei-Sterne-General John Kelly dürfte sich als Heimatschutzminister vor allem auf die territoriale und physische Ausschaltung illegaler Einwanderer konzentrieren. Sein ehemaliger Kollege bei der Army, Mike Flynn, fiel im Wahlkampf vor allem dadurch auf, dass er Hillary Clinton mit Terroristen von Al Qaida verglich. Solch messerscharfe Analyse prädestiniert in Trumps Augen offenbar für den Posten des Nationalen Sicherheitsberaters. Und dann soll mit Ryan Zinke noch ein weiterer Ex-Militär Innenminister werden und dabei eine ganz besondere Aufgabe wahrnehmen.


Wie man ein Ressort liquidiert


Wenn man, wie Donald Trump, die Umwelt für eine Ressourcen-Deponie zur privaten Bereicherung und den Klimawandel für ein Märchen antikapitalistischer Hippie-Spinner hält, muss in Zinke einen natürlichen Verbündeten sehen. Der hat sich schon in seinem Heimatstaat Montana für die Lockerung von Umweltauflagen stark gemacht und wird Erdölbohrungen, Fracking und Kohleabbau nach Herzenslust fördern, wenn er als Innenminister über ein Fünftel aller öffentlichen Flächen des Landes, darunter die großen Nationalparks, gebietet.


Unterstützt bei seinem Bemühen, der Industrie eine Trasse durch die verbliebene Natur zu schlagen, wird Zinke von dem Kohle-Fan Scott Pruitt, der Leiter der Umweltschutzbehörde EPA werden soll, eine Institution, die der Chefankläger von Oklahoma bislang stets bekämpft hatte. Trump kann also jedes missliebige Amt und jede unbequeme Kontrollinstanz elegant liquidieren, indem er erklärte Feinde an deren Spitze hievt.


Ähnlich verfährt der Mann, der im Januar als Präsident vereidigt wird, mit dem Gesundheitsministerium. Dem soll der Abtreibungsgegner Tom Price vorstehen, der eine der größten Orthopädiepraxen der USA mit gegründet hat. Die vornehmste Aufgabe des neuen Ministers wird es sein, Obamas Gesundheitsreform und damit die öffentliche Krankenversicherung, zu beerdigen – sicherlich ein Herzanliegen für einen gutverdienenden Spezialisten, der eine staatliche Deckelung seiner Honorare fürchten müsste.


Selbstverständlich fügen sich auch die restlichen Kabinettsmitglieder nahtlos in dieses Szenarium ungehemmter Besitzgier, gepaart mit Xenophobie und reaktionärstem Nationalismus, ein. Da gibt es einen rassistischen Chefstrategen, dessen Nachrichtendienst ultrarechte Verschwörungstheorien verbreitet, einen schwarzen Wohnungsbauminister, der kein Hehl aus seiner Verachtung für Bedürftige macht, und als Mittelstandsbeauftragte eine Milliardärsgattin, die einst als Leiterin der WWE-Liga ihr Zubrot mit dem Fake-Sport Wrestling verdiente, und so weiter...


Auf eigentümliche Weise hat Donald Trump sein Wort gehalten: Das System ist ehrlicher geworden; geradliniger sucht die erfolgreiche Fraktion der Elite den eigenen Vorteil, es muss nicht mehr gelogen werden. Die sozial und politisch Entmündigten bleiben weiter ohne Einfluss und Unterstützung, aber sie fühlen sich nicht mehr betrogen. Bleibt nur zu hoffen, dass Trumps Revolverhelden-Chuzpe in den nächsten vier Jahren die globalen Wege nicht mit Leichen pflastert.

12/2016

Dazu auch:

Ein Trump der Tat in der Rubrik Helden unserer Zeit

Trumps America im Archiv der Rubrik Medien

   

                          

Eine Sicht auf Castro


Nur wenige Politiker ergingen sich wie der künftige US-Präsident Donald Trump in übler Nachrede, als die Nachricht vom Tod des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro die weltweite Runde machte. Andere äußerten sich ambivalent wie Frankreichs Staatschef Franςois Hollande, Boliviens Evo Morales hingegen nannte den Mann, der 60 Jahre lang erfolgreich einer Supermacht getrotzt hatte, einen Giganten der Geschichte und sprach damit vielen Lateinamerikanern aus dem Herzen. Durch wiederholte Fehlprognosen hinsichtlich eines baldigen Endes des Sozialismus auf Kuba vorsichtig geworden, fielen die ersten Reaktionen von Zeit, SZ und SPIEGEL zurückhaltend aus, nach dem Motto „einerseits Diktator, andererseits aber anerkannt“. Was nicht zur Sprache kam, waren die enorme Bedeutung Castros für die Dritte Welt generell und – im Konkreten – seine Verdienste um den Fall des südafrikanischen Apartheid-Regimes.


Die Geschichte kennt keine Heiligen


Kein Freiheitskämpfer, kein Revolutionär, keine historische Persönlichkeit schlechthin steht am Ende des Lebens ohne Makel da. Neben den persönlichen Schwächen und Fehlern, wie sie jeder Mensch hat, sowie politischen Irrtümern ist es vor allem die durch Notwendigkeiten und Gefahren erzwungene Härte des Handelns, die posthum in dialektischer Analyse gegenüber den Verdiensten und positiven Wirkungen in die Waagschale geworfen werden muss. Auch Fidel Castros Negativ-Saldo hatte einige Posten aufzuweisen.


Frantz Fanon sagte in seinem Standardwerk „Die Verdammten dieser Erde“ voraus, dass nach einem erfolgreichen Unabhängigkeitskampf  in der Dritten Welt die neuen Verantwortlichen einen umfassenden Sicherheitsapparat aufbauen müssten, da der Feind auf Revanche sinne. Angesichts der permanenten Bedrohung Kubas durch die nahe Supermacht USA waren Überwachung und Repression zum Schutz der Revolution traurige, aber verständliche Maßnahmen, was zu der kuriosen Situation führte, dass auf der Karibikinsel – im Gegensatz zu allen anderen lateinamerikanischen Staaten – die Bevölkerung keine Angst vor Soldaten und Polizisten hat, aber sehr wohl Aversionen gegen das Spitzelsystem.


Castros Homophobie war typisch für den machismo in dieser Weltregion. Er lehnte die Schwulen emotional ab, gewährte ihnen aber nach und nach mehr Freiräume. Dass die Medienlandschaft Kubas höchst karg ist und dass auch in der Literatur die aus den Staatsbürokratien des Ostblocks sattsam bekannten Messlatten der „konstruktiven Kritik“ angelegt wurden, was aufsässige Kreative vergraulen musste, gehörte zu den restriktiven Merkmalen der Castro-Herrschaft.


Dem stehen gewichtige Einträge auf der sozialen und geschichtlichen Habenseite gegenüber. Trotz der im westlichen Lager immer wieder genüsslich angeführten Armut des Inselstaates, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung auf Kuba mittlerweile höher als in etlichen Staaten der EU. Die Menschen haben größtenteils Arbeit, alle Bürger genießen eine für die Dritte Welt vorbildliche Gesundheitsversorgung, und leiden nicht unter der in ganz Lateinamerika so fatalen Bedrohung durch Gewaltverbrechen und Drogenhandel. Sie leben nicht im Luxus, müssen aber nicht hungern und haben (nicht nur auf dem Papier) Anspruch auf Schulbildung – ganz anders als in vergleichbaren Nachbarländern wie Mexiko oder Guatemala. Dazu hat sich auf Kuba eine reiche Musik-, Tanz- und Kunstszene entwickelt. An all diesen Entwicklungen war Fidel Castros Politik sicherlich nicht ganz unschuldig.


Die Meinungsführer des Freihandels verwiesen stets auf die im Gegensatz zu kubanischen Auslagen vollen Schaufenster in den Hauptstädten Mittel- und Südamerikas und wandten die Augen ab von den Kindern, die dort in Sichtweite der Luxusgüter an Unterernährung und Mangelkrankheiten zugrunde gingen. Um die kubanische Revolution zu diskreditieren, wurde Castro als „sowjetische Marionette“ verleumdet. In der Tat musste er – von den USA zum Vogelfreien erklärt  (was aus Sicht der CIA terroristische Maßnahmen rechtfertigte) – enge Beziehungen zur UDSSR suchen. Doch er blieb ein höchst eigenwilliger Bundesgenosse (wie wir später am Beispiel Angolas noch sehen werden), der den Zusammenbruch der Staatsbürokratien in Osteuropa mitsamt seinem Volk und zumindest einem Teil seiner Ideen überlebte.


Der Mahner und Visionär


Der unbändige Hass, mit dem die US-Präsidenten von John F. Kennedy bis George W. Bush den kubanischen Revolutionsführer verfolgten und der zu zahllosen Attentaten und dem von der CIA angezettelten Invasionsdesaster in der Schweinebucht führte, hatte im Wesentlichen zwei Gründe:


Im Spanisch-Amerikanischen Krieg besetzten 1898 US-Truppen Kuba, vorgeblich in Unterstützung der Unabhängigkeitskämpfer, tatsächlich um US-Konzernen wie der berüchtigten United Fruit oder der American Tobacco Company den Weg zu ebnen. Washington annektierte die Insel nicht, machte sie aber quasi zum Satrapenstaat. Der ehemalige Gouverneur George Boutwell brachte es in Boston auf den Punkt: „Entgegen unseren Versprechungen von Freiheit und Souveränität für Kuba zwingen wir der Insel Bedingungen kolonialen Vasallentums auf.“ In der Folge nutzten die Vereinigten Staaten den Karibikstaat als Zuckerlieferanten und bauten ihn zum Bordell- und Glücksspielzentrum unter Mafia-Kontrolle für ihre vergnügungssüchtigen Bürger aus, denen solche Zerstreuungen in der Heimat verwehrt blieben. Nachdem ihr Statthalter Fulgencio Batista 1958 von den Guerilleros aus der Sierra Maestro gestürzt worden war, begann Castro damit, die von US-Konzernen ergaunerten Latifundien und Firmen zu nationalisieren. Dies widersprach dem Yankee-Freiheitsbegriff, der damals schon die schrankenlose Herrschaft der Markt-Oligarchien über die Abhängigen oder Wehrlosen umschrieb und fremde Länder zu Privateigentum deklarierte.


Der andere Grund für die unversöhnliche Feindschaft, die das Weiße Haus, das Pentagon und die Wallstreet Castro entgegenbrachten, speiste sich aus der Furcht, das Beispiel Kubas könne in der Dritten Welt Schule machen. Und in der Tat: Castro entsandte Lehrer und Ärzte, aber auch Soldaten nach Afrika, unterstützte Befreiungsbewegungen in Lateinamerika und Südostasien. Im Gegensatz zu den USA hegte er keine materiellen Absichten, und anders als die UDSSR interessierten ihn keine geostrategischen Überlegungen. Das Engagement entsprang einer Vorstellung von Internationalismus und Aufbruch in der Dritten Welt, wie er und seine Mitstreiter, darunter Che Guevara, sie formuliert hatten.


Versuche der Revolutionäre, die Landwirtschaft zu diversifizieren, indem die Zuckerrohr-Monokultur zurückgefahren und der Anbau von Zitrusfrüchten forciert werden sollten, scheiterten am Handelsembargo, dem Kuba seitens der USA und – zumindest eine Zeit lang - Westeuropas ausgesetzt war. Um notwendige Güter und Erdöl importieren zu können, musste die an Bodenschätzen arme Insel weiterhin Lieferanten wie die UDSSR und Mexiko mit ihrer süßen Exportware bezahlen. Allerdings gelang es später auch, konkurrenzfähige Produkte der Medizintechnik herzustellen und weltweit zu verkaufen.


In ökologischer Hinsicht hat sich die Insel in den letzten Jahrzehnten positiv entwickelt, was teilweise der Untermotorisierung und den knappen Treibstoffreserven geschuldet war, zugleich aber auch ambitioniertem Natur- und Umweltschutz. So gelang es, die völlig verschmutzte Bucht von Havanna, die von UN-Experten bereits aufgegeben worden war, zu säubern. Schon Anfang der 80er Jahre hatte Fidel Castro in seinem Buch „Wenn wir überleben wollen“ davor gewarnt, die Lebensgrundlagen der Völker durch Raubbau zu zerstören. Zudem prangerte er im selben Text die willkürlich geringe Niedrig-Bewertung landwirtschaftlicher Produkte der Dritten Welt gegenüber bearbeiteten Waren aus den Industrieländern durch den „freien Markt“ an.


Der Anfang vom Ende der Apartheid

 

Was von Castro im globalen Gedächtnis bleiben wird, ob die kubanische Revolution angesichts der dynastischen Fixierung auf Leitungsebene (Wer kommt nach Raul?) und der von Trump neu entfesselten Hasskampagne überleben kann, wird die Zukunft zeigen. Castros letztendlich erfolgreicher Kampf gegen das rassistische Regime in Südafrika, dessen Vasallen und heimliche Unterstützer (USA und die NATO) aber wird ihm einen Platz in der Geschichte sichern – natürlich nicht nach westlicher Lesart; bei uns wurde darüber lieber geschwiegen.


Im Herbst 1975 überschritten von der CIA instruierte Truppen aus Südafrika die Grenzen im Süden Angolas, um die verbündete Unita von Jonas Savimbi, einem der brutalsten Schlächter in der Geschichte des Kontinents, bei ihrem Marsch auf die Hauptstadt Luanda zu unterstützen. Im Jahr nach dem Abzug der portugiesischen Kolonialmacht musste sich die Befreiungsbewegung MPLA gerade an zwei Fronten dubioser Gegner erwehren. Aus dem Norden rückte nämlich gleichzeitig die FNLA unter Holden Roberto, einem Verwandten des Zaire-Diktators Mobutu, vor. Hinter den beiden mafiösen Organisationen standen die USA, die das rohstoffreiche Land nicht in die Hände einer (damals) marxistischen Gruppierung fallen lassen wollten. Gegen den Willen der UDSSR, die keine Konfrontation mit Washington riskieren mochte, entsandte Castro Soldaten nach Angola (der Ahnenheimat vieler Afro-Kubaner), um die bedrängte MPLA im Kampf gegen das Apartheid-Regime und seine Alliierten zu unterstützen. Den kubanischen Truppen gelang es, die südafrikanische Invasion zu stoppen, was den Ruf der Unbesiegbarkeit der Rassisten-Armee erstmals erschütterte. In der Folge schlugen MPLA-Einheiten mit kubanischer Unterstützung auch die UNITA und die FNLA in die Flucht.


Zwölf Jahre später – die MPLA bildete längst die Regierung in Luanda – eröffnete die angolanische Armee, schlecht beraten von Instrukteuren aus der Sowjetunion und der DDR und gegen die Empfehlungen kubanischer Militärs (die sich auch nicht an dem desaströsen Feldzug beteiligten), eine Offensive gegen die immer noch im Süden operierende UNITA. Wieder marschierten starke südafrikanische Verbände aus Namibia ein und brachten zusammen mit Savimbis Truppen den angolanischen Streitkräften so schwere Verluste bei, dass eine Okkupation des Landes und damit ein folgenschwerer Sieg des Apartheid-Regimes in Pretoria nicht mehr ausgeschlossen schienen. Noch einmal griff Castro ein und entsandte Zehntausende von Soldaten sowie Kampfflugzeuge nach Angola. Es war maßgeblich den Kubanern zu verdanken, dass die größte Schlacht auf afrikanischem Boden (rund 20.000 Tote) mit der Niederlage der südafrikanischen Armee endete. Die kubanischen MIGs hatten zudem die Luftherrschaft errungen und sicherten die Verfolgung der Invasionstruppen und den Vormarsch auf die Grenze zu Namibia ab. Die USA retteten ihre Verbündeten vorerst, indem sie Waffenstillstandsverhandlungen (auch mit dem ansonsten verfemten Inselstaat) anbahnten.


Südafrika musste alle Truppen aus Angola abziehen und die UNO-Resolution 435 anerkennen, die die Unabhängigkeit Namibias forderte. Der erste große Brocken war aus dem Bollwerk der rassistischen Weißen-Herrschaft in Afrika gebrochen. Deren Ende war nun nur noch eine Frage von Jahren. Castro zog vertragsgemäß seine Truppen bis 1991 aus Afrika ab.


Noam Chomsky, der große alte Mann der US-Linken, sprach einst mit Nelson Mandela, dem wohl objektivsten Zeugen der afrikanischen Wirkungsgeschichte Castros. Der Vorsitzende des ANC sagte:

 

„Während all meiner Gefängnisjahre war Kuba eine Inspiration und Fidel Castro ein Turm der Stärke…Kubanische Siege zerstörten den Mythos der Unbesiegbarkeit des weißen Unterdrückers und beflügelten die kämpfenden Massen von Südafrika…ein Wendepunkt für die Befreiung unseres Kontinents und meines Volkes von der Geißel der Apartheid…Welches andere Land kann auf eine größere Selbstlosigkeit verweisen, als Kuba sie in seinen Beziehungen zu Afrika gezeigt hat?“


Dass Mandela der Mann war, der als Präsident dem mit Israels Hilfe zur Atommacht „aufgestiegenen“ Südafrika aus freien Stücken den Verzicht auf die Bombe verordnete und damit den angeblich unumkehrbaren Trend zur globalen Selbstvernichtung konterkarierte, ist ein weiteres Argument gegen den derzeit vorherrschenden Geschichtspessimismus.

12/2016

                         



Ware Mensch


Wie soll man in Deutschland künftig mit Flüchtlingen und Zuwanderern umgehen? Zwei Parteien, die CSU und die SPD, haben Gedanken, Vorschläge und Forderungen zu Papier und  zu Gehör gebracht. Die beiden Denkansätze scheinen zwar diametral entgegengesetzt,  zeugen aber von ähnlicher Menschenverachtung und würden bei ihrer Realisierung fatale Folgen zeitigen.


Leitkultur-Fundamentalisten


Mit dem christlichen Gott hat es die CSU, auf den ist sie sozusagen spezialisiert, zumal wenn es um den zürnenden, polternden Jahwe des Alten Testaments handelt, der Feinde gnadenlos vernichtet, die Wehrertüchtigung seines auserwählten Volkes belohnt, Sodomie und Brudermord geschehen lässt (um beides anschließend zu bestrafen) oder wohlwollend beobachtet, wie ein Sohn mittels eines Linsengerichts den anderen übers Ohr haut. Mit letzterem kennt sich Bayerns Staatspartei, deren Weg mit unzähligen Intrigen, Korruptionsaffären und Durchstechereien gepflastert ist, bestens aus, während ihr die neutestamentarische Dreifaltigkeit angesichts der Immigranten-Horden zu nächstenliebesdienerisch daherkommt.


Um der von Karrierismus und präpotentem Fingerhakeln geschürten Kakophonie in den eigenen Reihen Zügel anzulegen  oder wenigstens Schalldämpfer aufzusetzen, hat sich die CSU unlängst ein Grundsatzprogramm zugelegt, in dem der kryptische Begriff „Leitkultur“ nicht weniger als zehnmal auftaucht. Die Trennung von Staat und Kirche scheint sich noch nicht bis Bayern herumgesprochen zu haben, denn im neuen Katechismus des staatstragenden Rechtspopulismus heißt es: „Die christlich-jüdisch-abendländischen Werte sind Grundlage unseres Zusammenlebens und haben auch außerhalb des Glaubens Geltung …“ Zu solchen Werten außerhalb des Bibel-Credos gehört gemäß den (Vor)Schreibern christlich-sozialer Denkungsart auch die Gleichberechtigung. Doch da haben die Programmatiker glatt den Brief des Apostels Paulus an die Epheser vergessen, in dem dieser die gottgewollte Hierarchie der Geschlechter so beschreibt: „Das Weib sei dem Manne untertan.“

  

Nicht zu Deutschland gehört, „wer die christliche Prägung unseres Landes ablehnt“, heißt es weiter im Brevier der bayerischen Gotteskrieger. Also finden sich unter den Staatenlosen neuerdings auch Millionen von urdeutschen Atheisten, Andersgläubigen sowie Verfechtern des Säkularismus und dazu Tausende von Ex-Ministranten oder ehemaligen Chorknaben, welche, von Mönchen und Priestern verprügelt oder genotzüchtigt, die einst am eigenen Leibe erfahrene christliche Prägung fürderhin vehement ablehnen.


Bereits vor einigen Wochen hatte die CSU kundgetan, dass sie sich um das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einen Dreck schert, wenn es der Ausgrenzung von Immigranten aus exotischer Ferne im Wege steht, wie ein zuerst im ZDF veröffentlichtes Positionspapier belegt: "In Zukunft muss gelten: Vorrang für Zuwanderer aus unserem christlich-abendländischen Kulturkreis." Im Artikel 3 der auch für Bayern geltenden deutschen Verfassung heißt es hingegen im dritten Absatz: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens … benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Legal? Illegal? Rechtsradikal!  Mit irgendwelchen Gutmensch-Gesetzen kann die CSU der AfD doch keine Stimmen abjagen! 


Obwohl – ganz so christlich und integriert sollten sich die Neger in Bayern nun auch wieder nicht geben: „Das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist - weil den wirst Du nie wieder abschieben.“ CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, der Mann fürs besonders Grobe in einer ohnehin geistig ein wenig rohen Partei, stellte klar, dass man zwar schwarz im Herzen und düster im Verstand sein darf, eine schwarze Haut in der bayerischen Willkommenskultur aber gar nichts nützt, selbst wenn ihr Träger gleich zwei alteingesessene Religionen (Fußball und Fußfall vor Hochwürden) bedient.

 

Die Creme der Armut abschöpfen


Solche von Dummheit und/oder Rassismus zeugenden Sprüche kämen SPD-Politikern natürlich nie über die Lippen. Die schlagen lieber wieder einmal ein Einwanderungsgesetz vor, das bei konsequenter Anwendung durch die Bundesregierung und geschickter Ausnützung durch die deutsche Wirtschaft mittelfristig noch viel mehr Flüchtlinge auf den langen Weg nach Europa zwingen würde.


Zunächst beruhigt der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Thomas Oppermann, ein euphemistisch fabulierendes Gegenstück zu Scheuer, die um die Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention bangenden Skeptiker, mit „Asylanträgen, Bürgerkriegsflüchtlingen und Armutszuwanderung“ habe der Gesetzesentwurf „nicht das Geringste“ zu tun. Das ist durchaus glaubwürdig, da es dafür elegantere Lösungen gibt: Letztere Opfer werden ohnehin zeitnah abgeschoben, und etliche der aus Krieg und Diktatur Geflohenen können mit Billigung der Genossen in Kriegsgebiete und Diktaturen, die mittels semantischer Tricks zu sicheren Herkunftsländern mutierten, zurückverfrachtet werden.


Nein, Oppermann und Konsorten, geht es um „hochqualifizierte Fachkräfte aus aller Welt“, die man nach einem Punktesystem à la Kanada rekrutieren möchte. Für Experten aus der EU, den USA oder anderen Erstweltstaaten bräuchte man ein solches Immigrationsgesetz nicht – sie reisen, wohin sie wollen, und arbeiten, wo sie am meisten verdienen. Spezialisten aus der Dritten Welt hingegen sind bislang von deutschen Behörden nicht gern gesehen und müssen erst einmal ihre Daseinsberechtigung und Bonität im Land der Freien nachweisen, um bleiben und Mehrwert schaffen zu dürfen. Dies wiederum gefällt der Wirtschaft nicht, die gern den indischen Informatiker oder den ägyptischen Ingenieur verpflichten würde. Zu Dumpinglöhnen, vermutet Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Linken, die den „neoliberalen und rassistischen Charakter des Entwurfs“ anprangert.


Recht hat sie, auch wenn sie mit einer möglichen untertariflichen Entlohnung der Zuwanderer nur einen Nebenkriegsschauplatz im Konflikt Arm gegen Reich anspricht. Viel bedenklicher ist es, dass sich gezielte Abwerbungen von Fachkräften aus unterentwickelten Staaten auf die ökonomischen, infrastrukturellen und kulturellen Perspektiven in den Heimatländern auswirken. Der indonesische Arzt im Klinikum Köln fehlt beim Aufbau einer Gesundheitsstation auf Java, der algerische Siemens-Ingenieur würde bei den Stadtwerken von Oran dringendst gebraucht, und der Programmierer aus Bangalore, der bei SAP arbeitet, hätte mit seinem Know-how eigentlich Indiens Weg in eine gerechtere Zukunft mitgestalten sollen.


Niemandem dürfte es verwehrt werden, seinen Wohnsitz und Arbeitsplatz dort zu wählen, wo er möchte. Kritisch aber wird es, wenn die überalterten Gesellschaften des Westens ihre ungenügende Reproduktionsfähigkeit kompensieren wollen, indem sie Humankapital  mit verwertbarem Wissen und begehrten Fähigkeiten aus den armen Ländern ködern und die dort vorhandenen oder gerade erst entstehenden fachlichen Ressourcen abziehen, wodurch sie die Mehrheit der Weltbevölkerung noch rabiater als bisher der Selbsthilfemöglichkeiten berauben.


Grenzen? Welche Grenzen?


Vom Standpunkt des Zynikers aus betrachtet, bilden die Entgleisungen der CSU und der Gesetzesentwurf der SPD zwei Seiten einer Medaille. Ja, es könnte sogar zu einer Art (inoffizieller) Arbeitsteilung kommen: Aufgrund des von den Sozialdemokraten forcierten Exodus von Fachkräften, flankiert von EU-Freihandelsdiktaten, würde immer mehr Menschen in Afrika die Lebensgrundlage entzogen, was zwangsläufig zur Massenflucht nach Europa führte. In Deutschland aber wacht dann die gestrenge CSU darüber, dass sich dort höchstens ein paar genehme Christen (bevorzugt Millionäre oder Professoren) ansiedeln können. Angesichts solch raffinierter Selektion soll die AfD noch einmal von Überfremdung oder Umvolkung reden!


Es ist eine bizarre Koinzidenz, dass zur gleichen Zeit wirtschaftsliberale Regierungen den Wegfall der Grenzen für den internationalen Warenverkehr fordern – und gegen den freien Zuzug von Menschen Mauern und Stacheldrahtzäune errichten oder die Schiffe ihre Kriegsmarine kreuzen lassen. Während die nicht konkurrenzfähigen Produzenten in den armen Länder durch ungehinderte Billig-Importe aus der EU ruiniert und ihre Beschäftigten in die Flucht getrieben werden, katalogisieren die Polit-Strategen hierzulande die potentiellen Immigranten mit Hilfe von Warenattributen: Wer gut ausgebildet und leistungsfähig ist, darf seine Arbeitskraft in Deutschland (und anderen staatskapitalistischen Paradiesen) zu Schnäppchenpreisen verkaufen, wer sich als landloser Bauer oder hungernder Slum-Bewohner erdreistet, sein Leben und das seiner Familie durch Umzug retten zu wollen, bleibt außen vor und wird von den Ideologen der asozialen Marktwirtschaft als „Wirtschaftsflüchtling“ beschimpft – ein Begriff, der früher Multimillionären vorbehalten war, die trotz inniger Freundschaft zu deutschen Politikern (der Union und der SPD) es doch vorzogen, ihren Champagner in Monaco zu genießen oder ihr Geld anonym auf die Cayman Islands reisen zu lassen...

11/2016

Dazu auch:

Glorreiche Rabulisten im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit      

  

         


CETA-Marodeure


In den letzten Tagen wandelten Beobachter des sich zwischen Kanada und der EU entfaltenden Freihandelschaos gern Zitate aus den Asterix-Comics ab, und zwar je nach Standpunkt. „Ganz Europa ist von CETA-Lobbyisten dominiert. Ganz Europa? Nein, eine von unbeugsamen Galliern bevölkerte Region hört nicht auf, den Neoliberalen Widerstand zu leisten.“ So hörte sich das von Seiten der Abkommensgegner an, während Politiker, Manager und Wirtschaftsjournalisten in Obelix-Manier dagegenhielten: „Die spinnen, die Wallonen!“ Zwar haben mehrere belgische Regionen in der Tat für kurze Zeit und durchaus mutig CETA  und damit dem Big Business getrotzt, schließlich mussten sich aber mit vagen Zusatzerklärungen zufriedengeben, statt das endgültige Aus eines Knebelvertrages durchzusetzen.


Eine kurze Geschichte der Gewalt


Wenn sie sich über den Freihandel, insbesondere das CETA-Abkommen, auslassen, betonen willige Politiker und Publizisten immer gern, dass Europa durch die Liberalisierung der Märkte und die Abstimmung der Volkswirtschaften sicherer, friedlicher geworden sei. Richtig ist, dass die EU viele Menschen auf dem Erdteil einander nähergebracht hat, aber nicht aufgrund ihres Hauptzwecks, nämlich nach außen eine ökonomische Macht gegenüber anderen Weltregionen aufzubauen und im Inneren das Recht der großen Konzerne auf kontinentale Dominanz abzusichern, sondern durch die Nebenprodukte, etwa den freien Grenzverkehr oder den kulturellen Austausch.


Tatsächlich ist die Geschichte des Freihandels eine endlose Abfolge von Interventionen unter ökonomischer und militärischer Gewaltanwendung. Alle bisherigen Verträge begünstigten die stärkeren Nationen gegenüber den Partnern oder – wie im Fall von CETA und TTIP – die Oligarchen der Wirtschaft und der Finanzmärkte gegenüber den abhängig Beschäftigten und den Konsumenten in den verschiedenen Ländern.


Mitte des 19. Jahrhunderts sorgte die Einführung des Freihandels durch England für die letzte große Hungersnot in Europa, die eine Millionen Iren das Leben kostete und drei Millionen in die Emigration trieb. Die Kaufleute in London konnten billiges Korn vom Kontinent einführen, die Farmer und Pächter auf der grünen Insel blieben auf ihrem Getreide sitzen, verarmten jäh, und die Tagelöhner fanden sich auf der Straße wieder, während die aus Skandinavien eingeschleppte Kartoffelfäule ihr Grundnahrungsmittel vernichtete.


Als das chinesische Kaiserreich den Opiumkonsum verbot, brachten ihm die Kanonenboote des vom Drogenhandel profitierenden Großbritanniens martialisch bei, dass niemand den Freihandel behindern dürfe (mit ähnlichen Begründungen verklagen heute einzelne Tabakkonzerne oder AKW-Bauer und Petrochemie-Unternehmen ganze Staaten).

     

In „Freihandels“-Abkommen zwang die EU zahlreiche Staaten in Ost- und Westafrika dazu, die zollfreie Einfuhr überschüssiger landwirtschaftlicher Produkte sowie von Schlachtabfällen aus der europäischen Massentierhaltung zuzulassen, was sogleich den einheimischen Kleinbauern und Hühnerzüchtern die Existenzgrundlage entzog. Die Entwicklungshilfe, einst als Unterstützung der wirtschaftlichen Autarkie von Drittwelt-Ländern gedacht, funktionierte nun als Türöffner und Druckmittel, um die Menschen dort dauerhaft von Importen aus der EU abhängig zu machen, und begünstigt so Arbeitslosigkeit, Hunger und Flucht.


Ein anderes schönes Beispiel für die Wirkungsweise moderner Freihandelsverträge ist Nafta, ein vor 23 Jahren geschlossenes Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada. Es profitierten überall die Großkonzerne, während mittlere und kleine Unternehmen der nun schrankenlosen Konkurrenz nicht mehr gewachsen waren. Die US-Agrargiganten erschlossen sich die Märkte in Mexiko, so dass aus einem früheren Nahrungsmittelexporteur ein Netto-Importeur landwirtschaftlicher Erzeugnisse wurde. Zugleich lagerte die Industrie der Vereinigten Staaten umweltschädliche Produktion über den Rio Grande aus und erstritt sich vor privaten Schiedsgerichten sogar das Recht, Giftmüll in Naturschutzgebiete zu entsorgen. Das US-Unternehmen Lone Pine Resources (Gas- und Erdölförderung) wiederum verklagte Kanada wegen eines Fracking-Moratoriums in Quebec auf Schadenersatz in Höhe von 250 Millionen Dollar. Was die Legislative der frankophonen Provinz als nötig für den Erhalt der Umwelt erachtete, war für den Konzern schlicht Geschäftsschädigung.


Der Investorenschutz durch nach (weiterhin) undurchsichtigen Kriterien zusammengesetzte Schiedsgerichte bildet den letzten Clou in der Geschichte des internationalen Freihandels, einer Chronologie jenes supranationalen Sozialdarwinismus, den nur ganz naive oder abgefeimte Zeitgenossen angesichts der Anzahl seiner Opfer als Motor des globalen Fortschritts feiern können.


CETA wird nicht besser, es muss weg!


Der Widerstand, den die Regierungen der Wallonie und anderer belgischer Regionen gegen die Unterzeichnung von CETA durch die EU und Kanada leisteten, war ehrenhaft, musste aber weitestgehend erfolglos bleiben, weil er sich gegen die Ausgestaltung und nicht gegen das Machwerk an sich richtete. Zwar handelte Paul Magnette, der Wortführer der Vertragskritiker, der überwältigenden Mehrheit der staatlichen Befürworter in der EU eine Zusatzerklärung ab, die Nachteile für die wallonischen Bauern mildern soll und Klarstellungen zu den geplanten Schiedsgerichten enthält, am Inhalt der Vereinbarung aber ändert dies nichts. In typisch sozialdemokratischer Manier hatten die belgischen Rebellen das Grundproblem übersehen: CETA nachzubessern, zu verfeinern oder zu modifizieren, ist verlorene Liebesmüh, der Pakt ist an sich undemokratisch, hebelt die Souveränität von Staaten aus, gefährdet die Umwelt, die Arbeitnehmerrechte, die soziale Infrastruktur und verlagert die Daseins- und Finanzrisiken noch stärker als bisher aus dem Bereich der international agierenden Konzerne auf die Schultern der durch nationale Gesetzgebung nicht länger geschützten Menschen. Kosmetik nützt da nichts.


Wenn lediglich der Handel mit Kanada hätte ausgebaut werden sollen, wäre eine einfache Zollunion ausreichend gewesen. Dann hätte man den Konzernen nicht die Chance eröffnen müssen, auf dem Klageweg oder durch die bloße Androhung der Anrufung eines Schiedsgerichtes Einfluss auf die Legislative eines Staates nehmen zu können (während umgekehrt dessen Regierung keinerlei Möglichkeit besitzt, marodierende Unternehmen vor ein internationales Tribunal zu zerren). Die Hoffnung der Wallonen, der Europäische Gerichtshof werde nach eingehender Prüfung die einseitig auf die Interessenwahrung der Privatwirtschaft festgelegten Schiedsgerichte noch verhindern, dürfte trügen. Der EuGH ahndete in der Vergangenheit zwar Verfehlungen einzelner EU-Mitgliedsländer, sieht sich aber vermutlich viel zu sehr als integralen Bestandteil eines Konglomerats, dessen Maxime Barrierefreiheit für Konzernwachstum ohne Rücksicht auf Verluste lautet, als dass er mit einer Entscheidung von struktureller Bedeutung die Fahrt in die (zumindest aus Sicht eines wirtschaftsliberalen Klüngels) freieste aller Marktwirtschaften verzögern oder gar stoppen würde.


TTIP sei damit tot, freute sich Paul Magnette nach der Einigung, vermutlich zu früh. Denn das Freihandelsabkommen mit den USA brauchen die Verantwortlichen in den Führungsetagen eigentlich jetzt nicht mehr. Jede US-Niederlassung in Kanada kann nun nach CETA-Regeln drohen und klagen, und die Chefs der europäischen Konzerne freuen sich auf die (selteneren) Möglichkeiten, von Toronto oder Montreal aus, Kompensation für „Verdienstausfälle“ von den Vereinigten Staaten einzufordern. Die Multis beiderseits des Atlantik sind zufrieden, die kleineren Konkurrenten können sich auf ihren Untergang vorbereiten, und die Menschen in den betroffenen Ländern werden staunend miterleben dürfen, wie ihr Umfeld und ihre Wahlmöglichkeiten von den Wirtschaftsfeldherren der Gegenwart eingeengt werden.


Lambsdorffs Gabriel-Bashing


Für ihren hinhaltenden Widerstand mussten die wackeren Belgier viel Häme, Spott und Beleidigungen einstecken. Von „Schande für Europa“ war da die Rede, und immer wieder wurde gefragt, warum die Entscheidung über CETA nicht einfach den Gremien der EU überlassen worden sei, wieso im Gegenteil so inkompetente Gebilde wie Staaten und gar einzelne Landesteile ebenfalls Stimm- und Vetorecht besessen hätten - vom Willen der Bevölkerung wollen wir lieber ganz schweigen. Das einst ein wenig mit kontinentaler Basisdemokratie liebäugelnde Motto „Europa der Regionen“ wurde von den wütenden Assistenten des großen Geldes im EU-Parlament ganz unten in der Schublade für leere Versprechungen verstaut.


Die Herren der Handels- und Finanzmärkte hatten ein genehmes Ergebnis erwartet – und die Politiker hatten nicht geliefert, wenigstens nicht sogleich. Alexander Graf Lambsdorff erklärte denn auch in Interviews, dass die Mitsprache von Kreti und Pleti das frühere harmonische Wirken im exklusiven Zirkel gestört habe: „In der Vergangenheit war die Handelspolitik so etwas wie das Juwel der europäischen Politik.  (…) Und das Ganze wurde dann im Ministerrat von den Mitgliedsstaaten und dem Europäischen Parlament demokratisch abgestimmt. Ich glaube, das ist der richtige Weg.“ Da wären die tapferen Gallier, die zwar auch den Zaubertrunk nicht erfunden, sich aber aufmüpfig gegen das Imperium gezeigt haben, außen vor geblieben.


Und schuld an diesem unverzeihlichen Fall zivilen Ungehorsams war laut dem adligen EU-Parlamentarier von der Zombie-Partei FDP wieder einmal Sigmar Gabriel: „Um die Flügelkämpfe innerhalb der SPD wegen CETA zu beruhigen, hat Gabriel Europa sehenden Auges kaputt gemacht.“


Keine Angst, das schafft nicht einmal SPD-Bundesminister für die Ankurbelung von Rüstungsexporten ganz allein. Nein, Sigmar Gabriel steht wieder einmal da wie ein Clown, keiner von der Horror-Gilde, deren Umtriebe derzeit die Gazetten füllen, sondern wie ein trauriger dummer August. Er hatte doch nur die nationalen Parlamente pro forma über CETA abstimmen lassen wollen, um seine Parteigenossen – ein bisschen Wahl muss sein! – bei der schmierigen Konsens-Stange zu halten. Hätte doch keiner ahnen können, dass die Wallonen dieses Manöver ernst nehmen würden.

10/2016

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Gefährliche Spießer

 

Die AfD treibt die scheinbar etablierten Parteien der Bundesrepublik vor sich her – in der Themenvorgabe und nun auch an der Wahlurne. Obwohl das Führungspersonal der Rechtspopulisten eher einem Panoptikum entsprungen scheint, machen sich viele Bürger die fremdenfeindlichen Parolen und eindimensionalen Antworten auf komplexe Fragen zu eigen. Das Schlimme dabei: Die Spießermentalität färbt auf alle anderen Parteien ab.

 

Asoziale Solidarität

 

Unsere westlichen Hightech-Gesellschaften sind von behutsam verpacktem und bis zur Unkenntlichkeit abstrahierten Sozialdarwinismus geprägt; von den Medien und Meinungsmachern eingewickelt, um die verhängnisvollen Weiterungen für das Individuum innerhalb des Systems und für die Opfer im Rest der Welt zu überblenden, und unkenntlich, weil niemand mehr die tatsächlichen, von willigen Politikern abgeschirmten Verantwortlichen und deren Machinationen durchschauen kann. Die menschlichen Beutegreifer töten im Gegensatz zu den Pendants der Fauna nicht mehr, sie lassen sich von den Schwächeren füttern – und manchmal auch feiern.

 

In einer derart angelegten Gemeinschaft zählt rigorose Durchsetzungskraft ohne jegliche inhaltlich-soziale Fundierung alles, Solidarität und Empathie gelten dagegen als unnützer Luxus der Schwachen. Dennoch findet aktuell überall in Europa eine Art Solidarisierung statt, deren Intention allerdings nicht im Unterstützen, Aufbauen und Verwirklichen, sondern im Verhindern, Ausgrenzen und Abschotten besteht. Die Menschen, die sich dem Front National oder Pegida anschließen, solidarisieren sich nicht für ein gemeinsames Ziel oder für die Rechte anderer, sondern gegen alle, die sie nicht kennenlernen oder gar verstehen wollen, deren Nähe sie aus irrationalen Gründen fürchten. Es ist die Solidarität der altgriechischen Phalanx, die Seite an Seite, Schild an Schild und Lanze an Lanze gegen alles, was fremd und feindlich schien, stand (Nicht umsonst nannte sich die Vorhut des Franco-Faschismus Falange). Es ist eine für jeden aus ethnischen und sozialen Gründen Ausgegrenzten mörderische Solidarität, die sich nur destruktiv, als Abwehrkameradschaft, definiert und das System, eben den „Schoß, aus dem das kroch“ (Brecht) unangetastet lässt, auch wenn sie dessen devote Volksvertreter und oberflächliche Medien drastisch bekrittelt.

 

Für die Wutbürger, die angesichts des schwer durchschaubaren und unsicherer werdenden Zeitgeschehens ein Unbehagen befällt, dessen Ursachen sie sich intellektuell nicht erklären können (weshalb sie sich Sündenböcke suchen), die aber das Brutalo-Gebaren der Neonazis und puren Pegida-Anhänger  nicht goutieren, ist die AfD, mittlerweile mit parlamentarischen Weihen versehen, die Schafspelz-Alternative. 

 

Besorgte und Verzagte

 

Einst von dem radikalen Wirtschaftsliberalen Berns Lucke als Kampftruppe gegen den Euro und die vermeintliche EU-Subventionierung der „faulen“ Südländer gegründet, hat die AfD ihr Thema inzwischen woanders gefunden. Mit Knallchargen wie Frauke Petry, Alexander Gauland oder Beatrix von Storch, zwischen sehr und extrem rechts angesiedelt, propagiert die Partei das Ende jeglicher Flüchtlingsaufnahme und somit der Genfer Konvention. Dabei geht sie noch wesentlich weiter als der ungarische Halb-Autokrat Viktor Orbán, der zumindest nicht dazu aufgefordert hat, auf asylsuchende Familien zu schießen, wie die jagdlustige Adelige von Storch.

 

Damit sammelt die AfD die Verängstigten, geistig Heimatlosen, aber auch die nur peripher besorgten Bürger ein, Menschen vor allem, die nie gelernt haben, die Gründe ihrer persönlichen Malaise zu analysieren, sondern sich stets drangsaliert gefühlt haben und nun die Möglichkeit, solidarisch mit Geistesnachbarn nach unten zu treten, begeistert wahrnehmen. Und unter den Flüchtlingen aus Kriegs- und Hungerregionen gibt es nichts mehr…

 

Da stören die Spendenskandale und die diversen verbalen Klopse, von debiler bis rassistischer Ausprägung, des illustren Führungspersonals kaum. Da spielt es keine Rolle, dass alle anderen Punkte im Parteiprogramm von seltener Flachheit und Geschichtsignoranz sind: Vom Klimaschutz hält die AfD gar nichts und setzt lieber auf das Auslaufmodell Atomkraft. Die allgemeine Wehrpflicht soll wieder eingeführt werden, und endgültig zurück in die 1950er Jahre geht es, wenn die „traditionelle Familie“ als „Keimzelle der Gesellschaft“ beschworen wird.

 

Das ist nicht weiter verwunderlich, haben doch die letzten Regierungen dieses Landes im Verein mit den meisten Partei-Oberen den politischen Diskurs aller Inhalte entkleidet und stattdessen mit affirmativen Ausschlussfolgerungen („Alternativlos!“) und nicht hinterfragbaren Appellen („Die schwarze Null muss stehen!“) bestritten. Wer selbst die lebenswichtigen Themen mit Plattitüden, Halbwahrheiten oder Fehlinformationen zukleistert, darf sich nicht wundern, wenn die an kritisches Denken weniger gewohnten Beobachter stichhaltigen, aber unbequemen Argumenten (die niemals einfach daherkommen) nicht mehr zugänglich sind.

 

Statt der Bevölkerung den Zusammenhang zwischen EU-Freihandelspolitik mit Drittweltstaaten (Schwarzafrika), NATO-Interventionsstrategie (Naher und Mittlerer Osten) sowie mittelbarer Terror-Förderung durch Waffenexporte (Saudi-Arabien) und dem Andrang von Flüchtlingen aus den Elendsstaaten zu erklären und sich rückhaltlos zu UN-Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention zu bekennen, übernehmen zumindest Teile aller Parteien die menschenverachtenden Parolen der AfD in verwässerter Form.    

 

Die Exklusionspartei

                   

Von der CSU, seit jeher so etwas wie eine AfD für freistaatliche Arrivierte, spielten Skrupel oder humanitäre Erwägungen beim Erhalt der gegenwärtigen Hackordnung mit bewährten Ausgrenzungsmechanismen ohnehin noch nie eine Rolle. In München weiß man, dass das fremdenfeindliche Potential in der Bevölkerung bei 60 Prozent (oder eher noch höher) liegt, und das möchten Seehofer und Söder bedienen, um ihrerseits von den dankbaren „Besorgten“ Wahlerfolge kredenzt zu bekommen. „Rechts von mir ist nur die Wand“, hatte schon Übervater Franz Josef Strauß deklariert.

 

In der Schwesterpartei monieren auch schon etliche Funktionsträger, Angela Merkel habe sich bei der Begrüßung der Flüchtlinge allzu menschlich verhalten. Zum Christentum gehören laut Bibel nun mal Folter und Vertreibung Andersgläubiger ohne Asylanspruch. Wie die SPD tickt, ist auch für ernsthafte Genossen nicht mehr nachvollziehbar, seit mit Sigmar Gabriel ein Chamäleon an der Spitze steht, dessen Ankündigungen und Grundsatzerklärungen die  Halbwertzeit von einer Woche selten überdauern.

 

Die Grünen haben nach besorgten Äußerungen von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dem Tübinger OB Boris Palmer, dem ausgewiesenen Partei-Experten für Pegida-Affinität, auch in der Flüchtlingsproblematik ihre Unschuld verloren. Und bei der Linken sorgen der noch nie gegen Populismus gefeite Oskar Lafontaine und seine Gattin Sahra Wagenknecht mit ihren irgendwie dem konservativen Mainstream entlehnten Statements für rechte Stimmung.

 

Ganz vergessen wird bei der ganzen Diskussion, dass die Bundesrepublik sich auf höchster globaler Ebene, vor der UNO also, der Inklusion verpflichtet hat. Deren Grundsatz aber ist, dass jedes Individuum, gleich welcher Ethnie, körperlichen, geistigen bzw. seelischen Verfassung oder welcher Kulturzugehörigkeit, in seiner Einzigartigkeit respektiert und gefördert wird, in die Gesellschaft einbezogen leben kann. Im Gegensatz zur Integration, die quasi die Anpassung einer Menschengruppe mit besonderen Merkmalen an die Gesellschaft fordert, steht bei der Inklusion der Einzelne mit seinen Rechten und seinen sozialen Ansprüchen im Mittelpunkt.

 

Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention der UNO ratifiziert und setzt sie trotz des Inklusionsgesetzes SGB IX (Erster Teil) und einer geplanten Modifizierung des Arbeitsförderungsrechts mehr schlecht als recht um. Inklusion per se gilt aber nicht nur für Menschen mit Handicap, sondern auch für politisch Verfolgte, Flüchtlinge, Asylbewerber, die keine ominöse deutsche Leitkultur mit der Muttermilch eingesogen haben. Mittlerweile scheinen die maßgeblichen Parteien im Bundestag allerdings ihre Lippenbekenntnisse zur Inklusion vergessen machen zu wollen und folgen in zunehmender Eile den Exklusionsparolen der AfD.            

 

Die neue „Spießerideologie“

 

Der ehemalige Nürnberger Kulturreferent Hermann Glaser hatte in Standardwerken zur nationalsozialistischen (Un)Geistesgeschichte (vor allem Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf“ und  Die Spießerideologie) die furchtbare Zuspitzung gängiger Vorurteile, verbreiteter Fremdenfeindlichkeit und primitiv-martialischer Ideale während des Dritten Reichs analysiert. Zugleich stellte er das verkitschte (aber in seiner Diskriminierung alles Andersartigen oder  von nationaler Norm Abweichenden bösartige) Frauen- und Familienbild jener Zeit bloß. Ähnlich Völkisch-Idyllisches findet sich in abgeschwächter Form auch im Programm der AfD.

 

Angst vor der Zukunft, Sorgen um die eigene Existenz und anerzogene oder durch bestimmte Medien tradierte Aversionen gegen Fremde und Andersdenkende treiben den Kleinbürger den Verfechtern einfacher und patriotischer Lösungen zu. Der Spießer mag dem Prekariat oder dem unteren Mittelstand angehören, er kann – wie es die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern belegt – in der Fabrik an der Maschine stehen (Schließlich nimmt zugleich die gewerkschaftliche Organisation kontinuierlich ab), er wettert an Stammtischen, verbreitet xenophobe wie nationalistische Idiotien – und er geht leider auch noch wählen.     

 

Sollte sich der AfD-Spuk aufgrund der geistigen Insuffizienz des Vorstands  dereinst verzogen haben, wird man wohl feststellen müssen, dass die Partei ein noch rechteres, noch chauvinistischeres Deutschland als das der reaktionären Kohl/Schröder/Merkel-Ära hinterlassen hat.

09/2016

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Das Wintermärchen ebenfalls im Archiv von Medien

Europa wird braun im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund

 

 

 

 

                               

Spitzen-Nachbar!


Na also, geht doch: Jerome Boateng, in einer unvollständigen Berliner Familie mit halbem Migrationshintergrund (väterlicherseits) aufgewachsen, wurde von deutschen Sportjournalisten zum Fußballspieler der Saison 2015/16 gewählt – anscheinend eine weitere Ohrfeige für den tumben AfD-Vize Alexander Gauland, der seinen reinweißen Landsleuten unterstellt hatte, sie wollten Boateng nicht als Nachbarn haben. Viele Deutsche erklärten darauf, sie würden gern neben dem Kicker mit ghanaischen Wurzeln wohnen. Das liegt vermutlich daran, dass Boateng zwar dunkelhäutig ist, zugleich aber wohlhabend, und dass er zumindest über ein außergewöhnliches Talent verfügt. Arme und unauffällige Menschen anderer Hautfarbe, zumal Flüchtlinge, werden von den deutschen Bürgern weit weniger rasch ins Herz geschlossen.


Vorteilsaufnahme


Eine Mehrheit der Ur-Deutschen will Immigranten aus der Dritten Welt nicht integrieren, fordert von diesen aber, dass sie sich integrieren müssen, d. h. sich (bis zur erwünschten Abschiebung) anständig im Sinne der nationalen Biertisch-Leitkultur zu verhalten haben. Dunkle Physiognomie, gutturale Artikulation und fremdartige Kleidung sind für viele Normalbürger hierzulande Ausschlusskriterien, wenn es um die Aufnahme in die Gemeinschaft geht, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler oder kaufkräftige Kunden. Immigranten mit solchem Status würden Industrie und Handel am liebsten sogar aus jenen unterentwickelten Ländern abwerben, die ohnehin schon unter dem Abfluss von Know-how und Finanzkraft zu leiden haben.


Doch die meisten Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind weitgehend mittellos. Und es sind nicht nur Studenten und Techniker darunter, sondern auch entwurzelte Kleinbauern, verängstigte Tagelöhner, terrorisierte Familien aus bescheidenen Verhältnissen. Die Deutschen lassen sich zwar bisweilen von Fotos versklavter, hungernder oder gar ertrunkener Flüchtlingskinder zu Tränen rühren, würden aber unisono mit den maßgeblichen Politikern und den meisten Medien das Asylrecht und die Genfer Konvention, wenn angewandt auf Habenichtse, am liebsten morgen außer Kraft setzen.


Erst geopfert – dann vor der Tür


Dabei sind etliche Menschen, die den Weg nach Europa als letzten Ausweg begreifen (von wählen kann keine Rede sein), Opfer des relativen Wohlstands in der Ersten Welt: So werden etwa die kleinbäuerlichen Strukturen in Afrika von deutschen Exporteuren, die ihre minderwertige Ware daheim nicht absetzen können, dort aber zu Dumping-Preisen – und auch noch durch staatliche Bürgschaften und Subventionen abgesichert – auf den Markt werfen, bis auf die Grundfesten demoliert. Dörfliche Gemeinschaften stehen angesichts der übermächtigen Konkurrenz vor dem Ruin, die Familien ziehen in Großstadt-Slums, an deren Rand andere europäische Internationalisten des Kapitals ihren Giftmüll verklappen. Wagt es ein Staat, die eigene Landwirtschaft durch Einfuhrzölle zu schützen, senkt sich das von der EU geschmiedete Damoklesschwert des Freihandels und der erpresserischen Sanktionen auf die Nacken der Unbotmäßigen, die dann auch auf ihren ohnehin spärlichen Exportwaren sitzen bleiben.


Und natürlich wird überall Krieg geführt, mit deutschen Präzisionswaffen, manchmal auch unter direkter Beteiligung der Bundeswehr und des BND. Das beflügelt die Rüstungsindustrie und sichert die Arbeitsplätze bei Rheinmetall, Diehl oder Heckler & Koch. Fragen Sie Herrn Gabriel! Wenn dann die failed states, von denen mancher erst nach militärisch-politischer Anleitung der NATO implodiert ist, in Schutt und Asche versinken, zeigen sich die EU-Bürger pikiert ob der Masse der Hilfesuchenden von dort. An die Ursachen mag man nicht rühren, also versucht man, die für die eigene Befindlichkeit unangenehmen Folgen zu minimieren, indem man die Grenzen für Flüchtlinge schließt und fragwürdige Verträge mit Staaten wie der Türkei und Libyen, die ihrerseits knapp vor dem oder schon mitten im Chaos stehen, abschließt.


Was war noch gleich Inklusion?


Begeistert reagierte die offizielle Politik auf die weltweite Forderung nach Inklusion, zunächst diejenige behinderter Menschen. Jawohl, man wolle über die Integration, die Gruppen ausgegrenzter Betroffener an die Gesellschaft anpassen solle, hinausgehen und jeden Einzelnen in seiner Besonderheit akzeptieren, seine spezifischen Bedürfnissen und Wünsche anerkennen und die Fähigkeiten differenziert fördern. Bayerns Ministerpräsident Seehofer, sonst ein grimmiger Verfechter germanischer Normalität, erklärte den Freistaat gar zum bundesweiten Spitzenreiter in Sachen schulischer Inklusion (obwohl der diesbezüglich de facto am Ende der Ländertabelle stand). Nur wurden hier wie auch anderswo weder Lehrer und Erzieher gründlich für die künftigen Anforderungen fortgebildet noch Mittel für ganzheitliche Betreuung, mehr qualifiziertes Personal und die (entscheidende) Elternarbeit zur Verfügung gestellt. Die Inklusion der Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschärnkungen, durch Sozialgesetzbuch IX und Behindertenrechtskonvention der UNO rechtlich fixiert, ist hierzulande bislang krachend gescheitert.


Nun ist jedoch Inklusion als soziologische Maxime nicht nur auf das Zusammenleben gehandikapter und nicht behinderter Menschen beschränkt, sie umfasst auch die gleichberechtigte Koexistenz von Angehörigen unterschiedlicher Ethnien und Kulturen. Wie weit aber ist dieser Staat davon entfernt, wenn seine Taktgeber schon das inhaltlich weniger konsequente, aber zunächst ganz hilfreiche Gebot der Integration als heilsamen Druck auf Minderheiten zu deren Assimilation interpretieren? 


Politiker, denen nicht nur der Volksmund einen starken Hang zur durchgängigen Doppelmoral bescheinigt, formulieren Regeln einer nationalen Ethik, denen sich gehetzte Flüchtlinge flugs und absolut zu unterwerfen haben. Das Zentralorgan der hiesigen Volksseele mit den vier Buchstaben, dessen Schlagzeilen kaum den Anforderungen eines rudimentären Pidgin-Deutsch genügen, fordert von traumatisierten Menschen Pennälerdisziplin beim Besuch von Sprach- und Integrationskursen ein. Und die Verantwortlichen in den Ministerien und in der Arbeitsverwaltung basteln engagiert an scharfen Sanktionen für das Schwänzen solcher „Angebote“, ehe sie überhaupt genügend Lehrgänge organsiert und die Zuweisung der absoluten Mehrheit lernwilliger Immigranten in den Griff bekommen haben.


Dass es gelungene Beispiele zumindest von partieller Integration gibt, ist engagierten Pädagogen, Sozialarbeitern und einer doch erstaunlichen Anzahl von Freiwilligen mit Verantwortungsbewusstsein zu verdanken und nicht der bundesdeutschen Politik. Man könnte sogar meinen, effiziente Unterstützung von Heimatvertriebenen (um einen Begriff zu bemühen, der einst von den volksdeutschen Opfern der Kriegspolitik Hitlers gepachtet schien) erfolge gegen den erklärten Willen der Verantwortlichen in Regierung, Administration sowie Justiz und vor allem zum Unmut einer Bevölkerungsmehrheit, die keine Flüchtlinge und Dunkelhäutigen in der Nachbarschaft sehen möchte. Insofern hatte AfD-Gauland nicht ganz unrecht – nur ist ihm der Fehler unterlaufen, einen reichen Spitzenfußballer, der das deutsche Nationalbewusstsein per WM-Titel befördert hat, zum Anschauungsobjekt seiner ganz persönlichen Fremdenfeindlichkeit gemacht zu haben.

08/2016

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Inklusionslügen im Archiv dieser Rubrik

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CETA spaltet DGB


Dass zu einem Dachverband zusammengeschlossene Organisationen variierende Taktiken verfolgen und differierende Meinungen vertreten, ist durchaus üblich. Dass aber sich die Einzelgewerkschaften des DGB in Fragen der Arbeitnehmerinteressen, des Umwelt- und Verbraucherschutzes sowie der Rechtssicherheit diametral gegenüberstehen, hat eine eigene Qualität. Genau dies aber geschieht jetzt bei der Bewertung des Freihandelsabkommens CETA – und nicht nur dort.


Der Türöffner


Michael Vassiliadis, Vorsitzender der  IG Bergbau, Chemie, Energie (IC BCE), ist ein Gewerkschaftsvorsitzender ganz nach dem Geschmack der Konzernvorstände. Ob es um Braunkohle-Tagebau oder um die Genehmigung von Fracking ging – der Arbeiterführer sprach sich stets für die ungehemmte Ausbeutung von Bodenschätzen ohne Rücksicht auf dauerhafte ökologische Schäden aus. Im Augenblick vertritt er die Maxime des modernen Freihandels, der zufolge die Anliegen der globalen Wirtschaft grundsätzlich Vorfahrt vor den Interessen und dem Schutz der Bürger (in welchem Land auch immer) haben.


Während überall in Deutschland Gewerkschafter auf die Straße gingen, um gegen CETA, das geplante Freihandelsabkommen mit Kanada, zu protestieren, gewährte Vassiliadis dem SPIEGEL ein Interview, in dem er das im stillen Kämmerlein ausgemauschelte Vertragswerk „ein ausverhandeltes, transparentes und insgesamt gutes Handelsabkommen“ nennt. Auf den Einwand, CETA räume Konzernen die Möglichkeit ein, Staaten zu verklagen, wenn sie sich durch eine Regierungsentscheidung benachteiligt fühlten, weicht der IG-Boss aus: „Die Sorge ist unberechtigt. CETA sieht für solche Streitfälle ein klares Schiedsverfahren mit unabhängigen, von den Regierungen benannten Richtern vor, auf deren Ernennung die Unternehmen keinen Einfluss haben.“


Kosmetische Nachbesserungen

 

In Nachverhandlungen wurden tatsächlich die Rahmenbedingungen für die sogenannten Investitionsschutzverfahren gegenüber der ursprünglichen, an die TTIP-Vorlagen angelehnten Fassung korrigiert: Die Verhandlungen sollen öffentlich sein, Berufung wird zugelassen, und der Investitionsgerichtshof wird mit Personen besetzt sein, die international akkreditiert und zum öffentlichen Richteramt zugelassen sind. Die Auswahl dieser Entscheider wird nach dem Zufallsprinzip erfolgen. Die Richter werden also keineswegs von den Regierungen benannt, wie uns Herr Vassiliadis suggeriert, sie müssen nur die von den Staaten abgeprüften juristischen Voraussetzungen erfüllen. Und sie werden quasi ausgelost…


Wozu aber braucht man den Investitionsgerichtshof  überhaupt, wenn es doch nationale Instanzen für Rechtsverstöße oder für die Zulassung von Produkten und Produktionsmethoden gibt? Die Konzerne möchten ganz offensichtlich ihre Risiken minimieren und Staaten für Flops aufkommen lassen. Zudem hoffen sie, mit der ständigen Drohung von Klagen gegen missliebige Gesetze die Regierungen in ihrem Sinne beeinflussen (böse Zungen sagen: erpressen) zu können. Selbst die linker Tendenzen unverdächtige Denkfabrik Deutsches Institut für Entwicklungspolitik in Bonn, beurteilt die CETA-Nachbesserungen im inhaltlichen Kern skeptisch: „Keinerlei Fortschritte hat es dagegen bei den eigentlichen Schutzstandards, auf die sich Investoren im Streitfall berufen können, gegeben. Im aktuellen EU-Entwurf ist an dieser Stelle nach wie vor der Anspruch der Investoren auf ´faire und billige Behandlung` und auf Schutz vor direkter Enteignung zu lesen. Die meisten Klagen internationaler Unternehmen basieren auf diesen Klauseln.“


Wenn Tabakkonzerne gegen strenge Anti-Rauchergesetze in Uruguay und Australien klagen, wenn US-Unternehmen auf juristischem Weg Fracking in Kanada und Giftmüllverklappung in Mexiko erzwingen wollen, wenn der schwedische Energieriese Vattenfall nur darauf wartet, vor einem internationalen Schiedsgericht gegen den Atomausstieg der Bundesregierung vorgehen zu können, müsste eigentlich jedem klar werden, dass supranationale Handelsgerichtsbarkeit immer nur von Produzenten genützt wird, um die eigenen Gewinne zu mehren, abzusichern und gefährliche Geschäfte gegen Vorschriften und Gesetze zum Schutz der Bevölkerung durchzusetzen. Insofern mögen die kosmetischen Aufhübschungen von CETA der Gewissensberuhigung des Sozialdemokraten Vassiliadis und mancher noch gegen den Pakt opponierenden Genossen (deren Umfallqualitäten allerdings legendär sind) dienen, für den bewussten Teil der Bürger aber gilt, dass es überhaupt keinen die nationale Politik und Gerichtsbarkeit aushebelnden Investitionsschutz geben darf.


Alles paletti oder großer Betrug?


Aber die Klage gegen Uruguay habe doch gezeigt, wie fair es im internationalen Handel zugeht, werden die CETA-Rabulisten einwenden. In der Tat wurden in einem Streitschlichtungsverfahren des internationalen Schiedsgerichts ICSID Schadenersatzforderungen, die der US-Tabakkonzern Philip Morris wegen eines restriktiven Rauchergesetzes geltend gemacht hatte, zurückgewiesen. Doch welch ein Sieg für das kleine, an einen Freihandelsvertrag gebundene Land: Die Regierung in Montevideo musste sechs Jahre lang Geld, Zeit und Nerven in einen Abwehrkampf mit unsicherem Ausgang investieren; schließlich forderte Philip Morris zunächst 25 Milliarden Dollar!


Andere Verfahren belegen, dass oft ähnliche bis identische Kriterien von verschiedenen Jurys unterschiedlich bewertet werden. Kaum auszumalen, welche Folgen die negative Entscheidung eines nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzten Gremiums für einen Staat und seine Regierung haben könnte (von den Steuerzahlern und Konsumenten ganz zu schweigen)…


Kritikern mit einem Hang zur antiken Dichtung erscheint CETA wie ein Trojanisches Pferd, in dessen Leib TTIP, das noch aggressivere Freihandelsabkommen der EU mit den USA, lauert, um in Europa einzufallen. Da jede bedeutende US-Firma über eine Niederlassung in Kanada verfügt, kann sie von dort aus nach CETA-Kriterien eine europäische Regierung, der die Belange des Staatsvolkes schützenswerter als die Gewinnmaximierung der freien Wirtschaft scheinen, verklagen (umgekehrt gilt dies für europäische Konzerne natürlich auch). Manche Kanadier fürchten bereits, dass ihr Land zum Schauplatz gerichtlicher Handelsschlachten wird. Mit anderen Worten: Wer CETA will, bekommt TTIP gleich mit.

   

Kollege Lobbyist


Waren das noch Zeiten, als Siemens es sich mehr als 30 Millionen Euro kosten ließ, um den Einfluss der DGB-Betriebsräte in den betrieblichen Mitbestimmungsgremien zurückzudrängen. Zwischen 2001 und 2006 floss das Geld in eine Scheingewerkschaft, die AUB, die von dem später zu einer Haftstrafe und einer Schadenersatzzahlung wegen Korruption verurteilten Wilhelm Schelsky aufgebaut worden war. Heutzutage hätten Konzernvorstände solche illegalen Manöver gar nicht mehr nötig – allzu oft gerieren sich Spitzenfunktionäre wie Vassiliadis in Aufsichtsräten und in der Öffentlichkeit als Lobbyisten der Arbeitgeberseite.


Schon als IG Chemie und IG Bergbau noch getrennt vor sich hin wurstelten, galten beide Gewerkschaften als treue Alliierte ihrer Tarifvertragspartner in den Chefetagen, etwa wenn es um die wissenschaftlich nicht gerechtfertigte, Ärzte und Apotheker korrumpierende Verbreitung von Pharmaka bzw. um den umweltschädigenden Abbau fossiler Rohstoffe ging. Ihr Totschlagargument, Arbeitsplätze gingen verloren, übernimmt auch die IG Metall, wenn die Rüstungsindustrie in der Kritik steht. 


Die größte Einzelgewerkschaft, die einst die Konversion, also die Umwandlung der Waffenproduktion in Fabrikation ziviler Güter, propagiert hatte, leistet sich heute einen beim Vorstand angesiedelten Arbeitskreis Wehrtechnik und Arbeitsplätze, der in einer Studie die „wehrtechnischen Kernfähigkeiten“ deutscher Unternehmen feiert und die Forcierung der Waffenexporte fordert. So weit kann es kommen, wenn sich Genossen dazu berufen fühlen, auch die dreckigste Produktion (und damit verbunden: den Profit) um jeden Preis abzusichern, statt nachhaltige Alternativen zu anzumahnen.


Aber auch die immerhin friedensbewegte Medien-Gewerkschaft ver.di, ansonsten Vorkämpferin gegen TTIP und Umweltzerstörung, hat eine höchstrangige Leiche im Keller, wie man dankenswerterweise empörten Leserbriefen im eigenen Print-Organ publik entnehmen durfte: Ihr Vorsitzender Frank Bsirske, eigentlich Mitglied der Grünen, ist im Nebenberuf stellvertretender Aufsichtsratschef beim Energiekonzern RWE. Und als solcher hat er das eine, für den Umweltschutz schlagende, Herz in seiner Brust zum Verstummen gebracht und droht nun mit Protesten gegen die geplante Sonderabgabe auf Kohlekraftwerke. Er fordert quasi freien Ausstoß für die Dreckschleudern der Republik.

07/2016

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Waffenbrüder? im Archiv dieser Rubrik

Den Arm abhacken im Archiv der Rubrik Medien

 

 

        

EU in freiem Fall?


Der Brexit war nur das jüngste und bislang spektakulärste Indiz für Auflösungstendenzen in der Europäischen Union. Angesichts der Möglichkeit weiterer Referenden sowie der sinkenden Sympathien für Brüssel in vielen Mitgliedsländern sind Fragen zu Sinn und Unsinn der EU fällig, die zwar nicht erschöpfend beantwortet werden können, aber zumindest einige Probleme thematisieren, zu denen die Politiker gern schweigen.


Erosion des Kerns


Was in den letzten Jahren die Politiker in Brüssel besonders umtreibt, ist die Beobachtung, dass die EU nicht nur bei den als exzentrisch verschrienen Briten, am nördlichen Rand, in Dänemark und Schweden etwa, oder in spät hinzugekommenen Ländern wie Tschechien mehr und mehr in Frage gestellt wird, sondern auch in ihrem Kerngebiet, in den Staaten, die einst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gründeten.


In Frankreich kündigt Marine Le Pen, Chefin des nationalistischen Front National und somit der derzeit wohl stärksten Partei, ebenso ein Referendum über die weitere Mitgliedschaft ihres Landes in der EU an wie der Rechtspopulist Geert Wilders in den Niederlanden. Und in Italien neigt die Lega Nord ohnehin einem sozialdarwinistisch begründeten Separatismus zu. Wie in Großbritannien gelingt es den xenophoben Agitatoren (hierzulande vor allem in der AfD präsent), die Vorurteile weiter Bevölkerungskreise gegen Migranten und die Angst der Unterprivilegierten und verunsicherten Mittelständler vor einem sich immer undurchsichtiger gerierenden Moloch in Brüssel für ihre Zwecke zu nutzen.


Was manche EU-Verteidiger als Maßnahmen vorschlagen, bestätigt die rechten Gegner sogar noch und bestärkt sie in ihrer fremdenfeindlichen Propaganda: So fordert der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, die Nationalstaaten sollten ihre Souveränitätsrechte ganz oder teilweise abtreten, damit die neuen Demarkationslinien besser gegen Flüchtlinge verteidigt werden könnten. Und die EU-Kommission will die Grenzschutzagentur Frontex  zu einer eigenständigen Grenzpolizei umwandeln, die notfalls auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates an dessen Grenzen operiert.


Diese martialischen Ankündigungen sind für Menschen, die nicht aus fremdenfeindlichen Motiven, sondern aus Sorge um Transparenz, Demokratie- und Umweltverträglichkeit den Nutzen der EU auf den Prüfstand stellen, keine Antwort.


Vorteile für die Menschen


Man müsse klarer herausarbeiten, welche Vorteile die EU für die Menschen in den Mitgliedsstaaten bringe, heißt es derzeit in Brüssel und anderen Hauptstädten. In der Tat lassen sich einige Maßnahmen und Vereinbarungen aufzählen, die das Miteinander in Europa erleichtern und die Lebensqualität verbessern helfen, zumindest auf den ersten Blick.

So ist der freie Reiseverkehr ein Segen für alle EU-Bürger, denen das eigene Land ein zu enger Lebensraum ist, die sich für die Nachbarn interessieren und sich über deren soziales Umfeld informieren wollen. Werden sie allerdings mit einem Problem, das wie die Flüchtlingskrise eigentlich humanitäres Handeln und Solidarität erfordert, konfrontiert, verfallen die EU-Verantwortlichen reflexartig in Nationalstaaterei zurück und drohen damit, die Grenzen wieder dichtzumachen.


Der kulturelle Austausch ist sicherlich der angenehmste Aspekt der bisherigen EU-Historie. Für Schüler, Studenten, Künstler, aber auch behinderte Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten ungeahnte Möglichkeiten ergeben. Zu verdanken sind diese Fortschritte indes eher der Initiative von Betroffenen und NGOs als der Bürokratie in Brüssel.


Auf dem Gebiet des grenzübergreifenden Umweltschutzes hat die EU Pionierarbeit geleistet – und gleichzeitig Haarsträubendes zugelassen. Die Ausweisung von Naturschutzgebieten, die strafbewehrten Höchstgrenzen für Feinstaubwerte oder die Abgas-Reduzierung waren per se sinnvolle Vorgaben - die allerdings ausgerechnet der wirtschaftlich potenteste Staat, die Bundesrepublik, als Schutzherr privater Waldbesitzer, bedenkenloser Groß-Agrarier und vor allem der nationalen Automobilindustrie  immer wieder negiert, verwässert oder de facto boykottiert. Zugleich lassen sich Kommission und Parlament in Brüssel von 30.000 Lobbyisten fürsorglich belagern, was, wie im Falle Glyphosat, nur allzu oft zu einem Kniefall vor der Wirtschaft oder zu Placebo-Verschreibungen fürs Volk führt.


Die EU garantiere den Frieden in Europa, schon ihre Vorgänger-Organisationen hätten den Krieg vom Kontinent verbannt, ist das wohl am häufigsten bemühte Argument in eigener Sache, eine Behauptung, die allerdings, näher betrachtet, ihre Stichhaltigkeit Konflikt für Konflikt weiter einbüßt.


Verhängnisvolle Entwicklungen


Es mag sein, dass der EU-Eintritt Großbritanniens tatsächlich zur Deeskalation in Nordirland beigetragen hat, schließlich fühlen sich die unterprivilegierten Katholiken dort eher als Europäer denn als Briten. Andernorts aber trat die Union bei militärischen Konflikten immer wieder als Mitspieler und Brandstifter auf, und es steht zu befürchten, dass sie künftig auch als Kriegsherr mitmischen möchte.


So diente die EU unter Anleitung deutscher Außenminister bei der Zerschlagung Jugoslawiens und im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien als Kooperationspartner und Sprachrohr der NATO. In der Ukraine-Krise trat sie sogar als ideologische Speerspitze auf und half, eine korrupte, aber gewählte Regierung aus dem Amt zu jagen und befreundete Oligarchen an die Macht zu bringen, was zur Teilung des Landes führte.


Dem deutschen Außenminister Steinmeier und seinem französischen Kollegen Ayrault geht solcher Aktionismus nicht weit genug. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie, die EU nach dem Brexit  zur „unabhängigen“ und „globalen“ Kraft zu machen, in einer „integrierten“ Außen- und Militärpolitik sämtliche „politischen Instrumente“ zusammenzuführen und „einsatzfähige Streitkräfte mit hohem Bereitschaftsgrad“ zu unterhalten. Während also die EU zu implodieren droht und ihre eigenen Parteien europaweit in die Bedeutungslosigkeit abgleiten, bringen die beiden wackeren Sozialdemokraten ihre Großmacht-Phantasien zu Papier.    

 

Auch andere Entwicklungen, die von der EU eingeleitet oder zumindest gefördert wurden, gehen in eine verhängnisvolle Richtung. So führte die Subventionspolitik in der Landwirtschaft zur Vernichtung kleiner Bauernhöfe zugunsten einer Agrarindustrie mit Monokulturen und Massentierhaltung, die ethisch nicht vertretbar ist, gesundheitsschädlich und umweltzerstörend funktioniert.


Hofiert wurden von den EU-Kommissaren stets Großkonzerne und Marktmonopolisten, denen in vorauseilendem Gehorsam lästige Hürden, etwa im Arbeits-, Patent- oder Umweltrecht, aus dem Weg geräumt wurden. In Not geratene weltweit spekulierende Geldinstitute durften (und mussten) die Regierungen auf Anweisung Brüssels sanieren, während deren Opfer, die ärmeren Länder im Süden, mit Spardiktaten überzogen wurden, die den sozialen Status und die Versorgung der dort lebenden Menschen gefährden.


Dass die EU-Kommission nicht davor zurückschreckt, demokratische Gepflogenheiten über Bord zu werfen, wenn es um Liebesdienste an den Märkten und den globalen Spielern geht, wird durch die Tricks deutlich, mit denen sie Freihandelsabkommen wie TTIP durchpeitschen will. Weil sie fürchtet, das eine oder andere nationale Parlament könne den CETA-Vertrag mit Kanada ablehnen, sollen die Volksvertreter erst gar nicht befragt werden.


Das Hauptmotiv der „Gemeinschaft“


Wundern sollte man sich über solche Pervertierungen des oft beschworenen europäischen Gedankens nicht, war doch die EU wie ihre Vorgänger-Organisationen Montanunion, EWG und EG noch nie der Gesellschaft verpflichtet, sondern stets nur deren Dompteuren in Wirtschaft und Finanzwelt.


Wo Nachhaltigkeit, Verbesserung der Lebensqualität oder Mitsprache angesagt gewesen wären, wurde jegliche soziale Verantwortung  bedenkenlos dem Fetisch Wachstum geopfert. Was vor allem mit der Menge unnützer Güter und nicht einklagbarer Börsenwerte wuchs, war die soziale Ungleichheit, die notdürftig mit der Einrichtung von Strukturfonds kaschiert werden soll. Der Rückfall in die unsicheren Zeiten des Frühkapitalismus wurde als Arbeitsmarktreform verkauft, und die Enteignung von Staat und Gesellschaft, die Privatisierung der Sahnestückchen öffentlicher Infrastruktur folglich, als Liberalisierung des Marktes.


Angesichts des Primats wirtschaftlicher Machtentfaltung unter privater Kontrolle degenerieren die positiven Aspekte einer Europäischen Union zum vernachlässigbaren Beiwerk. Kultureller Austausch und offene Grenzen können auf Dauer die EU nicht retten, weil in etlichen Ländern immer weniger Menschen solche Vorteile nutzen können. Prächtig hingegen ist es den Ideologen des Marktes gelungen, die vermeintliche Konkurrenz unter den Angehörigen der einzelnen Länder anzuheizen und die Ressentiments zu schüren, wie Brexit und Flüchtlingskrise belegen.     

Eine Macht in der Welt


In Deutschland mit seiner vergleichsweise starken Wirtschaft sind auch die Beschäftigten Nutznießer des Exportüberschusses, was die Anzahl der Arbeitsplätze (nicht aber die Höhe der Löhne) betrifft. Andere EU-Länder aber, etwa Großbritannien, litten unter dem Niedergang ihrer Schlüsselindustrien. Die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften pflanzt sich also auch in den zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen der EU fort. Zugleich könnten Länder wie Griechenland, Portugal oder Spanien die Union kaum ohne großen ökonomischen Schaden verlassen, selbst wenn sie wollten, weil sie zu Abhängigen von Importen und Geiseln der internationalen Gläubiger gemacht wurden.


So autokratisch die EU bisweilen die von ihr formulierten Regeln im Innern durchsetzt, ihre diktatorische Durchsetzung des Anspruchs auf ungehemmte Profitmaximierung gegenüber Dritten ist ein noch düstereres Kapitel des Märchens, das sich freier Markt nennt: In bi- oder multilateralen Handelsabkommen werden etwa afrikanische Staaten dazu gezwungen, Schrott, Agrarprodukte und Junkfood aus Europa zollfrei einzuführen und so die Umwelt und die eigene Landwirtschaft zu vernichten.


Die europäische Idee ist eine Anleitung zur Ausbeutung der eigenen Bevölkerung und des Restes der Welt, verbrämt mit humanistischen und kulturellen Vignetten. Dass man sich dennoch im Augenblick ein Ende der EU nicht wünschen kann, liegt an den nationalistischen, faschistoiden und fremdenfeindlichen Alternativen. Wie ungerecht und undemokratisch die paneuropäische Konstruktion auch von den Technokraten zusammengestöpselt worden ist, wenn sie zusammenbricht, weil es nicht gelingt, die Ausrichtung zu ändern, droht Schlimmeres.


So sehen sich die Kritiker gezwungen, national wie international Verbündete zu suchen und den wenigen freundlichen und gesellschaftlich relevanten Inhalten der EU-Agenda zu mehr Gewicht gegenüber dem neoliberalen Dogma zu verhelfen, will sagen: aus dem Teufelskreis der skrupellosen Marktideologie das Quadrat der sozialen Mitbestimmung und Verantwortung zu machen. Die Fronarbeit des Sisyphos  war ein Kinderspiel dagegen.

07/2016

Dazu auch:

Böses Volk im Archiv der Rubrik Medien

 

 

                                    

Misstrauen geboten


Der Rechtsruck auf unserem Kontinent wird vor allem durch zwei Phänomenen charakterisiert: In den meisten Staaten drängen nationalistische Parteien an die legislative Macht, und die einst unter roter Flagge angetretene Sozialdemokratie hat es sich europaweit in der neoliberalen Ecke bequem gemacht und die zu verbalen Girlanden und Blenden verkommenen Absichtserklärungen progressiver Friedens- und Arbeitspolitik endgültig auf dem geistigen Scherbenhaufen der jüngeren Geschichte entsorgt. Wenn nun Ankündigungschampion Sigmar Gabriel seine SPD auf dem Parteikonvent als „linke Volkspartei“ bezeichnet und ihr „Profil (?) in Gerechtigkeitsfragen schärfen“ will, ist Misstrauen erste Bürgerpflicht.


Europa der Scheinlinken


„Die SPD hat uns verraten“, sprach Karl Liebknecht, nachdem die Sozialdemokraten 1914 die Kriegskredite mit bewilligt hatte und 1918 Gustav Noske vom badischen Prinzen Max nach Kiel schicken ließ, auf dass er den dortigen Matrosenaufstand totrede. Später kokettierte Noske als SPD-Reichswehrminister mit dem selbstverliehenen Titel „Bluthund“, hatte er doch die Arbeiterrebellionen brutal zusammenschießen lassen – während er sich rechtsradikalen und militaristischen Putschisten gegenüber ziemlich tolerant zeigte.


Von Verrat wollen wir heute im Zusammenhang mit der SPD nicht mehr sprechen, wird dieses Vergehen in der Politik doch als Handlung gegen die eigene Überzeugung, die soziale Selbstverpflichtung oder die Solidarität definiert – Wesenszüge, die der Sozialdemokratie schon lange abhanden gekommen zu sein scheinen. Was den Genossen allenfalls vorgeworfen werden kann, ist ein sanftes Lavieren im Kielwasser der Kapitalflotte, geprägt durch den Versuch, jede linke Strömung zu vermeiden, sowie ein beinahe vorauseilender Gehorsam, der sich darin verausgabt, den Spekulanten und Krisengewinnlern des freien Marktes per Gesetzgebung und staatsmännischer Propaganda den Rücken freizuhalten.


Wer nun glaubt, bei der geistig-politischen Insuffizienz der Sozialdemokratie handle es um ein deutsches Syndrom, eine endemisch auftretende Kollektiv-Amnesie sozusagen, sollte sich durch einen Blick über die nationalen Grenzen davon überzeugen, dass eine epidemische Verleugnung linker Traditionen vorliegt: In Österreich überlegt die SPÖ ganz unverhohlen, ob sie nach den nächsten Bundeswahlen nicht mit den Rechtsradikalen von der FPÖ zusammenarbeiten soll, was sie im Burgenland ja bereits praktiziert. Der „sozialistische“ französische Staatspräsident Hollande möchte mit den Flächentarifen gerade die letzten Reste gewerkschaftlicher Errungenschaften zugunsten konzernfreundlicher Hausverträge abschaffen.


Internationalismus und Weltfrieden, Omas Parolen auf vergessenen Transparenten, werden derzeit per Grenzschließung für Flüchtlinge bzw. die Drohgebärde der vom norwegischen Genossen Stoltenberg in seiner Funktion als NATO-Generalsekretär angeordneten Stationierung westlicher Truppen an Russlands Grenzen ad absurdum geführt. Vorgemacht hat noch fröhlicheres Kriegstreiben der englische Premier und Labour-Chef Tony Blair, als er den kongenialen US-Kollegen Bush zunächst mit Lügen unterstützte und ihm dann bei der Zerstörung des Irak half, was eine ganze Weltregion bis auf weiteres in die Katastrophe stürzte. (Sein Nachfolger Jeremy Corbyn, ein etwas aus der Art geschlagener Sozialdemokrat, bereitet jüngsten Meldungen zufolge eine Anklage wegen Kriegsverbrechen gegen Blair in Den Haag vor.)


Eine Aufzählung von Amokläufen gegen die eigenen Gründungsideen und die einstige  Definition als Arbeiterparteien ließe sich noch lange fortsetzen, von Griechenland bis Portugal, von Südeuropa bis Skandinavien, doch wollen wir es bei zwei besonders aktuellen Beispielen, Deutschland und Spanien betreffend, bewenden lassen.


Links antäuschen, rechts handeln


Sigmar Gabriel hat schon viele Rollen gespielt, als Pop-Beauftragter des Bundes etwa, als wenig nachhaltiger Umweltminister mit Braunkohle-Faible, als Gönner der Rüstungsindustrie auf dem Chefsessel im Wirtschaftsministerium – genutzt hat dies alles weder seiner Popularität noch seiner Glaubwürdigkeit. Aus Verzweiflung gibt er nun zur Abwechslung den Linken, um so die einstige Volkspartei SPD vergesslichen Menschen mit sozialem Gewissen wieder schmackhaft zu machen. Doch während Gabriel schwadroniert, das Profil der Partei schärfen zu wollen, damit es sich vor dem rechts-bürgerlichen Hintergrund abhebt, täuscht und trickst er, um die Lieblingsprojekte des transatlantischen Neoliberalismus, die Freihandelsabkommen TTIP und CETA, gegen den Willen einer Bevölkerungsmehrheit durchzupauken.


Private Schiedsgerichte, die von den Gegnern der Markt-Globalisierung als die gefährlichsten Instrumente einer omnipotenten Wirtschaft angesehen werden, seien abzulehnen, tönte Gabriel einst, bis der Zeit ein internes Papier unterkam, in dem er sich im Einvernehmen mit den Konzernverstehern aus Frankreich, Österreich, Finnland und den Niederlanden ausdrücklich für diese Gelddruck-Lizenzen für Investoren, denen die Gesetze eines Staates nicht gefallen, und ihre Anwälte aussprach.


Um die Kritiker mundtot und die Bevölkerung schläfrig zu machen, initiierte Gabriel nun für CETA eine „neue“ Lösung, die dem TTIP-Rohentwurf ein paar oberflächliche Ecken und Kanten abschleift, im Kern aber alten Wein in frisch polierten Schläuchen serviert: Ein ständiger internationaler Gerichtshof soll transparente Verfahren mit Berufungsmöglichkeit durchführen. Doch schon die Zusammensetzung der Jury liegt wieder im Dunkeln, und die entscheidende Gefahr bleibt: Wegen des Investorenschutzes kann die Gesetzgebung eines Staates, ganz gleich, ob sie das Umwelt-, das Energie-, das Arbeitsrecht oder den Verbraucherschutz betrifft, ausgehebelt werden. Die Unverschämtheiten sich souverän gebärdender Regierungen gegenüber der Allmacht des Marktes dürften in diesem Falle immense Schadenersatzsummen generieren.


Warum, fragt man sich, begibt sich der deutsche Wirtschaftsminister (und mit ihm das gesamte Kabinett) sehenden Auges in eine profitkumulierende Geiselhaft solchen Ausmaßes? Ganz einfach, auch deutsche Exportunternehmen wollen Gewinne gegen die unwillige Legislative von Staaten erstreiten, möglicherweise von einer Auslandsniederlassung aus auch gegen die Bundesrepublik selbst. Und die Lobbyisten dieser Konzerne sind für Gabriel & Co immer noch relevantere Gesprächspartner als die besorgten Arbeitnehmer, denen er das neue „linke“ Profil der SPD vorgaukeln möchte.

    

Erziehung durch die SPD


In Kommission und Parlament der EU scheint sich derweil eine stillschweigende Koalition der rechten Mitte, also aus Konservativen und Sozialdemokraten, anzubahnen, wenn es um den Umgang mit den Sorgenkindern im südlichen Europa geht. Als in Griechenland Syriza noch nicht domestiziert war und sich gegen die unsinnigen und asozialen Sparauflagen aus Brüssel wehrte, bekam Athen die geballte Härte der Gläubiger und ihrer politischen Sachwalter zu spüren. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, so etwas wie der Doppelmoralprediger oder Gauck der SPD, mahnte im Brustton pharisäischer Überzeugung, Griechenland müsse „liefern“.

         

Spaniens Haushaltsdefizit lag im 2015 bei 5,1 Prozent der Wirtschaftsleistung und wird in diesem Jahr mit einem Minus von 3,9 Prozent die von der EU erlaubte Grenze von 3,0 Prozent erneut deutlich übersteigen, obwohl die PP-Regierung rigoros die Ausgaben für das Sozialsystem, die Gesundheitsfürsorge und Infrastruktur zusammenstrich. Eigentlich müsste die Kommission in Brüssel nun ein Strafgeld von bis zu zwei Milliarden verhängen, tut es aber nicht, weil Ministerpräsident Mariano Rajoy darum gebeten hat, damit bis nach den Wahlen 26. Juni zu warten.


In klandestiner Übereinstimmung leisten Konservative, Liberale und Sozialdemokraten Wahlhilfe für den Partido Popular (Volkspartei), wohlwissend, dass die Postfranquisten in unzählige Skandale verstrickt sind und ihr Chef Rajoy zunächst als Mitwisser, dann als Nutznießer der mannigfaltigen Korruption entlarvt wurde. Doch es geht um Austeritätspolitik sowie neoliberale Reformen des Arbeitsmarktes, und die soll der PP fortsetzen, am besten in einer Koalition mit dem sozialdemokratischen PSOE als Juniorpartner.


Keine Partei kann nach dem 26. Juni allein regieren. Nicht auszuschließen ist, dass das Wahlbündnis Unidos Podemos aus der Vereinigten Linken (IU) und der von rechtspopulistischen und konservativen Journalisten als „linkspopulistisch“ apostrophierten Podemos-Gruppierung zusammen mit der PSOE eine Regierung stellen oder zumindest dominieren könnte – nur wollen die Sozialdemokraten nicht. Dabei müssten sie glücklich darüber sein, dass Jahrzehnte der Korruption und der Umverteilung von unten nach oben in der Regie wechselnder PP- und PSOE-Regierungen nicht zu ähnlicher chauvinistischer und rechtsradikaler Mobilisierung geführt haben wie in den meisten andern Ländern. In Spanien hat sich stattdessen eine linke Basisbewegung entwickelt, die den Banken und großen Unternehmen auf den Pelz rückt, die Rechte von Arbeitnehmern, verarmten Familien und von Räumung bedrohten Mietern stärken will, die Flüchtlinge (ehrlich) willkommen heißt, die Katalanen über die Eigenstaatlichkeit abstimmen lassen will, die mittlerweile in den Rathäusern der meisten großen Städte regiert –und dort gute Arbeit leistet.


Aber die PSOE, die vermutlich hinter PP und Unidos Podemos nur drittstärkste Kraft im Parlament werden wird, schließt ein Bündnis mit der Neuen Linken aus. Für Sozialdemokraten argumentiert diese zu klassenkämpferisch und friedensbewegt (NATO-Austritt nicht ausgeschlossen). Zudem könnte sie in ihrer naiven Integrität den Sozialdemokraten die Rückkehr zu den alten Fleischtöpfen versperren. Der PSOE-Vorsitzende Pedro Sánchez lehnt folglich Gespräche mit Unidos Podemos kategorisch ab (was ihm viel Lob aus Brüssel einträgt). Zwar mag er nicht mit dem multipel belasteten Titelverteidiger Rajoy zusammengehen, hätte aber nichts gegen die Koalition mit dem PP unter einem anderem Chef, also immer noch mit einer Partei, deren Ex-Minister, ehemalige Schatzmeister und Bürgermeister reihenweise im Gefängnis sitzen. Die hohen Chargen der PSOE drängen Sánchez sogar dazu die „Kröte“ Rajoy für ein bisschen Machtbeteiligung zu schlucken. Man kennt den möglichen Koalitionspartner halt noch aus den guten alten Zeiten der ungebremsten Bauspekulation, Vorteilsannahme und Durchstecherei.


Menschen mit gutem Gedächtnis und historischem Interesse mögen sich fragen, wie die Nachfolger jener Politiker, die einst die Zweite Republik gegen die Franco-Putschisten verteidigt hatten, auf solch kapitalismusaffine, linkenfeindliche Abwege geraten konnten. Der Blick auf die offizielle Website der SPD dürfte ganz hilfreich sein. Über Willy Brandt heißt es da: „1974 sorgte er zusammen mit Hans Matthöfer, Max Diamant und Dieter Koniecki für die Neugründung der PSOE.“ Und in schonungsloser Offenheit und mit ein wenig imperialem Stolz legen die deutschen Sozis dar, warum den spanischen Genossen von Anfang an jegliches sozialistische Bewusstsein abgehen musste. Weder vorher noch nachher, hat die SPD als Partei so massiv in die innenpolitischen Verhältnisse eines anderen Staates eingegriffen, wie nach dem Tode Francos in Spanien.“

06/2016

Dazu auch:

Der letzte Strohhalm im Archiv dieser Rubrik

Noskes Erben im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

 

        

                              

Der letzte Strohhalm

 

Auf der Suche nach irgendeinem knackigen Thema für den Bundestagswahlkampf 2017 ist der Parteivize der SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, fündig geworden – in grauer Vorzeit. Er kündigte der Union einen harten Fight um mehr Fairness bei der Belastung der Bürger an. Ziel sei es (Nun folgt ein treffliches Plattitüden-Duo!), „die Erkennbarkeit wieder in den Vordergrund (zu) rücken“. Um „Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums“ und Steuergerechtigkeit gehe es vor allem. Gerne ließen wir uns diese Inhalte aus dem historischen Kabäuschen der Sozialdemokratie gefallen, würden wir in seliger Amnesie vor uns hindämmern. Leider zwingt uns aber ein unerbittliches Gedächtnis zu der Frage, wer uns denn den in höchster Potenz un- und asozialen Status quo eingebrockt hat.


Ein Zuckerl für die Bosse


Die Unionskanzler Adenauer, Erhard oder Kohl zeigten sich stets als verlässliche Freunde der Reichen und Mächtigen, doch selbst sie kamen nie auf den Gedanken, die Steuern auf Kapitalvermögen abzuschaffen. Sie fürchteten Proteste, wenn die Einkommen der abhängig Beschäftigten, die über keine oder geringe finanzielle Rücklagen verfügten, einseitig belastet würden, um den Bundesländern die nötigen Mittel für infrastrukturelle und soziale Maßnahmen zu verschaffen. Es musste schon der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der ausgewiesene Genosse der Bosse, kommen, um ein neues Prinzip einzuführen: Wer selbst arbeitet, zahlt Steuern auf die relativ bescheidende Grundlage seiner Existenz, den Lohn also; wer viel Geld für sich arbeiten lässt, bleibt von Abgaben für seinen Goldesel verschont. Diese Logik wollte sich nicht einmal der erzkapitalistischen Schweiz und dem steinreichen Norwegen erschließen. Dort zahlen die Millionäre Vermögenssteuer, und fliehen doch nicht auf die Bahamas – oder nach Deutschland.


Schröder und seine grünen Mittäter interpretierten einen Spruch des Bundesverfassungsgerichts von 1995 bewusst falsch: Die Karlsruher Richter hatten nicht die Vermögenssteuer an sich, sondern die bisherige Form der Erhebung für verfassungswidrig erklärt, da der Immobilienbesitz gegenüber dem Kapitalvermögen unzulässig begünstigt werde. Ihren Vorschlag, der Gesetzgeber solle doch einfach die Grundsteuer entsprechend anheben, wischte Schröder vom Tisch und verzichtete kurzerhand ab 1997 auf die Einnahmen aus der Finanz-Besteuerung (damals immerhin schon 9 Milliarden DM jährlich). Im Gegensatz dazu blieb die Grundsteuer, damit auch die Eigner kleiner Eigentumswohnungen noch von den Kommunen zur Kasse gebeten werden konnten. Die Albrechts, Quandts und Schaefflers aber ließen die Korken knallen und tranken so manches Glas Dom Perignon auf das Wohl ihres wichtigsten Staatsdieners.


Da die SPD-Spitze ein Waterloo bei den nächsten Bundestagswahlen befürchtet und Gabriels entschlossener Zickzack-Kurs mittlerweile Ängste auslöst, die Volkspartei könne sogar den zweiten Platz in der Wählergunst an die AfD oder die Grünen verlieren, wird nun die Devise ausgeben: „Vorwärts Genossen, wir müssen zurück!“ Das eigene Meisterwerk in Sachen soziale Ungerechtigkeit, die Abschaffung der Vermögenssteuer, soll revidiert werden. Ziel ist es, so „das eigene Profil zu schärfen“. Da fragt sich der unbefangene Beobachter allerdings: Welches denn eigentlich?

   

Schwarz auf schwarzem Grund


Aus purem Opportunismus, mangelndem Problembewusstsein oder wegen starken Rechtsdralls sind der SPD die Kompetenzen und Argumente ausgegangen, mit denen sie die Menschen davon überzeugen könnte, dass sie noch ein wenig mit entscheiden dürfen sollte. Zum Atomausstieg musste sie seinerzeit von den Grünen getragen werden, und als Angela Merkel nach Fukushima ihren Ausstieg aus dem Ausstieg revidierte, hörte man wenig von den Genossen, die erstaunlicherweise unterdessen die Energiewende und den Klimaschutz mit der Ausweitung des Braunkohle-Tagebaus fördern wollten. Unter Gabriel ist trotz gegenteiliger Ankündigungen das Wirtschaftsministerium zur Koordinationszentrale für Rüstungsexporte geworden. Und auch wenn das bisschen verbliebene Basis murrt – die Parteispitze steht in Treue fest zu TTIP und CETA, damit die omnipotenten Herren der Märkte ihr nicht zürnen.


Unter Sigmar Gabriel bewarb sich die SPD eifrig um die Gunst der Automobilindustrie, deren Lobbyisten inzwischen die Gesetze diktieren oder zumindest deren Aufweichungen dekretieren. Solidarisch sperrten sich die Genossen Seit ̉ an Seit ̉ mit den Unionisten in der EU gegen schärfere Abgasnormen, schwiegen beredt zu den diversen Betrugsfällen bei VW und Opel und bürden nun auch dem Steuerzahler die Hälfte der Kosten für die Einführung von Elektro-Autos auf, um die Industrie dafür zu belohnen, dass sie so ziemlich alle umweltfreundlichen Technologien konsequent verschlief, während sie damit beschäftigt war, die Messung von Emissionen zu manipulieren.

  

Außenminister Frank Walter Steinmeier trägt die Expansionsgelüste der Kriegsministerin von der Leyen brav mit, obwohl ihm längst klar geworden sein dürfte, dass die NATO-Interventionen im Nahen Osten und in Nordafrika eine blutige Spur von failed states hinterlassen haben. Ein wenig beunruhigend findet es der kongeniale Kollege des Universaldilettanten Gabriel allerdings, dass er im Sinne Brüssels und Washingtons in der Ukraine als Regisseur eines Putsches agiert hatte und sich wenig später im Bett mit Oligarchen, korrupten Politikern und faschistischen Milizionären wiederfand, im Feldbett wohlgemerkt, denn seinem Einsatz für westliche Hegemonie folgten Krieg und Sezession.


„Aber die soziale Kompetenz, der Einsatz für Unterprivilegierte!“ mag mancher alte SPD-Wähler einwenden und auf Andrea Nahles verweisen, jene Arbeitsministerin, die jeden Rohrkrepierer zum Startschuss für mehr Gerechtigkeit im Wolfssystem hochjubelt. Da wird ein Mindestlohn (mit vielen Ausnahmen), der weit unter dem vergleichbarer Staaten liegt, ebenso als Erfolg verkauft wie ein fauler Renten-Kompromiss, der die Sozialkassen belastet und die künftigen Alten zu Hilfsbedürftigen macht, oder eine Neuregelung der Arbeitnehmerüberlassung, die auf dem Papier beachtlich erscheint, aber aufgrund der gewöhnlich kurzen Beschäftigungsdauer im Leihgeschäft kaum einem der von Unsicherheit und Unterbezahlung gepeinigten Zeitarbeiter jemals zugutekommen wird.


Und dann die legendären inhaltlichen Ausschlusskriterien der SPD vor Regierungsbeteiligungen, die sich im lauen Regen von Posten und Pfründen während der Koalitionsverhandlungen in die Abflussrohre politischer Verantwortung verflüchtigen: Ein entschlossenes Nein der Genossen im Wahlkampf zur von der Union geforderten Mehrwertsteuererhöhung auf 18 Prozent verwandelte sich 2005 im Geschacher um Ministerämter zu einem erstaunlichen Agreement von 19 (!) Prozent. Acht Jahre später wurde Dobrindts Maut-Irrsinn („Mit uns nicht!“) aus Liebe zu ein bisschen Kabinettseinfluss durchgewunken, und Justizminister Heiko Maas opferte die eigene Überzeugung heldenhaft der Koalitionsdisziplin und brachte ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung auf den Weg.


Insgesamt hat sich die SPD in den letzten Jahrzehnten innen-, außen- und wirtschaftspolitisch so konsequent der Union angenähert, dass ein eigenes Profil als grau in grau wahrgenommen wird oder, nach politischer Farblehre, als schwarz vor schwarzem Hintergrund. Wie „die Erkennbarkeit wieder in den Vordergrund“ gerückt werden kann (um bei der tautologischen Rhetorik Schäfer-Gümbels zu bleiben), wird wohl das Geheimnis einer Riege austauschbarer Persönlichkeiten um Gabriel und Steinmeier bleiben. Die Diener des Marktes und einer imperialen Weltordnung werden ihre Herren sicherlich nicht Hals über Kopf verlassen. Dies trifft übrigens auch auf die Parteifreunde in Österreich, Frankreich oder Spanien zu, nur der neue Labour-Chef Jeremy Corbyn scheint ab und zu über die Grenzen des Systems hinaus denken zu wollen.

       

Sonderangebote vor der Wahl


Zwar ist es unwahrscheinlich, dass jemand den per Wiedereinführung der Vermögenssteuer angedeuteten Schwenk der Genossen in Richtung mehr Verteilungsgerechtigkeit ernst nimmt – zu volatil waren frühere SPD-Versprechen sozialer Sonderangebote und gewisse Härten verhindernde Vetos vor Wahlen; aber einen Versuch scheint es den sonst wenig empathischen Partei-Lenkern wert zu sein, fällt ihnen doch sonst keine sinnvolle Strategie gegen die sich beschleunigende Erosion der eigenen Anhängerschaft ein.


Zudem kann die SPD ihren Vorstoß risikolos in den Medien platzieren, wird sie doch ohnehin nicht in die Situation geraten, die Rolle rückwärts in der Steuerpolitik tatsächlich ausführen zu müssen: Eine Koalition mit den Grünen ist nach den nächsten Bundestagswahlen numerisch so gut wie ausgeschlossen. Und es ist auch gar nicht klar, ob die Kretschmann-Partei, die sich mehr und mehr als FDP für Naturliebhaber geriert, die neue, wohlhabendere Klientel verprellen möchte. Als Juniorpartner der Union bräuchten die Sozialdemokraten das Thema gar nicht erst in die Verhandlungen einbringen, und was sie in der Opposition von sich gäben, bliebe ohnehin folgenlos.


Thorsten Schäfer-Gümbel hat eher einen flehentlichen Appell an die Menschen in diesem unserem Lande gerichtet: Wir sind wieder da. Erkennt ihr uns noch? Wir wollen bitteschön nach vorne!


05/2016


Dazu auch:

Noskes Erben im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit            

Genosse Trendsetter im Archiv derselben Rubrik      


 


Aufschub für Austria


Ein paar tausend Briefwähler haben mit ihrem Votum einen politischen Dammbruch in Österreich und Europa verhindert. Vorerst zumindest. Denkbar knapp setzte sich bei der Wahl zum Bundespräsidenten nach einer Kampagne auf niedrigstem Niveau der Grüne Alexander Van der Bellen gegen den rechtsradikalen FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer durch. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Schon nach den nächsten Parlamentswahlen könnte die Freiheitliche Partei Österreichs den Kanzler stellen, und in Wien stünden wie in auch anderen Hauptstädten einstige Volksparteien dann wohl Spalier beim Aufstieg der nationalistischen Demagogen.


Präsident einer fiktiven Nation?


In Wien hat der Bundespräsident erheblich mehr Befugnisse als unser geschwätziger Bundespastor Gauck in Berlin. Während letzterer sich allenfalls die Unterschrift unter ein Gesetz überlegen darf, kann sein österreichischer Kollege das Parlament auflösen und den Kanzler entlassen, was der sonst so sanft und jovial wirkende Norbert Burger immer mal wieder als Option (oder Drohung) angedeutet hatte.

Gegen eine ganz große Koalition aus allen anderen Parteien stimmte fast die Hälfte aller Wähler für den FPÖ-Kandidaten, einen Mann, der als Burschenschaftler eine „österreichische Nation als geschichtswidrige Fiktion“ einstuft, weil er die Alpenrepublik als „Teil des deutschen Vaterlandes“ mit ein wenig selbstständiger Staatlichkeit betrachtet. So jedenfalls steht es im Programm der  rechtsextremen Marko-Germania, der Hofer angehört. Er sei nur Ehrenmitglied der schlagenden Verbindung (der vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands ein „völkischer Nationalismus“ attestiert wird), wiegelt Hofer ab. Zum Ehrenmitglied einer Gruppierung aber wird gemeinhin ernannt, wer sich besonders für deren Ziele (und seien sie auch noch so chauvinistisch) eingesetzt hat. Um ein Haar wäre Norbert Burger somit Bundespräsident der von ihm selbst als Geschichtsklitterung empfundenen Phantom-Nation Austria geworden…


Längst ist die FPÖ unter dem Rechtspopulisten Heinz-Christian Strache zur stärksten Partei Österreichs aufgestiegen. Demoskopen sagten ihr ein Wählerpotenzial von bis zu 36 Prozent voraus; tatsächlich aber sind es – wie die Präsidentenwahl belegt - an die 50 Prozent. Spätestens in zwei Jahren wird das Wiener Parlament neu gewählt, und wenn bis dahin kein Wunder demokratischer Aufklärung geschieht, wird die FPÖ den nächsten Kanzler stellen. Und sie wird dann weder innenpolitisch noch europaweit isoliert sein, sondern sich als nationalistische Avantgarde ihre Bündnispartner im In- und Ausland bequem aussuchen können.

    

Eine Herde brauner Schafe


Bereits im Februar 2000 versuchte die ÖVP der ewigen Umklammerung durch den größeren Regierungspartner SPÖ zu entkommen, und ging eine Koalition mit der FPÖ ein, was im europäischen Abendland zunächst helle Empörung auslöste und Boykottgesten zeitigte, die sich aber rasch in die diplomatische Unverbindlichkeit verflüchtigten. Nach fünf Jahren war der Spuk vorbei, die FPÖ gespalten und auf Miniaturformat reduziert. Heute, nach der Renaissance des Chauvinismus, könnte sich über eine Regierungsbeteiligung oder –übernahme durch Strache & Co kaum ein EU- oder NATO-Staat aufregen, stehen doch überall die völkischen Polit-Truppen ante portas oder haben den Fuß schon in der Tür.


Verstünde man sich als Zyniker, müsste man eine (kurzzeitige) Regierungsverantwortung in den Händen und Hirnen der Rechtsextremen sogar begrüßen. Sehr schnell würde man dann nämlich erkennen, dass bräunlicher Sumpf allenfalls kriminelle Substanz enthält. Die FPÖ blamierte sich als Koalitionspartner, und ihr damaliger Übervater Jörg Heider fiel als Kärntner Landeshauptmann durch etliche Finanz- und Korruptionsskandale, deren bekanntester die Affäre um die Hypo-Alpe-Adria war, auf. Leider aber wird in solchen Perioden zu viel an wertvollem Potential zerstört, scheitern soziale Initiativen und aufklärerische Ansätze an der aggressiven Ignoranz  und Propaganda der Herrenmenschen, adaptieren die etablierten Parteien auch noch den größten Unsinn der Rechtsextremen vorsichtshalber; zudem ist das kritische Gedächtnis vieler Unzufriedener und Unterprivilegierter bereits gelöscht, wenn die populistischen Vereinfacher nach einer Phase der Bedeutungslosigkeit erneut antreten, wie im Augenblick das Beispiel Österreichs zeigt.

 

Und die Austro-Nationalisten sind längst nicht mehr isoliert und allein auf dem Kontinent. In Skandinavien regieren die rechten Populisten schon mit oder dulden konservative Regierungen, in Frankreich plant Marine Le Pen nächstes Jahr den Einzug in den Elysee-Palast und ihr Front National dürfte zumindest aus dem ersten Wahlgang als stärkste Partei hervorgehen, was die nationalistische SVP in der Schweiz bereits ist. Dazu noch Wilders in den Niederlanden, die Lega Nord in Italien, UKIP in Großbritannien und die deutschen Zündler der AfP… Wache Geister fragen sich, wie es mit Europa so weit kommen konnte.


Eine verheerende bürgerliche Bilanz


Wie in der Bundesrepublik geriet auch in Österreich die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zur Farce: Die Politik stellte Austria als unschuldiges Opfer eines aufgezwungenen Anschlusses an das Deutsche Reich dar, obwohl Millionen ihrem Braunauer Landsmann zugejubelt hatten. Nach dem Krieg profilierte sich vor allem die FPÖ als Auffangbecken für alte Nazis und Burschenschaftler, obwohl sich auch ÖVP und SPÖ durchaus bereitwillig den braunen Veteranen öffneten.

Ein halbes Jahrhundert teilten sich die beiden großen Parteien in einer undurchsichtigen Proporz-Balance das Land untereinander auf, schacherten sich gegenseitig Posten und Pfründe zu, bedienten ihre Gönner in der Wirtschaft und schufen ein System salonfähiger Korruption im ökonomischen wie geistigen Bereich. Die neue Zeit des Haifisch-Kapitalismus, der Globalisierung und der ungezügelten Finanzmärkte überforderte die Volksparteien, da sie ihre Klientel und die Wähler nicht mehr zufrieden stellen konnten und der Mittelstand wie auch die Arbeiter als einst treue SPÖ-Anhänger zunehmend verunsichert und rechten Parolen zugänglich wurden.


Nun konnte zwar auch die FPÖ nichts Konkretes zur Linderung der für den Turbo-Kapitalismus bezeichnenden Sinnkrise und der aus ökonomischer Unsicherheit gespeisten Paranoia weiter Bevölkerungskreise beitragen, aber die brachialen Simplifizierungen der Rechtspopulisten gaben – wie in anderen Ländern auch – den Ängsten wenigstens griffige Namen: Überfremdung, Islamisierung, Lügenpresse oder Ausverkauf nationaler Werte. Und wie seinerzeit im Mittelalter (und später noch einmal) die Juden an allem schuld waren, wurden auch jetzt rasch Sündenböcke benannt, Flüchtlinge etwa, Ausländer überhaupt. Das System selbst und die Allmacht der Märkte, blieben, soweit im einheimischen Einflussbereich, in der Kritik weitgehend außen vor; man wusste schließlich, wie so mancher schwerreiche Mäzen das nötige Kleingeld verdient.


Das alles ist falsch, verlogen, rassistisch und spiegelt alt-faschistische Polemik und Taktik wieder. Aber es klingt in den Ohren derer, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen, wie Klartext angesichts dessen, was das bisherige Establishment als Wahrheit serviert. Es ist nicht so, dass bürgerliche Journalisten an sich Lügner wären, sie haben sich nur damit abgefunden, dass sie das Geflecht aus der Meinungshoheit von Konzernchefs, Großbankern und Investoren als Stichwortgebern, Lobbyisten als Geldbriefträgern und Politikern als willfährigen Befehlsempfängern nicht mehr durchschauen (wollen?). Gebetsmühlenartig wiederholen sie die vergifteten Metaphern von den alternativlosen Arbeitsmarktreformen, die tatsächlich eine Rückkehr zu prä- oder frühkapitalistischen Beschäftigungsverhältnissen bedeuten, von der Liberalisierung der Märkte, bei der es in Wirklichkeit um die Privatisierung aller lukrativen gesellschaftlichen Einrichtungen und Projekte und um die völlige Entdemokratisierung der Sozial- und Steuersysteme geht, und von der segensreichen Priorität des Freihandels, der Wenigen in wenigen Ländern unermessliche Profite und Vielen in vielen Länder unermessliches Elend beschert.


Wenn die Süddeutsche Zeitung nach der letzten G7-Konferenz in Japan „Wachstum gegen Fluchtursachen“ titelt, so ist dies purer Hohn. Genau das Wirtschaftswachstum der sieben potentesten Staaten (oder besser: der dort beheimateten Konzerne) wurde mittels Subventionen für die eigenen Exporteure, durch Restriktionen gegen den Außenhandel der ärmsten Länder und durch aktive Korruption oder militärische Intervention (darunter fällt auch Waffenhandel) erzielt. Und genau durch dieses Wachstum auf Kosten anderer werden Menschen, die ihre Zukunft, ihr Überleben und/oder das ihrer Familien retten wollen, in die Flucht getrieben.         

 

Das scheinbar gleiche Ziel


Die FPÖ, Pegida, die AfP oder den Front National interessieren solche traurigen Fakten natürlich überhaupt nicht, wenn sie gegen TTIP, die EU oder die politische Nomenklatur der jeweiligen Heimatländer zu Felde ziehen. Schlagwörter sind wesentlich besser als Informationen oder Analysen dazu geeignet, Aversionen zu schüren, die sich in Wählerstimmen umwandeln lassen.


Mit feinem Gespür kapriziert sich die bürgerliche Presse, der Eleganz eines Oberflächen-Phänomens seit jeher zugeneigter als der Hintergrund-Recherche, auf die angebliche Parallelität rechtspopulistischer und links-alternativer Forderungen. Und tatsächlich finden sich auf den ersten Blick einige Ähnlichkeiten, was wichtige Postulate angeht, nur wird bei näherem Hinsehen (das CICERO oder FAZ tunlichst vermeiden) klar, dass gleiche Handlungsziele diametral entgegengesetzten Folgerungen und gesellschaftlichen Vorstellungen entspringen können.


So fordern die völkischen Parteien ebenso wie die Linken den sofortigen Stopp der TTIP-Verhandlungen. Während aber erstere lediglich die nationale Wirtschaft vor Überfremdung schützen wollen, stellt die andere Seite das System der ungehemmten Märkte, der Arbeitsplätze vernichtenden Börsenspekulation und der Finanz-Anarchie in Frage und hat dabei auch den Schutz der ärmeren Länder auf dem Globus im Blick. Während die antikapitalistischen Kritiker die Ukraine-Politik der NATO ablehnen, weil sämtliche Versprechen, die einst Gorbatschow bezüglich einer bündnisfreien Nachbarschaft Russlands gegeben worden waren, mittlerweile gebrochen wurden, verehren die Rechtsextremen den Autokraten Putin, weil er wie sie nationalistisch gesinnt ist und gegen Ausländer sowie Journalisten hetzt. Wenn große Teile der rechtsextremen Schwedendemokraten eine Annäherung (mit Beitrittsoption) des bis dato neutralen Landes an die NATO, wie sie derzeit von der sozialdemokratisch-grünen (!) Minderheitsregierung betrieben wird, ablehnt, dann vor allem aus einem eigennützigen Grund: Armee und Sicherheitskräfte sollen nach den nächsten Wahlen unter ihrer Kontrolle stehen. Die Linken hingegen wollen verhindern, dass die schwedische Neutralität der immer aggressiveren Expansionspolitik des Nordatlantikpakts geopfert wird.


Die Schnittmenge der Positionen von Rechtspopulisten einerseits und von Konservativen/Liberalen/Sozialdemokraten auf der anderen Seite ist in den meisten Ländern weitaus größer als die der bürgerlichen Parteien und Sozis mit tatsächlich linken Gruppierungen. Das Interesse, System und Gesellschaft zu durchleuchten und die soziale Misere großer Teile der Bevölkerung nicht als temporären Auswuchs, sondern als logische Folge der gegenwärtigen Politik zu erklären, ist bei den Nationalisten so gering wie bei den (ehemaligen) Volksparteien. Und weil es um den puren Machterhalt und nicht um Inhalte geht, eignen sich Union und SPD in Deutschland sowie ÖVP und SPÖ in Österreich immer auffälliger die Argumentationshülsen der Rechtsextremen an. Zu einem ersten Sündenfall kam es bereits im Burgenland, wo die Sozialdemokraten ungeniert mit der Strache-FPÖ regieren. Weitere werden folgen, in Deutschland, in Austria und anderswo.


In Spanien zeigt sich derzeit, dass auch eine desillusionierte Bevölkerung in beträchtlichen Teilen durch Informationen und solidarisches Handeln motiviert kann, und zwar nicht zu Fremdenhass und Chauvinismus, sondern zu Aufklärung und substanzieller Veränderung. Dass dies den Herren der Wirtschaft und somit der Welt nicht passt, zeigt sich am Beispiel Madrids. Die neue, von Podemos angeführte Stadtratsmehrheit überprüft derzeit alle Schulden der Stadt, die durch die konservativen PP-Vorgänger angehäuft wurden. So viel Transparenz musste den Punktrichtern des Kapitalismus suspekt sein. Die US-Rating-Agentur Standard & Poor ̉s, den alten Seilschaften und deren Spezln, den Investoren und anderen Profiteuren, verpflichtet, stufte die Bonität Madrids sogleich auf Ramsch-Niveau herab.


05/2016

Dazu auch:           

Europa wird braun im selben Archiv




Die McKinsey-Republik


Frank-Jürgen Weise ist so etwas wie der omnipotente Supermann der Regierenden in Berlin. Zunächst gelang es ihm, die Agentur für Arbeit (AA) – zumindest nach offizieller Lesart - zu sanieren, seit September 2015 soll er zusätzlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf Vordermann bringen. Doch immer wenn der fachfremde Tausendsassa eine neuen öffentliche Auftrag übernimmt, taucht wie von ungefähr der Name der weltweit größten Unternehmensberatung McKinsey auf. Und skeptische Beobachter fragen sich und andere langsam, ob die Bundesrepublik hoheitliche Aufgaben outsourct und die Zukunft der auf ihrem Staatsgebiet lebenden Menschen Managern anvertraut, zu deren eigentlichen Aufgaben die Profitmaximierung durch Personalabbau in der globalen Privatwirtschaft gehört.

 

Die Turbo-Melker

 

Unternehmensberatungen sind selbst als Firmen organisiert, die von Kunden, vornehmlich Konzernen und Banken, konsultiert werden, weil diese ihren internen Arbeitsablauf straffen, neue Geschäftsstrategien entwickeln  und vor allem Kosten senken wollen. Letzteres Ziel wird vor allem durch einen effizienteren, sprich: den Mitarbeiter (über)fordernden, Einsatz des Personals und den Abbau eines Teils desselben erreicht. Das Wohl der Arbeitnehmer ohne Stimme und Einfluss, der Mehrheit innerhalb eines Unternehmens also, hat folglich hinter dem Gewinnstreben der Eigner und Aktionäre zurückzustehen.

 

Institutionen der öffentlichen Hand sind hingegen den Interessen der Allgemeinheit und dem Wohl ihrer speziellen Klientel verpflichtet (oder sollten es zumindest sein). Wie eine Unternehmensberatung, für die der Einzelne lediglich als Kosten- oder Profitfaktor existiert, diverse Bundesbehörden, für die nicht eine Etat-Deckelung, sondern Beratung und gesellschaftliche Eingliederung unterstützungsbedürftiger Individuen im Vordergrund stehen, unterstützen kann, wird vielen Beobachtern, die Frank-Jürgen Weises Erfolgslitanei ohnehin skeptisch aufnehmen, höchst schleierhaft bleiben. Fest steht zunächst nur, dass von dem aus Steuern und Abgaben stammenden Geld, das etwa der AA zufließt, um arbeitslose Menschen zu qualifizieren und zu vermitteln, ein Teil an McKinsey geht, eine Company, die mit ihren Ratschlägen anderorts für Entlassungen (folglich für Nachschub an arbeitslosen Menschen) sorgt.

 

Gute bleiben, Schlechte müssen ins Amt

 

McKinsey & Co. mit Hauptsitz in New York rühmt sich, über zwei Drittel der tausend größten US-Unternehmen und die Mehrheit der DAX-Konzerne hierzulande zu beraten. Einer Consulting-Firma mit einem solchem Portfolio wird offenbar zugetraut, mit links auch noch ein paar Regierungsstellen den rechten Weg zu weisen. So gehört etwa auch das österreichische Finanzministerium zur Klientel der Ratgeber-Krake.

Vom folgenschweren, wenn auch wenig segensreichen Wirken der McKinsey-Emissäre in der AA abgesehen, fällt vor allem die Ernennung von Katrin Suder zur Rüstungsstaatssekretärin am 1. August 2014 ins Auge. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vertraut einer Frau, die zuvor den McKinsey-Bereich Öffentlicher Sektor geleitet und u. a. die IT-Industrie beraten hatte. Jetzt ist Suder für Informationstechnik und Ausrüstung zuständig. Das wird ihr leicht fallen; man kennt sich ja schließlich von früher in Beschaffungskreisen.

 

Nun ist ein öffentliches Amt für die Cracks einer Firma, die stets versucht, mit hohen Gagen die besten Uni-Absolventen aller Fächer ins Boot zu holen, nicht unbedingt ein erstrebenswertes Ziel. Betrachtet man die McKinsey-Philosophie näher, könnte man eine derartige berufliche Veränderung sogar als Degradierung einstufen. Die enorm hohe Mitarbeiter-Fluktuation (zwischen zehn und zwanzig Prozent) rührt nämlich vom Up-or-out-Prinzip her, nach dem jeder, der innerhalb von zwei bis vier Jahren keine höhere Hierarchiestufe erreicht, das Unternehmen verlassen muss. So drängt sich der Verdacht auf, dass die Arbeitsagentur, die etliche Berater nach kurzer Zeit fest in ihre Dienste übernahm, der McKinsey-Company half, sich ihrer Pfeifen zu entledigen.

  

„Kunden“ und Controller

 

Einst kam die Bundesanstalt für Arbeit in Verruf, weil Aufträge ohne Ausschreibungen vergeben und die Vermittlungszahlen nach oben frisiert worden waren. So musste ihr christdemokratischer Präsident Bernhard Jagoda 2002 dem Sozialdemokraten Florian Gerster weichen, der zwei Jahre lang durch die Behörde irrlichterte, dabei aber wenigstens eine folgenschwere Entscheidung traf, indem er Frank-Jürgen Weise als Verantwortlichen für die Finanzen in den Vorstand berief. Dieser beerbte Gerster 2004 und machte sich an die Umstrukturierung des Verwaltungsmolochs.

 

Weise hatte zuvor Führungspositionen in einer Logistikfirma, einem Hüttenwerk und bei einem Kfz-Zulieferer bekleidet und auf dieser Seite des Grabens zwischen Kapital und Arbeit vor allem gelernt, dass man sich Unternehmensberater zu Freunden machen sollte und wie  man sich gut verkauft, indem man auch missglückte oder verfehlte Reförmchen als strategische Erfolge ausgibt. Dieser ausgezeichnete PR-Mann in eigener Sache erhielt er viel Lob aus der Politik und von den Medien, während die Betroffenen, nämlich die Arbeitslosen sowie die AA-Mitarbeiter, die mit ihnen zu tun hatten, unter unsinnigen Direktiven litten.

 

Schon kurz vor Weises Amtsantritt hatten die Verantwortlichen einige Begriffe gewissenhaft geschönt. So wurde aus der Bundesanstalt die BundesagenturArbeitsämter nannten sich nun Arbeitsagenturen, und die hilfesuchenden Erwerbslosen hießen jetzt Kunden – als könne man ihnen ein Stück Beschäftigung über die Ladentheke für soundso viel Steuern und Abgaben in Cash verkaufen. Nachdem dann Hartz IV verabschiedet worden war, das die Verschiebung der Langzeitarbeitslosen in eine Bad Bank (hier: zunächst ARGE, dann Jobcenter) möglich machte, widmete sich Weise seinem Faible und den Buddies von früher, dem Controlling und den Consulting-Cracks. Prüfer des Bundesrechnungshofes stellten pikiert fest, dass – ganz wie früher – ein vier Millionen Euro schwerer Auftrag ohne Ausschreibung vergeben worden war - an einen McKinsey-Mann. Weise, der angeblich nichts davon wusste, focht dies nicht weiter an, im Gegenteil: Er holte immer mehr Berater aus der US-Unternehmensberatung in sein Amt, zog immer mehr Planungs-, Kontroll- und Leitungsebenen ein, schuf eine Kaste aus großen und kleinen Häuptlingen, während die wenigen Indianer, die tatsächlich mit den Klienten (und deren Unmut) zu tun hatten, weder unterstützt noch gehört wurden.


Um die vergleichsweise kleine Zahl der Vermittler und Berufsberater vor den Kunden zu schützen, wurden ihnen Geheimnummern verpasst. Auskünfte am Hörer erteilten von nun an zu kurz und miserabel geschulte Mitarbeiter in Callcentern – keine guten Ansprechpartner für ratlose oder verzweifelte Arbeitsuchende. Die Einteilung der Ansprechpartner vor Ort in Arbeitsvermittler und Berufsberater wurde unterdessen aufgehoben; in neu zusammengestellten Teams sollte jeder (ohne Rücksicht auf langjährige Erfahrung und Kontakte) künftig alles übernehmen können – mit dem Erfolg, dass binnen kurzem die einen Team-Mitglieder wie früher die Vermittlung übernahmen und die anderen die Berufsberatung. Für diese Nullnummer hätte man McKinsey nicht gebraucht.

 

Im sensiblen Reha-Bereich wurden Berater, die sich in Fortbildungen und durch persönliches Engagement Kenntnisse über die diversen Behinderungsarten angeeignet hatten, argwöhnisch beobachtet, da sie manchmal notwendige Maßnahmen genehmigten, die den im eigenen Kreise nicht gerade knausrigen Oberen zu kostspielig erschienen. Gingen solche Experten in den Ruhestand, wurden sie durch Callcenter-Mitarbeiter ersetzt, die wesentlich weniger verdienten und einen befristeten Vertrag erhielten. Solche in windigen Crash-Kursen vorbereiteten Neulinge widersetzten sich auch nicht, wenn die Regionaldirektionen (frühere Landesarbeitsämter) das Sozialgesetz ein wenig beugten. Manche dieser höchst überflüssigen Lokal-Emirate diktierten den einzelnen Agenturen begrenzte Kontingente (analog der gerade geforderten Asylrecht-Klitterung) für die berufliche Rehabilitation behinderter Jugendlicher in spezialisierten und qualitativ guten, aber teuren Einrichtungen, obwohl im Sozialgesetzbuch (SGB) III und SGB IX das Recht des Klienten auf solche besonderen Hilfen, wenn er derer bedarf, festgeschrieben ist.

 

Auch bei den Zahlen wurde ähnlich getrickst wie in den Zeiten des seligen Jagoda. In den Arbeitslosenstatistiken tauchen auch heute die (arbeitslosen) Teilnehmer irgendwelcher Befähigungsmaßnahmen ebenso wenig auf wie die Jugendlichen, die nach der Schule keine Ausbildung und Arbeit finden oder nie als Leistungsbezieher registriert wurden. Und im Reha-Bereich fordert die AA von kirchlichen und privaten Trägern zur Anerkennung des Eingliederungserfolgs streng den Nachweis, dass der Absolvent nach der Maßnahme mehr als sechs Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, beim eigenen Arbeitsvermittler genügen drei Tage – dann darf er einen Strich auf der Habenseite machen.

 

Um eine Entlastung für Arbeitgeber zu schaffen, wurde im Sozialgesetzbuch (SGB) IX die Pflichtquote der Einstellung schwerbehinderter Menschen von sechs auf fünf Prozent gesenkt. Allerdings sollte diese Strafabgaben sparende Regelung zurückgenommen werden, wenn die Unternehmen künftig nicht mehr Arbeitsplätze mit gehandicapter Klientel besetzten. Als die Wirtschaft gar nicht daran dachte, die Gegenleistung zu erbringen, rechnete die AA die Zahlen arbeitsloser Schwerbehinderter schlau herunter, indem plötzlich Maßnahmeplätze und Praktika als reguläre Arbeitsverhältnisse gewertet wurden. Die fünf Prozent blieben im Gesetz, den Firmen blieben viele Millionen an Ausgleichsabgabe erspart.

 

Dass Weise trotz der schlechten Bilanz bei den Langzeitarbeitslosen die Situation der AA als rosig hinstellen kann, ist der aktuellen Konjunktur und dem Arbeitskräftemangel in vielen Branchen zu verdanken, nicht den Beratern von McKinsey, die, innerhalb der Agentur klandestin wie Scientologen wirkend, mitgeholfen haben, Eigeninitiative, Wissen und selbständiges Handeln der engagiertesten Mitarbeiter an der Front durch Formalismen und Zwerghierarchien zu ersetzen.

          

Staat im Dienste der Wirtschaft

 

Nachdem Frank-Jürgen Weise somit die Arbeitsagentur für die Galerie (nicht etwa zum Wohl der „Kunden“) saniert hat, soll er nun quasi als deus ex machina die verfehlte deutsche Asylpolitik durch Umstrukturierung und Akkord-Abfertigung, möglichst ohne Einbeziehung des Grundgesetzes und der Genfer Flüchtlingskonvention, in geordnete Bahnen lenken. Als Abgesandter aus dem Unternehmerlager kapriziert er sich natürlich verbal zunächst auf den möglichen Nachschub an Arbeitskräften für Industrie und Handwerk (Aushebelung des Mindestlohns nicht ausgeschlossen); und wie gehabt posaunt er noch vor Erbringung eines Leistungsnachweises seine Kritik an der bisherigen Arbeit der BAMF-Beamten in die Welt und zeigt sich beleidigt, weil deren Personalrat ebenfalls an die Öffentlichkeit geht und die Vorwürfe zurückweist.

 

Und natürlich holt Weise McKinsey ins BAMF: zunächst zehn unentgeltlich tätige Berater unter Frank Mattern, dem früheren Deutschlandchef des Unternehmens – es werden sehr viel mehr werden, und es werden dann beträchtliche Geldsummen fließen, auch wenn Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten erstaunt fragen, „warum diese Berater plötzlich besser arbeiten sollen als tausende erfahrene Beamte“. Ganz einfach, eine Verwaltung muss in diesem System nach außen reibungslos und kostengünstig funktionieren, um den politisch Verantwortlichen Bonuspunkte in der öffentlichen Wahrnehmung einzubringen, die Auswirkungen für Betroffene und die längerfristigen Folgen für die Gesellschaft sind bei der kurzlebigen Rezeption erst durch die Medien, dann durch die Volksmeinung vernachlässigbar.

 

Die McKinsey-Berater sind Organisationsexperten, mit inhaltlicher Gestaltung haben sie nichts zu tun, mögen die politischen Sachwalter des neoliberalen Establishments einwenden. Wenn aber durch die Optimierung der Abläufe und durch ein Qualitätsmanagement, das auch in sozialen Fragen auf rein formale Kriterien, auf bedenkenloses Tempo und stereotype Evaluationsschemata setzt, die Erfahrung und die daraus resultierenden Ideen, das Verantwortungsgefühl von Mitarbeitern und ihr daraus erwachsendes Engagement gegenstandslos werden, dann gehen inhaltliche Ansätze verloren und die schöne neue Welt der Kontroll-Technokraten im Cockpit einer der Wirtschaft aufs Wort folgenden öffentlichen Hand kristallisiert sich heraus.

   

Der wachsende Einfluss von McKinsey in Kernbereichen der Solidargemeinschaft ist kein kurzzeitiger Trend, sondern ein Symptom für die weitgehende Kontrolle und Lenkung der öffentlichen Mittel durch das Kapital und seine Lobby. Mittlerweile geriert sich der deutsche Staat in der Sozialpolitik, ob es nun um die Krankenversicherung, das Rentenalter oder die Leiharbeit geht, ob es sich um die Außen(handels)-, Entwicklungs- oder Finanzpolitik handelt, als sei er Mitglied im Unternehmerverband. Eine ganz große Koalition aus Union, SPD, FDP und weiten Teilen der Grünen sieht Politik offenbar als Dienstleistung für die Wirtschaft  - und Gesellschaft als marginale Funktion der Planungen einer ökonomischen Machtelite. Dazu gibt es keine Alternative, sagt wenigstens die Kanzlerin.

 

In absehbarer Zukunft wird es wohl nur noch zwei Determinanten für Regierungspolitik geben: die unmittelbare Resonanz in der vor allem durch BildRTL und Facebook unterrichteten Bevölkerung – und das Abnicken von Entscheidungen durch externe Controller.


01/2016

  


  

Inklusionslügen 

  

Es lohnt sich, bei der Definition sozialer Items, die von der Politik publikumswirksam instrumentalisiert werden, näher hinzusehen. „Inklusion“ ist so ein Zauberwort, das zurzeit vor allem von der CSU in Bayern immer wieder als Beleg für eine fortschrittliche, den Bedürfnissen von Benachteiligten Rechnung tragende Bildungspolitik, vor allem was die Teilhabe behinderter Kinder und Jugendlicher betrifft, bemüht wird. Was für ein schamloser Etikettenschwindel!

 

Der Duden versteht unter Inklusion „Einschluss“ und „Miteinbezogensein“, bei Wikipedia bedeutet der Begriff „Soziale Inklusion“, „...dass jeder Mensch in seiner Individualität akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an der Gesellschaft teilzuhaben. Unterschiede und Abweichungen werden ... bewusst wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung eingeschränkt oder gar wahrgenommen“. Im Gegensatz zur Integration hat der Mensch mit Behinderung, Migrationshintergrund oder Minderheitenzugehörigkeit folglich ein Recht darauf, seine „Besonderheit“ gleichberechtigt innerhalb der Gemeinschaft auszuleben; er muss nicht eingegliedert werden, sich erst an die Gesellschaft anpassen. Diese hat im Gegenteil die Pflicht, ihm Barrieren aus dem Weg zu räumen. So weit, so human...

 

Am 21.12.2008 beschloss der Bundestag, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in die deutsche Rechtsprechung einzuführen. Das Gesetz unterzeichneten der damalige Bundespräsident Köhler, die damaligen Minister Scholz (Arbeit und Soziales), Steinmeier (Auswärtiges Amt) und Bundeskanzlerin Merkel. Es spricht vieles dafür, dass die vier Herrschaften nicht genau wussten, was sie da unterschrieben.

 

Obwohl das Abkommen vom Geist her (ebenso wie in weiten Teilen das deutsche Sozialgesetzbuch IX) ein Inklusionsgesetz ist, taucht der Begriff (wie ich mit der Word-Suchfunktion feststellen konnte) in dem im Bundesgesetzblatt veröffentlichten dreisprachigen Text nur ein einziges Mal auf, nämlich im Artikel 3, und auch dort nur in der englischen Version. Sowohl die französische („intégration“) als auch die deutsche Übersetzung („Einbeziehung“) sind missverständlich bis falsch. Man kann in nichts einbezogen werden, in dem man von vornherein schon ist.

 

Ich denke nicht, dass der bayerische Kulturminister Ludwig Spaenle sich mit solchen Finessen beschäftigt hat, bevor er 2011 lauthals die Verwirklichung der Inklusion in den Schulen des Freistaats und damit die Vorreiterrolle des CSU-Machtbereichs verkündete. Die Befürchtung geht eher dahin, dass er mit einem Begriff, der gerade en vogue war, den er aber nicht begriff (begreifen wollte?), medial zu punkten beabsichtigte.

 

Inklusion ist eine Utopie, die man vermutlich nie zur Gänze erreichen wird, der man sich aber annähern sollte. Wenn also behinderte Kinder in Regelschulen lernen, neben „normalen“ Klassenkameraden sitzen, kann dies ein hoffnungsvoller Beginn sein – vorausgesetzt, die Voraussetzungen stimmen. Gut geplante Modellprojekte haben gezeigt, dass in der Tat Vorurteile abgebaut werden, alle Schüler schneller soziale Verantwortung entwickeln und – allen Unkenrufen zum Trotz – das Niveau in den Inklusionsklassen eher steigt als sinkt. Wenn sich Kinder und Jugendliche um den behinderten Banknachbarn kümmern, ihm bei der Rezeption von Lerninhalten helfen, müssen sie sich selbst intensiver mit dem Unterrichtsstoff befassen, erarbeiten ihn sich intensiver.

 

Doch wie sehen die Rahmenbedingungen in Bayern aus: Einundvierzig Grundschulen wurden mit dem Titel „Inklusionsschulen“ belehnt, ganze zehn davon konnten auf „Tandems“ aus Lehrern und Sonderpädagogen zurückgreifen. Ansonsten waren die „Regelpädagogen“ weitgehend auf sich allein gestellt. Bei einer Feierstunde in Münsing mit den Rektoren der „Inklusionsschulen“ erklärte Spaenle, von deren besorgten Leitern zur Rede gestellt, mit mehr Personal sei nicht zu rechnen.

 

Aber die Inklusion erfordert – wird sie ernst genommen und nicht als frecher Propaganda-Gag verstanden – großzügige Voraussetzungen sowie mehr, besser geschultes und anderes Personal. Lehrer, die keine spezifischen Fortbildungen durchlaufen haben, kennen sich mit dem Bedarf der behinderten Schüler nicht aus; und selbst wenn, benötigen sie Unterstützung durch erfahrene Sonderpädagogen. Außerdem: Die Diskriminierung körperlich oder geistig behinderter Altersgenossen entspringt nicht Hirnen der Schüler, sondern ist eine Fortschreibung der Ressentiments im Elternhaus (und dass diese übler deutscher Tradition entsprechen, lehrt ein Blick auf die „tausendjährige“ Epoche unseres Landes). Folglich müsste von Lehrern, Sozialpädagogen oder wem auch immer zur Vorbereitung einer tatsächlichen Inklusion Elternarbeit geleistet werden.

 

Um flächendeckend Inklusion zumindest ansatzweise implementieren zu können, müssten allerorten die Klassenstärken in Bayern extrem gesenkt werden (was natürlich auch den anderen Schülern im Vorzeigeland zugute käme). Ohne Ganztagsschule, die den zeitlichen Spielraum für gegenseitiges Kennenlernen und die behutsame Beschäftigung mit den Intentionen und den Eigenheiten des jeweils anderen schafft, bliebe jeder Inklusionsversuch ohnehin Stückwerk.

 

Das Münchner Kulturministerium hat heiße Luft abgelassen, auf lange Sicht vielleicht auch eine finanzielle Entlastung durch Schließung der Fördergrundschulen (die z. B. viele Sinnesbehinderte auch weiterhin benötigen werden) im Auge gehabt, dabei aber einen an und für sich interessanten pädagogischen Ansatz diskreditiert. Für Inklusion müssen nämlich Bedingungen geschaffen werden, die allen Kindern nutzen, und das würde mehr Geld als die personelle Ausstattung aller Förderschulen zusammen kosten.

 

Wie gewissenhaft sich die Lautsprecher des Kulturministeriums auf ihre tolle Initiative vorbereitet haben, offenbart ihre Ahnungslosigkeit im Fall der kleinen gehörlosen Vanessa im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben. Das Kind besucht die Inklusionsschule in Mering. Um dem Unterricht adäquat folgen zu können, braucht Vanessa die Hilfe einer Gebärdendolmetscherin, für die im Jahr 70.000 € fällig werden; hätte den Verantwortlichen jede/r sagen können, der jemals mit prälingual Ertaubten zu tun hatte. Der Bezirk Schwaben aber weigerte sich zu zahlen, das Kultusministerium zunächst ebenfalls. Um sich nicht gänzlich zu blamieren, ordneten die Münchner Chefbürokraten wissenschaftliche Begleitung an und konnten nun Gelder für einen „Modellfall“, zunächst  auf ein Jahr befristet, bewilligen (eigentlich das Gegenteil des Rechts auf rückhaltlosen Einbezug). Schön für Vanessa, aber was wird mit dem zweiten, dritten, zwanzigsten gehörlosen Kind, das in die Regelschule will, geschehen?

 

Das laut Seehofer beste aller möglichen Bundesländer wollte sich im milden Licht der Humanität präsentieren und muss stattdessen die Fassaden eines weiteren Potemkinschen Dorfes gegen den Einsturz abstützen.

 

03/2016 

Dazu auch:

System Bayern I und II in diesem Archiv 


 

  

Europa wird braun

 

Soll keiner sagen, die Gesellschaften unseres Kontinents stünden ausschließlich unter Kuratel der Wirtschaft und des Bankensektors. Diffuse Ängste, Unfähigkeit zu differenziertem Denken und tradierte Aversionen haben fast überall politische Gruppierungen nach oben gespült, die simple Antworten, dumpfen Zeiten entlehnt, auf komplexe Fragestellungen haben, damit aber keine Lösungen anbieten, sondern die vielen Varianten unartikulierten Unbehagens zu gefährlichem Hass bündeln.

     

Der kleinste asoziale Nenner

 

Der kleine Mann auf der Straße blickt nicht mehr durch – und das ist durchaus verständlich. Da wird das, was er einst als Wert ansah, handle es um erspartes Geld, Sicherheit von Job und Rente, Waren- und Wohnungseigentum oder Güterproduktion, durch eine Cyber-Wirtschaft, deren unbedingter Nutzen nicht belegt ist, und die scheinbar willkürlichen Spielzüge in den globalen Börsen- und Finanzmarkt-Casinos verschoben, verramscht oder vernichtet. Politik und Medien setzen die Situation als gegeben und „alternativlos“ voraus, argumentieren ausschließlich innerhalb dieses geschlossenen Systems und erklären nicht, was auch sie selbst kaum verstehen und nicht verändern wollen bzw. können.

 

Da kommen Hunderttausende von Flüchtlingen, die ihre Entwurzelung unter anderem auch strategischen EU- und NATO-Manövern zu verdanken haben, deren Aufnahme für Deutschland zwar eine Belastung, aber keine Schicksalsfrage darstellt (Angesichts der demografischen Entwicklung sprechen manche sogar von einer Chance.), den furchtbaren Vereinfachern von Pegida und AFD gerade recht. Der zugewanderte Orientale oder Afrikaner ist plötzlich an allem schuld, an der Sexual- und Straßenkriminalität, an Langzeitarbeitslosigkeit, am Fehlen der Mittel für Bildung, Sozialwesen und bauliche Infrastruktur. Die Brunnen der öffentlichen Meinung in Internet und Hörensagen werden von deutschnationalen Populisten mittels ähnlicher Lügen vergiftet, die in mittelalterlichen Pestzeiten dazu dienten, die Juden als Verursacher der Seuche per Kontaminierung des Trinkwassers zu verleumden und zu verfolgen.

 

Nun ist die um sich greifende Xenophobie, die der AFD überwiegend zweistellige Prozentzahlen in den Wahlprognosen verheißt, kein bundesdeutsches Phänomen. Im Gegenteil: Diesmal sind die Ultra-Rechten in anderen europäischen Ländern schon viel weiter als ihre Freunde bei uns.

 

Hitliste der Fremdenfeindlichkeit

 

Das einst als tolerant geltende Skandinavien macht derzeit eine erschreckende Entwicklung durch: In Stockholm würden Umfragen zufolge derzeit die Schwedendemokraten, eine Partei, die in ihrem Fremdenhass, der mit Homophobie gepaarten völkischen Familien-Auffassung und einer neoliberalen Wirtschaftsaffinität ein wenig an den US-Berserker Donald Trump erinnert, bei Wahlen zur stärksten Partei. Sie könnten dann vermutlich mitregieren – ein Stufe, die ihre Gesinnungsgenossen in den Nachbarländern schon längst genommen haben. Die Dänische Volkspartei duldet als zweite Kraft im Parlament eine liberal-konservative Minderheitsregierung, die sich durch Implementierung rigider Grenzkontrollen und eines inhumanen Einwanderungsgesetzes dafür bedankt hat. In Helsinki bilden Die Finnen, eine einst verpönte Rechtsaußen-Partei, eine Koalition zusammen mit den Konservativen.

 

Auch außerhalb der EU machen die Populisten Staatskarriere: In Norwegen stellt die Fortschrittspartei (Frp) acht Minister in der gemeinsam mit den Konservativen gebildeten Minderheitsregierung, die von den Liberalen (!) und den Christdemokraten (!) toleriert wird (ähnlich übrigens die Verhältnisse auf der anderen Insel der formalen Neutralität, der Schweiz, wo die rechtspopulistische SVP die stärkste Partei ist). Was die Konstellation in Oslo besonders anrüchig macht: Ausgerechnet in der Jugendorganisation der Frp durchlief Anders Breivik, der bei zwei Massakern 77 Menschen umbrachte, um so vor der „Islamisierung Norwegens“ zu warnen, seine politische Sozialisation.

 

In mehreren osteuropäischen EU-Staaten, allen voran Ungarn und Polen, übernehmen bereits die Regierungen den fremdenfeindlichen Part und rauben so den Neonazis wie den Magyaren-Faschisten von Jobbik das Hauptthema. Im benachbarten Österreich wäre bei landesweiten Wahlen im Augenblick die FPÖ, einst international geächtet, dann kurzzeitig mit den Konservativen der Österreichischen Volkspartei zu einer Regierungskoalition vermählt, die stärkste Partei. Ihr Vorsitzender Heinz-Christian Strache, einer der europaweit schärfsten Hetzer gegen die Fremdenflut, ging bei dem rechtsradikalen Südtirol-Terroristen Norbert Burger in die ideologische Lehre und war 1989 auch gern gesehener Gast bei einem Treffen der neonazistischen Wiking-Jugend nahe Fulda.

 

Nicht besser sieht es im Westen des Kontinents aus. In Großbritannien wurde UKIP mit 28 Prozent stärkste Partei bei den Wahlen zum Europa-Parlament. Deren Hauptforderung, der Austritt des Königreichs aus der EU, ließe sich vielleicht mit dem Status der Brüssel-Legislative als Befehlsempfänger des enthemmten Marktes rechtfertigen, nicht aber mit der Instrumentalisierung uralter Vorurteile gegen Ausländer durch die Truppe von Nigel Farage. Auch die Ablehnung jeglicher Klimaschutz-Politik sowie der Europäischen Konvention für Menschenrechte und die Drohung, die Zahl der Haftzellen verdoppeln zu lassen, weisen UKIP als kleinbürgerlich-nationalistische Partei aus.

 

Während der offen rechtsradikale Vlaams Belang, der die Loslösung Flanderns von Belgien fordert und so an der Küste einen Bürgermeisterposten nach dem anderen erobern konnte, wie ein Relikt aus chauvinistischen Urzeiten wirkt, haben sich Marie Le Pen in Frankreich und Geert Wilders in den Niederlanden zu Ikonen des modernen, in der Erscheinungsform sanften, in der Konsequenz aber brutal effektiven Nationalismus gemausert. Beide führen die laut Demoskopie derzeit beliebtesten Parteien ihrer Länder an. Marie Le Pen hat ihren Vater, den polternden Antisemiten Jean-Marie, aus dem einst von ihm gegründeten Front National geworfen und dient sich in gebremstem Ton und mit vergifteter Rhetorik erfolgreich dem Bürgertum an. Wilders könnte an der Spitze seiner Ein-Mann-Partei PPV als liberaler Bonvivant mit durchaus berechtigter Kritik an den Regierenden durchgehen, wären da nicht die Fremdenfeindlichkeit und die Islamophobie, die er hinter freundlicher Fassade zum Programm erklärt hat.

 

Im Süden hat sich die Lega Nord, die einst mit dem Ziel der Trennung des fleißigen Norditaliens von den faulen Regionen des Mezzogiorno gestartet war, eines Besseren besonnen, kämpft inzwischen gegen Zuwanderung und umwirbt nun auch die Neapolitaner und Sizilianer – mit dem Erfolg, dass sie als drittstärkste Partei gehandelt wird. Und als ob des europäischen Elends nicht schon genug sei, mischt sich Wladimir Putin, auf Revanche wegen der NATO-Machtspiele an den russischen Grenzen bedacht, im Westen ein und knüpft enge Beziehungen zur britischen UKIP, zu Marie Le Pens Front National, zu den ungarischen Jobbik-Faschisten und – dem Vernehmen nach – auch zur AFD. Angesichts der wenig kosmopolitisch geprägten Stimmung und des Faibles für aggressives heimisches Großkapital in Moskau ist zu befürchten, dass es sich nicht nur um einen taktischen Schachzug, sondern (zusätzlich) um ehrliche Sympathie handelt.

 

Mit Kreide zur Salonfähigkeit

 

Die Tölpel von der AFD würden auf Dauer kaum eine Gefahr für das politische Klima hierzulande darstellen, versuchten nicht die anderen Parteien von der Union über die SPD bis hin zu den Kretschmann-Grünen, den Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie peu à peu deren Forderungen übernehmen und erfüllen. Ob fremdenfeindliche Inhalte durchgesetzt werden, weil die Chauvinisten selbst sie in den Entscheidungsgremien lanciert oder weil die bürgerlichen Strategen sie aus Angst um rechte Stimmen und vor rechten Stimmungen realisiert haben, bleibt sich im Endeffekt gleich (zumal die Positionen von AFD und Pegida gar nicht so weit von denen großer Teile der Union entfernt sind).  

Noch bedrohlicher lässt sich die Situation in anderen Ländern an, wo geschicktere Rechtspopulisten mit beträchtlichem Erfolg direkt das Zentrum der politischen Macht anstreben. Die Parteien der „Mitte“ koalieren mit den Rechtsextremen oder lassen ihre Minderheitskabinette von ihnen dulden – selbstverständlich nicht ohne ihnen inhaltlich bis zur Selbstaufgabe entgegenzukommen. Und diese Sündenfälle werden die gesellschaftliche Atmosphäre des gesamten Kontinents für die nächsten Jahrzehnte vergiften.

 

Denn egal, wie viel Kreide die Le Pens, Farages oder Wilders gefressen haben, wie moderat sie sich aus taktischen Gründen geben mögen, das Gründungsmotiv ihrer Parteien war die Ausgrenzung  von Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe und Religion, und inhaltlicher Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit wird immer die Alimentierung, Intensivierung und Instrumentalisierung faschistoider kleinbürgerlicher Ressentiments bleiben.

 

02/2016

Dazu auch:

Schweizer Braun im Archiv dieser Rubrik

    


 

Moral à la Turque

 

In erster Linie neigt der türkische Staatspräsident Recep Tayyit Erdoğan autokratischer Herrschaftsform zu, an zweiter Stelle steht bei ihm das Faible für den ungehemmten Kapitalismus und erst die dritte Position in der Rangliste seiner Vorlieben nimmt eine Art nationalistischer Islamismus ein. Da letzterer vernachlässigbar scheint und die wichtigsten EU-Staaten mit den beiden ersten Präferenzen prächtig leben können, steht einem erfolgreichen Kuhhandel um die Zukunft Hunderttausender von Menschen nicht mehr viel im Wege.

 

Menschentausch und Milliarden-Deal

 

Man wird sich bei den Verhandlungen zwischen der EU und Ankara wohl bald auf weitgehende Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger einigen können (wogegen nichts einzuwenden wäre). Man wird den bislang drei Milliarden Euro noch einmal drei weitere hinterher schicken, damit die Behörden in Süd-Anatolien sich der Flüchtlinge annehmen, die Europa nicht haben will, und ihre Lager ein wenig aufhübschen. Eigentlich ist auch dagegen wenig zu sagen, beherbergt die Türkei doch wesentlich mehr Asylsuchende als alle EU-Staaten zusammen. Brisant aber wird es, wenn man den fragwürdigen Deal analysiert, den Ankaras Außenminister Davonoglu vorschlägt und den Brüssel möglicherweise zähneknirschend annehmen wird – von Zweifeln geschüttelt nicht aus humanitären Erwägungen, sondern wegen der Halsstarrigkeit einiger Mitgliedsländer, die partout nicht ihr Quantum an Moslems, Afrikanern und anderen in Europa unwillkommenen Flüchtigen aufnehmen wollen.

 

Tatsächlich beinhaltet der türkische Plan einen Tauschhandel, der die hilfesuchenden Menschen als Manövriermasse definiert, die man willkürlich hin- und herschiebt, bis man die einen in den Kriegsgebieten verschwinden lassen kann, während andere, Handverlesene, weiter nach Europa dürfen. Die türkischen Behörden würden verhindern, dass die Asylbewerber, die sie selbst als Illegale oder Wirtschaftsflüchtlinge klassifizieren, auf die griechischen Inseln gelangen, während die EU im Gegenzug die gleiche Anzahl syrischer Verfolgter aus den anatolischen Lagern aufnimmt. In unvergleichlicher Kulanz bietet die Türkei sogar an, Unerwünschte von Griechenland zurückzunehmen und sie eigenhändig in ihre heimatlichen Krisengebiete zu überstellen.

 

Pech des falschen Geburtsorts oder eines unzureichenden Fluchtgrunds für Afghanen, Sahel-Bewohner oder Ugander, die als Homosexuelle massakriert werden! Sie werden spurlos aus den Wartelisten und überhaupt aus dem öffentlichen Interesse verschwinden. Angela Merkels Willkommensbotschaft war möglicherweise unvollständig zitiert worden, vielleicht hätte sie ursprünglich lauten sollen: „Wir schaffen das – weg!“

  

Realistisch die Augen schließen

 

Alle maßgeblichen Politikdarsteller in Berlin (und München) nehmen derzeit für sich in Anspruch, in der Flüchtlingsfrage realistisch zu handeln, wie vor ihnen schon die Kollegen in Mazedonien, Slowenien, Österreich, Schweden und so weiter. Realistisch heißt in diesem Zusammenhang: Hunderttausenden den Zugang zu menschenwürdigen Verhältnissen zu verwehren, das sinnigerweise zuvor bettelarm gesparte Griechenland mit den verzweifelten Massen allein zu lassen, zu verhindern und zu blockieren, abzuriegeln, Soldaten und Polizisten in Marsch zu setzen (statt die Immigranten aufzunehmen, ihnen Chancen auf Sicherheit, Arbeit und Bildung zu eröffnen), die Augen vor den Ursachen in der Vergangenheit und vor der Verewigung des Elends, das in der Zukunft die Flüchtlinge erwartet, zu verschließen.

 

Realistisch im Sinne einer nüchternen Analyse des eigenen Handels und dessen Folgen hätten die maßgeblichen EU-Staaten sein sollen, als sie durch politische Intrigen, verdeckte oder offene militärische Interventionen und ungehemmte Waffenexporte mithalfen, die Herkunftsländer unbewohnbar zu machen, als ihre Marktmacht ungezügelten Freihandel durchsetzte und so afrikanischen Kleinbauern die Existenzgrundlage raubte. Die EU ist verpflichtet, das Verursacherprinzip und die Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen und die Menschen aufzunehmen!

 

Stattdessen versucht man, sich in Brüssel von der Schuld, der Verantwortung sowie der Anwesenheit von Flüchtlingen auf eigenem Gebiet loszukaufen, und verhandelt dazu notfalls auch von Gleich zu Gleich mit dem Beelzebub. Schon berichtet amnesty international, dass Menschen, die in Kriegsgebiete „repatriiert“ werden sollen, derzeit in türkischen Haftzentren wie dem von Erzerum, das – welch vorausschauende Investition! – mit EU-Mitteln aufgebaut wurde, festgehalten, gefesselt und geschlagen werden. Und was geschieht mit den anderen, mittlerweile Millionen, die aus Syrien oder dem Irak kamen und nun bleiben dürfen – in überfüllten Lagern, ohne Schulen für die Kinder, ohne Arbeit für die Erwachsenen?

 

Die Denkweise der Verantwortlichen in Brüssel orientiert sich an einem vordergründig beruhigenden Leitsatz: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ Dabei hätte doch das Beispiel der Millionen Palästinenser, die nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 flohen und nun seit beinahe einem halben Jahrhundert in jordanischen oder libanesischen Lagern ohne Hoffnung auf Rückkehr oder sonstige Perspektive dahinvegetieren, zu denken geben müssen. Manchmal kehren die Abgeschobenen und Vergessenen doch zurück oder suchen uns in Europa heim, dann aber nicht mehr als Bittsteller und in friedlicher Absicht...

 

Während wenigstens die Grünen in der Person von Claudia Roth und die Linke vor dem Geschäft mit einer aufstrebenden Diktatur (einer Regierungsform, der die EU auch in Ägypten, Saudi-Arabien oder Qatar viel abgewinnen kann) warnten, offenbarten Justizminister Heiko Maas und Generalsekretärin Katarina Barley von der SPD die für diese Partei typische Prinzipientreue und Standhaftigkeit in pucto Menschenrechte: In der Flüchtlingskrise gebe es zur Zusammenarbeit mit der Türkei keine Alternative (Anm.: Copyright A. Merkel), meinte Barley. Das Vorgehen der Regierung in Ankara (Anm.: gegen Kurden, kritische Medien, Demonstranten, Angehörige verunglückter Bergleute etc.) dürfe nicht dazu führen, dass man nicht mehr mit der Türkei rede, sagte Maas. Was muss Erdoğan eigentlich noch alles anstellen, um sich als bevorzugter Gesprächspartner zu diskreditieren?

 

Warten auf die nächsten Verfolgten

 

In weiten Teilen des östlichen Anatolien herrscht Krieg. Es scheint, als strebe der EU-Verhandlungspartner Erdoğan hier und in der syrischen Grenzregion die Endlösung der Kurdenfrage an. Türkische Streitkräfte und Polizeieinheiten legen Orte in Schutt und Asche, belagern Großstadtviertel und nehmen den Exodus der aramäischen Christen als Kollateralschaden billigend in Kauf. Die PKK wehrt sich mit Anschlägen auf Kasernen und Militärkonvois. Schon 300.000 Menschen sollen auf der Flucht sein.

 

Es ist durchaus vorstellbar, dass die Türkei, die Mutter aller sicheren Herkunftsländer nach de Maizière ̉scher Definition, der EU zwar bestimmte Kontingente von Asylbewerbern „abnimmt“, aber mit ihren Bombardements im Nordirak, in der syrischen Nachbarschaft und mit ihrem brutalen Vorgehen gegen Kurden und Regime-Kritiker im eigenen Land vergleichsweisel mehr Menschen dazu zwingt, ihr Heil (oder das bloße Überleben) in der Flucht nach Europa zu suchen.

 

03/2016

Dazu auch:

Asyl nach Wert im Archiv dieser Rubrik

Sekundärtugendbold unter Helden unserer Zeit

  


 

Durch die Wüste

 

„Von der Leyen macht Milliarden locker“. So oder ähnlich titelten die Gazetten, als die Verteidigungsministerin ein Investitionsprogramm von 130 Milliarden Euro für die Bundeswehr in den nächsten 15 Jahre ankündigte. Bei der adligen Ursula seien vielleicht ein paar Schrauben unter der gestählten Dauerwelle locker, mutmaßten besorgte Bürger – und lagen völlig falsch mit solcher Unterstellung. Massive Aufrüstung ist nämlich Voraussetzung und Motor zugleich eines von dieser Bundesregierung vorgegebenen Trends zur Expansion; die eifrige Patronin der Streitkräfte will also nur jenen Paradigmenwechsel beschleunigen, mittels dessen ihr Ressort zum Kriegsministerium umgebaut wird, und ihre uniformierten Schützlinge in fremde Länder, etwa ins untergehende Libyen, entsenden.


Wirklich nur 130 Milliarden?

 

Um es vorauszuschicken: Der Verteidigungshaushalt wird 2016 mit über 34 Milliarden Euro wieder der zweitgrößte Ressortposten des bundesdeutschen Etats sein – eine hübsche Summe für ein Land, von dessen Boden nach dem frommen Wunsch Willy Brandts nie wieder Krieg ausgehen sollte. Der zuständigen Ministerin Ursula von der Leyen, einer Inkarnation politischen Ehrgeizes, gepaart mit bedenkenlosem Aktionismus, reicht das Geld trotzdem nicht. Sie fordert ein gigantisches Investitionsprogramm für die nächsten 15 Jahre, das der Bundeswehr insgesamt 268 Kampf-, Transport- und Schützenpanzer (wobei auch ausrangierte Exemplare von Verschrottungsfirmen und von Nachbarstaaten zurückgekauft werden sollen) sowie 65 Hubschrauber mehr als bisher vorgesehen bescheren soll, dazu noch Haubitzen, moderne Hard- und Software für den Cyber-Krieg und an die 1.500 weitere Rüstungsprojekte.

 

Und Finanzminister Schäuble, der den Bundeshaushalt gegen jeden Versuch der Länder und Kommunen, ein paar Mittel für die Integration von Flüchtlingen loszueisen, verteidigt wie Onkel Dagobert seinen Entenhausener Geldspeicher, nickt das kecke Begehren wohlwollend ab, behält er doch stets das Wohl der deutschen Waffenproduzenten, die andernfalls noch mehr an Schurkenstaaten und marodierende Milizen verkaufen müssten, im besorgten Auge. Prompt stieg die Aktie der Waffenschmiede Rheinmetall fast auf ein Allzeit-Hoch, rechnen die Manager doch mit der Verdoppelung des Umsatzes ihrer Rüstungssparte, wenn die Verteidigungsministerin ihre Pläne durchsetzt.

 

Die SPD, staatstragend und wirtschaftsdevot bis zur Selbstaufgabe, hat ebenfalls bereits grundsätzliche Zustimmung zur Mega-Aufrüstung signalisiert, auch wenn ihr Militärexperte Rainer Arnold warnt, der Wehretat werde künftig pro Jahr um weitere sechs Milliarden Euro über die Prognose der Ministerin hinaus steigen, zumal ja auch mehr Personal zum Hantieren mit dem neuen (oder recycelten) Kriegsspielzeug benötigt werde. Wenn sich der trotz alledem kriegsbereite Sozialdemokrat da bloß nicht verrechnet hat! Es wird nämlich alles nach den simplen Determinismen unserer Beschaffungssysteme noch viel teurer kommen…

 

Wenn die Rüstungsaufträge ausgeschrieben werden, wird sich, wie üblich, die vereinbarte Summe zwischen Zuschlag und Auslieferung zumindest verdoppeln. Mehr technologisch komplexe Waffensysteme erfordern auch eine aufwendigere und kostspieligere Wartung – selbst wenn nach bisheriger Erfahrung später allenfalls die Hälfte des Kriegsgeräts rollt, fliegt, schwimmt oder schießt. Wenn man die Scheunen schon voller neuer Waffen hat, möchte man die auch unter realen Bedingungen, also in asiatischen oder afrikanischen Ländern (neuestes Traumziel: Libyen), die gemeinhin unter dem Begriff failed states laufen, ausprobieren. Das erfordert mehr Leute, besser ausgebildete Kräfte, höher bezahlte Spezialrambos sowie Rückstellungen für Invaliden- und Hinterbliebenenrenten.

 

Nehmen wir einmal an, der Etat des Verteidigungsministeriums bliebe für die nächsten 15 Jahre exakt auf dem heutigen Stand, ergäbe sich die Summe von 513 Milliarden Euro, die der Steuerzahler in dieser Zeit für die Wehrhaftigkeit der Republik und das Gedeihen von Rheinmetall, DiehlKraus-Maffei Wegman & Co. aufzubringen hätte. Rechnet man die Mehrkosten durch Frau von der Leyens Shopping-Tour sowie die routinemäßigen jährlichen Haushaltssteigerungen von 3 bis 4 Prozent hinzu, berücksichtigt man die vom Sozialdemokraten Arnold erwarteten Erhöhungen und kalkuliert die üblichen Kostenexplosionen während der Entwicklung und Produktion, eine (derzeit allerdings mäßige) Inflationsrate sowie exponentiell steigende Wartungskosten (für halb marodes Gerät oder neue Systeme, die noch nicht recht funktionieren) ein, so darf man getrost erwarten, dass sich sich die Gesamtkosten für den genannten Zeitraum gemächlich, aber sicher auf die Billion Euro zu bewegen werden.

 

Die friedfertige Bundesrepublik gibt solche Unsummen selbstverständlich nur aus, weil sie – so sagen es uns wenigstens unsere Vordenker in Wirtschaft und Regierung – angesichts ihrer wachsenden Bedeutung in der Völkergemeinschaft mehr Verantwortung übernehmen muss. Und für die Steinmeiers und von der Leyens kommt - in zeitgemäßer Abwandlung eines Mao-Zitats – die Verantwortung aus den Gewehrläufen.

 

Die neue BRD-Rolle: Frieden war gestern!

 

In den letzten Jahren fand keine Sicherheitskonferenz, kein NATO-Treffen und kaum ein Meeting eines bedeutenden Think Tanks weltweit statt, ohne dass ein Festredner aus der ersten Berliner Politikergarde auf die veränderte Rolle der Bundesrepublik im geostrategischen Machtspiel hingewiesen hätte. Die Botschaft, ob aus Gaucks, Gabriels oder Merkels Mund, lautete stets: Künftig werden wir auch mit Waffengewalt und in den entlegensten Ländern das verteidigen, was wir unter Demokratie und Freiheit verstehen – auch wenn ganze Staaten zerfallen, Weltregionen ausbluten und Millionen in die Flucht getrieben werden.

 

Die moralische und materielle Unterstützung des Westens galt aber nie dem Kampf der „verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) um Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit oder eine Existenz ohne Angst und Hunger, sondern immer nur der Stärkung der eigenen militärischen Position, der Implementierung wirtschaftlicher Hegemonie oder dem „Schutz unserer Handelswege“, wie der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler einst in dankenswerter Offenheit erklärte.

 

Für diese Ziele wurden die finstersten Diktaturen unterstützt, ausgedehnte Regionen mit Waffen geflutet, ganze Staaten destabilisiert und völkerrechtswidrige Kriege geführt. Eine Weile sahen die Bonner, dann Berliner Regierungen dabei nur zu und leisteten lediglich ideellen (und höchstens klammheimlich materiellen) Beistand, zu bedrückend wirkte noch die Erinnerung an die Ergebnisse und Folgen deutscher Waffentaten nach. Dann leistete sich ausgerechnet das rot-grüne Kabinett Schröder/Fischer den Sündenfall und ließ während der Kosovo-Sezession ohne jede Legitimation Serbien bombardieren.

 

Ursula von der Leyen indes möchte die deutsche Militärpräsenz auf den Flugsandfeldern asymmetrischer Kriege ausweiten, visiert ein quantitativ wie qualitativ höheres Niveau der aktiven Interessenvertretung per Mehrung planmäßiger Stahlgewitter an. Irak, Mali, Libanon – die Namen gefährdeter oder bereits zerstörter Staaten purzeln wie in einem Länder-Quiz von ihren dezent geschminkten Lippen und hören sich in den geneigten Ohren der meisten Unions- und SPD-Parlamentarier als Übungsorte für die Bundeswehr und ihr neues Gerät gar nicht so schlecht an. Dabei würde eine kurze Geschichte der bisherigen NATO-Abenteuer die nachdenklichen Gemüter unter ihnen eines Besseren belehren.

  

Interventionskatastrophen

 

Die Liste gescheiterter Militäroperationen der NATO-Alliierten in Staaten der Dritten Welt ist lang. Vor allem die USA als unser primus inter pares wissen ein traurig` Lied davon zu singen, selbst wenn man nur die jüngere Vergangenheit berücksichtigt und die krachende Niederlage in Vietnam außen vor lässt. Als die UDSSR, die sich schon zuvor verrechnet hatte, 1989 ihre Interventionstruppen aus Afghanistan abzog, existierte wenigstens noch eine Zentralregierung in Kabul. Nachdem der Westen unter Washingtons Führung diese mit Hilfe von verbündeten Zeloten, die er wenig später selbst bekämpfen sollte, aus dem Amt gejagt hatte, zerfiel das Land endgültig. Die NATO-Truppen, die seit 2001 Freiheit und Demokratie im Sinne des Pentagons und der Wallstreet durchsetzen sollten, agierten hilflos zwischen korrupten Politikern, lokalen Warlords, aufstrebenden Opiumhändlern und wiedererstarkten Taliban.

 

Die Bundeswehr, die sich clever das sicherste Stück Afghanistans, den Norden um Kunduz und Mazar-i-Sharif, zur Bewachung ausgesucht hatte, muss inzwischen verblüfft feststellen, dass die Region, die einst fast völlig frei von islamistischen Kämpfern war, nach 15 Jahren heldenhaften deutschen Einsatzes vor Taliban wimmelt. Jetzt möchte man eigentlich abziehen, obwohl oder weil man nichts erreicht hat, doch die unternehmungslustige Verteidigungsministerin will die Katastrophe verewigen, hält ein sinnloses Restmandat aufrecht und lässt es sogar erweitern.

 

Im Irak zerstörten die USA in zwei Kriegen, von denen der letztere aus besonders durchsichtig fingierten Gründen begonnen wurde, nicht nur eine Diktatur, sondern die gesamte Infrastruktur einer halbwegs entwickelten Gesellschaft und selbst die winzigste noch vorhandene Balance zwischen Religionen und Ethnien. Der Schläue Gerhard Schröders ist es zu verdanken, dass Deutschland zwar durch seine Geheimdienste mitmischte, sich aber offiziell die Hände in der Unschuld der Friedensliebe wusch. Eine von der Leyen hätte vermutlich ganz anders zugelangt, wäre sie damals schon für die potentiellen Märtyrer in Uniform zuständig gewesen. Immerhin lässt sie jetzt kurdische Peschmerga von der Bundeswehr an flugs gelieferten Waffen für den Krieg gegen den IS ausbilden. Dabei wird großzügig übersehen, dass nicht die Truppen des korrupten Barzani-Regimes in Erbil die Islamisten aus Kobane vertrieben und die Jesiden, Christen und Turkmenen im Sinjar-Gebirge vor der Eliminierung retteten, sondern die Kämpfer der türkisch-kurdischen PKK und der mit ihr verbündeten syrischen YPG – Terroristen nach deutsch-osmanischer Lesart.

 

Somalia, wo sich zunächst die US-Army, dann weitere NATO-Truppen, darunter ein deutsches Kontingent, als bewaffnete Friedensstifter blutige Nasen oder Tropenkrankheiten holten, existiert de facto nicht mehr. Nur mit der Entwicklung in Ägypten kann die westliche Staatengemeinschaft rundum zufrieden sein, gelang es doch, für den korrupten und brutalen Autokraten Mubarak nach kurzer Irritation durch den arabischen Frühling  einen noch rigideren, aber gewogenen Militärmachthaber, General as-Sisi, zu installieren. In Mali wiederum hilft die Bundeswehr der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die einst durch willkürliche Grenzziehungen den Urgrund für den Aufstand der heimatlosen Tuareg schuf und jetzt im Norden des Landes eine undurchsichtige Rolle im Streit um die wertvollen Uranreserven spielt.

 

Doch Ursula von der Leyen ist gedanklich bereits längst weiter. Jetzt sieht die Ikone des rasanten Interventionismus die NATO- und EU-Truppen schon in Libyen - noch so ein Land, das, unter dem Vorwand, einen Diktator beseitigen zu wollen, mittels Bewaffnung und Finanzierung der unterschiedlichsten Milizen gänzlich zerschlagen wurde.

 

Auf den Spuren von Karl May

 

Fast scheint es, als hätte die Verteidigungsministerin in ihrer Jugend Gender-unspezifisch den eigentlich Buben vorbehaltenen Karl May gelesen, der sein Alter Ego Kara Ben Nemsi  in den ersten drei Bänden der Gesamtausgabe „Durch die Wüste“, „Durchs wilde Kurdistan“ und „Von Bagdad nach Stambul“ reiten ließ. Nun hatte der Phantast aus Radebeul die Länder, die er beschrieb, im Gegensatz zur Chefin der Hardthöhe, die sich an dem einen oder anderen Ort schon mal zu einem kurzen Fototermin einfand, nie gesehen. Dennoch sind seine damaligen Einschätzungen der historisch-politischen Situation dort auch heute noch kaum realitätsferner als die aktuellen einer Ursula von der Leyen, zumal ihr listige Ratgeber vom Schlage eines Hadschi Halef Omar fehlen. 

 

Dabei wollten von der Leyen und ihre NATO-Verbündeten diesmal besonders geschickt vorgehen: Sie betrieben die Bildung einer libyschen „Einheitsregierung“ aus wenig bekannten oder übel beleumundeten Persönlichkeiten. Die Hauptaufgabe des Marionetten-Regimes sollte darin bestehen, den Westen um Waffen und Soldaten gegen die von der Küste bei Sirte aus immer weiter vorstoßenden IS-Kämpfer zu bitten. Pech nur, dass keine einzige der wichtigen kriegsführenden Parteien die so sorgsam gefakte Regierung anerkannte! Wo selbst der getürkte Hilferuf ausbleibt, ist eine direkte Intervention leider schlecht zu rechtfertigen.

 

Also kündigte die Verteidigungsministerin unverdrossen an, deutsche Militärs würden künftig im benachbarten Tunesien libysche Milizen für den Krieg gegen den IS trainieren – eine prächtige Gelegenheit, auch noch diesen labilen Staat in den Konflikt hineinzuziehen und in den Untiefen halbgarer NATO-Strategien zerschellen zu lassen (interne Unruhen, Gewaltexzesse und Massenflucht inklusive).

 

In Deutschland fehlt es an Inklusionspädagogen, KiTa-, Krippen- sowie Hortpersonal, und die vorhandenen Erzieher werden miserabel bezahlt. Bis zu 6.000 Fernverkehrsbrücken sind marode (Geld ist nur für die Reparatur von 78 vorhanden.), und die Kinderarmut nimmt stetig zu. Milliarden, die allerorten für die Instandhaltung der Infrastruktur gebraucht würden (von Verbesserungen ganz zu schweigen), fließen in den Rückkauf alter und den Erwerb neuer Waffensysteme. Frau von der Leyen möchte sich aber nicht dem Vorwurf aussetzen, nutzlose Güter anzuhäufen; also will sie, eine Herrenriege aus Bündnispolitikern, „Militärexperten“, Handelsstrategen und Waffenbauern hinter sich wissend, baldmöglichst Krieg führen, und zwar ausgiebig und mit nachhaltiger Wirkung.


01/2016

 

Dazu auch

FREEDOM & DEMOCRACY im Archiv dieser Rubrik




2015


     


Die Christuskrieger

  

Die Terroristen des IS haben die Angst vor Tod und Zerstörung von den syrischen und irakischen Wüstenregionen in das Herz des Abendlandes getragen und provozieren damit wieder jene reflexartige Bombenreplik des Westens, die noch nirgends erfolgreich war. Wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregt dagegen der Vormarsch christlicher Gotteskrieger auf drei Kontinenten, ein globaler Kreuzzug, der weniger spektakulär als die Attacken der islamistischen Zeloten vor sich geht, aber für Andersgläubige, politisch Andersdenkende oder sexuell anders Orientierte ähnlich tödliche Konsequenzen haben kann.

 

Eroberer aus den USA

 

Fast immer wenn Papst Franciscus auf seinen Reisen den Boden eines Drittwelt-Landes betritt, hat er ein Déjà-vu-Erlebnis: Die protestantischen Fundamentalisten sind schon da und konkurrieren mit seiner römischen Kirche immer effizienter um die christliche Meinungsführerschaft. Auf seinem letzten Afrika-Trip machte der Heilige Vater u. a. Station in Uganda, einem Land, in dem es mittlerweile mehr Evangelikale gibt als Katholiken. Und diese von US-Freikirchen missionierten und ideologisch betreuten Jesus-Extremisten hatten gerade erst ein Gesetz durchgesetzt, das die Todesstrafe für Homosexuelle vorsah (und das nur wegen eines Formfehlers vom Verfassungsgericht in Kampala kassiert wurde).

 

Südlich der Sahara propagieren mittlerweile rund 190 Millionen Anhänger von Pfingstgemeinden oder Megachurches die streng rechte Weltanschauung der nordamerikanischen Evangelikalen und Charismatiker. In Ländern wie Kenia, Nigeria, Ruanda, Sambia oder Uganda ist in Vergessenheit geraten, dass die zum großen Teil aus den US-Südstaaten stammenden Ideologen des Sozialcalvinismus es einst mit dem Apartheid-Regime in Pretoria hielten. In Lateinamerika, das einst als katholischste aller Weltregionen galt, haben die Bibel-Fundamentalisten nicht nur Fuß gefasst, sondern greifen – mittlerweile in der Gesamtstärke von 130 Millionen Gläubigen – vor allem in Staaten wie Brasilien, Argentinien, Chile, Kolumbien und Nicaragua die Vormachtstellung der römischen Kurie an. Ähnliche Erfolge haben die Christuskrieger in Asien zu verzeichnen.

 

Nun könnte man meinen, inter-konfessionelle Streitigkeiten im Lager Jesu müssten Beobachter, die ohne das mythologische Brimborium einer Religion, also auch ohne die wunderbare Sagen- und Legendenwelt der christlichen Testamente auskommen, nicht weiter interessieren, doch erweist sich der von den USA aus gesteuerte Vormarsch der Evangelikalen als politisch-soziales Roll-back von gefährlichen Ausmaßen. Zwar existieren auch gemäßigte Strömungen im Sammelsurium der Yankee-Freikirchen (einer davon gehörte Ex-Präsident Jimmy Carter an), doch die Mehrheit der "Erneuerungsbewegung" (zu der auch der qua Erweckungserlebnis wiedergeborene George W. Bush zählt), kämpft mit allen Mitteln gegen den Humanismus, den Sozialismus, die als unchristlich charakterisierte Katholische Kirche und sogar gegen die als zu liberal denunzierten Anglikaner. Auch Antisemiten und andere Rassisten wie etwa die Neonazis des White Aryan Resistance finden ihre religiöse Heimat im fanatischen Neo-Protestantismus. Was die meisten Fundamentalisten eint, ist ihr strategisches Ziel: die Implementierung eines rigide reaktionären, turbokapitalistischen Systems mit religiöser Legitimation und mittelalterlicher Ethik.

 

Kein Urknall, kein Darwin, keine Affen

 

Die Katholische Kirche unterdrückte jahrhundertelang wissenschaftliche Erkenntnisse und astronomische oder anthropologische Forschung, wenn sie den Vatikan-Zentrismus und die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments in Frage stellten. Nach und nach arrangierte sich Rom aber mit dem neuen Weltbild und passte die eigenen Dogmen möglichst unauffällig ein. Für die protestantischen Fundamentalisten in den USA indes hat die Bibel immer noch buchstäblich Recht. Entstehung des Universums durch den Urknall? Abstammung des homo sapiens vom Menschenaffen? Die Lehren Darwins, Einsteins oder Hawkins`? Alles atheistischer Humbug! Mensch und Erde wurden von Gott so erschaffen, wie es das 1. Buch Mose, die Genesis, verkündet. Der Griff nach politischer und ökonomischer Macht wird apodiktisch mit der ewigen Gültigkeit prähistorischer und antiker Erzählungen und  Allegorien gerechtfertigt. An eigens dafür gegründeten Universitäten „erklären“ smarte Theologie-Professoren die Absurditäten und Widersprüche mittels Hilfskonstruktionen und Pseudo-Lehren wie dem Kreationismus oder dem Intelligent Design.

 

Zwar gebärden sich radikale Charismatiker verbal ähnlich intolerant und fanatisch wie die Islamisten des IS, doch unterscheiden sie sich in der Strategie deutlich von den Amokläufern Allahs und deren machtbewussten Lenkern: Sie versprechen den Gläubigen im Falle des Märtyrertodes nicht Unzucht mit Jungfrauen im fernen Paradies, sie stellen ihnen stattdessen Erfolg und Geld auf Erden in Aussicht. Sie versuchen auch nicht, einen auf einer kruden Utopie basierenden eigenen Staat (das Kalifat) zu errichten, sie verbünden sich lieber mit Wirtschaftsmagnaten, Politikern und Diktatoren, wenn diese nur reaktionär genug sind und Schwule, Gewerkschafter, Atheisten und weiteres Gesocks mit ausreichender Brutalität bekämpfen.

 

Beinahe jeder zehnte US-Amerikaner hängt einer religiösen Ideologie an, die in ihrer gedanklichen Fundierung dem salafistischen Glauben an Irrationalität in nichts nachsteht. Senatoren, Präsidenten und Finanz-Tycoons leiten aus ihr die Lizenz zur Ausgrenzung von Minderheiten und Unterprivilegierten, zur Verteidigung der eigenen Macht mit allen Mitteln und zur imperialistischen Landnahme ab. In der Regel schockieren die evangelikalen Führer nicht mit Horror-Videos und Selbstmordattentaten à la IS, sie lassen in anderen Staaten töten, von korrupten Militärs, Todesschwadronen oder Söldnern. Einer der Ihren, der einstige Diktator von Guatemala, General Ríos Montt, hält einen traurigen Rekord auf dem lateinamerikanischen Subkontinent: Während seiner nur anderthalb Jahre dauernden Herrschaft wurden 70.000 Menschen, mehrheitlich Maya-Indianer, von seinen Sicherheitskräften massakriert.

 

Dass die Freikirchen sich den neutestamentarischen Geboten der Nächstenliebe, der Vergebung und der Bescheidenheit in materiellen Dingen derart rigoros entziehen können, verdanken sie dem Genfer Reformator Johannes Calvin, der die karitativen Euphemismen der Katholischen Kirche auf den Müllhaufen der Religionsgeschichte warf und dem heraufziehenden Kapitalismus einen theologischen Weg ohne kleinliche Skrupel oder soziale Bedenken ebnete.

 

Calvins Faible für den Erfolg hienieden

 

Gemäß Calvins Doktrin konnte sich der Erdenbürger einen Platz im Himmelreich weder durch gute Werke noch durch tätige Reue erarbeiten, der Aufstiegsaspirant hatte allein auf die göttliche Gnade zu hoffen. Um dieses kryptische Kriterium seinen Anhängern wenigstens ansatzweise zu erläutern (und wohl auch, um es für die Verunsicherten zu relativieren), deutete der Reformer an, dass Erfolg und Wohlstand hienieden ein irdischer Widerschein des künftigen Ewiglebens seien. Befreit von der Almosenseligkeit, der (verlogenen) Sozialethik und dem scheinheiligen Lob der Armut, Inhalten also, die feiste römische Bischöfe ihren Schäflein zwecks Gewissensberuhigung predigten, konnten calvinistische Produzenten, Handelsherren und Bankiers nun erst recht nach Herzenslust wuchern, ausbeuten und übervorteilen.

 

Die US-Evangelikalen, deren Freikirchen und Sekten fast ausnahmslos dem Calvinismus entsprangen, stellen folglich auch nicht die jenseitige Seligkeit, sondern das diesseitige Wohlergehen in den Vordergrund ihrer Propaganda. Mit dem Versprechen, jeden, der rücksichtslos genug dazu ist, zum Schmied seines eigenen Glücks, zum Mehrer des Privatvermögens auch auf Kosten anderer zu machen, ködern die protestantischen Fundamentalisten auf ihren Missionsfeldzügen in der Dritten Welt nicht nur Angehörige des Mittelstands, sondern auch Slum-Bewohner, die von den grauen Eminenzen im nordamerikanischen Bible Belt und ihren militärischen und politischen Helfershelfern vor Ort eigentlich insgeheim verachtet werden.

    

Brutaler Terror und latente Gewalt

 

Man hört und liest wenig über den Vormarsch westlicher Gotteskrieger in diesen Tagen. Das liegt daran, dass die Vordenker eines weltumspannenden Kapitalismus mit christlichem Antlitz und alttestamentarischen Brachialmethoden nicht abgeschlagene Köpfe in die Kamera halten und Konzertbesucher in europäischen Hauptstädten niedermähen, sondern – im schwarzen Anzug, nicht im blutigen Burnus – auf Sicherheitskonferenzen mitmischen, in Trilateralen Kommissionen und anderen Think Tanks sitzen, um mitzuentscheiden, wie die Erde in Marktsegmente aufgeteilt werden kann. In der Konsequenz werden Regierungen erpresst oder gekauft, Ratschläge zum Töten und Aushungern erteilt und bisweilen auch Killer in Marsch gesetzt. Neu an dieser Herangehensweise ist weniger die kriminelle Intention als vielmehr ihre religiöse Überhöhung. Als Kollateralopfer des (gottgewollten) freien Marktes sterben in Uganda Schwule, in El Salvador katholische Befreiungstheologen, in Brasilien Gewerkschaftsmitglieder – und, wenn man sich auf ein gottesfürchtiges Militärregime wie einst in Chile, Argentinien oder Brasilien stützen kann, so ziemlich alle, die sich gegen die globale Zerstörung von Kulturen, Identitäten oder Umweltressourcen stellen.

 

Es mag in Zeiten, da die Anschläge von Paris noch das Denken, das Fühlen und die Urteilskraft in der eisernen Umklammerung von Angst und Panik halten, ketzerisch klingen, ist aber keine grundlose Prognose: Der Islamische Staat (bei dessen Geburt übrigens der Westen und das mit ihm verbündete Saudi-Arabien assistierten) ist eine tödliche Bedrohung, die irgendwann mit vereinten (derzeit noch zerstrittenen) Kräften eingedämmt werden wird, die Eroberung von weiten Teilen der Welt durch den protestantischen Fundamentalismus hingegen läuft unbeachtet, heimlich gebilligt oder sogar staatlich unterstützt ab und wird nachhaltigere, sprich: verheerendere, Folgen zeitigen.

 

12/2015

 

Dazu auch:

Schweizer Braun in derselben Rubrik

Der Schlächter im Archiv dieser Rubrik

 

      


Die Widerlichen

 

Die Terroranschläge von Paris haben in Deutschland eine Klärung der sprachlich-gedanklichen Ausrichtung gewisser Gruppen und Politiker herbeigeführt. Während Bundespastor Gauck verbal den Kriegspräsidenten gibt und Horst Seehofer mit der ihm eigenen Flexibilität nach anfänglicher Verquickung der Attentate mit dem Flüchtlingselend rhetorisch wieder zurückrudert, begibt sich der bayerische Finanz- und Heimatminister Markus Söder wissentlich und mit voller Absicht in jenen Geistesmorast pathologischer Fakten- und Geschichtsklitterer, in dem sich PegidaAFD oder auch Holocaust-Leugner, ohnehin seit geraumer Zeit historischer Logik und politischer Argumentation nicht mehr zugänglich, genüsslich suhlen und aus dem sie ihre Nährstoffe ziehen.

 

Es fällt schwer, Positives über einen bayerischen Ministerpräsidenten, der die Kanzlerin wegen vermeintlicher Mitmenschlichkeit angreift, zu sagen. Seehofer ist ein Zündler, der seinen Opportunismus gern in barockes Gewand kleidet und seine erratischen Vorstellungen, sei es in der Flüchtlingspolitik, bei der PKW-Maut oder in der Energie-Diskussion, als folkloristischen Grant tarnt. Aber der Münchner Regent ist als ausgewiesener Populist wenigstens noch so weit im bürgerlich-politischen Spektrum verortet, dass man ihn kritisieren und seine oft leicht kruden Ideen logisch widerlegen kann. Sein Minister und potentieller Nachfolger Söder hingegen hat das Terrain eines möglichen Diskurses mittlerweile endgültig verlassen; es gibt ein Niveau, auf dem jede Erwiderung und jedes Argument überflüssig sind, weil sie auf Ohren treffen, deren Stöpsel aus der (Pardon, aber hier wären Euphemismen fehl am Platz) geronnenen Scheiße geformt sind, die von den mit ihnen verbundenen Gehirnen zuvor flüssig abgesondert wurden. Mit Neonazis sollte man nicht mehr diskutieren, mit Markus Söder auch nicht.

 

Nur ein paar Stunden nach den Morden – Menschen in aller Welt bekunden ihr Mitgefühl mit den Opfern und deren Angehörigen, andere verfallen in Depressionen ob der zu erwartenden Folgen, NATO-Militärs und ihre Regierungen beginnen gerade erst damit, eine Intensivierung der Strategie, die half, jene Lawine (nach Schäuble-Diktion) loszutreten, die man heute Islamischer Staat nennt, anzukündigen – twittert Markus Söder:

„ParisAttacks ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen.“

 

Fast glaubt man, aus diesen Zeilen eine Art klammheimlicher Freude herauszulesen, die Genugtuung darüber, die sich bislang nicht erfüllenden Horror-Prophezeiungen „besorgter Bürger“, die vor der Überflutung des Abendlandes durch kriminelle Flüchtlingshorden warnen, neu munitionieren zu können; eine Genugtuung, die Söder mit den Pegida-Partnern teilt, die nun nicht mehr um ausreichenden Zulauf zu ihren Verbal-Pogromen auf Deutschlands Straßen fürchten müssen.

 

Denn bisher hat sich das von Feuerhand auf die Bretter vor dem Köpfen der Rechten geschriebene Menetekel nicht bewahrheitet: Die Kriminalitätsrate unter den Flüchtlingen ist erstaunlich niedrig: ein paar Ladendiebstähle, ein bisschen Schwarzfahren, aber keine Vergewaltigungen deutscher Jungfrauen auf offener Straße. Selbst gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Asylbewerbern sind trotz des brisanten Umstands, dass Menschen teils wie Käfighühner untergebracht sind, ziemlich selten. Wie viel strafrechtlich Relevantes passiert gleichzeitig unter Hunderttausenden deutscher Staatsbürger? Und wie viele Verbrechen wurden gegen die Flüchtlinge begangen?

 

Wenn es mit derAngst vor kriminellen Immigranten nicht funktioniert, muss mit der Furcht vor Anschlägen gearbeitet werden. Die Gleichsetzung von Terrorgefahr und Fluchtproblem findet bei den willigen zwei Dritteln der deutschen Bevölkerung regen Anklang, zumal wenn sie oft genug behauptet wird, und dann noch von einem beim Bayerischen Rundfunk angelernten Ex-Journalisten wie Markus Söder, der es allerdings nur zum Moderator im Franken Fernsehen, einem Marginal-Sender, den selbst Lokalpatrioten nur versehentlich einschalten, brachte. Mit routiniertem Timbre in der Stimme entlässt er seit Monaten jene noch darmwarme Gülle aus seinem Bauernschläue wie Skrupellosigkeit widerspiegelnden Gesicht in die Außenwelt, jenes Gemisch aus Fakten, Verdächtigungen und Vorverurteilungen ohne belegbaren Kausalzusammenhang, zu dessen Dekontaminierung angesichts offensichtlicher Hirnrissigkeit zwei beiläufige Anmerkungen genügen sollen:

- Es sind gerade der islamistische Terrorismus und die militärische, von    unseren Rüstungskonzernen alimentierte Gewalt, die Syrer, Iraker und  Afghanen in die Flucht treiben – auf der Suche nach  einem  menschenwürdigen Leben und sicherlich nicht, um uns hier mit  gleicher  Münze heimzuzahlen.

- Alle westlichen Geheimdienste loben die logistischen Fähigkeiten des  IS.  Wenn das selbsternannte Kalifat tatsächlich vereinzelt Attentäter auf  Schlauchbooten über das Mittelmeer nach Europa einschleusen sollte,  dann vor allem mit dem Kalkül, die Asylbewerber, denen al-Baghdadi  ja  die Flucht verboten hat, zu desavouieren, die Opfer als Killer zu  verleumden. Ansonsten schickt uns der IS seine Terroristen mit Visa und  Flugtickets und rekrutiert sie unter den aus der Gesellschaft  gedrängten  Jugendlichen in den banlieues oder unter den kleinen Gaunern in den  Strafvollzugsanstalten.

 

Auf welch fruchtbaren Boden die furchtbaren Vereinfachungen in der xenophoben Gesellschaft hierzulande fallen und wie nonchalant die organisierten Wahrer des deutschen Humors damit umgehen, zeigt die Meldung, dass der Aachener Karnevalsverein trotz interner Kritik daran festhält, Markus Söder im Januar zum Ritter wider den tierischen Ernst zu schlagen. Nun ja, nationale Hybris und Plump-Rhetorik gegen Minderheiten waren immer schon integrale Bestandteile des rheinländischen Frohsinns. Vielleicht gelingt es ja noch, Marie Le Pen als Funkenmariechen und eine stramme Pegida-Staffel als Prinzengarde  für den dann ordengeschmückten widerlichen Ritter zu verpflichten.

  

Nein, man muss sich inhaltlich nicht weiter mit den Söders, Bachmanns und Orbans auseinandersetzen; vielmehr sollte man genau auf die achten, die sich jetzt über die Wortwahl der Hetzer echauffieren, um deren geistige Attacken auf Verantwortung und Menschlichkeit später in der Sache zu billigen und unverfängliche Bezeichnungen für deren inhumane Forderungen zu finden  – im Parlament, in der Fraktion, im Kabinett oder außerhalb der legislativen Politik, in den Medien etwa oder in den Verwaltungen.

 

11/2015


Dazu auch:

Die Flüchtlingsmacher im Archiv dieser Rubrik

Sichere Herkunft ebenfalls im Archiv dieser Rubrik               



 

Hilfe für Pegida?

 

Eigentlich hat sich Pegida trotz der lokalen Ableger mit den lustigen Vorsilben außerhalb des Hardcore-Ostens als ziemlich erbärmliche Schar erwiesen. Meist schleppen sich ein paar Dutzend selbsternannte Retter des Abendlandes durch abgelegene Großstadtstraßen und verkrümeln sich rasch unter dem Schutz der Polizei, wenn sie sich einer mehrfachen Übermacht von Gegnern gegenüber sehen. Doch das Manko einer schlechter Organisation durch halbdebiles Führungspersonal könnte bald behoben werden: Der Verfassungsschutz soll sich künftig um Pegida kümmern.


Auslöser für den Ruf nach den Schlapphüten war eine der üblichen Entgleisungen des Pegida-Mitbegründers Lutz Bachmann auf der Dresdner Montags-Demo seines Rassistenhaufens: Justizminister Heiko Maas sei „einer der schlimmsten geistigen Brandstifter seit Goebbels und Karl-Eduard Schnitzler“. Den eher farblosen Sozialdemokraten Maas mit Hitlers mörderischem Propagandaminister zu vergleichen, deutet auf fortgeschrittenen Gehirnschwund hin. Eine Ähnlichkeit mit dem finster dräuenden Schnitzler („Der schwarze Kanal“), der in etwa als das DDR-Pendant zu Gerhard Löwenthal („ZDF-Magazin") oder Kai Dieckmann („Bild“) fungierte, zu behaupten, erfordert viel wahnhafte Phantasie – oder zeugt eher von völligem Realitätsverlust.

 

Als Reaktion auf Bachmanns Stuss möchte nun der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, sprich: Pegida vom Verfassungsschutz überwachen lassen, und viele Bürger unterstützen laut dpa das Vorhaben. Dieser Reflex ist ein bemerkenswertes Beispiel für Geschichtsvergessenheit, würde solches Vorgehen doch – um im Volksmund-Metaphorischen zu bleiben – den Bock zum Gärtner bzw. den Wolf zum Schäfer machen – oder sogar einem chaotischen Gewimmel von rechten Dumpfbacken organisatorisches Know-how zuführen.

 

Nach dem Untergang des Dritten Reiches erstanden zeitnah die Geheimdienste und deren Kontrollinstanzen wieder aus bundesdeutschen Ruinen, umbenannt, leicht umstrukturiert, aber weitgehend in personeller und ideologischer Kontinuität, wie die Personalien Globke (erst Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze, dann Adenauers graue Eminenz), Gehlen und Wessel (beide zunächst Hitlers Chefs der Ostspionage, später Leiter des Bundesnachrichtendienstes) belegen. Dementsprechend richteten die zu Schützern des Grundgesetzes gewandelten alten Kameraden und ihre kongenialen neuen Kollegen die Argusaugen beinahe ausschließlich auf linke Aktivitäten. Unter der Brandt-Regierung („Mehr Demokratie wagen!“) bewirkte die eifrige Bespitzelung von kritischen Studenten zahlreiche Berufsverbote für potentielle Lehrer und andere Beamte.


Richtig kurios aber wurde es, als sich die Landesämter für Verfassungsschutz (VS) an das rechtsradikale Milieu wagten, als sie massenhaft V-Leute aus den Neonazi-Reihen rekrutierten. Da die Agenten wegen einer gewissen geistigen Nähe glaubten, sich besonders gut in Denkweise und Handlungsstrategie der Braunen auszukennen, beließen sie es nicht bei der Observierung, sondern begannen, aktiv mitzumischen.

 

Der Zschäpe-Prozess in München und der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag werden wohl nie die volle Wahrheit ans Licht bringen, aber immerhin wissen wir jetzt, wie die Verfassungsschutzbehörden verschiedener Länder Akten schredderten, Beweise vernichteten, falsche Fährten legten, der Kriminalpolizei Informationen vorenthielten, eigentlich dem Terror-Trio und seinen Helfershelfern den Weg freimachten. Den Vogel schoss jener hessische Agent ab, der bei einem der Morde anwesend war, aber nichts hörte, nichts sah und nichts berichtete.

 

Ein besonders interessanter Einblick in die Arbeitsweise des VS in Nordrhein-Westfalen ließ sich anlässlich des Scheiterns des NPD-Verbotsverfahrens 2003 gewinnen. Das Bundesverfassungsgericht kam gar nicht erst dazu, in der Hauptverhandlung die Demokratiefeindlichkeit der Partei zu prüfen, weil bereits beim Erörterungstermin eine Sperrminorität von drei Richtern im intensiven Einsatz von V-Leuten ein Verfahrenshindernis gesehen hatte. Die angeworbenen Spitzel hatten die Führungsgremien der NPD so gründlich unterwandert und die inkriminierten Handlungs- und Propaganda-Maximen derart kreativ mitgestaltet, dass die Juristen von der Gefahr einer „fehlenden Staatsferne“ der Partei ausgingen und das Verbotsverfahren einstellten.


Mit anderen Worten: Die Söldner im Dienste des VS, diese erlesenen Schützer des Grundgesetzes also, hatten die NPD organisatorisch und strukturell fest im Griff und bestimmten Taktik wie Ziele so entscheidend mit, dass ein Vorgehen gegen die Partei beinahe schon als Angriff gegen die Organe der Bundesrepublik gewertet hätte werden müssen…

 

Man kann davon ausgehen, dass die Hüter der Verfassung den alkoholgeschwängerten Reihen der NPD eine gewisse Zucht und Ordnung übergestülpt haben. Möchte SPD-Genosse Stegner allen Ernstes, dass nun auch Pegida von erfahrenen Agenten auf Vordermann gebracht wird? 

 

11/2015

 

Dazu auch:

Der taubblinde Agent im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit

Doofe Spione? Im Archiv der Rubrik Medien       

      

 

 

 

Schweizer Braun

 

Während Kriege und Krisen die Welt erschüttern, in Europa Zäune hochgezogen werden, um den Andrang von Flüchtlingen, deren Misere von EU und NATO einst kräftig angeheizt wurde, abzuwehren, liegt scheinbar ruhig und unbeeindruckt von den humanen Katastrophen der Zeit die Schweiz inmitten malerischer Berge, bewohnt von knorrigen Eidgenossen, die wegen ihrer folkloristischen Eigenheiten belächelt, vor allem aber wegen ihres Geschäftssinns beneidet, bewundert und gefürchtet werden. Tatsächlich wälzen sich keine Asylanten-Lawinen über die Alpenpässe – denn die Schweiz will keine Immigranten. Und der Pegida-Mob tobt nicht auf den Straßen von Zürich oder Bern – denn ähnliche völkische Scharfmacher sitzen längst als stärkste Partei im Parlament und sind in der Regierung vertreten. Mögen andere sich hinter den Bergen die Köpfe heißreden oder einschlagen – du, oh glückliche Helvetia, schweigst und verdienst an allem mit.

 

Rechtspopulisten auf dem Vormarsch

 

In den letzten hundert Jahren hat es in der Schweiz kein so überzeugendes Votum für eine Partei mehr gegeben: Zwar ging wieder einmal nur knapp die Hälfte der Eidgenossen zur Wahl, davon aber machten stattliche 29,4 Prozent ihr Kreuzchen bei der SVP. Die sich so treuherzig und unverfänglich Schweizer Volkspartei nennende Gruppierung hängte damit die Sozialdemokraten (SP) und die Rechtsliberalen (FDP) weit ab und wird 65 der 200 Parlamentssitze einnehmen. Im Ausland wurde das Ergebnis kaum beachtet; ebenso wie in der Alpenrepublik selbst wird dort Schweizer Politik als Konkordanz-Gemauschel zwischen den sieben zusammen mit dem Präsidenten die Regierung bildenden Bundesräten aus den stärksten Parteien wahrgenommen. Parlamentarische Opposition findet kaum statt, öffentlich ausgetragener Dissens schadet nur den Geschäften der allmächtigen Wirtschaft. Wer weiß außerhalb der helvetischen Grenzen schon, dass derzeit die Sozialdemokratin Simonetta Sommarugo das höchste Staatsamt bekleidet?

 

Spannend wird es nur, wenn das zweite Standbein der Schweizer Demokratie, die Volksabstimmung, aktiviert wird. Diskurs von inhaltlicher Qualität vorausgesetzt, könnte es sich bei den Entscheiden durchaus um ein sinnvolles Instrument handeln, zuletzt aber ging es vor allem um die Durchsetzung eines von Ressentiments geprägten Volkswillens. Und meist drehte die SVP mit am Rad rückwärts, wenn etwa der Zuzug von Ausländern gestoppt, deren Aufenthalt erschwert oder der Bau von Minaretten verboten werden sollte. Dank der SVP können sich deutsche Ingenieure und Mediziner, die in Zürich oder Luzern arbeiten und wohnen, mittlerweile zumindest ansatzweise in die Situation afrikanischer oder arabischer Immigranten, denen in der Bundesrepublik der Aufenthalt vermiest wird, einfühlen. Und der welsche Arm der Partei sorgt dafür, dass es französischen Fachkräften in Genf und Lausanne ebenso geht.

 

Eine Oase der Intoleranz

 

Der Mäzen, Vordenker und Taktgeber der SVP ist nicht etwa ein wildgewordener Kleinbürger oder enthemmter Vertreter des Prekariats, sondern der Milliardär Christoph Blocher. Das erklärt wohl, warum die Partei gegen eine Erhöhung des Mindestlohns kämpft, nicht aber ihre Aversion gegen Einwanderer,ohne deren Know-how und Arbeitskraft die Schweizer Wirtschaft kaum konkurrenzfähig werde. Und schleierhaft bleibt auch, woher die aggressive Ablehnung behinderter Menschen und psychisch kranker Arbeitnehmer rührt, wobei Blocher der Presse gegenüber letztere als „Scheininvalide“, die nur auf eine Rente erpicht seien, abqualifizierte. Auf einer Tagung in Bern erzählten mir Schweizer Sozialpädagogen, dass in ihrem Land (das trotz seines Reichtums herzlich wenig für die berufliche Eingliederung von Rehabilitanden mit Handicap tut) Körper- und Sinnesbehinderte pauschal als „Sozialrentner“ diffamiert würden, wobei die SVP diesbezüglich die Parolen vorgibt.

 

Vor acht Jahren ermittelte sogar der UN-Sonderberichterstatter für Rassismus, Doudou Diène, gegen die SVP, weil diese mit einer illustrierten Kampagne gegen „schwarze Schafe“ allzu deutlich primitivste Vorurteile bedient hatte. Führende Politiker der Nationalpopulisten, die übrigens auch die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern ablehnen, unterhalten Kontakte zur rechtsradikalen Anti-Europa-Partei UKIP in Großbritannien, zu Berlusconis Forza Italia und zu den deutschen Republikanern, Partnern der NPD und geistigen Wegbereitern von Pegida somit. Natürlich kann man die Schweizer Mixtur aus Arroganz à la splendid isolation und trübem Sozialdarwinismus in ihrer Genese und Auswirkung nicht mit dem entsetzlichem Furor des deutschen Nationalsozialismus vergleichen, doch lassen sich hellbraune Verbindungsstränge und Ableitungen finden – aktuell im SVP-Menschenbild, historisch in einigen Handlungsmustern eidgenössischer Behörden während der Hitler-Zeit.

 

So verhielten sich die Schweizer Behörden (wie die anderer europäischer Staaten auch) gegenüber Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland meist weder human noch völkerrechtskonform. Der Bundesrat beauftragte damals die Fremdenpolizei, zwischen „politischen Flüchtlingen“ und „Emigranten“ zu unterscheiden und letzteren Asyl zu verweigern. Ein wenig erinnert diese Differenzierung an die aktuelle Argumentation diverser bundesdeutscher Politiker. Mindestens 20.000 Menschen, darunter viele Juden und Zwangsarbeiter aus der UDSSR und Polen, wurden so während des Krieges an der Grenze abgewiesen oder an die Nazis ausgeliefert.

 

Wenn sich Verantwortliche mit der von oben verordneten Unmenschlichkeit nicht abfinden wollten, wurde dies in der ansonsten reibungslos funktionierenden Schweiz  geahndet (und lange totschwiegen). Paul Grüninger, Polizeichef von St. Gallen, ließ Passvermerke vordatieren oder half bei der Fälschung von Dokumenten und rettete so Hunderten von Juden und anderen Flüchtlingen das Leben. Als die Sache aufflog, wurde er vom Dienst suspendiert und zu einer Geldstrafe verurteilt. Seine Tochter Ruth musste die Handelsschule in Lausanne abbrechen. Dreißig Jahre lang fand Grüninger keine feste Anstellung mehr und starb verarmt 1972 in St. Gallen. Weitere 21 Jahre vergingen, ehe Grüninger 1993 vollständig rehabilitiert wurde.

  

Der ehemalige Bundesrat Jean Ziegler, UNO-Berater und Autor („Die Schweiz wäscht weißer“), behauptet sogar, Wirtschaft und Regierung seines Heimatlandes hätten durch die engen ökonomischen Verbindungen zum Hitler-Regime dazu beigetragen,den Zweiten Weltkrieg zu verlängern.

 

Calvinismus und Turbo-Kapitalismus

 

Dass die Schweiz zu einem der reichsten und erfolgreichsten Länder der Erde avancieren konnte, hatte nicht nur seinen Grund im Fleiß, in der technischen Intelligenz und umsichtigen Planung ihrer Bürger. Tüftler mögen die besten Uhren bauen, Forscher ungezählte Pharma-Grundlagen entdecken und Banker fremde Vermögen geschickt investieren – das alles reicht ohne extrem neoliberale Ausrichtung in den Zeiten des Raubtier-Kapitalismus allenfalls zu einem Mittelplatz unter den Nationen. Es war wohl die Religion, die mit ihrer rigiden Erwerbsethik und Vorbestimmungslehre den Weg zu bedenkenlosem Handel und hemmungsloser Ausbeutung ebnete.

 

Der Genfer Reformator Calvin erlöste seine Anhänger von den lästigen Skrupeln hinsichtlich der Konsequenzen ihres irdischen Handelns und ihres auf Erden zusammengerafften Reichtums. Während die Katholische Kirche gute Taten, Nächstenliebe sowie soziales Gewissen propagierte (und bei Zuwiderhandlung den Hinterausgang via Beichte und Ablass offen hielt), zählte in der radikalsten Form des Protestantismus nur der Glaube an die kryptische Prädestination zum ewigen Leben, das man sich nicht durch irdische caritas erkaufen konnte. Als Zeichen für göttliche Gunst galt der kommerzielle Erfolg hienieden. Ein bekannter Spruch aus dem Markus-Evangelium, der eigentlich die christliche Sozialethik illustrieren soll, wurde von den Calvinisten quasi konterkariert: Bei ihnen geht wohl eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Armer.

 

Derart von Gewissenszweifeln losgelöst, florierten die diversen Geschäftszweige und verhalfen der Schweiz vor allem in den letzten 100 Jahren zu einer immer imposanteren Position in der Staatengemeinschaft. Der riesige Bankensektor mehrte getreulich das Vermögen und damit die Macht fast aller internationalen Diktatoren, die Pharma-Konzerne mischten den Weltmarkt auf, auch wenn sie zu diesem Zweck Medikamente wie Imodium, deren Wirkung tödlich für unterernährte Kleinkinder sein kann, in die Slums verkaufen mussten. Nestlé schließlich, das größte helvetische Unternehmen, trat in der Dritten Welt die Nachfolge der berüchtigten United Fruit Company an, überzeugte die Familien dort davon, dass Milchpulver gesünder sei als Muttermilch (obwohl die Trockenmilch kaum erschwinglich war, nicht hygienisch gelagert werden konnte und in verseuchtem Wasser aufgelöst werden musste) und sicherte sich billig oder umsonst in armen Ländern die Wasserreserven, um das in Plastikflaschen abgefüllte Nass teuer an Bedürftige zu verkaufen.

 

Nicht, dass solches Vorgehen in der Welt der Global Players unüblich oder gar verwerflich wäre, doch nirgendwo gibt sich die Ausbeutung und Übervorteilung der Menschheitsmehrheit so diskret und vornehm wie in Schweiz, selten garniert sie sich mit solch engstirnigem Biedersinn. Wo es geht, hält man sich aus den Problemen anderer heraus – verdient aber gern dabei. Obwohl die Schweiz erst 2002 Mitglied der UNO wurde (weil u. a. die SVP stets dagegen agitiert hatte), freuten sich die Gastronomen, Einzelhändler und Grundbesitzer von Genf darüber, dass schon seit Jahrzehnten UN-Einrichtungen, darunter der Menschenrechtsrat und das Hochkommissariat für Flüchtlinge (!) dort angesiedelt waren. Geschäfte,egal mit wem, sind grundsätzlich gut, und wenn jemand ganz uncalvinistisch moralische Bedenken äußert, gilt er als Nestbeschmutzer – die individuelle Freiheit endet, wo der ökonomische Vorteil beginnt. Einer von den solcherart Geächteten war der Autor Friedrich Dürrenmatt, der in Theaterstücken („Der Besuch der alten Dame“) und Romanen („Justiz“) die Doppelmoral seiner Heimat entlarvte, und einst zu dem Schluss gelangte: „Die Schweiz ist ein Gefängnis ohne Mauern.“

 

Nach ihrem Wahlsieg verlangt die SVP zwei der sieben Bundesratssitze. Sie wird in jedem Fall wieder in der Berner Konsens-Regierung sitzen und die anderen Parteien mit chauvinistischen Forderungen vor sich her treiben. Das Schweizer Idyll bekommt weitere Flecken, die Alphörner klingen zunehmend dumpf, und die Nadelstreifenanzüge sind braun durchwirkt.

 

10/2015     

     

 


 

Asyl nach Wert?

 

Man wünschte sich manchmal, schriftlich festgelegte Parameter oder mündliche Deklarationen blieben Wort für Wort gültig, durch Zeitgeist, Feigheit oder opportunistisches Taktieren nicht mehr veränderbar. So hat sich dieses Land ein Asylrecht gegeben, das der Verfolgung und der Not ausländischer Menschen Rechnung trug, nicht ihren technologischen Potentialen und deren Verwertbarkeit für die deutsche Wirtschaft. Die Autoren des Grundgesetzes wussten sich damit in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Bereits 1993 aber schränkte die Bundesregierung  – nun im bequemen Konsens mit Brüsseler Maximen – das Grundrecht im Artikel 16 a dahingehend ein, dass sich Flüchtlinge aus einem EU-Land oder einem Drittstaat, der (mit Zustimmung des Bundesrates) vom Gesetzgeber als sicher und menschenrechtsliebend erklärt wird, darauf nicht mehr berufen können. Den rechten Mehrheiten in Politik, Medien und Volk reicht dies nicht: Geht es nach ihnen, dürfte nur Schutz genießen, wer sich binnen kurzem für Deutschland rechnet.

 

Ökonomen, Goodwill-Journalisten und Kurzzeit-Strategen staatstragender Parteien argumentieren häufig damit, die ins Land strömenden Asylbewerber, oft genug durch unser Know-how in der Waffentechnologie, in der Strangulierung armer Volkswirtschaften per „Freihandel“ oder in der Stabilisierung bestechlicher Regimes in die Flucht getrieben, seien willkommene Fachkräfte für die unter der deutschen Fortpflanzungsfaulheit leidenden Unternehmen. So erfuhr das Wort „Flüchtling“ eine semantische Umdeutung, die nichts mehr mit dem einst klar definierten Begriff von einem verfolgten, sich einer Bedrohung des Lebens, der Freiheit und der Unversehrtheit sowie einer möglichen Sippenbestrafung entziehenden Menschen tun hat.

 

Die Arbeitgeber erhofften sich so qualifizierte Bewerber, deren sie mit den typischen Anwerbeverfahren („Green Card“) nicht habhaft hatten werden können, die konservativen Deutschtümler, ebenso wie der Volksmund durch den unerwarteten Gefühlsausbruch der Kanzlerin („Wir schaffen das!“)  kurzfristig zum Schweigen gebracht, sahen hier nun eine Chance, ihre chauvinistische Anhängerschaft zu besänftigen. Als selbst Bild, Zentralorgan der plakativen Xenophobie, sein Herz für Flüchtlinge entdeckte, schien alles bestens geregelt: Deutschland, einst international als rassistisch verfemt, war plötzlich lieb – und schien von seiner Güte auch noch profitieren zu können.

 

Doch des Volkes Mehrheit, nur kurz durch Fotos ertrunkener Flüchtlingskinder geschockt, kehrte an Stammtischen, in Talkshows und im Treppenhaus bald zur überkommenen Sicht der Dinge, zu seinen guten alten Ressentiments zurück: Das seien ja vor allem arme Schlucker, Hilfsarbeiter, wenn nicht gar Terroristen, die da das ohnehin schon überfüllte Boot Deutschland entern (und überfremden) wollten. Und die argwöhnische Masse erhielt Bestätigung von Wissenschaftlern und Großdichtern: Im Spiegel lässt der rechtsnationalistische Schöngeist Botho Strauß seinen Bocksgesang wieder anschwellen. Das Land werde „geflutet“ von Fremden, die in ihrer Mehrzahl „ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und schützen“. Und in der FAZ bezweifelt der Historiker Jörg Baberowski, dass die Deutschen 500.000 Zuwanderer im Jahr überhaupt bewältigen wollen. Zumal die Politiker stets erklärten, „es kämen Ärzte und Ingenieure“. Baberowski sorgt sich um das geistige Niveau eines Landes, in dem Pegida die Mentoren der öffentlichen Meinung vor sich hertreibt: „ …aber kommen wirklich keine Analphabeten?“

 

Natürlich kommen auch Arme und Ungebildete, Menschen eben. Im ansonsten verwässerten Artikel 16 a des Grundgesetzes ist wenigsten der erste, wichtigste Satz unverändert geblieben: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Und die Genfer Flüchtlingskonvention definierte als mögliche Gründe für Verfolgung die Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer Religion, einer Nationalität, zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische Überzeugung.

 

Das Asylrecht gilt also nicht nur für Informatiker, Techniker, Doktoren oder Altenpfleger, Menschen also, die wir gerade in Deutschland brauchen könnten. Es gilt ebenso für die christliche Familie aus Syrien, die sich vor dem Dauerbeschuss von allen Seiten in Sicherheit bringt, für den Sohn eines palästinensischen Kleinbauern, der sein Land aufgrund israelischer Siedlungspolitik nicht mehr bebauen kann, daher im Westjordanland keine Zukunft für seine Kinder sieht und sie ins Exil schickt, oder für den afghanischen Ex-Bediensteten der Bundeswehr, der nicht weiß, was er mehr fürchten soll, die Verfolgung durch die Taliban oder die Kollateralschäden durch NATO-Einsätze. Leben in Sicherheit ist kein Privileg für Gebildete.

 

Die Verfasser des Grundgesetzes erinnerten sich noch daran, dass die Nazis nicht nur reiche und intellektuelle, sondern auch bescheiden lebende oder mittellose Juden verfolgt und vergast hatten. Das scheint in Vergessenheit geraten zu sein, denn während sich Deutschland weltweit als Musterland des Asyls feiern lässt (obwohl es im Vergleich zur Türkei, zum Libanon oder zu Jordanien ziemlich wenige Immigranten aus den Kriegsländern aufgenommen hat), stellt eine ganz große Koalition seiner Politiker mittlerweile eine Kosten-Nutzen-Berechnung auf, führt eine Triage ein, die die Spreu der Hilfesuchenden, die uns nichts zu bieten haben, vom Weizen der Flüchtlinge, von denen wir profitieren können, trennt.

 

Ein paar Wochen lang durfte man hoffen, es habe sich wirklich etwas geändert in Deutschland. Hunderttausende spendeten, halfen bei der Ausstattung der Lager und betreuten sogar persönlich Flüchtlinge, wobei sie oft genug die Aufgaben des Staates und seiner Behörden übernehmen mussten. Angela Merkel erkannte die Macht des Faktischen an und rang sich sogar – aus welchen Gründen auch immer – empathische Worte zur humanen Katastrophe ab.

 

Die Schonzeit ist vorbei, die schweigende Mehrheit mault wieder, Pegida-Demos erhalten neuen Zulauf; die Regierung, die meisten Länderchefs und die zuständige Bürokratie erweisen sich als äußerst engagiert –im Hinhalten, Diskriminieren und Ignorieren.

 

Viele Medien wiederum treiben jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf. Nachdem es mit der Terror-Warnung nicht so recht geklappt hatte, weil sich kein prominenter Islamist unter den Flüchtlingen fand, wird jetzt die Angst um die Sozialsysteme geschürt oder genüsslich über Auseinandersetzungen zwischen Asylanten berichtet, wobei höchstens am Rand Erwähnung findet, dass es zu Reibereien kommen muss, wenn Angehörige verschiedener Religionen, Ethnien und Kulturen auf engstem Raum zusammengepfercht werden, wenn für 500 Menschen eine Toilette zur Verfügung steht. Solche Konflikte machen sich allemal besser und bestätigen Vorurteile effizienter als die in ihrer Dichte ermüdenden Berichte über brennende Unterkünfte und rassistische Gewalt gegen Flüchtlinge. Breiter Raum wird gern auch den Panik-Attacken der beiden bayerischen Orbánisten Seehofer und Söder eingeräumt.

 

Wenn die Bevölkerung angesichts von Vorgängen, die ihr Angst einjagen, weil sie ihre Ursachen und Hintergründe nicht kennt oder nicht kennen will, zu murren beginnt und sich auf liebgewordene Aversionen besinnt, ist die SPD meist nicht weit. Vizekanzler Sigmar Gabriel stellte sich zunächst hinter Angela Merkel, trat dann aber geschmeidig aus ihrem Schatten und platzierte sich weit weg von ihr, um sein Fähnchen wieder in den Wind hängen zu können, und hofft nun, dass  „wir die Hilfsbereitschaft der Menschen in unserem Land nicht überfordern“. Die Menschen, die tatsächlich helfen, kennt der SPD-Vorsitzende ebenso wenig wie ihre Belastungsgrenzen. Da hält er sich lieber – wie zu Beginn der Anti-Asyl-Demos – an die Menschen, die „mit ihren Problemen und Bedürfnissen ernst genommen“ werden müssen.   Gabriel, der in der mittleren Phase (als noch nicht klar war, woher der Wind bläst)vollmundig die Rechtsnationalisten und Neonazis als „Pack“ abtat, muss sich nun wieder fragen lassen, ob er nicht angesichts seiner von behutsamer Annäherung an bewährte Plattitüden geprägten Ausführungen langsam in die Gruppe der Pegida-Versteher eingereiht werden möchte.

 

10/2015

 

Dazu auch:

Die Flüchtlingsmacher in derselben Rubrik

Sichere Herkunft ebenfalls in dieser Rubrik

 

 

 

 

 Die Flüchtlingsmacher

 

Während Tausende verzweifelter Menschen im Mittelmeer ertrinken und uns Bilder vom skrupellosen Vorgehen des NATO-Partners Ungarn gegen die auf seinem Hoheitsgebiet festsitzenden Flüchtlinge erreichen, während Versorgung und Betreuung der Immigranten-Familien hierzulande zunehmend privaten Initiativen und Tafeln überlassen werden, erklimmt die deutsche Politik neue Gipfel der Ignoranz und des Zynismus. Da soll militärisch gegen Schlepper vorgegangen werden (als würden dadurch die Passagen nicht noch teurer und gefährlicher), und da erwägt man, etlichen Bedürftigen auch noch die schütteren Taschengelder zu streichen. Zugleich aber erklärt die Bundesregierung in einem (medial wenig beachteten) Strategiepapier, dass sie maßgebliche Auslöser der Massenflucht, die nationalen Rüstungskonzerne nämlich, bei Exportgeschäften künftig stärker fördern wird.

 

Das Verursacherprinzip

 

Es ist ja nicht so, dass die Flüchtlingswelle unvorhersehbar wie ein Schicksalsschlag über Westeuropa hereinbrach. Mit subventionierten und zollfreien Exporten hatte die EU zuvor Kleinbauern in Schwarzafrika die Lebensgrundlage entzogen, während die NATO nach der Zerschlagung Jugoslawiens in Kleinstaaten wie dem Kosovo Kleptokratien an die Macht hievte, deren mafiöse Methoden nicht nur Angehörige von Minderheiten zur Emigration zwangen. Im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika schließlich machte nicht zuletzt die indirekte bis unmittelbare Interventionspolitik des Westens ganze Länder, etwa Syrien, Irak, Libyen oder Afghanistan, zu unbewohnbaren Schlachtfeldern.

 

Deutschland, das sich jetzt mit den humanitären Folgen einer inhumanen Interessenpolitik konfrontiert sieht, war stets präsent, mal mittendrin (Afghanistan, Kosovo), mal nur dabei (Irak, Libyen). Immer und überall aber wurde und wird mit Kriegsgerät made in Germany gekämpft. Die religiösen Fanatiker des Islamischen Staates sind ebenso stolz auf ihre deutschen Präzisionswaffen wie die regulären Soldaten in Ägypten, wo derzeit die brutalen Methoden einer vom Westen klammheimlich unterstützten Militärdiktatur die einstige Mubarak-Autokratie wie ein laues Lüftchen wirken lassen.

 

Dass die Produkte deutscher Waffenschmieden so ausgeglichen auf allen Seiten zum Einsatz kommen, ist vor allem den mit der NATO verbündeten Hauptabnehmern Saudi-Arabien und Qatar zu verdanken, die nicht zulassen, dass nur nationale Armeen mit Gewehren von Heckler & Koch und Konsorten schießen, sondern gewissenhaft Islamisten auf drei Kontinenten mit germanischer Wertarbeit aufrüsten. Damit dies künftig noch effizienter geschehen (und nebenher die hiesige Rüstungsindustrie noch höhere Gewinne einstreichen) kann, wird die Bundesregierung Waffenexporte dorthin erleichtern und absichern. Die Folge-Flüchtlinge lassen sich ja vielleicht vor der italienischen Küste oder am ungarisch-serbischen Grenzzaun abfangen.

 

„Dialog“ mit den Fabrikanten des Todes

 

Das jüngste Strategiepapier der Bundesregierung kündigt „die exportpolitische Flankierung“ deutscher Waffengeschäfte im Ausland an, die sich nicht nur auf die EU und die NATO beschränken soll, sondern bei Bedarf auch auf „Drittstaaten“ ausgedehnt werden kann. Offenbar soll die Proliferation durch die einheimischen Fabrikanten des Todes in Krisengebiete (und in solchen liegen arabische oder afrikanische Abnehmerstaaten) durch Bürgschaften abgesichert werden – oder sogar angebahnt, wie eine weitere Passage nahelegt: So ist geplant, „bilaterale Ressort- und Regierungsvereinbarungen mit Partnerstaaten“ zu treffen, um so „die Chancen deutscher Unternehmen bei großen ausländischen Beschaffungsvorhaben“ zu verbessern. Die Politik will also den deutschen Rüstungsunternehmen die Tür zu den aggressiven Machthabern in Riad oder Kairo noch ein wenig weiter öffnen (während sie gleichzeitig den durch solche Machenschaften in die Flucht getriebenen Menschen verschlossen werden soll).

 

Wo bleibt dabei Wirtschaftminister Sigmar Gabriel, der einst mit dem Versprechen, deutsche Rüstungsexporte zu beschränken, sein Regierungsamt antrat? Nun, es ist die alte Crux der Sozialdemokraten, dass man deren frohe Botschaft wohl hört, ihr aber (mit Recht) keinen Glauben mehr schenkt. Gabriel, der schon zuvor mehr Proliferation genehmigt hatte als seine Vorgänger, trat in einen „Branchendialog“ mit dem Industrieverband BDI, dem BDSV (Lobby-Zusammenschluss der Rüstungsindustrie), mit Betriebsräten der Waffenbauer und mit der in dieser Frage unsäglich verantwortungslos agierenden IG Metall ein und kündigte bereits im März dieses Jahres „Exportinitiativen“ an, um rüstungstechnische „Kooperationen mit Entwicklungs- und Schwellenländern“ zu fördern. Wenn der staatliche Aufpasser höchstselbst den Deal einfädelt, kann man sich eigentlich die Kosten für Propagandisten und Zwischenhändler sparen.

     

Hat Ungarn von Deutschland gelernt?

 

Derzeit wird Ungarn von seinen EU-Partnern wegen seiner rigiden Maßnahmen gegen Flüchtlinge tüchtig gescholten. Aber davon abgesehen, dass Ministerpräsident Viktor Orban zunehmend faschistoide Züge offenbart, kann man ihm in der Sache eigentlich nur vorwerfen, dass er  den Weg etwas zu brachial einschlägt, den ihm Berlin aufgezeigt hat.

 

Deutschland hat sich durch das Dublin-III-Abkommen einen allumfassenden Grenzzaun aus „sicheren“ Nachbarländern geschaffen. Theoretisch können hierzulande nur noch Flüchtlinge, die sich, ausgestattet mit einem Visum, ein Flugticket leisten können, einen Asylantrag stellen. Wie soll das bei politisch oder ethnisch Verfolgten gehen? Und dass Skandinavier auf Schlauchbooten über die Ostsee oder Österreicher in Pulks über die Alpen kommen, ist auch nicht zu erwarten. Die Massen überlässt man weitgehend den verarmten Staaten im Süden und Osten, die dummerweise prekäre Grenzen haben. Eine derart elegante Lösung für Ungarn kann Orban im erlauchten Kreis der EU-Länder nicht durchsetzen, also versucht er es mit Stacheldraht.

 

Auch die Szenen am Budapester Hauptbahnhof illustrieren im Grunde nur die übereifrige Umsetzung von Ideen, die Immigration so unattraktiv und beschwerlich zu machen, wie sie bundesdeutsche Politiker, vornehmlich aus der Union, schon seit Jahren äußern.

 

Dabei haben sich die Magyaren, zumindest was den Hauptgrund für die Massenflucht betrifft, weit weniger schuldig gemacht als die Deutschen: Sie haben in den Ländern südlich des Mittelmeers kaum politisch, geheimdienstlich oder militärisch mitgemischt, und sie haben auch keine Massenvernichtungsmittel in relevanten Mengen dorthin geliefert.

 

05/2015

 

Dazu auch:

FREEDOM & DEMOCRACY im Archiv dieser Rubrik

      


 

 

Sichere Herkunft?

 

Gäbe es hierzulande so etwas wie ein aus der Erinnerung gespeistes Verantwortungsbewusstsein, würden heute Flüchtlinge aus den Krisenregionen der Welt willkommen geheißen und vorbildlich versorgt, schon um wenigstens einen Teil historischer Schuld abzutragen. Doch obwohl die deutsche Politik- und Wirtschaftselite sich noch verrotteter präsentieren würde als derzeit ohnehin schon, hätten nicht Länder wie Großbritannien, die USA, die Türkei oder Mexiko Hunderttausende von Juden, Kulturschaffenden, Intellektuellen, Großbürgern oder Linken Schutz vor dem Nazi-Terror gewährt, obwohl die Berliner Regierungen nach dem Verursacherprinzip haftbar gemacht werden könnten, weil sie stets mitgeholfen (BND im Irak-Krieg), mitgeschossen (Balkan) oder mitverdient (Rüstungsindustrie, Freihandel) haben, verhalten sich die Schreibtischtäter jetzt feindselig, rechtspopulistisch und schäbig.

 

Leben? Würde? Vernachlässigbar!

 

Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen rettete die italienische Marine ab Herbst 2013 etwa 150000 Flüchtlingen im Rahmen ihrer Mission „Mare Nostrum“ das Leben. Das waren wohl zu viele für das „volle Boot Europa“. Als Rom ein Jahr später um Unterstützung durch die NATO-Partner und die EU bat, stellten sich die anderen Regierungen, allen voran die deutsche, quer. Die darauf folgende gemeinsame „Operation Triton“ hatte weniger zur Aufgabe, Schiffsbrüchige zu bergen, als vielmehr mögliche Asylanten abzudrängen und zurückzuschicken; die Zahlen der aus Seenot Geretteten sanken vorübergehend, ein ermutigender Fakt – zumindest für die gnadenlosen Buchhalter der unerwünschten Immigration.

 

Die deutsche Regierung beschäftigt sich derweil lieber mit Plänen, Schlepperboote zu versenken, was mit Sicherheit zunächst  Fischer erwerbslos machen und dann zu einem Einsatz der Bundeswehr in Libyen, jenem Land, das die NATO dem IS und anderen Islamisten-Gruppen auf dem Silbertablett präsentiert hatte, führen würde.

 

Im Inland setzt man – durchaus im Sinn der ungeliebten Verbündeten bei Pegida – darauf, zeitweiliges Asyl so perspektivlos, armselig und unwürdig zu gestalten, dass die Bilder von der deutschen Willkommenskultur weitere Aspiranten tunlichst abschrecken, als könne man Verzweifelte dazu animieren, Hungertod, alltäglichen Terror oder rassistische Verfolgung der demütigenden Internierung im Wirtschaftswunderland vorzuziehen.

 

Mal erwägt Allround-Versager de Maiziere die Streichung des Taschengelds für Flüchtlinge, mal überfrachtet man eine Gemeinde von 120 Bauern mit 60 Asylbewerbern, und immer erschwert man Arbeitsaufnahme, soziale Teilhabe und individuelle Perspektiven von Menschen in Not. Nichts soll passen, nichts darf Deutschland attraktiv für Hungerleider erscheinen lassen! Irgendwann wird ein findiger Bürokrat auf die Idee kommen, Asylbewerber in früheren Konzentrationslagern unterzubringen; das könnte dann womöglich wirklich abschrecken…

 

Fluchtkriterien

 

Gemäß der Genfer UN-Konvention von 1951 werden Menschen als Flüchtlinge anerkannt, wenn sie in ihrer Heimat wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Zu den Unzulänglichkeiten der Übereinkunft zählt das Zugeständnis an die Unterzeichner-Staaten, das eine oder andere Kriterium außer Acht lassen zu dürfen. Die Bundesrepublik tut sich hierbei besonders hervor. Obwohl sie als Kolonialisten-Rechtsnachfolgerin, Teilnehmerin bzw. Profiteurin an Kriegen (Serbien, Arabien) und rigorose Nutznießerin eines Freihandels, der das Elend wirtschaftlich schwacher Staaten bis in alle Ewigkeit zementiert, mitschuldig an ethnischen Konflikten, Massenelend und Bürgerkriegen ist, sollen „Armutsflüchtlinge“ ebenso wenig aufgenommen werden wie Angehörige diskriminierter Minderheiten.

 

Bereits 1993 wurde das Asylrecht dahingehend geändert,dass es für Ausländer, die aus einem EU-Staat oder einem sonstigen „sicheren Drittstaat“ einreisen, nicht mehr gilt. Wenn „vermutet“ werden kann, dass in einem Herkunftsstaat keine politische Verfolgung stattfindet, muss der Asylbewerber diese Vermutung entkräften (was bei der geplanten Turbo-Abschiebung kaum möglich sein dürfte). So schottet sich Deutschland gegenüber Hilfesuchenden mit einer Art formaljuristischen Stacheldrahts ab, erklärt den ganzen Balkan zur „sicheren“ Region und macht Einzelfallprüfungen weitgehend unmöglich.

 

Und wenn es keinen „sicheren Drittstaat“ gibt, dann schafft man sich einen – alles eine Frage der Interpretation, wie sich am Beispiel des Kosovo zeigt.

  

Ein ganz spezielles „sicheres Herkunftsland“

 

In einem selbst vom damaligen Kombattanten Gerhard Schröder heute als völkerrechtswidrig eingestuften Krieg gegen Serbien verschaffte die westliche Allianz der ehemals jugoslawischen Provinz Kosovo die Unabhängigkeit. Noch heute, bemühen sich „Friedenstruppen“ und EU-Beamte, ein bereits marode geborenes Staatswesen am Überleben zu halten.

 

Verbündete der „Befreier“ waren von Anfang an die Milizen der UCK, einer eher der Mafia als einer politischen Partei gleichenden Gruppierung, die bis heute das Land wie einen Feudalbesitz regiert. Im Kosovo herrscht bittere Armut, ein Sechstel aller Kinder ist mangelernährt. Menschen fliehen vor der allgegenwärtigen organisierten Kriminalität, die von den Machthabern geduldet oder sogar forciert wird. Die im Kosovo lebenden Roma werden von den Behörden benachteiligt und von Angehörigen der albanischen Bevölkerungsmehrheit physisch bedroht. Frauen flüchten aus Zwangsehen oder wollen der nach archaischen Regeln festgesetzten Verheiratung entgehen. Junge Männer setzen sich ins Ausland ab, weil sie und ihre Familie von der Blutrache bedroht sind. Serben kämpfen gegen Albaner.

 

Einige der angeführten Konflikte und Verwerfungen, also Fluchtgründe,  existieren natürlich auch in anderen Musterstaaten wie Albanien oder Mazedonien. Wenn aber all das in geballter Form der Einstufung des Kosovo als „sicheres Herkunftsland“ nicht im Wege steht, dann gibt es für deutsche Beamte bald keinen unsicheren Staat auf der Welt mehr.

 

08/2015

    

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Blut am Stacheldraht im Archiv dieser Rubrik

EU-Verbrechen im Archiv dieser Rubrik


 


 

Demokrexit

 

Demokratie kommt aus dem Griechischen und bedeutet in etwa Volksherrschaft. Das hört sich ein wenig bedrohlich an, vor allem hierzulande, wo man sich die Bild-Zeitung als Volksmund hält. Vermutlich deshalb hat man die Demokratie repräsentativ umgestaltet, damit das Volk Vertreter wählen kann, von denen es dann nichts mehr hört und sieht, bis sie sich irgendwann im TV äußern oder auf Zeitungsfotos grinsen. Diese an sich löbliche Vorsichtsmaßnahme sicherte das Schalten und Walten der wirklich Mächtigen bislang perfekt ab. Doch nun will sich ein Volk partout nicht an die bewährten Regeln halten und zwingt somit die Europäische Union und deren Klassenprimus Deutschland dazu, die reichlich realitätsfremden Prinzipien nationaler Souveränität, freier Abstimmung und staatlicher Sozialverpflichtung kurzerhand außer Kraft zu setzen.

 

Die Griechen haben es in den Augen unserer Banker und Politiker einfach zu bunt getrieben. Erst wählten sie gegen deren ausdrücklichen Wunsch eine neue Regierung, die versprach, das Volk nicht mehr für Finanzmarkt-Spekulationen bluten zu lassen, und servierten die alte korrupte, den Merkels, Junckers und Schäubles aber ans Herz gewachsene Elite ab, dann wollten sie unbedingt die Krise auf ihre eigene Art bewältigen, statt sich die Liste der Grausamkeiten von Brüssel und Berlin diktieren zu lassen.

 

Dieses unvernünftige Volk mochte einfach nicht einsehen, dass es verpflichtet ist, soziale und kulturelle Errungenschaften dem Wohle der Finanzmagnaten und Zocker in den Investment-Abteilungen der Großbanken zu opfern. Es weigerte sich, Geld zurückzahlen, das nie bei ihm angekommen war. Es offenbarte den unverzeihlichen Egoismus, sich selbst retten zu wollen und nicht die maroden Banken. Es wehrte sich dagegen, Institutionen und infrastrukturelle Hardware, die es gemeinschaftlich geschaffen hatte, zwecks privater Profitmaximierung privatisieren zu lassen. Es ging sogar so weit, entgegen aller wohlmeinenden Ratschläge der Geier die endgültige eigene Deprivation per Volksentscheid abzulehnen.

 

Da war das Maß voll. Die Bataillone der Erpresser marschierten, um ihre fiktiven Außenstände ohne den geringsten Schuldenschnitt einzutreiben. In einer Art Handstreich wurde Regierungschef Alexis Tsipras als Geisel genommen und derart weichgekocht, dass binnen einer Woche Inhalte und Ergebnis der Volksabstimmung gegenstandlos waren, ja vollständig vergessen schienen. Jetzt ist in Athen wieder alles beim alten, sogar die Mumien der Nea Dimokratia und der Pasok dürfen wieder mitreden, wenn es um den „Sparkurs“ geht, also die Realisation des ehernen marktwirtschaftlichen Gebots, dass stets die Armen für die Reichen mit zu bezahlen haben.

 

Demokratie ist eine feine Sache, aber ein Volk muss auch reif dafür sein und darf auf keinen Fall gegen die Grundsätze der Wirtschaftsmonopole verstoßen. Wenn Schäuble und Merkel solches befürchten, werden sie sofort im Sinne der sie bauftragenden Oligarchen tätig; schließlich hat das alte Kulturvolk der Deutschen in den letzten 150 Jahren gezeigt, dass es etwas von Demokratie (und vor allem deren Grenzen) versteht.

 

Freilich gibt es auch uneinsichtige Deutsche (CSU-Slang: Nestbeschmutzer) wie Jürgen Habermas, vom Guardian als einer der einflussreichsten europäischen Intellektuellen der Gegenwart vorgestellt, der in der britischen Zeitung dem eigenen Vaterland unehrenhafte Motive unterstellt. Deutschland habe sich nämlich „schamlos als Europas Chef-Diszipliner entlarvt und zum ersten Mal offen eine deutsche Hegemonie in Europa beansprucht“.

 

Hilfreicher für die der Ökonomen-Kampagne „Ein Herz für Kapitalisten“ ist da schon der Vorschlag des Wirtschaftswissenschaftlers Clemens Fuest. Er regt die Einführung eines Soli des gemeinen deutschen Steuerzahlers für die Finanzierung des nächsten Hilfspaketes, das Griechenland nicht erreichen wird, an. Das nenne ich wahre Solidarität: Dann zahlen wenigstens schon zwei Völker für die Verwerfungen auf den Finanzmärkten.

 

07/2015

 

Dazu auch:

Finstere Hellenen im Archiv der Rubrik Medien

   


 

Die guten Schlächter

 

Hundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) erkannte die Bundesregierung die Massaker an den Herero und den Nama als „Kriegsverbrechen“ und „Völkermord“ an – spät, zögerlich und widerwillig. Außenminister Frank Walter Steinmeier konnte nicht mehr hinter einen Antrag zurück, den 2012 der Oppositionsführer Steinmeier, der in dieser Funktion keine daraus entstehenden Verbindlichkeiten fürchten musste, in den Bundestag eingebracht hatte. Doch da hierzulande die historische Wahrheit dem Volk nur tröpfchenweise zugemutet wird, bewahrt man einstweilen das Schweigen über die deutschen Verbrechen auf der anderen Seite des Kontinants, in Ostafrika.

 

Aufklärung scheibchenweise

 

In den Nachkriegsjahren wurde der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine Art Geschichtsvergessenheit anerzogen, in der sie sich behaglich einrichten und etwaige Fragen nach nationaler und menschlicher Schuld in den Bereich mythischer Nebel abschieben konnte. Hitler, der große Verführer und „Hypnotiseur“, eine Handvoll hunderfünfzigprozentiger Nazis und die grausame SS seien schuld an dem ganzen Schlamassel gewesen, die überwältigende Mehrheit der (gutwilligen, allenfalls ein bisschen naiven) Deutschen habe nichts von Kriegsverbrechen oder Judenvernichtung gewusst, diese zumindest nicht tatkräftig unterstützt. Erst langsam sickerte durch, dass damals aktuelle Politiker, Wirtschaftsführer, Juristen und „Verfassungsschützer“ doch etwas mitbekommen und vielleicht auch ein wenig mitgemischt hatten, dass auch das Vorgehen der Wehrmacht in eroberten Gebieten nicht ganz adäquat der immer noch gepflegten Landser-Romantik gewesen war - der 68er Revolte sei Dank!

 

Irgendwann begannen sich kritische Geister auch zu fragen, ob die Barbarei der deutschen Kriegsführung aus dem Nichts gekommen war oder doch auf das eine oder andere historische Vorbild rekurrieren konnte. Man entsann sich plötzlich der Kolonialpolitik des Kaiserreichs, doch sah man sich einer Verteidigungsphalanx aus Geschichtslehrern, Militärstrategen und bürgerlichen Nationalisten gegenüber. Die Brutalen und Grausamen, das seien die anderen gewesen, der deutsche Kolonialherr habe sich dem unterworfenen Neger gegenüber stets jovial verhalten und sei von diesem verehrt worden.

  

Von guten und bösen Kolonialisten

 

In der Tat denkt man, wenn von den Greueln der Kolonialzeit die Rede ist, in erster Linie an die Massaker, die der belgische König Leopold II im Kongo-Freistaat, seinem „Privatbesitz“, begehen ließ und denen an die zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen, an die Verbrechen der französischen Fremdenlegion in Indochina und Algerien oder an die zynisch-merkantilistische Art, mit der Briten und Niederländer „ihre“ Ländereien in Afrika, Indien oder auf den Sunda-Inseln ausbeuteten und jeden Freiheitswillen mit tödlicher Effizienz brachen.

 

Bis in die 1970er Jahre galt das deutsche „Kolonialabenteuer“ als vergleichsweise harmlose Episode, die in Jugendbüchern und Schulbibliotheken vor allem durch Heldentaten deutscher Siedler und Soldaten im Kampf gegen furchterregende Wilde gekennzeichnet war. Erst als in Südafrika die Apartheid unterging und in der Folge Namibia unabhängig wurde, erhielten die vom Kaiserreich unterdrückten und bis zur (gewünschten) Ausrottung verfolgten Völker erstmals eine Stimme.


 

Plötzlich erfuhren die (wenigen), die es wissen wollten, dass teutonischer Rassenwahn und Vernichtungsfuror die Premiere nicht im Dritten Reich erlebten, hatte doch schon 1904 Generalleutnant Lothar vonTrotha aus Südwestafrika nach Berlin geschrieben: „Ich glaube, dass die Nation (der Herero) als solche vernichtet werden muss.“ Beinahe hätte er es geschafft, es überlebten nur 15000 von 80000 Angehörige des Herero-Volkes die Ausführung des perfiden Plans, sie in die Wüste zu treiben und dort verdursten zu lassen. Die wenigen Wasserstellen wurden vergiftet, wodurch die deutschen Soldaten und ihre Hilfstruppen Munition einsparten. Als das Volk der Nama (von den Herrenmenschen verächtlich „Hottentotten“ genannt) aufbegehrte, wurde es mit ähnlichen Methoden von 20000 Menschen auf 10000 halbiert. Darum ging es also bei Steinmeiers unwilligem Bekenntnis, als er sich von seinem humanistischen Geschwätz von gestern, sprich: in der Opposition, nicht mehr distanzieren konnte.

 

Doch weiterhin herrscht Schweigen über die noch weit blutigeren Kolonialverbrechen in Deutsch-Ostafrika, das im Wesentlichen die heutigen Länder Tansania, Ruanda und Burundi umfasste. Das Gebiet wurde von deutschen Spekulanten und Söldnern mit Hilfe der Askaris, Hilfstruppen aus anderen afrikanischen Regionen, erobert. Als die später eingesetzte Kolonialverwaltung die Steuern drastisch anhob und Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern anordnete, brach 1905 der Maji-Maji-Aufstand los, der in einen Guerilla-Krieg mündete. Die Kolonialtruppen zerstörten Dörfer, vernichteten Ernten sowie Lebensmittelvorräte und nahmen die Angehörigen der Rebellen in „Sippenhaft“. Während des Kriegs kamen 15 Europäer und 389 Akaris, aber zwischen ein- und dreihunderttausend Menschen auf der Seite der Aufständischen ums Leben.

 

Noch mehr Opfer forderte der Kampf der deutschen Schutztruppe unter Kommandeur Paul von Lettow-Vorbeck während des Ersten Weltkriegs gegen eine überlegene Allianz aus britischen und belgischen Streitkräften. Der später auch von Hitler bejubelte „Recke“ führte gegen den Befehl seines Vorgesetzten, des Gouverneurs Heinrich Schnee, einen „verlustreichen, militärisch sinnlosen Krieg“ (so der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer), der rund eine Million Menschen, in der Mehrzahl Zivilisten, das Leben kostete.


 

Bis vor kurzem gab es in Hannover noch eine Lettow-Vorbeck-Allee und eine gleichnamige Kaserne in Hamburg. Nach dem Genozid-General von Trotha ist dort übrigens immer noch ein Haus benannt, in dem Studenten der Bundeswehr-Uni wohnen. Lettow-Vorbecks Jugendbuch „Heia Safari“ wiederum erlebte auch in der Bundesrepublik noch etliche Auflagen. In dem Machwerk setzte er die Legende vom treuen, seinen deutschen Kommandanten liebenden Askari in die Welt. Tatsächlich blieb den schwarzen Hilfstruppen gar nichts anderes übrig, als bei Lettow-Vorbeck zu bleiben, drohte er ihnen doch andernfalls drakonische Strafen an, zudem befanden sie sich in einem fremden Land ohne Verständigungsmöglichkeit mit der aufgebrachten Bevölkerung. „Der Mann, der unser Leichentuch schneidert“, war der Spitzname, den sie ihrem „geliebten“ General gaben.

      

Der Weg zum Holocaust

 

Soll man sich als Bürger der Bundesrepublik mitverantwortlich für Verbrechen, die oft mehr als 100 Jahre zurückliegen, fühlen oder sich gar zu kollektiver Schuld bekennen? Diese Fragestellung, bei national gesinnten Verdängern und Entschuldigern sehr beliebt, da lediglich rhetorisch und natürlich mit "gerechter" Empörung zu verneinen, ist irreführend. Vielmehr muss man eruieren, ob sich aus dendamaligen Ereignissen eine fatale Kontinuität ableiten lässt und ob ihre Weiterungen bis in die Gegenwart reichen, ob letztendlich genug getan wurde, um aufzuklären, die Langzeitfolgen zu korrigieren, so dies möglich, und Wiederholungen vorzubeugen. In der Geschichte geht nichts verloren. Wer sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, sie analysieren will, darf sich nicht wundern, wenn sie in neuem Gewand, aber mit alten Methoden wieder auftaucht.

 

Der Kolonialismus der beteiligten europäischen Staaten hat ohne Ausnahme die Entwicklung ganzer Weltregionen nachhaltig gehemmt. Gesellschaften, Ökonomien und kulturelle Identitäten wurden vernichtet, Bodenschätze geplündert, Natur und traditionelle Landwirtschaft gebrandschatzt. Und als die Mächte der abendländischen Finsternis abtraten, zogen sie – letzter unmittelbarer Herrschaftsakt, der ihnen noch blieb – die neuen Staatsgrenzen kreuz und quer durch Ethnien, Sprachgemeinschaften, Religionszugehörigkeiten und Landschaften, deren zerstückelte Teile kein Volk ernähren konnten. Nationale Eliten waren zuvor korrumpiert oder liquidiert, Sozial-, Handels- und Agrarstrukturen akribisch zerstört worden. Die Samen von Unterentwicklung, ökonomischer Abhängigkeit, aber auch von Kriegen und Massenflucht, wie sie bis in die Gegenwart sprießen, wurden damals ausgesät. Die Geißel des Neokolonialismus per Freihandel sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

 

Die relativ kurze, aber ambitioniert genutzte Zeitspanne, die dem deutschen Kolonialismus blieb, um im Schatten des Kaiserzepters Ausbeutung und Unterdrückung gedeihen zu lassen, deutete bereits den Weg in den Holocaust des Dritten Reichs an. Professor Jürgen Zimmerer, Herausgeber des Journal of Genocide Research, sieht in einem taz-Interview jedenfalls Hinweise auf die künftige Judenvernichtung: „Die Vernichtungsstrategie (Anm.: gegen die Herero) und die Rassengesetze weisen eine große Ähnlichkeit auf.“


 

Die Herrenmentalität, mit der nationalsozialistische Kräfte die „minderwertigen Rassen“, das "unwerte Leben" und den demokratischen Widerstand ausmerzen wollten, war also keine Kopfgeburt Hitlers oder Rosenbergs, sondern preußisch-altdeutscher Militaristen-Konsens.

 

Und sie ist auch bis heute nicht gänzlich ausgestorben, Herr Steinmeier.

  

07/2015      

 

 

  

Und es schießt doch!

 

Drolliges konnte man dieser Tage einer Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) entnehmen: Die Bundesregierung sei irritiert, weil die saudi-arabische Luftwaffe im Rahmen ihrer wahllosen Bombenangriffe auf Huthi-Rebellen und Zivilisten im Jemen auch Sturmgewehre von Heckler & Koch für sunnitische Kämpfer über Aden abwerfe. Welch ein Fauxpas! Da setzt ein brutales Regime, das aus Deutschland mit Material und Lizenzen ausschließlich zum „Eigenbedarf“ ausgestattet wurde, die tödlichen Waffen doch tatsächlich gegen böse Schiiten ein oder beliefert islamistische Verbündete damit!

 

Vor fünf Jahren errichtete Heckler & Koch eine komplette Produktionsanlage für das Sturmgewehr G-36 in Saudi-Arabien. In der Wirtschaftswoche suchte H&K-Inhaber Andreas Heeschen Bedenken, die Wahhabiten-Dynastie würde die Waffen auch in Krisengebieten einsetzen, zu zerstreuen: „Saudi-Arabien ist trotz der Fabrik nicht in der Lage, Komplettwaffen zu produzieren … Die Gefahr eines verbotenen Reexports durch Saudi-Arabien besteht daher nicht.“ Blieb die Frage, wozu die Ölprinzen die Gewehre überhaupt benötigten. Zur Gazellenjagd in der Wüste oder für ausgeflippten Selbstmordpartys? In jedem Fall tauchten die Knarren jetzt im jemenitischen Bürgerkrieg auf, sie fielen vom Himmel, respektive aus saudischen Flugzeugen.

 

Der fanatische Gottesstaat auf der arabischen Halbinsel ist die aggressivste Macht im Mittleren Osten, sie mischt sich in alle regionalen Konflikte ein oder initiiert und befeuert solche höchstselbst. Die Regierung in Riad finanzierte Islamisten von Afghanistan über den Libanon bis nach Libyen, und regimenahe Clans alimentierten Terror-Organisationen wie Al-Qaida oder den IS. Dennoch bleibt Saudi-Arabien wegen seiner Ressourcen, seiner Finanzkraft und seiner Gegnerschaft zum Iran der gehätschelte Darling der NATO und insbesondere der Bundesrepublik.

 

Vor vier Jahren – saudische Truppen hatten gerade unter Einsatz von 150 Panzern einen Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit im benachbarten Bahrein niedergeschlagen – genehmigte die damalige Merkel-Regierung den Export von 270 Leopard-Panzern in das Wüstenkönigsreich. Sorgsam war die Leo-Variante für den Häuserkampf, die Beseitigung von Demonstranten und die Niederschlagung von Rebellionen umgerüstet worden. Für den Eigenbedarf eines Landes, dessen Grenzen seit langem nicht mehr unmittelbar bedroht sind? Vielleicht für Stockcar-Rennen mit militärischem Appeal zwischen den Oasen? Oder lag doch ein von höchster Stelle abgesegneter Verstoß gegen die deutschen Ausfuhrbestimmungen für Waffen vor, den wir in der euphemistischen Diktion der Bundesregierung nur als echauffierend empfinden können.

 

Zurück zu Heckler & Koch, jenem Produzenten von letalen Präzisionswerkzeugen, den der renommierte Rüstungskritiker Jürgen Grässlin als das „tödlichste Unternehmen“ Deutschlands bezeichnet: Seit geraumer Zeit beschießen sich in den Unruhe-Regionen Mexikos korrupte Polizisten und um die Hegemonie kämpfende Drogen-Gangster gegenseitig mit G-36-Sturmgewehren. Man habe nicht die kollabierenden Bundesstaaten direkt beliefert, sondern eine Zentralstelle, die (nach unbekannten Kriterien) die Waffen im Land verteilt habe, rechtfertigte sich H&K. Man kann also bedenkenlos an bestechliche Behörden ausführen und sich dann darüber wundern, wo die Killerinstrumente so alles eingesetzt werden. Die Damen Merkel und von der Leyen wären sicherlich darob pikiert, wenn sie es denn wissen wollten…


 

Der Bundeskriegsministerin bleibt allerdings ein Trost: So schlecht kann das G-36 doch gar nicht sein. Würde es – wie impertinente Kritiker behaupten – tatsächlich bei hohen Temperaturen um die Ecke schießen oder den Dienst am Opfer ganz verweigern, hätten die steinreichen Wüstensöhne und die milliardenschweren Drogenkartelle doch mit Sicherheit einen effizienteren Totmacher angeschafft.

 

06/2015  

 

Dazu auch:

Tod aus Deutschland im Archiv dieser Rubrik      

 

 

 

Die Erpressung

oder

Arm soll arm bleiben!

 

Auf Schloss Elmau empfingen die Mächtigen der Welt bzw. deren politische Statthalter huldvoll Staatschefs aus mehreren afrikanischen Staaten. Der Grund für diese Audienz im G-7-Rahmen: Die Häuptlinge vom dunklen Kontinent sollen Terroristen bekämpfen und Flüchtlinge aus ihren Ländern von Europa fernhalten. Natürlich wurde ihnen Hilfe versprochen, selbstverständlich rief man in salbungsvollen Reden zum Kampf gegen Unterentwicklung, Krankheit und Hunger auf. Zur gleichen Zeit aber zwang die EU mehrere schwarzafrikanische Staaten in eine Handelsunion, die europäischen Konzernen dort ungestörten Warenabsatz garantiert, während die einheimische Wirtschaft eingeht. Brüssel hat es endgültig geschafft, Robin Hoods Devise, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, ins genaue Gegenteil zu verkehren.

 

Auch Kleinvieh macht Mist

 

Während also in Schloss Elmau über die Teilung der Welt und ihrer Ressourcen beraten wurde, übte sich CSU-Minister Gerd Müller, der in Berlin für das klassische Instrument der politischen Erpressung und der wirtschaftlichen Entmündigung von Drittweltländern, die Entwicklungshilfe nämlich, zuständig ist, in Demut und Opferbereitschaft. Er sehe die G-7-Staaten in „herausgehobener Verantwortung“ gegenüber Afrika, erklärte er im ZDF, schon weil der Wohlstand der führenden Industrienationen auf den Ressourcen der afrikanischen Entwicklungsländer beruhe. „Wir müssen neu teilen lernen.“

 

Die deutsche Wirtschaftspolitik benutzt die Entwicklungshilfe als Trojanisches Pferd, ein „vergiftetes“ Geschenk, mittels dessen die Invasion der Handels-, Industrie- und Agrarkonzerne in einem armen Land vorbereitet wird. Mit Interesse werden die Marktmonopolisten die Bestandsaufnahme des Ministers zur Kenntnis genommen haben: „Wir, die 10 Prozent der Bevölkerung, besitzen 90 Prozent des Vermögens und verbrauchen nahezu 80 Prozent der Ressourcen.“ Moment mal! Da verbleiben ja immerhin noch beträchtliche 10 Prozent des globalen Besitzes in den machtlosen Händen der unterentwickelten Eingeborenen. An die müssen wir ran! Und wie das geht, zeigt das Beispiel Ostafrikas.

 

Die Erpressung Kenias

 

Zehn Jahre lang drängte die Europäische Union auf den Abschluss des Freihandelsabkommens EPA mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft, der Ruanda, Burundi, Uganda, Tansania und Kenia angehören. Die Entwicklungsländer verweigerten die Unterschrift aus Sorge um die eigene Landwirtschaft, hatten sie doch mitansehen müssen, wie in Westafrika die einheimischen Geflügelzüchter durch die zu Niedrigpreisen auf den Markt geworfenen Abfälle der europäischen Hühnerknäste  in den Ruin getrieben wurden. Vor allem Kenia, wirtschaftlich etwas potenter als seine Nachbarn, wollte seine Bauern vor derzollfreien Einfuhr subventionierter Agrarprodukte aus der EU schützen.

 

Doch Brüssel pochte darauf, dass die Afrikaner auf 83 Prozent aller Einfuhrabgaben verzichteten, und räumte diesen wiederum den Abbau aller Zölle auf Importe in die EU ein – wie generös angesichts der fehlenden Konkurrenzfähigkeit unterentwickelter Industrien und winziger Landwirtschaftsbetriebe! Als sich Nairobi weiter weigerte, zog die EU die Daumenschrauben an. Zwischen 8,5 und 30 Prozent betrugen nun die Zölle auf kenianische Exportwaren wie Schnittblumen, Röstkaffee, Hülsenfrüchte, Tee oder Ananas. Ein Drittwelt-Land kann solchem Druck nicht lange standhalten, zumal die Produzenten über keinerlei Rücklagen verfügen. Die Regierung in Nairobi knickte ein, unterschrieb den Knebelvertrag, verliert künftig rund 100 Millionen Euro an Zollgebühren im Jahr und kann die vage Hoffnung auf eine eigenständige Agrar- und Gebrauchsgüterproduktion wohl für lange Zeit begraben. Andrew Mold, Handelsexperte der UN-Wirtschaftskommission, sieht düstere Zeiten heraufziehen: „Die EU-Importe werden die bestehende Industrie in Afrika gefährden, die Entwicklung zukünftiger Industriezweige wird verhindert.“

 

Man kann es als offenes Wort ohne altruistische Verbrämung begrüßen, aber dennoch ist es blanker Zynismus, wenn Andreas Wenzel, Lobbyist der deutschen Wirtschaftsverbände, feststellt: „Die in unserer Gesellschaft zutiefst verankerte Ausprägung, dem afrikanischen Kontinent helfen zu müssen, darf keine Maßgabe der Politik sein.“ Keine Sorge, Herr Wenzel, die deutsche Politik ermöglicht Ihrer Klientel brav die Zerschlagung ökonomischer Strukturen in Afrika und besänftigt die Ausgebeuteten, Perspektivlosen und Abkassierten mit Almosen, die sie Entwicklungshilfe nennt.

  

TTIP und die Goldene Regel

 

Anfangs des 17. Jahrhunderts formulierten die Anglikaner eine golden  rule, die so oder so ähnlich als Maxime der verschiedensten Religionen, vom Judentum bis zu den Bahai, sowie in den Philosophenschulen von der Antike bis zur Aufklärung vorkommt und in gereimter Form lautet:

Was du nicht willst, das man dir tu`, das füg auch keinem andern zu.

 

Immer mehr Menschen in Europa begehren gegen die drohenden Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TiSA auf, weil sie um sozial- und arbeitsrechtliche Standards, die Umweltgesetze oder die Gesundheitsvorsorge in der EU bangen. Während (auch diesseits des Atlantiks beheimatete) Großkonzerne die schrankenlose Einflussnahme auf die Legislativein der „Partnerstaaten“ begrüßen und sich auf üppige – ihnen von ominösen Schiedsgerichten zugesprochene – Schadenersatz-summen bei unbotmäßigem Verhalten von Behörden und gewählten Funktionsträgern freuen, wird Millionen immer klarer, dass die letzten Hemmschwellen für globale Profitgier mit Hilfe politischer Handlanger beiseite geräumt werden sollen.

 

Doch die EU ist nicht nur potentielles Opfer des von der Kette gelassenen Freihandels, sie ist längst auch Täter und Nutznießer, wie ihr rücksichtsloses Vorgehen in Afrika belegt. Sie erzwingt für ihre Industriekonzerne und Agrarproduzenten den uneingeschränkten Zugang zu den Märkten in Kenia oder Ruanda und nimmt dabei billigend in Kauf, dass alle bescheidenen Ansätze dort, zu einer ökonomischen Selbständigkeit und einer Versorgungsautarkie zu gelangen, von minderwertigen Warenlawinen überrollt werden, bis sich das um Arbeit und Perspektive gebrachte Volk nicht einmal den letzten Ramsch mehr leisten kann.

 

Und anschließend veranstaltet man Gipfeltreffen in feudaler Abgeschiedenheit und erörtert in entspannter Atmosphäre Strategien für den Kampf gegen den Hunger in Afrika…

 

06/2015

 

Dazu auch:

Die offenen Adern im Archiv dieser Rubrik

Vorsicht, Hilfe! im Archiv dieser Rubrik       

 

 

 

 

Die offenen Adern

Eduardo Galeanos Abrechnung


 

Foto: Karin Gleixner


 


 


 


 


 

 


Vorbemerkung:

Vor wenigen Wochen begann ich den nachfolgenden Text, weil ich zwei „kleinere“ Jubiläen nutzen wollte, um an die immense Bedeutung des Drittwelt-Analytikers Eduardo Galeano und seines wichtigsten Buches zu erinnern: Der Autor wäre im September 75 Jahre alt geworden, und vor 45 Jahren beendete er „Die offenen Adern Lateinamerikas“, ein Standardwerk, dessen Aussagen heute so aktuell sind wie damals. Dann ging die Nachricht von Galeanos Tod am 13. April in Montevideo um die Welt, und aus dem Porträt ist ein Nachrufgeworden.

 

Vor fast einem halben Jahrhundert schrieb Eduardo Galeano, Journalist und Schriftsteller aus Uruguay, ein Buch, das kritisch und politisch denkende Menschen weltweit erschütterte und heute noch neben Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ als die wichtigste Analyse einer Elendsgeschichte namens Dritte Welt gelten kann: „Die offenen Adern Lateinamerikas“. In diesem Jahr wird Galeano 75 Jahre alt; Zeit also, sich mit der Wirkungsgeschichte des Autors und den Lehren, die wir immer noch aus seinem Hauptwerk ziehen sollten, zu beschäftigen.

 

Immer noch bluten die Völker aus

 

Galeano brillierte als Schriftssteller, Lyriker, Dokumentarist und Essayist. Mit der Trilogie „Erinnerung an das Feuer“ schuf er eine Kulturgeschichte Lateinamerikas, die als schillerndes Gewebe aus Originalzeugnissen, indianischen Mythen, dem Furor der Konquistadoren, der Skrupellosigkeit der ökonomischen Eroberer und der Machtlosigkeit, aber auch der Aufstände der hungernden Völker geknüpft wurde; er schrieb Erzählungen und Elogen über den Fußball, musste lange Zeit im Exil leben und wurde auf mehreren Kontinenten mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Dennoch wird sein Name vor allem mit einem Buch in Verbindung gebracht: „Die offenen Adern Lateinamerikas“ riss Menschen in der Ersten Welt aus dem Wohlstandsschlaf, vermittelte den Unterdrückten südlich des Rio Grande Erklärung und Analyse ihrer Lage sowie Hoffnung auf Veränderung, wurde global in vielen Sprachen und noch mehr Auflagen verbreitet – und in den meisten Ländern des Subkontinents bald nach seinem Erscheinen 1971 verboten…

 

Warum aber sollte man sich auch heute noch mit einer Abhandlung beschäftigen, deren Abfassung viereinhalb Jahrzehnte zurückliegt, die das Abhängigkeitsgeflecht von Ländern, Volkswirtschaften und Politik aus der damaligen Sicht beschreibt, wo sich doch angeblich unsere Welt in so rasantem Tempo wandelt? Es gäbe viele mögliche (und richtige Antworten) auf diese Frage nach Aktualität und Relevanz, zwei sollen hier genügen:

 

-     Auch wenn seit dem Beginn der 1970er Jahre etliche Diktaturen in Lateinamerika durch formale Demokratien ersetzt wurden, hat sich weder am materiellen Elend der Bevölkerungsmehrheit noch an der wirtschaftlichen Erpressbarkeit und Bevormundung der dortigen Regierungen durch internationale Konzerne und deren Lobbyisten in den politischen Entscheidungsgremien der USA oder Europas viel geändert. Von Venezuela bis Argentinien: Immer noch sind Staaten von der willkürlichen Marktbewertung ihrer wichtigsten Exportgüter extrem abhängig, immer noch können Hedgefonds und Banken in New York ganze Länder in die Knie zwingen, werden missliebige Regierungen bekämpftund auf Geheiß der internationalen Monopole abgelöst. Die offenen Adern haben sich nicht geschlossen…

-     Jetzt und hier ist eine erbitterte Debatte um die Segnungen und Nachteile des Freihandels und seiner Instrumente (TTIP, CETA und TiSA) entbrannt. In Galeanos Buch finden wir eine genaue, historisch wie ökonomisch begründete Antwort auf die bange Frage, was eine vom stärkeren Partner diktierte Marktherrschaft verursacht: Massenelend, Umweltzerstörung und politische Kapitulation.

   

Arm durch Reichtum

 

Obwohl Galeano aus Regierungsdokumenten, Untersuchungen von Wirtschaftsorganisationen und Universitäten sowie Analysen diverser Autoren zitiert, dabei seine Quellen in Hunderten von Fußnoten offenlegt, sind die Offenen Adern ein höchst spannend und berührend geschriebenes Buch, was sich nicht einem melodramatischen Faible des Autors, sondern der empathischen Sprache und der erschreckenden Wucht der Fakten verdankt. Im Gegensatz zu den vielen Bestsellern, in denen messianische Psychologen, Historiker oder Wirtschaftsführer ihre Botschaften und Weltbilder per Hype und Schmalspur-Systematik kundtun, erzählt Galeano die Tragödie eines Subkontinents (ja, eigentlich der gesamten Dritten Welt) analog messerscharf recherchierter Entwicklungen. Dabei vermeidet er den ebenso akribischen wie redundanten Wissenschaftsslang deutscher Geschichtsprofessoren: „Eine hermetische Sprache ist nicht unbedingt der notwendige Preis für Tiefe. Sie kann in manchen Fällen auch schlicht Kommunikationsunfähigkeit zu einer intellektuellen Tugend erheben.“

 

Nach der Unterwerfung Lateinamerikas durch die spanischen und portugiesischen Konquistadoren, in deren Folge rund 90 Prozent der indigenen Bevölkerung an eingeschleppten Krankheiten, Unterernährung oder körperlicher Erschöpfung im Frondienst starben, machten sich die raubgierigen hidalgos aus der Extremadura und aus dem Alentejo daran, die Ressourcen der Neuen Welt zu plündern, ohne sich bewusst zu werden, dass über den Handel und die Verarbeitung bereits die neuen prä-kapitalistischen Großmächte wie die Niederlande und vor allem England wachten. Galeanos Fazit verdeutlicht, dass der südliche Subkontinent eben durch seinen Reichtum an Metallen, fruchtbarer Erde und wertvollen Agrarprodukten ins Elend gestürzt wurde, während sich für die puritanischen Siedler an der kargen Nordküste Amerikas kein Machthaber interessierte und diese so ungestört von imperialen Gelüsten eine Produktionsgesellschaft aufbauen konnten.


 

In Zyklen verlief die Ausbeutung der Bodenschätze, allen voran der Edelmetalle: Der Run auf das Silber im bolivianischen Hochland war nur der erste Höhepunkt, ein wilder Rausch, der anfangs des 17. Jahrhunderts kurzzeitig Potosí zur größten Stadt der westlichen Welt werden ließ, ein Kaff, in dem blitzschnell grandiose Paläste entstanden, während selbst die Adligen Ratten essen mussten, weil die indianischen Kleinbauern, die den Ort auf über 4000 Metern Höhe mit Lebensmitteln hätten versorgen können, versklavt und in die Mienen verfrachtet worden waren. Nachdem der Silberberg von Potosí ausgehöhlt war, erfasste der Boom das mexikanische Zacatecas, bis auch dessen Minen erschöpft waren.

 

Im 18. Jahrhundert entdeckten in Brasilien die bandeirantes von Sao Paulo riesige Goldvorkommen in der Region Minas Garais.Nun wiederholte sich dort das Drama des Silberfiebers in den Anden: Ouro Preto stieg zu einer der reichsten Städte der Welt auf, Hunderttausende  portugiesischer Goldgräber strömten ins Land, aus Angola wurden schwarze Sklaven für die Minen „eingeführt“, wie in Potosí vernachlässigte man die Landwirtschaft; wie das bolivianische El Dorado verfiel auch Ouro Preto, als die Karawane der Gier zu neu entdeckten Vorkommen weiterzog.

 

Weder Portugal noch Spanien, die „Mutterländer“ hatten viel von dem Reichtum, die Verarbeitung der Edelmetalle übernahmen nämlich Flamen, Holländer und Engländer. Die Zyklen wiederholten sich – wenn auch abgeschwächt – bei weniger edlen Metallen.  Nicht zuletzt die Verfügungsgewalt über die Kupfervorkommen in Chile bewog die USA, den Putsch gegen den gewählten Präsidenten Allende zu orchestrieren. Und als im 19. Jahrhundert Salpeter als wichtigstes Düngemittel (und als Munitionsbestandteil) entdeckt wurde, trieb Großbritannien Chile dazu, die umstrittene Atacama-Wüste als Hauptlagerstätte von Peru und Bolivien zu erobern. Im „Salpeter-Krieg“ blieb Chile Sieger, war aber pleite und hing fortan am Tropf Londons, bis die USA auf den Plan traten.

 

Als ebenso verhängnisvoll wie der Reichtum an Bodenschätzen erwies sich die Fruchtbarkeit des Landes. Nacheinander wurden Monokulturen (Galeano nennt sie „Agrarmonarchen“) wie Zucker, Kakao, Kaffee, Baumwolle oder Bananen für den Export nach Europa und in die USA angelegt. Die Böden waren rasch ausgelaugt, die Lebensmittelproduktion lag darnieder und die Weltmarktpreise verfielen binnen kurzem, weil etwa Kakao in Afrika oder Kautschuk in Südostasien noch billiger kultiviert werden konnten. Ausländische Konzerne wie die United Fruit Company kauften ganze Territorien auf (und die Landesregierungen dazu) und übten quasi staatliche Macht auf „ihrem“ Besitz aus.

 

Von Anfang an hatte Europa dem Subkontinent diktiert, was er zu liefern habe, die USA perfektionierten diese Befehlsstruktur im 20. Jahrhundert noch und griffen ein, wenn eine Regierung nicht spurte. Möglich, dass nun die VR China, die in Afrika und jetzt auch in Nicaragua aktiv ist, als gelehrige Schülerin imperialistischer Wirtschaftslenkung auftritt…

   

Die Arbeitsteilung der Welt

 

Während Lateinamerika (wie die meisten anderen südlichen Weltregionen) die Reichtümer der Plantagen und Minen nach Europa oder später in die USA lieferte, bekam es nicht nur veraltete Investitionsgüter und Fertigprodukte, Waren für den Konsum bis hin zur Bekleidung, zurück – die Handelsherren, Finanziers und Konzernbeauftragten aus den Wirtschaftsmetropolen folgten gleich nach. Die einheimischen Manufakturen und industriellen Anfänge wurden zerschlagen, denn die  „Arbeitsteilung zwischen Pferd und Reiter“ besagt, dass der eine Part Arbeitskraft liefern muss und dankbar zu sein hat für das bisschen behandeltes Gras, das ihm der andere überlässt. Die Ponchos der Landbevölkerung in Peru oder Ecuador wurden nicht mehr von Indianerinnen gewebt, sie stammten aus mittelenglischen Textilfabriken. Und die Sporen des stolzen argentinischen Gauchos wurden in Sheffield gefertigt, so wie das Leder seines Gürtels in Europa hergestellt wurde – womöglich aus der Haut von Pampas-Rindern.

 

Das einzige Land, das sich diesem System widersetzte, wurde dem Erdboden gleichgemacht: Paraguay verbot die Einfuhr der meisten Waren, produzierte für den Eigenbedarf und schuf als erster lateinamerikanischer Staat eine beachtliche Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur. Solche Unbotmäßigkeit mochten die damaligen Herren der Welt in London nicht hinnehmen. Sie schmiedeten eine Tripel-Allianz aus den großen Nachbarn Brasilien und Argentinien sowie deren Zwerg-Vasallen Uruguay. In einem beispiellos blutigen Krieg zerstörte diese ab 1865 das aufmüpfige Land, wobei die Bevölkerung Paraguays auf ein Sechstel „schrumpfte“. Aus der Hoffnung Südamerikas wurde ein korrupt und diktatorisch regierter Operettenstaat, der auch heute noch allenfalls als Paradies für Schmuggler und Soja-Barone Schlagzeilen macht. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, bis zur Nationalisierung des mexikanischen Erdöls wagt keine andere Regierung der Region einen ähnlichen Aufstand gegen die Mächte des Kapitalismus.


 

Diktatur des Freihandels

 

Galeano macht klar, dass die Caudillos des Subkontinents, so bizarr sie in ihrer Vulgär-Philosophie und erfinderischen Brutalität auf uns wirken mögen, meist nichts anderes waren als gewissenhafte Erfüllungsgehilfen der USA und Europas, sozusagen rabiate Pioniere des Freihandels. Wenn wir heute über Verträge wie TTIP diskutieren, dürfen wir nicht vergessen, dass die Länder der Dritten Welt auch von Europa, insbesondere von Deutschland, in Einbahnstraßen des Güter- und Finanztransfers gezwungen wurden – mittels Freihandelsabkommen, die eine eigenständige ökonomische Entfaltung unterentwickelter Staaten verhinderten und diesen Freizügigkeit bei Importen auferlegten, während sich die reichen Gönner mit Schutzzöllen und Agrarsubventionen gegen Konkurrenz aus dem Armenhaus wappnen durften. „Die offenen Adern Lateinamerikas“ ist ein auch heute noch gültiges Lehrbuch über jenen Raubzug des Kapitalismus, den man inzwischen euphemistisch Globalisierung nennt.

 

Nachbemerkung:

Galeano durfte den Beginn des Widerstands auf seinem Subkontinent noch miterleben. Staaten lehnten den Freihandel mit den USA ab und schlossen sich zur Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur zusammen. In Bolivien, dessen indigenem Präsidenten Evo Morales der Autor bis zum Ende ein Freund und Berater war, wurde die Privatisierung der Wasserressourcen verhindert. Moales lässt nun die weltweit größten Silizium-Vorkommen in nationaler Regie abbauen und vermarkten (was zu Fehlern und Verzögerungen führen kann, aber die vollständige Fremdausbeutung à la Potosí verhindern wird). Allerdings musste Galeano auch noch mit ansehen, wie Venezuela mit seiner ganz auf Erdöl fixierten Wirtschaft durch die Preisspiele der Mächtigen auf dem Spotmarkt dem Ruin entgegen treibt, wie in seinem Heimatland die rücksichtslose Anpflanzung schnellwachsender Eukalyptus-Wälder zur Papierherstellung das ökologische Gleichgewicht zerstört. Es gibt Hoffnung, es folgen Rückschläge; wesentlich aber ist die Erkenntnis, dass (auch) mit Hilfe seines Buches viele Menschen erkannt haben, dass sich die Ausblutung stoppen lässt.

 

05/2015

 

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Der Teufelspakt im Archiv dieser Rubrik    

 

 

 

 

Terror auf Bestellung

 

Schwarzgekleidete Krieger des Grauens tauchen gleich apokalyptischen Reiter am Wüstenhorizont auf. Der Islamische Staat, eine Tod und Zerstörung bringende Truppe entfesselter Zeloten, schont in Syrien und im Irak weder ethnische oder religiöse Minderheiten noch antike Stätten des Weltkulturerbes und schockt ein internationales Millionenpublikum mit Enthauptungsvideos. Doch diese archaischen Kreuzzügler, die den unbedarften Medienkonsumenten wie Ausgeburten der Hölle vorkommen mögen, wurden einst als nützliche Idioten gebraucht. Der Aufstieg des IS verdankt sich zu einem Großteil finanzieller und logistischer Unterstützung aus den NATO-Staaten und von deren arabischen Alliierten.

 

Ein Geheimdienst packt aus

 

In den USA dürfen die Medien Einsicht in Geheimdienstdokumente nehmen. Zwar werden diese zuvor stark zensiert, doch enthalten sie im jüngsten Fall immer noch so viel inhaltlichen Sprengstoff, dass die Geschichte des Kriegs in Syrien und die Erfolge des Islamischen Staates zumindest teilweise neu bewertet werden müssen.

 

Die von der Defense Intelligence Agency (DIA) offengelegten Papiere belegen, dass der Geheimdienst schon im August 2012 die Errichtung eines salafistischen Fürstentums, das sich mit Billigung der Türkei und Saudi-Arabiens über die irakisch-syrische Grenze hinweg zu einem islamistischen Staat entwickeln könnte, prognostizierte. Zu Recht warnte die DIA vor „schrecklichen Konsequenzen“ und resümierte: „Die Salafisten, die Muslim-Bruderschaft und Al-Qaida im Irak sind die Hauptkräfte, die den Aufstand in Syrien antreiben.“

 

Die NATO-Strategen kümmerte dies wenig; Assad sollte weg – auch wenn dabei die staatliche und gesellschaftliche Infrastruktur eines Landes geopfert werden müsste. Die Feinde des Regimes in Damaskus wurden teils direkt, teils über die Golfstaaten finanziert und hochgerüstet, ob es sich nun um den Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front oder ein zartes neues Terror-Pflänzchen namens ISIS handelte. Die Analysen der DIA bewahrheiteten sich in atemberaubendem Tempo: ISIS wandelte sich zu IS, gründete ein Kalifat auf syrisch-irakischem Boden, und die angekündigten Konsequenzen hatten Kurden, Christen, Turkmenen und Schiiten zu tragen.

 

Da gibt es schon zu denken, dass IS-Führer Al-Baghdadi, der sich selbst zum Kalifen Ibrahim kürte, zwar nach dem Irak-Einmarsch der US-Streitkräfte von Februar bis Dezember 2004 in einem Gefangenenlager saß, dann aber nach einigem „Training“ entlassen wurde – während doch afghanische Chauffeure oder Kleinbauern, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, von 2001 bis heute in Guantanamo dahinvegetieren.

 

Eigentlich müssten wir hierzulande am besten über die Katastrophe informiert sein, denn bereits vor drei Jahren stellte ein US-Agent neidvoll gegenüber Journalisten fest: „Kein westlicher Geheimdienst hat so gute Quellen in Syrien wie der BND.“ Tatsächlich hören die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes vom türkischen Andana aus den Telefon- und Funkverkehr im Kriegsland ab, während ein Spionageschiff der Bundeswehr vor der syrischen Küste kreuzt und die Gebiete bis 600 Kilometer landeinwärts überwacht. Doch in Deutschland ist Einsicht in die Analysen und Vorgehensweisen der Geheimdienste nicht vorgesehen, und auf klandestine, aber effiziente Weise ist die Berliner Regierung ein verlässlicher Logistik-Partner, wenn es um die Zerstörung ganzer Regionen geht.

  

Der Teufel, den man kennt

 

Natürlich war es den USA und ihren Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten nie um den arabischen Frühling oder eine mögliche Demokratie in Damaskus gegangen. Das Assad-Regime sollte verschwinden, weil es Russland den einzigen Flottenstützpunkt im Mittelmeer einräumte, weil es die schiitische Hizbollah im Libanon unterstützte und mit dem Iran verbündet war. Dazu war jedes Mittel (und jeder Verbündete) recht. Der investigative US-Journalist Seymour Hersh hatte bereits 2007 darauf hingewiesen, dass Washington und Riad salafistische und jihadistische Kräfte im Zedernstaat bewaffneten, während die deutsche Kriegsmarine vor der Küste brav den Nachschub für deren Gegner, die Hizbollah-Milizen,  zu stoppen suchte.

 

Doch nun beginnen die Strategen zu ahnen, was sie schon aus den Kriegen in Afghanistan, in Libyen und im Irak hätten lernen können: Nach schnellen militärischen Siegen verschwinden zwar die Despoten, aber zugleich lösen sich die staatlichen Strukturen auf; ganze Länder zerfallen in Stammesgebiete, und die einstigen Verbündeten wandeln sich von willkommenen Handlangern zu fanatischen Berserkern.


In der Not wird sogar das Undenkbare erwogen, nämlich den Teufel, den man kennt, gegen die neue Höllenbrut zu mobilisieren. So warnte die US-Zeitschrift Foreign Affairs auf ihrer Website vor einer Zerschlagung von Al-Qaida. Die Organisation müsse „am Leben gehalten“ werden, damit ihre Anhänger nicht zum IS überliefen. Islamistische Terroristen sind folglich für Washington Alliierte – solange sie sich gegen gemeinsame Feinde (in diesem Fall Assad und der IS) instrumentalisieren lassen und nicht (wie am 11. September 2001) aus dem Ruder laufen. Um solche Taktiken verschleiern und vermeintliche Erfolge vermelden zu können, verirren sich die US-Militärs bisweilen sogar ins Reich der Phantasie: Es sei gelungen, die Terrorgruppe Khorasan, die nochweit gefährlicher als der IS gewesen sei, zu vernichten, unterrichteten sie die Weltpresse, die solch frohe Kunde sogleich begierig aufgriff. Wenig später stellte sich die „Nachricht“ als Erfindung heraus, eine Gruppe namens Khorasan hatte nie existiert.

    

Die saudischen Blutsbrüder

 

Wann immer sich Konflikte in Vorderasien anbahnen - die Saudis sind schon vor Ort, mit Geld, mit Waffen, manchmal sogar mit eigenen Soldaten. Von der deterministisch-religiösen Denkweise her ähneln sie den Jihadisten, nur sind sie aufgrund ihrer Wirtschaftsmacht geachtete Verbündete. Man könnte sogar sagen, der Westen habe mit ihnen eine innige Freundschaft geschlossen, die mit Blut besiegelt worden sei, dem Blut anderer Völker.

 

Ob Truppen aus Saudi-Arabien 2011 den Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit in Bahrein blutig unterdrückten oder im Augenblick wahllos Städte und Dörfer im Jemen zerbomben, das Herrscherhaus in Riad kann sich stets auf das Wohlwollen der NATO verlassen. Die zahllosen Menschenrechtsverletzungen im rigidesten Gottesstaat der Erde werden angesichts der dortigen Erdöl-Ressourcen und des Volumens der Waffenkäufe, die vor allem für die deutsche Rüstungsindustrie von essentieller Bedeutung sind, verschwiegen oder allenfalls milde relativiert.

 

Es war aber Prinz Turki al Faisal, der einst als Chef des saudischen Auslandsgeheimdienstes seinen Landsmann Usama bin Ladin finanziell und logistisch beim Aufbau von Al-Qaida unterstützte. Heute sitzt der Terroristen-Mäzen sinnigerweise im Beraterstab der Münchner Sicherheitskonferenz.

 

Ein anderer saudischer Prinz, Bandar ibn Sultan, der seit 2005 als Generalsekretär des Sicherheitsrates und ab 2012 als Geheimdienstchef in Riad fungierte, brachte zunächst eine salafistische Terrorgruppe gegen die Hizbollah im Libanon in Stellung, ehe er sich dem Aufbau jihadistischer Milizen in Syrien widmete, wobei auch Gelder an den IS flossen. Der nach ihm benannte Bandar-Plan kann getrost als Gebrauchsanweisung zur Destabilisierung und Zerstörung Syriens gedeutet werden.

 

Eine Weltregion wird zertrümmert

 

Die Geschichte der verdeckten oder direkten NATO-Interventionen ist reich an Bündnissen mit Gangstern, Mördern und Kriegsverbrechern. Zwar soll nicht verschwiegen werden, dass einst auch die UDSSR und bis in die jüngste Vergangenheit Russland sowie die VR China reichlich düstere Allianzen pflegten, doch sucht die brachiale Systematik, mit der zurzeit ein Großteil des Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas zertrümmert werden, seit den Versuchen, Laos und Vietnam „in die Steinzeit zurück zu bomben“ (US-Luftwaffengeneral LeMay), ihresgleichen.

 

Libyen, Somalia, Afghanistan, Jemen, Irak und Syrien sind nur die eklatantesten Beispiele für failed states, wie die zerstörten Zivilisationen euphemistisch umschrieben wird. Und stets halfen Waffen, Know-how und Gelder aus dem Westen mit, ganze Völker zu entwurzeln. Wo man sich die Hände nicht schmutzig machen wollte, stärkte man den religiösen Imperialisten in Saudi-Arabien oder Qatar den Rücken. Nun Mitgefühl für die Opfer zu äußern, ihnen aber gleichzeitig den Weg übers Mittelmeer zu versperren, ist nur ein weiterer Beweis für die der aktuellen Politik immanente Heuchelei.

 

06/2015

 

Dazu auch:

FREIHEIT und DEMOCRACY – NATO-Bemühungen um Menschenrechte (eine Auswahl) in diesem Archiv      

 

 

 

Menschenrechtsstadt?

 

Nach einer glorreichen spätmittelalterlichen Ära als des Kaiserreiches Schatzkästlein erarbeitete sich Nürnberg in späteren und noch wesentlich dunkleren Zeiten die Attribute als Stadt der Reichsparteitage und Heimat der Rassengesetze. Es ehrt die Kommune, dass sie sich dieser schändlichen Vergangenheit offensiv stellt und sich nun als Stadt der Menschenrechte profilieren will. Aktivisten, vornehmlich aus der Dritten Welt, werden alljährlich mit einem international renommierten Preis geehrt, und eine von dem israelischen Künstler Dani Karavan konzipierte Straße der Menschenrechte weist auf das hin, was global selbstverständlich sein sollte, es aber vielerorts nicht ist. In den Nürnberger Amtsstuben aber scheint der neue Geist des Humanismus noch nicht so recht heimisch geworden zu sein.

 

Der Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly gilt nicht nur als der einzige populäre Sozialdemokrat in Bayern – mit seiner lässigen, aber freundlichen Art stellt er so etwas wie einen integeren Gegenentwurf zu seinem stets etwas schmierig wirkenden Lokalkonkurrenten von der Union, Finanzminister Markus Söder, dar. Maly, der zurzeit auch als Präsident des Deutschen Städtetages amtiert, wird nicht müde, im eigenen Freistaat und im ganzen Bundesgebiet auf eine angemessene Unterbringung von Flüchtlingen zu drängen oder auf DGB-Veranstaltungen das Recht auf Asyl sowie eine Willkommenskultur für Migranten einzufordern. Zweifellos steht ein solcher Repräsentant der selbsternannten Stadt der Menschenrechte wohl an, doch bei näherem Hinsehen gerät der Glaube an die von ihm verbreitete frohe, menschenfreundliche Kunde schnell ins Wanken. Es scheint so, als habe sich der polyglotte OB, der gern über den Niederungen der Bürokratie und des Parteiengezänks schwebt, zu wenig um die tatsächlichen Verhältnisse in der eigenen Kommune gekümmert.

 

Nürnberg ist keine sichere Stadt für Flüchtlinge und politisch Verfolgte, und dies liegt nicht nur an einem faschistoiden Subklima, in dem drei NSU-Morde begangen wurden, der Rechtsextremist Helmut Oxner auf sechs Ausländer schoss, dabei drei tötete, und Karl-Heinz Hoffmanns Wehrsportgruppe Terroranschläge plante; verantwortlich für Unsicherheit und Angst unter Asylbewerbern sind auch die lokalen Behörden.


Da wollte das kommunale Ausländeramt die Kurdin Leyla Sultan Karayigit an ihrem 18. Geburtstag zwangsweise abschieben lassen und berief sich auf Verfassungsschutzerkenntnisse, denen zufolge vier Jahre zuvor die damals 14-jährige (!) auf einer Demonstration „Hoch lebe Öcalan!“ gerufen, also dem Chef der trotz ihres Kampfes gegen den IS immer noch verbotenen PKK gehuldigt haben soll. Als sie 22 Jahre alt ist, wird die junge Frau, die gerade eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert, nach Ablehnung ihres Asylantrags erneut mit der zwangsweisen Überführung in die Türkei bedroht, obwohl den Behörden bekannt sein muss, wie dort mit verdächtigen Angehörigen der kurdischen Minderheit verfahren wird.

 

Da wird in Nürnberger Ämtern mit einer im Rahmen des Projekts „Zentrale Rückkehrberatung für Flüchtlinge in Nordbayern“ erstellten Broschüre des Roten Kreuzes gearbeitet, die Matthias Weinzierl vom Bayerischen Flüchtlingsrat für „zynisch“ hält und deren verharmlosenden Inhalt Bernd Mesovic von Pro Asyl als Anleitung zu „erzwungener Freiwilligkeit" klassifiziert.

 

Besonders „inhuman“ (Nürnberger Nachrichten) aber verhielten sich die Behörden im jüngsten Fall und mussten sich deshalb Vorwürfe wegen „unnötiger Härte“ sowie „unwürdigen Umgangs“ von Stadträten der ÖDP und der Grünen gefallen lassen: Eine 22-jährige Mutter aus dem Kosovo wurde mitten in der Nacht mit ihrem eineinhalb-jährigen Sohn aus der Asylbewerber-Unterkunft geholt und in ihre Heimat abgeschoben. Nach Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft war sie von ihrer Familie in eine Zwangsehe mit einem erheblich älteren, gewalttätigen Mann gezwungen worden, aus der sie vor zwei Jahren nach Deutschland floh. Ein erster Asylantrag war abgelehnt worden, mit Hilfe von Mitarbeiterinnen des Internationalen Frauencafés konnte sie einen detailliert begründeten Folgeantrag stellen. Dieser sei auch abschlägig beschieden worden, betonte der Leiter des Nürnberger Ausländeramtes, Olaf Kuch. Die Pädagogin Elisabeth Schwemmer vom Frauencafé erklärt hingegen, über den Antrag sei vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch überhaupt nicht entschieden worden.

 

Wie dem auch sei, das Ausländeramt hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Daten der Mutter an das bayerische Innenministerium weiterzuleiten, was zu der für die Opfer traumatischen Nacht-und-Nebel-Aktion führte. Selbst wenn ein solches Vorgehen durch die Buchstaben irgendeines Gesetzes oder einer Verordnung gedeckt sein sollte – Menschenrechte und Gerechtigkeit sehen anders aus, zumal auch hätte geprüft werden müssen, welche Gefahren vonseiten ihrer Verwandten der Frau im Kosovo drohen. Wer auf einEingreifen des Oberbürgermeisters oder eine Maßregelung der bedenkenlosen Beamtengehofft hatte, wurde – wieder einmal – enttäuscht.

 

Selbst der Bayerische Rundfunk attestierte dem Ausländeramt in Nürnberg, dort agiere man „ohne jedes Feingefühl“. Die von der Stadtverwaltung daraufhin angebotenen „Schulungen in interkultureller Kompetenz“ scheinen entweder nicht wahrgenommen worden zu sein oder den Intellekt der Teilnehmer überfordert zu haben. Bezeichnend dazu auch ein Beitrag des Politsatire-Magazins quer im Bayerischen Fernsehen: Eine junge hochqualifizierte Frau aus Indien wollte sich auf dem Ausländeramt nach den Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten in der Nürnberger Region erkundigen, musste aber erfahren, dass dort kein potentieller Ansprechpartner Englisch verstand. Auf Nachfragen der quer-Reporter konterkarierte Behördenleiter Olaf Kuch, dem stramme CSU-Nähe nachgesagt wird, des Oberbürgermeisters hehre Intention einer Willkommenskultur mit der ihm eigenen Sensibilität, indem er ausführte, dass man sich hier in Deutschland befinde und die Amtssprache folglich Deutsch sei.

 

Es wird Zeit, dass Ulrich Mahly die obersten Sphären der (folgenlosen) guten Absichten verlässt und in der trüben Realität seiner Nürnberger Bürokratie landet. Andernfalls müsste man ihm künftig glatt unterlassene Hilfeleistung vorwerfen.

 

05/2015

 

   

 

 

Hüter der Spitzel

 

Die amtierende Bundesregierung zeichnete sich noch nie durch Offenheit, Aufklärungseifer und vor allem politisches Verantwortungsbewusstsein aus, ihre Reaktion auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion zum Oktoberfest-Attentat aber kann man - bei  Wohlwollen und Unschuldsvermutung – nur für dumm und ignorant oder – bei Unterstellung böser Absichten – doch für  verlogen und zynisch halten.

 

Bei dem Sprengstoffanschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 kamen 13 Menschen ums Leben, 211 wurden verletzt, 68 davon schwer. Schnell ist der „Einzeltäter“ entlarvt: Der Student Gundolf Köhler, de rbei dem Attentat selbst starb, was langwierige Verhöre ersparte, soll allein verantwortlich gewesen sein. Dass sich eine Zeugin meldet, die einen weiteren Beteiligten am Tatort gesehen hat, dass ehemalige V-Leute auf die Wehrsportgruppe des Nürnberger Nazis Karl-Heinz Hoffmann, der auch Köhler angehört hatte, als Drahtzieher hinwiesen, dass den Ermittlern serienweise Pannen und Versäumnisse unterliefen, wurde von den Verantwortlichen nonchalant verschwiegen oder bagatellisiert. Beim Verwischen von Spuren und Vertuschen von Fakten tat sich vor allem der damalige bayerische Staatsschutz-Chef Dr. Hans Langemann hervor, der so seinem obersten Dienstherren zur Hilfe eilte. Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Franz-Josef Strauß, der Wahrheit nie sonderlich zugetan, hatte nämlich mitten im Wahlkampf behauptet, das Attentat sei von Linksradikalen begangen worden. Da hätte die Aufklärung eines rechtsextremen Komplotts nur geschadet…

 

Es ist Ulrich Chaussy, Reporter des Bayerischen Rundfunks, zu verdanken, dass auch nach 35 Jahren noch kein Gras über das braune Schandmal auf der Wiesn gewachsen ist. Der Journalist recherchierte unermüdlich und brachte die „Einzeltäter“-Hypothese ins Wanken, wie auch der Film „Der blinde Fleck“ zeigt. Nur hartgesottene Ignoranten konnten nun noch einen breiten rechtsradikalen Hintergrund unter Beteiligung von V-Leuten in der Rolle von Zeugen, Mitläufern oder gar Mittätern leugnen. Parallelen zur NSU-Mordserie sind offensichtlich. Selbst die Generalbundesanwaltschaft, nicht gerade für ihre Wachsamkeit neonazistischen Gewalttaten gegenüber berühmt, nahm neue Ermittlungen auf.

 

Die Kleine Anfrage der Grünen zum Oktoberfest-Anschlag hatte also einen durchaus aktuellen Anlass und entsprach der Kontrollpflicht des Parlaments. Wenn aber diese Geschichte voller Ungereimtheiten und dubioser Geheimdienst-Aktivitäten aufgeklärt werden sollte, so mussten Ross und Reiter beim Namen genannt, also den beteiligten Spitzeln Gesichter und wahre Identität zugeordnet werden. Somit verlangten die Grünen völlig zu Recht Informationen über die damals agierenden V-Leute. Was dann geschah, nennt der SZ-Journalist Stefan Braun einen „Skandal“, und er meint damit die Antwort der Bundesregierung, der übrigens eine Partei namens SPD angehört, die, wäre sie noch in der Opposition, ihrerseits Aufklärung gefordert und selbst lauthals „Skandal!“ gerufen hätte:

 

Würden Einzelheiten hierzu (Anm.: Führung von V-Leuten) oder Namen einzelner V-Leute bekannt, könnten dadurch Rückschlüsse auf den Einsatz von V-Leuten und die Arbeitsweise der Nachrichtendienste gezogen werden. Es entstünde die Gefahr, dass Fähigkeiten, Methoden und Informationsquellen der Nachrichtendienste bekannt würden und damit ihre Funktionsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt wäre.

 

In bündigen Klartext übersetzt, bedeutet diese Frechheit: Wenn wir endlich wüssten, wie die Spione und ihre Helfershelfer in der Szene vorgehen und was sie so alles anstellen, könnten sie nicht mehr so verdeckt funktionieren wie bisher, also eine Blutspur vom Oktoberfest bis zum Nationalsozialistischen Untergrund, von München über Nürnberg bis Dortmund und Rostock ziehen. Auch wäre es ihnen dann kaum mehr möglich, den halben Vorstand der NPD zu übernehmen, die ideologische Ausrichtung der Partei mitzubestimmen und so – ganz nebenbei – ein Verbot durch das Bundesverfassungsgericht zu unterlaufen.

 

Die Bundesregierung ist offenbar der Meinung, dass es Dinge im geheimdienstlichen Halbdunkel gibt, die unbescholtene Bürger nicht wissen sollten (wenn sie denn wollten).


04/2015

Dazu auch:

Doofe Spione? im Archiv dieser Rubrik          

 

 

 

Verramschter Verkehr 

 

Die Presse vermeldet es pflichtschuldig, zeigt aber – mit Ausnahme weniger kritischer Artikel, etwa im Spiegel oder in der taz – nur selten die Konsequenzen und Verwerfungen auf: Sahnestückchen und wichtige Planungsprojekte der deutschen Infrastruktur werden peu à peu an private Bauträger und mit ihnen verbündete Finanzfonds oder Versicherungskonzerne verscherbelt. Der Bürger wird künftig als Steuerzahler enteignet und entmündigt, aber als Nutzer ausgenommen.Verhandelt werden die Deals, wie wir es von TTIP kennen: unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

 

Dobrindts Rechenfehler

 

Alexander Dobrindt, der Inkompetenz bleicher Bruder, glaubte trotz der Maut-Posse endlich wieder gut lachen zu haben. Fröhlich gab er den Startschuss für den achtspurigen Autobahn-Ausbau der A 8 nördlich von Hamburg auf 65 Kilometer Länge. Die Staatskasse wird dabei (zunächst) geschont, denn der Konzern Hochtief buddelt in Eigenregie und lässt seinen Partner, den niederländischen Investmentfonds DiF, das nötige Geld einsammeln. Solche Privat-Unternehmungen zur Aufrechterhaltung öffentlicher Infrastruktur kündigte Dobrindt auch gleich für die A 57 bei Köln und die A 3 bei Erlangen an. Als Belohnung für ihre Vorleistungen dürfen die Konzerne anschließend Autobahnen (demnächst wohl auch Brücken und Wasserstraßen) für Jahrzehnte betreiben und erhalten Vergütungen vom Bund. Was der Verkehrsminister für ein Schnäppchen hält, weil dem Bund hohe Anfangskosten erspart bleiben, wird mittel- und langfristig noch teuer für die Staatsfinanzen werden. Gutachten und Kalkulationen zeigen, dass Dobrindt sich verrechnet hat. Und damit ist er nicht allein in dieser Regierung.

 

Sollten, wie üblich, die Kosten während des Ausbaus der A 7 rasant in die Höhe schnellen, ist Hochtief aus dem Schneider: Die Europäische Investitionsbank sichert die Unwägbarkeiten der Fertigstellung ab. Wenn das Verkehrsaufkommen in den nächsten Jahrzehnten unter den Erwartungen bleibt oder unvorhergesehene Schäden auftreten sollten, würden Hochtief und die Investoren eigentlich weniger verdienen, doch können sie dann Nachforderungen an den Bund stellen. Ein unternehmerisches Risiko ist also eigentlich nicht vorhanden, da die Steuerzahler bei Pleiten, Pech und Pannen in die Pflicht genommen würden. Wie dies genau in den Verträgen festgehalten ist, bleibt der Öffentlichkeit verborgen, da die Verhandlungen und ihre Resultate als top secrets gehandelt werden; TTIP lässt grüßen.

 

Der Allianz-Traum: Profit und Sicherheit

 

Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP) werden diese Vereinbarungen zum Wohle von Unternehmen und Investoren genannt. Kritiker bemängeln, dass die Kosten für den Staat nur anfangs ausgelagert seien, später aber unkalkulierbar würden, da niemand die Entwicklung der nächsten 30 Jahre voraussehen und mögliche Nachforderungen an den Bund kalkulieren könne. Sie weisen auch darauf hin, dass es im Kern um die Verbesserung der Infrastruktur gehe, die Konzerne aber lediglich die Optimierung ihrer Gewinne im Auge hätten. Schwer ins Gewicht fällt auch ein vernichtendes Urteil des Bundesrechnungshofes aus dem Sommer 2014: Die Revisoren hatten nach eingehender Prüfung festgestellt, dass bisher fünf der sechs ÖPP-Autobahnprojekte die Steuerzahler um zwei Milliarden Euro teurer gekommen seien, als dies bei herkömmlicher Finanzierung aus dem Staatshaushalt bzw. durch Kreditaufnahme der Fall gewesen wäre.

 

Die beiden wichtigsten Lobbyisten der Wirtschafts-und Finanzhegemonie, Wolfgang Schäuble und Sigmar Gabriel, lassen solche Pfennigfuchsereien freilich kalt. Der Finanzminister spricht bereits davon, künftig „alle Fernstraßen“ von den schlauen Konsortien betreiben zu lassen, und der Wirtschaftsminister hat den ÖPP erst die Türen zur risikofreien Profitmaximierung geöffnet, indem er sie von einer „Expertenkommission“, in der die Allianz und die Deutsche Bank vertreten waren, konzipieren ließ. Ausgerechnet jene Konzerne, die angesichts der niedrigen Zinsen dringend ein sicheres Treibhaus für ihr Geldwachstum suchten, durften den Staat (und damit den Steuerzahler) in die Rolle des Gärtners und Alleinhaftenden drängen.

      

Für Assekuranz-Konzerne wie die Allianz wird mitten in schwierigen Zeiten ein Traum wahr. Der Garantiezins für Lebensversicherungen ist derzeit völlig unattraktiv, weil das Unternehmen selbst die Gelder nicht mehr lukrativ anlegen kann. Mit dem Erwerb von sicheren Staatsanleihen lässt sich kaum die Inflationsrate ausgleichen. Bei einem ÖPP-Projekt kalkuliert die Allianz allerdings mit einer Rendite von sieben Prozent, und das bei langer Laufzeit und – aufgrund der Absicherung durch den Bund – ohne jedes Risiko.

 

Der Publizist Jens Berger rechnete im kritischen Online-Dienst NachDenkSeiten (s. Achtung, Links!) zwei Szenarien für den Autobahnausbau durch und kommt  zu einem Ergebnis, dass die Allianz-Mächtigen und Konsorten jubeln, alle anderen Bundesbürger aber stöhnen und darben lässt:

  In der heutigen Niedrigzins-Phase könnte sich der Staat bei einem Projekt von 1.000 Millionen Euro Volumen auf 30 Jahre Laufzeit zu einem Prozent verschulden. Weil die laufenden Einnahmen aus der Maut die Zinsschuld verringern, würden sich die effektiven Kosten am Ende auf 1.145 Millionen belaufen.

  Beim gleichen Projekt mit ÖPP-Realisierung würden die Mauteinnahmen zum Zinsdienst (7 Prozent) und zu Tilgungsabschlägen eingesetzt. Innerhalb von 30 Jahren summieren sich die Kosten auf 2.015 Millionen.


Die Partnerschaft mit der Allianz oder einem anderen Investor würde den Bund (die Steuerzahler) also eine knappe Milliarde kosten. Und zusätzlich steht er für alle Verzögerungen, technischen Probleme und Unwägbarkeiten gerade. Berger nennt die ÖPP-Finanzierung von Projekten der Infrastruktur „eine lupenreine Umverteilung von unten nach oben“.


Schnäppchen für Briten

 

Was Dobrindt und Schäuble im bundesdeutschen Maßstab vorexerzieren, möchte die Bayerische Eisenbahngesellschaft (BEG) auch auf den öffentlichen Personennahverkehr (ÖNVP) übertragen: den Rückzug des Staates aus den infrastrukturellen Aufgaben zugunsten privater Profitinteressen.

 

Seit der Regionalisierung 1996 sind die Bundesländer für den öffentlichen Schienennahverkehr zuständig. Die BEG, somit eine hundertprozentige Tochter des bayerischen Wirtschaftsministeriums, überraschte im bodenständigen Freistaat mit der Vergabe des Nürnberger S-Bahn-Netzes an das britische Unternehmen National Express. Die Verträge mit der immerhin noch halbstaatlichen Bundesbahn, dem bisherigen Betreiber, laufen 2017 aus. Rund 500 Mitarbeiter fürchten nun um ihre Jobs, die Kommunalverantwortlichen in Nürnberg bangen um die flächendeckende Präsenz des VGN, eines der größten deutschen Nahverkehrsverbünde, in dem die S-Bahn eine wichtige Funktion bei der Versorgung auch dünn besiedelter ländlicher Räume innehat.


Die BEG und ihren obersten Dienstherren Markus Söder interessieren solche Bedenken nicht, auch scheinen sie einen Blick auf die Privatisierungserfahrungen in Großbritannien zu scheuen. Dort nämlich ging in die Binsen, was immer die gewinnorientierte Wirtschaft mit Hilfe konservativer Politiker in die Klauen bekam: Die privaten Betreiber der Londoner U-Bahn gingen bald pleite, so dass die Kommune wieder einspringen musste. Die Wasserversorgung in Unternehmenshand wird durch enorm steigende Preise, lecke Rohre und Verluste des kostbaren Nasses von bis zu 40 Prozent gekennzeichnet. Die Privatisierung der Eisenbahn führte zu zahllosen Unfällen mit vielen Toten und dem Verfall des Schienennetzes, den nur die Regierung (hier der Reparaturbetrieb des Kapitalismus im Wortsinn) und mit ihr die Steuerzahler durch Milliardeninvestitionen aufhalten konnten.

 

Glänzende Aussichten für den fränkischen Regionalverkehr, die Anbindung abgelegener Dörfer, die Schulwege, Einkaufsmöglichkeiten und Arztbesuche der Landbevölkerung also…  


Diese Fakten und die Bedenkenlosigkeit der bayerischen Politik zeigen, dass es bei den Privatisierungen nicht um wirtschaftliche Erwägungen oder Kostenreduzierung geht, sondern um die Durchsetzung der neo-liberalen Ideologie um jeden Preis. Und mit der Nürnberger S-Bahn muss noch lange nicht Schluss sein, National Express hat bereits das Münchner ÖPNV-Netz ins Visier genommen.

 

Der Staat als Deserteur und Pate

 

In grauen Vorzeiten sprachen die Jusos, sozusagen die aufmüpfigen SPD-Knirpse, die heute in der Regierung sitzen, vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus, einem Modell, in dem der Staat stützend eingreift, wenn die Privatwirtschaft ihre Unternehmungen gerade wieder an die Wand fährt. In der Interpretation der heutigen Großen Koalition kann der Staat aber noch viel mehr: Er leitet auch ohne Krise die Steuereinnahmen auf die Konzernkonten und in die Kriegskassen der Investmentfonds weiter. Dafür zieht er sich aus der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge zurück und überlässt es der Clique, die sich stets um den eigenen Vorteil mustergültig kümmert, die Rahmenbedingungen der technischen und sozialen Infrastruktur für alle zu bestimmen und zu gewähren.


Unzufriedene Bürger können sich nicht mehr an Kommunen, vereidigte Beamte und gewählte Politiker wenden, ihr Einspruch verpufft in den Vorräumen gesichtsloser Konsortien, ihr Protest wird von Konzernjuristen bearbeitet oder abgelegt. Die Regierungen in Bund, Land und Gemeinde erweisen sich für sie als überflüssig (was sie immer schon geargwöhnt hatten). Banker, Großunternehmer und Fondsmanager sehen das naturgemäß etwas anders. Ihnen ebnet das Kabinett den Weg zum risikoarmen Gewinnspiel und kauft ihnen auch noch die Nieten ab.

 

03/2015

Dazu auch:

Fragen an die Irren im Archiv dieser Rubrik

Die dritte Drohung im Archiv dieser Rubrik

  

 

 

 

Service für Folterer

  

Die innige Verflechtung der deutschen Großkonzerne mit der NS-Diktatur wurde spätestens in den Nürnberger Prozessen offengelegt. Die heutige Staatsform der Bundesrepublik taugt zwar eher für dezenten, aber höchst effizienten Lobbyismus in der Heimat anstelle solch krimineller Beziehungen, doch scheinen sich unsere Vorzeigeunternehmen in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten weiter diversen Diktaturen konsequent angedient und dabei Oppositionelle denunziert zu haben, wie jüngst der Fall VW in Brasilien nahelegt.

 

Vor der Wahrheitskommission

 

„Sie lachen uns aus!“ stellte der Vorsitzende der brasilianischen Wahrheitskommission zur Aufklärung der während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) begangenen Verbrechen dieser Tage in Sao Paulo fest, und er kündigte an, die „absolut unbefriedigenden“ Ergebnisse an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, was Zivilklagen und hohe Schadenersatzforderungen zur Folge haben wird. Beim Adressaten dieser barschen Attacken handelte es sich um Rogerio Varga, der als rechtlicher Vertreter eines honorigen deutschen Konzerns fungiert: Volkswagen.

 

Wie nicht nur staatliche Ermittler, sondern auch Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters herausfanden, hatten bei der brasilianischen Niederlassung VW do Brasil „schwarze Listen“ über bestimmte Mitarbeiter existiert, deren Namen den Sicherheitskräften der Diktatur zugänglich wurden. Entlassung, Inhaftierung, Folter und anschließende Arbeitslosigkeit waren die Folgen der Bespitzelung, die sich vor allem gegen aktive Gewerkschaftsmitglieder richtete. Die Aversion gegen Arbeitnehmer, die ihre Rechte einfordern, scheinen überall auf der Welt Konzernverantwortliche und Junta-Generäle gleichermaßen zu teilen.

 

VW-Mann Varga hatte seine Brötchengeber mit einer lapidaren Feststellung verteidigt: „Es wurde in keinem (Anm.: firmeninternen) Archiv ein Dokument gefunden, das Volkswagen in irgendeinen Zusammenhang mit der Verletzung von Menschenrechten stellt.“ Tatsächlich aber hatte  bereits 2013 der Generalstaatsanwalt der Republik konstatiert, dass deutsche Konzerne wie VW und Mannesmann über das Forschungsinstitut Ipes sowie über GPMI, die Mobilisierungsgruppe des Industrieverbandes, die Repressionspartner der Obersten Heeresschule, und die OBAN, Militärs, die auf die Bekämpfung Oppositioneller spezialisiert waren, finanziell unterstützt hatten. Und zumindest in einem Fall ist Tortur im Werk selbst dokumentiert: Der VW-Beschäftigte Lucio Bellentani wurde vom Arbeitsplatz weg mit vorgehaltenen Maschinengewehren in die Sicherheitszentrale des Werks gebracht und dort misshandelt.

 

Der Gewerkschafter Luis Inacío da Silva warnte 1980 die VW-Mitarbeiter vor der Bespitzelung durch den Leiter der werksinternen Sicherheitsabteilung. Umgekehrt denunzierte der Konzern da Silva als gefährlichen Aufrührer bei den Sicherheitskräften der Diktatur. Manchmal erweisen sich aber die Einschätzungen des Kapitals als kurzsichtig und seine Maßnahmen als kontraproduktiv: Da Silva überlebte und war, besser bekannt unter seinem Sptznamen Lula, von 2003 bis 2010 Brasiliens Staatspräsident.


Daimler und die Generäle

 

Im Zuge der Ermittlungen nannte die Wahrheitskommission auch andere Namen, die zu den ersten Adressen der deutschen Wirtschaft  zählen, Siemens und Daimler etwa. Überhaupt fällt auf, dass sich in Lateinamerika vor allem die Stuttgarter und Wolfsburger Autobauer mit Vollgas in die Arme der uniformierten Schlächter warfen.


Am 24. März 1976 übernahm eine Generalsjunta unter dem Vorsitz von Jorge Videla die Macht in Argentinien. Bis 1983 hielt die Militärdiktatur mithilfe von Massakern, Entführungen und Folter den Staatsterror aufrecht; rund 30.000 Menschen fielen der Repression zum Opfer. Doch schon ein Jahr nach dem Putsch pries Klaus Oertel, der damalige Vizepräsident von Mercedes-Benz Argentinien (MBA) die „Wiederherstellung der Ordnung“ und die „Bekämpfung der Subversion“. Direktoren trafen sich mehrmals mit Armeeoffizieren, und 1978 stellte das Unternehmen dem Heer ein Gebäude für „eine vom Militär geplante Säuberungsaktion“ (Direktoriumsprotokoll) zur Verfügung.


Nachdem die Junta infolge der Niederlage gegen Großbritannien im Krieg um die Malvinas (Falklands) zusammengebrochen war, wurde MBA, gestützt auf Recherchen der deutschen Journalistin Gaby Weber, vorgeworfen, das Verschwinden (und damit höchstwahrscheinlich den Tod) von neun Mitarbeitern und Gewerkschaftern sowie die Folterung von acht weiteren veranlasst zu haben. Zumindest im Fall Reimer belegt ein Vermerk in den Akten der Geheimpolizei (SIDE) zweifelsfrei,dass der Arbeitervertreter von MBA beim Geheimdienstbataillon 601 als Propagandist angezeigt worden war – kurz nachdem er erfolgreiche Tarifverhandlungen in der Werkszentrale geführt hatte. In der Nacht auf den 5. Januar 1977 wurde Reimer verschleppt und verschwand für immer.

 

In der Rechtsnachfolge von MBA versuchte sich DaimlerChrysler von den Vorwürfen reinzuwaschen, indem man ein Gutachten bei dem Berliner Völkerrechtler Christian Tomuschat bestellte, der quasi als Ein-Mann-Kommission die Sachverhalte untersuchte und seinem Auftraggeber den gewünschten Freispruch (allerdings dritter Klasse) bescherte: Zwar habe der Konzern mit dem SIDE in Kontakt gestanden, zwar habe es nachweislich mindestens einen Betriebsangehörigen als Agitator gemeldet (der daraufhin verschwand), aber: „Es gibt keinerlei Belege, dass die verschwundenen Betriebsangehörigen auf Betreiben der Unternehmensleitung von den staatlichen Sicherheitskräften verschleppt und ermordet worden wären.“ Wo Zeugen und Leichen fehlen, kann dieser Argumentation zufolge nichts Unrechtes geschehen sein. Selbst die eher konservative Neue Zürcher Zeitung befand damals: „DaimlerChrysler hat die Gelegenheit verpasst, durch eine wirkliche Kommission von Fachleuten eine unparteiische Darstellung der Vorgänge erstellen zu lassen.“

 

Doch nicht nur MBA offenbarte Sympathien für die argentinischen Mörder in Uniform, auch andere Flaggschiffe der deutschen Industrie wie Siemens, Thyssen und vor allem auch die Rüstungskonzerne Kraus-Maffei und Rheinstahl suchten die Kooperation mit der Junta. Während sogar die US-Regierung nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Jimmy Carter alle Rüstungsexporte nach Argentinien wegen der dortigen Menschenrechtsverletzungen stoppte, hielt die sozialliberale Koalition in Bonn die ausgezeichneten Beziehungen zu Buenos Aires weiter aufrecht. Im trauten Schulterschluss setzten sich bundesdeutsche Wirtschaft, Politik und – last but not least – Diplomatie über kleinliche humanistische Bedenken hinweg.


Furchtbare Diplomaten

 

In den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts entsandte das Auswärtige Amt (AA) der noch jungen Bundesrepublik so viele Alt-Nazis und NS-Mitläufer als Botschafter oder Attachés nach Lateinamerika, dass Böswillige vermuteten, man wolle den Kriegsverbrechern, die über die vom Vatikan eingerichtete Rattenlinie via Kroatien über den Atlantik in die Tropen geflohen waren, Partner zum Skatspiel vorbeischicken.


Doch nicht nur die braun Sozialisierten, auch ihre Nachfolger in den bundesdeutschen Botschaften südlich des Rio Grande verhielten sich bei humanitären Entscheidungen oft im Geist der alten Kameraden und im Sinn der Konzerne zu Hause. Als 1973 General Pinochet in Chile die gewählte Regierung Allende stürzte, verhinderte Bonns Amtsträger Kurt Luedde-Neurath, einst Mitglied bei NSDAP und SA, erfolgreich, dass sich verfolgte Menschen auf das Botschaftsgelände retten konnten. Für die Regierung Brandt war das okay, sie wollte ohnehin keine linken Flüchtlinge aus dem Anden-Staat aufnehmen und damit die guten Wirtschaftsbeziehungen sowie das Wohlwollen der damaligen US-Administration aufs Spiel setzen. Als drei Jahre später die Militärjunta in Argentinien die Macht ergriff, residierte Hans Jörg Kastl, bis dahin politisch nicht vorbelastet, als Botschafter in Buenos Aires, und er machte sich um die gedeihliche Zusammenarbeit der bundesdeutschen Geheimdienste mit den Folterspezialisten der Generäle verdient.

 

Immer wieder warnte Kastl die sogleich lernfähige Regierung Schmidt in Memoranden davor, das Menschenrechtsthema überzustrapazieren, da die argentinischen Machthaber damit drohten, „wirtschaftliche Verträge wieder rückgängig zu machen“. Briefe von Folteropfern leitete er an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) oder den Bundesnachrichtendienst (BND) weiter und richtete zugleich in der Botschaft ein Büro für einen Offizier des SIDE (Deckname: Mayor Peirano) ein, damit die Agenten aus beiden Staaten enger miteinander kungeln konnten. Kastl ließen nicht nur die 30.000 argentinischen Opfer des Putsches kalt, er kümmerte sich auch nicht um das Schicksal von rund 100 deutschen oder deutschstämmigen Verschleppten.

 

Zur Folterung und Ermordung der deutschen Studentin Elisabeth Käsemann fielen dem Botschafter nur flapsige Bemerkungen ein: „Die Käsemann überquerte den Schießplatz und geriet in die Schusslinie. So einfach ist das.“ Und: „Sie war erschossen und verscharrt worden, und zwar nicht ganz so ohne Gründe. Weil sie, wie gesagt, mit recht explosiven Gedanken nach Argentinien gekommen war.“

 

Der an der TU München studierende Deutsch-Argentinier Klaus Zieschank absolvierte gerade ein Industrie-Praktikum in der Provinz Buenos Aires, als die Armee putschte. Nur zwei Tage nach dem Staatsstreich wurde Zieschank entführt. Es gelang ihm, einen Kassiber aus dem SIDE-Folterzentrum 128 herauszuschmuggeln. Er warnte seine Freunde, dass er die Qualen nicht ausgehalten und Namen preisgegeben habe, und bat: „Macht Druck bei der deutschen Botschaft in Argentinien und am besten öffentlich.“ Am Schluss wies er auf ein Terror-Komplott hin: „Achtung: Der deutsche Geheimdienst arbeitet mit ihnen zusammen.“

 

Der evangelische Pastor Helmut Frenz übergab den Kassiber dem Auswärtigen Amt, und dies geschah: Bundeskanzler Helmut Schmidt fragte höflich bei Junta-Chef Videla wegen des Verbleibs von Zieschank nach und gab sich mit der Antwort vom 7. August 1976 zufrieden, der Student sei bei einem Autounfall in den Anden ums Leben gekommen. Botschafter Kastl, um Expertise zum Hilferuf gebeten, erklärte kurz und bündig: „Anrege, Kassiber BfV und BND zugänglich zu machen.“ Anscheinend war aber die Bundesregierung nicht ganz so ahnungslos gewesen, wie sie glauben machen wollte. So wurden Akten zu dem Fall, nach denen Journalisten fragten, zunächst überhaupt nicht und später lückenhaft herausgegeben. Laut Kastl informierte ihn Außenminister Genscher aber schriftlich darüber, dass Zieschank tot sei, und ordnete an, strengstes Stillschweigen über den Fakt zu wahren. Übrigens trug das AA dem Faible des Gesandten für die Förderung deutscher Wirtschaftsinteressen in Militärdiktaturen später Rechnung und machte ihn 1977 zum Botschafter in Brasilien…

  

Bereits im Mai 1976 hatte man die gefesselte Leiche des Münchner Studenten an der Mündung des Rio de la Plata gefunden. Neun Jahre danach stellte ein Gutachter der Uni-Klinik Ulm fest, dass Klaus Zieschank erwürgt und aus einem Flugzeug oder Hubschrauber ins Meer geworfen worden war.

 

03/2015

 

Dazu auch:

Der Schlächter im Archiv dieser Rubrik

Doofe Spione? Im Archiv der Rubrik Medien    

 

 

Fragen an die Irren

 

Tag für Tag werden uns „Informationen“, Einschätzungen und Prognosen zur Lage der Nation, zur Situation der Welt im Allgemeinen und zu den wirtschaftlichen „Notwendigkeiten“ im Besonderen vorgesetzt, die uns verwirren, zu Gläubigen (d.h. Nichtwissenden) machen und uns ruhig halten sollen. Ein Heer von Journalisten, Politikern und Ökonomen erklärt uns mit allen medialen Finessen, wie wir als unmündige Bürger zu denken und zu handeln haben. Wenn wir aber doch einmal zu verstehen versuchen, was wir gefälligst als „Wahrheit“ zu verinnerlichen haben, kommt uns etliches ganz widersprüchlich und falsch vor. Und wir sind uns nicht ganz sicher: Werden wir nun von Betrügern und Rosstäuschern oder von Schizophrenen manipuliert? Einige der Fragenkomplexe, die sich uns aufdrängen,werden im Folgenden thematisiert; und da wir der staatstragenden Öffentlichkeit nicht von vornherein kriminelle Motive nachsagen wollen, richten wir unser Begehren um Antwort prophylaktisch – wenn auch ohne viel Hoffnung - an Geisteskranke (sollen ja hochintelligente Menschen darunter sein).

   

Schein-Billionen und reale Scherflein

 

Seit die Menschen in grauen Vorzeiten das Geld als Äquivalent für den Warenverkehr einführten, weil ihnen dies unkomplizierter erschien, als Schafe gegen Mehl oder Textilien gegen Holzprodukte zu tauschen, wandelten sich die Moneten zunehmend von Dingen mit einem gewissen Eigenwert zu per se substanzlosen Jetons und Billets. Die ersten Münzen bestanden noch aus wertvollen Metallen wie Gold und Silber, später warfen die Notenbanken die Druckerpressen an und überschwemmten Markt und Gesellschaft mit Geldscheinen, was bisweilen Inflationen auslöste. Aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein versuchten die Staaten, ihre Währungen mit Goldreserven zu decken. Inzwischen machen sich die Zentralbanken der Nationen oder der EU nicht einmal mehr die Mühe, Noten drucken zu lassen, sie hängen einfach den im Umlauf befindlichen Geldsummen Nullen an und händigen die so neu entstandenen Milliarden oder gar Billionen an private Geldinstitute aus, die Betriebskredite vergeben sollen, aber viel lieber mit der neuen Manövriermasse spekulieren und wetten.

 

Dennoch behält an der erdverhafteten Basis der Gesellschaftspyramide das Geld seine existenzielle Bedeutung für die Menschen, deren Konten- und Schuldenstand überschaubar ist und für immer bleiben wird. Nur wer genügend davon zur Hand hat, kann sich und seine Kinder anständig ernähren und verhindern, dass er samt Familie aus der Wohnung geworfen wird. Hier geht es um den Dollar, den Euro und den Cent, während im Finanzmarktsektor längst die freie Phantasie der Zocker und Gierigen imaginäre Summen erschafft, sich Schulden und Guthaben wie von Geisterhand vervielfachen. Aber genau im Souterrain der Gesellschaft soll eingespart werden, indem Renten gekürzt, Beschäftigte zur Freude der Aktionäre entlassen und Arbeitsverträge zu Tagelöhner-Kontrakten degradiert werden.


Frage: Wie ist es logisch (nicht propagandistisch) zu erklären, dass  bei der Grundsicherung (Hartz IV) um jeden Euro gefeilscht wird, „Schuldenstaaten“ ihre kümmerlichen Ausgaben für urbane Infrastruktur oder medizinische Versorgung weiter zusammenstreichen sollen – und am anderen Ende der sozialen Skala Milliardendefizite elegant in Luftschlösser namens Bad Banks ausgelagert werden und „systemrelevante“ Geldinstitute, die an der eigenen Gier zu ersticken drohten, wie darbende Kinder gehegt, gepflegt und mit Geld aus dem Nichts versorgt werden?

 

Versklavung durch Freihandel


Seit England Mitte des 19. Jahrhunderts den Freihandel einführte und dadurch en passant Irlands Bevölkerung via Hungertod und Elendsemigration halbiert wurde, weiß man, dass bei dieser erzliberalen Wirtschaftsmethode stets der stärkere „Partner“ dem schwächeren die Bedingungen diktiert und ihn in Abhängigkeit bis hin zum ökonomischen Sklavendasein zwingt. Europa hat das an der Dritten Welt erfolgreich erprobt, und im Augenblick ist die EU, in erster Linie ein Bündnis konkurrierender Staaten zum Zweck der Ausbeutung anderer Weltregionen, dabei, Schwarzafrika mit Freihandelsverträgen in die Rolle des unmündigen Lieferanten und Almosenempfängers zu drängen. Während verarbeitete Produkte, die man nach Kamerun oder Ghana liefert, gegenüber Rohstoffen aus diesen Ländern (natürlich von den Erstwelt-Monopolisten) immer höher bewertet werden, verhindert man „unbequeme“ Konkurrenz durch Importe einfach durch Handelsschranken wie Zölle. Mit fast spielerischer Leichtigkeit vernichteten die Europäer die einheimische Geflügelzucht in Westafrika, indem sie Schlachterei-Abfälle aus den Hühner-Gefängnissen in Niedersachsen oder Holland, die auf dem alten Kontinent unverkäuflich waren, dort billig auf den Markt warfen. Zugleich verdrängt subventioniertes Getreide aus der EU die Feldprodukte der einheimischen Kleinbauern. Freihandel ist eben immer eine Einbahnstraße.

 

Die EU weiß also, wie die die Verdrängungs- und Beherrschungsstrategien bei bi- oder multilateralen Freihandelsabkommen greifen– sie hat sie ja selbst erfolgreich gegenüber schwächeren „Partnern“ praktiziert. Umso erstaunlicher ist ihre Bereitschaft, sich freiwillig durch Vertragsabschlüsse wie TTIP, CETA und TiSA in die Abhängigkeit von einer noch wesentlich bedenken- und rücksichtsloseren Wirtschaftsmacht, den Vereinigten Staaten nämlich, zu begeben.

 

Frage: Hat die Lobby-Arbeit europäischer Exporteure, die kurzzeitige Gewinne erwarten, oder der „moralische“ Druck, der in den transatlantischen Thinktanks auf die „Verantwortlichen“ und ihre journalistischen Hofschranzen ausgeübt wird, dazu geführt, dass rechtliche, soziale und ökologische Standards freiwillig auf dem Altar des globalisierten Profitstrebens geopfert werden sollen?

 

Ökologie durch Umweltzerstörung

 

Eine ganze Reihe lebenswichtiger Phänomene, Daseinsbedingungen und Handlungen wird von der Politik und den  Medien derart weltfremd, verfälschend oder irrational erklärt und beschrieben, dass man grundsätzlich die Unvereinbarkeit ihrer Worte mit den gleichzeitigen oder unmittelbar folgenden Taten konstatieren muss.

 

Wie Candides Lehrer Pangloss nach jeder neuen Katastrophe, erklärt auch Angela Merkel überall, dass ihre Mitbürger derzeit „in der besten aller möglichen Welten“ lebten. Nur wollte Autor Voltaire die optimistische Ignoranz des Philosophen Leibnitz mit beißendem Spott konterkarieren, während die leicht autistisch wirkende Kanzlerin es scheinbar ernst meint – ungeachtet aller Hiobsbotschaften. So warnte der Paritätische Wohlfahrtsverband gerade erst, die Zahl der Armen in Deutschland habe sich in den letzten sechs Jahren auf über 15 Prozent der Bevölkerung vervierfacht (!).

 

Auch die Energiewende führen die Berliner Koalitionäre ständig im Mund, wobei der Geifer des Eigenlobs auf die weißen Westen tropft. Zur gleichen Zeit wird grünes Licht für den Braunkohle-Tagebau, die schlimmste Form der Landschaftszerstörung, gegeben, um mittels der schmutzigsten aller fossilen Ressourcen die Luft verpesten zu können. Natürlich liegt den Darlings der Automobilindustrie, Merkel und Gabriel, nach eigenem Bekunden das Weltklima am Herzen – aber doch nicht so sehr, dass man nicht strengere Verbrauchs- und Abgasnormen, wie sie die EU einführen wollte, durch ein Veto kippen würde, um Mercedes, BMW und VW bei Laune zu halten.

 

Da fabuliert der gefürchtete Arbeiterführer Sigmar Gabriel von Beschränkungen für deutsche Waffenexporte und lässt ungerührt zu, dass die hiesigen Rüstungskonzerne so viel todbringendes Material in unsichere Weltgegenden liefern wie nie zuvor. Derzeit destabilisieren mit deutschen Präzisionsgewehren ballernde Drogengangster und Killer im Polizeidienst gerade Mexiko. Natürlich hat auch der Globetrotter Steinmeier das Wort „Frieden“ ständig im Mund, während seine Diplomaten und der BND das Ihre dazutun, die Zerschlagung von Staaten wie der Ukraine, des Iraks oder Libyens zu provozieren oder zumindest indirekt zu fördern.

 

Frage: Bemerken unsere Politiker die Diskrepanz zwischen ihren Aussagen zu einem Sujet und der jeweiligen Wahrheit überhaupt noch? Lügen sie bewusst, oder handelt es sich um den für Kranke typischen Realitätsverlust?

 

Astrologie und Klippschul-Psychologie

 

Vielleicht würde mehr Menschen die umfassende Unglaubwürdigkeit der Regierung auffallen, gäbe es nicht die Sterndeuter mit den sonoren Stimmen im TV oder die Polit-Tiefenpsychologen mit der flotten Feder inden maßgeblichen Zeitungen. Die einen folgen den gedanklichen Irrwegen der Politiker und erklären jede dort aufzufindende Inhumanität für „alternativlos“, die anderen sorgen sich um die empfindlichen Seelen der Börsenspekulanten und warnen uns davor, die Märkte mit ihrem hochsensiblen Gemüt durch bösartige Faselei über Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit zu erschüttern und so die armen Wirtschaftslenker in Angst und Schrecken zu versetzen.

 

Antworten auf meine Fragen erwarte ich selbstredend nicht. Die Adressaten, denen wir natürlich keine kriminelle Energie unterstellen wollen, da auch für sie zunächst die Unschuldsvermutung gilt, sind vermutlich als Menschen mit schweren psychotischen Syndromen wie Persönlichkeitsspaltung, Borderline-Störung (wobei die Grenzlinie zwischen gesellschaftspolitischem Auftreten und gesponsertem Narzissmus verläuft) oder Individuen ohne soziale Bindung (außer zu potenziellen Geldgebern) zu betrachten, denen das Krankheitsbewusstsein abgeht.


Aber fragen wird man doch wohl noch dürfen…

 

02/2015

 

Dazu auch:

Die dritte Drohung im Archiv derselben Rubrik

Gegen ein Monstrum im Archiv derselben Rubrik

Vitamin U in der Rubrik Helden unserer Zeit

 

 

 

Die dritte Drohung

 

In unserer von neoliberalen Machtgremien gelenkten und vor brisanten Informationen sorgsam behüteten Gesellschaft erfährt man die Wahrheit nur, wenn man sie zwischen den offiziösen Zeilen und hinter den Beschwichtigungs-Statements von Regierungs-und Parteisprechern sucht, und auch dann nur tröpfchenweise. Noch erörtern wir (d. h. die kritische Minderheit) aufgeregt die den Bürger und die Legislative  entmündigenden Konsequenzen der Freihandelsabkommen CETA und TTIP, da droht eine noch fatalere Übereinkunft, die jeden Datenschutz aushebelt, den Finanzinvestoren die letzten Bremsen auf ihrer globalen Amokfahrt löst und unsere Sozialsysteme kapitalisiert: TiSA.

 

 Wer einmal lügt…

 

Noch während sich das denkende Europa angesichts der Unverschämtheit, mit der Wirtschaft und Politiker die Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA an der Aufmerksamkeit ihrer Konsumenten/Lohnabhängigen/Bürger vorbei schmuggeln wollten, indigniert die Augen reibt, wird ein drittes Paket geschnürt, das wie eine Sprengladung der Markt-Jihadisten im Gefüge der Zivilgesellschaft, so wie wir sie kannten oder zu kennen glaubten, hochgehen soll. Unter dem harmlos anmutenden Titel Trade in Services Agreement (TiSA) soll in der EU, in den USA und 21 weiteren Staaten rund um den Globus ein imperiales Zugriffsinstrument implementiert werden, gegen das sich CETA und TTIP wie bilaterale Spielzeuge ausnehmen. Während nämlich mit Hilfe der letzteren die Politik der betroffenen Länder durch das Finanz- und Handelskapital erpressbar wird, schafft das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen die staatliche Verantwortung für die Infrastruktur sowie jeden sozialen Ansatz einer nationalen (oder supranationalen) Gemeinschaft gleich gänzlich ab.

 

Als in Europa der Widerstand gegen TTIP und die damit verbundene Mauschelei unter Ausschluss der Öffentlichkeit immer stärker wurde, erklärten die EU-Kommissare im reuevollen Ton ertappter Sünder, sie hätten ihre Lektion gelernt. Tatsächlich wurden einige sorgsam ausgewählte Verhandlungsinhalte publik gemacht, sozusagen die weniger scharfen Brocken dem Volk zum Fraß vorgeworfen. Bei TiSA aber, das unsere Sozialsysteme, die kommunalen Zuständigkeiten und gesellschaftlichen Absicherungen bis hin zur medizinischen Versorgung auf den Kopf stellen und dazu den Datenschutz ad absurdum führen wird, finden die Verhandlungen wieder unter strengster Geheimhaltung statt. Ja, man schirmt sich diesmal noch konsequenter gegen das kritische Interesse der Betroffenen ab, die man offensichtlich für unbefugt hält, einen Blick in die eigene, aber von der Wirtschaft gestaltete, Zukunft zu tun: Alle Dokumente sollen fünf Jahre nach Abschluss der Verhandlungen geheim bleiben! Die NGO Campact mutmaßt ein beinahe kriminelles Kalkül hinter diesem Schweige-Gelöbnis: „Wenn die Folgen von TiSA spürbar werden, sollen die Verantwortlichen politisch nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können.“ Die Oettinger, Schulz und Gabriel können also auf die Gnade des Vergessens hoffen, wenn ihre einstigen Wähler endlich merken, dass ihr Eingemachtes längst verschachert ist.


Und jenes kommissions-europäische Versprechen, ab jetzt würden alle Verhandlungsinhalte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, entpuppt sich – erwartungsgemäß, aber erstaunlich rasch – als dreiste Lüge.

   

Die entsorgte Demokratie

 

Die Dienstleistungen, die durch TiSA leicht und bedenkenlos in private (sprich: ausschließlich gewinnorientierte) Hand überführt werden sollen, umfassen laut Wikipedia u. a. die Internet-Versorgung und die elektronischen Transaktionen, städtebauliche und architektonische Leistungen, technische Prüfungen und Bildungsangebote. Alles wird ausgeschrieben, und den Zuschlag erhält, wie wir aus der Vergangenheit wissen, nicht, wer das qualitativ beste, sondern wer das pekuniär lukrativste Angebot macht, wer wie in der beruflichen Bildung die billigste Maßnahme zusammenschustert - oder wer über die besten Beziehungen verfügt. Und da nach TiSA sich jeder Bewerber alles überall schnappen kann, ohne auch nur eine Niederlassung (und damit eine „juristische Adresse“) im heimgesuchten Land einzurichten, werden nebenbei die Sozialstandards (Mindestlohn) und das Arbeitsrecht der einzelnen Staaten obsolet.

 

Doch per TiSA könnte auch die bislang staatlich verbürgte Sozialversicherung zur Manövriermasse für Investoren werden. Attac warnt vor internationalen Konzernen, die sich „Milliardenprofite von einer Privatisierung der Daseinsvorsorge“ ausrechnen: „Doch es handelt sich um öffentliche Güter. Über Generationen aufgebaut mit Hilfe von Steuergeldern übernahmen sie existenzwichtige Aufgaben. Jede Privatisierung sorgt dafür, dass diese Dienste nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet sind, sondern den Gewinninteressen privater Eigner.“

 

Während die meisten Politiker brav schweigen, beginnen wenigstens einige Journalisten einen Braten zu riechen, der den weltweit agierenden Konzernen wohl schmeckt, dem Bürger aber bald schwer im Magen liegen dürfte. In der Süddeutschen Zeitung schreibt Alexander Hagelüken über einen Tatbestand, der das Abgreifen von Daten durch die NSA wie einen Kavaliersdelikt aussehen lässt: „Nach den nun enthüllten Vorschlägen soll generell kein Land eine Firma daran hindern können, Informationen aller Art außer Landes zu schaffen.“ Wie die SZ wurden auch die grünen EU-Abgeordneten Albrecht und Reimon durch die NGO Associated Whistleblowing Press aufgeweckt. Reimon forderte sogar: „Wenn solche Vorschläge auf den Tisch kommen, muss die EU die Verhandlungen zu TiSA abbrechen.“ Ob die Kollegen von der Öko-FDP, die gern mit Merkel oder Gabriel koalieren würden, allen voran Wirtschafts-Fundi Kretschmann, das toll finden?

 

Zum Wesen einer bürgerlichen Demokratie gehört es, dass die Menschen Steuern zahlen, und dafür vom Staat eine leidliche Infrastruktur hingestellt bekommen. TiSA, übrigens von den USA initiiert, will aber den öffentlichen Organen diese Mühe ersparen und von der Wasserversorgung bis zur Müllabfuhr alle hoheitlichen Aufgaben in die Zuständigkeit von Investoren, Unternehmern und Subunternehmern überführen, die dann den Bürger ein zweites Mal abkassieren können. Steuern würden dann nur noch für wirklich wichtige Dinge, etwa die Rettung kollabierender Banken oder den Aufbau einer modernen Interventionsarmee, ausgegeben. Die internationale Dienstleistungsgewerkschaft PSI sieht ein „grundsätzliches Konfliktpotential zwischen öffentlichen Diensten und Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen. Öffentliche Dienste sollen eine grundlegende soziale Daseinsvorsorge leisten, die bezahlbar, universell verfügbar und nicht gewinnorientiert ist … Handelsabkommen dagegen fördern gezielt die Kommerzialisierung.“

 

Nun gibt es genügend Beispiele dafür, dass hemmungslose Privatisierung öffentlicher Aufgaben kläglich scheiterte und rückgängig gemacht wurde. Mit TiSA allerdings wird sich nichts mehr reparieren lassen. Wer diesen Teufel ruft, wird ihn nie wieder los.


Point of no Return

 

Nicht dass der staatliche oder kommunale Servic ereibungslos funktionieren würde (was angesichts infrastruktureller Einsparungen auch kaum möglich wäre), aber im Vergleich zur rücksichtslosen Geschäftsstrategie privater Unternehmer, für die ihre Abnehmer keine Bürger, Einwohner oder Patienten, sondern schlicht Gewinn- bzw. Kostenfaktoren sind, erfüllt er wenigstens noch annähernd die Mindeststandards. Kein Wunder, dass sich überall dort, wo das Gemeinwohl der Profitmaximierungsmaschine anvertraut wurde, die Bürger wieder unter das schützende Dach eines öffentlichen Dienstes zurück flüchten wollen…

 

Der selbst vom linker Tendenzen unverdächtigen Handelsblatt der skrupellosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen beschuldigte Multi Nestlé plant die Übernahme der Wasserversorgung in den EU-Staaten. Zuvor hat sein Missbrauch von Wasserrechten in Pakistan, Afrika oder Nordkalifornien die Grundwasserspiegel dort gefährlich sinken lassen. Regionale Initiativen inden USA haben erfolgreich auf den Widerruf von Konzessionen geklagt. Metropolen wie Paris und Berlin, die einst von der günstigen Entledigung ihrer Pflichtaufgaben durch Veräußerung an Investoren träumten, haben längst nach Debakeln und Protesten ihre Wasserversorgung zurückgekauft. Die Londoner U-Bahn steht auch wieder unter Aufsicht der Stadtverwaltung, weil private Betreiber kläglich scheiterten.

 

Und wer die Altersvorsorge Investment-Bankern anvertrauen will, sollte sich das Beispiel Chiles zu Herzen nehmen oder besser ins Hirn einbrennen: Noch unter Diktator Pinochet wurden die staatlichen Rentenfonds dort smarten Harvard-Absolventen zur Mehrung auf den Kapitalmärkten übertragen. Binnen kurzem verzockten die Friedman-Boys (so nach dem ultra-liberalen Nobelpreisträger Milton F. benannt) die Ruhegelder von Millionen chilenischer Pensionäre an der Börse.

   

TiSA aber sieht vor, Korrekturen solcher Desaster einfür alle Mal zu unterbinden: Durch eine Stillstands-Klausel soll der aktuelle Stand der Liberalisierung festgeschrieben werden, d. h. einmal verscherbelte Dienstleistungen dürfen von der öffentlichen Hand nie mehr zurück übernommen werden.

   

Erfüllungsgehilfen

 

Nun könnte ein unbedarfter Beobachter denken, solche Perspektiven würden bei den Vertretern aller Parteien in allen Ländern (mit Ausnahme der USA, wo nur Reiche und Superreiche wählbar sind) die Alarmglocken tosen lassen. Mitnichten. Zumindest hierzulande hat sich die Politik mehrheitlich der Wirtschaft ergeben, nicht der orthodoxen – mittlerweile fast schon sympathisch wirkenden – meist regional beschränkten Raffgier des klassischen Produktionskapitalismus, sondern den Visionären einer Anpassung des Menschen an den Warenverkehr und der Bedienung globaler Interessen mit Hilfe der traditionellen und der digitalen Medienmacht.

 

Unsere Chef-Politiker wie Frau Merkel und Herr Gabriel sind mit dem bescheidenen Anteil an öffentlichem Einfluss zufrieden, der ihnen an höherer Stelle zugemessen wird, und sie betreiben das ihnen aufgetragene Geschäft –zugegebenermaßen – recht geschickt. Lange Zeit gelang es, die Differenzen um TTIP auf ein paar Chlorhühner herunterzubrechen und die wahren Konsequenzen totzuschweigen. Das CETA-Abkommen mit Kanada hielten sie noch effektiver bis vor kurzem aus jeder Diskussion heraus. Und TiSA? Was ist TiSA? Wenn der deutsche Bürger sich schon ekligen Informationen über die beiden anderen Entmündigungsverfahren stellen (oder entziehen) muss, will er vom Super-Hammer TiSA unmittelbar vor dem Abschluss nichts mehr wissen. Deshalb weiß er auch nichts davon.

 

Mehr Konkurrenz! ist das Glaubensbekenntnis der Marktstrategen. Doch Konkurrenz um höhere Gewinnanteile ist nicht das geeignete Mittel, um Kinder aus abgelegenen Gegenden in die Krippe oder Ganztagsschule zu bringen, die urbane Hygiene aufrechtzuerhalten oder eine medizinische Versorgung der sozial Schwachen zu gewährleisten; denn an solchen öffentlichen Diensten ist nichts verdient, und staatliche Subventionen lehnt die Wirtschaft doch gern – verbal - ab. Es droht also vielen Menschen in unserer Gesellschaft existentielles Ungemach, aber in Deutschland schläft es sich einstweilen weiter gut. In anderen Ländern, Spanien und Griechenland etwa, manifestiert sich der Widerstand in neuen Bewegungen, die natürlich von der geballten Macht unserer Politiker und Medien bis aufs Blut, will sagen: bis zur finanziell-sozialen Geiselnahme des Bevölkerung bei Ungehorsam, bekämpft werden. Doch davon ein andermal.

 

01/2015

 

Dazu auch:

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2014  

        

 

 

Väter von Pegida

 

Ein trüber Strom bahnt sich seinen Weg durch deutsche Städte, vor allem im Osten des Landes. Von Fremdenfeindlichkeit und Islam-Phobie getrieben, brüllen Zehntausende absurde  Forderungen und schüren irrationale Ängste. Die selbsternannten Kulturwahrer von Pegida kommen aber mehrheitlich nicht vom Rand der Gesellschaft oder aus dem Untergrund, sie sind ein mittlerweile integraler Bestandteil der politischen Szene, dem von Parteien und Medien systematisch der Boden bereitet wurde. Jene Verantwortlichen, die heute publikumswirksam die Hände ringen, haben ignoriert (oder sogar genutzt und angeheizt), was einer hierzulande ungebrochenen nationalistischen Tradition entsprang.

 

Die wirklich große Koalition

 

Es scheint, als hätten die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida), flankiert, unterstützt und angeführt von Rechtsradikalen in der NPD, der AFD oder der Partei „Die Rechte“, eine Lücke im bundesdeutschen Meinungsmarkt gefunden. Was der biedere Konservative, der vorsichtige Kleinbürger und viele Repräsentanten der arrivierten Parteien bislang nur zu denken, nicht aber zu vorzuschlagen wagten, wird nun zum Straßen-Motto fürs gesunde Volksempfinden: Schiebt alle eure Existenzängste, sozialen Probleme, Sicherheitsbedenken auf die andersgläubige Minderheit. Deren Angehörige sehen anders aus, kleiden sich anders, folglich müssen sie auch ganz andere Ziele und Wertvorstellungen haben als die Mehrheit der aufrechten Abendländer.


Den größten Zulauf hatten die Pegida-Kundgebungen in Sachsen, dem Bundesland mit den meisten Nationalisten, der reaktionärsten Justiz – und den wenigsten Mohammedanern. Aber man darf sich nicht täuschen: Die fremdenfeindlichen Parolen finden auch anderswo in Deutschland ihre Anhänger, Pegida ist überall, nicht nur in den Randbezirken unserer Gesellschaft, sondern in deren extremistischer Mitte, geistig munitioniert von Politikern, die jetzt „Verständnis“ für die krakeelenden Massen zeigen, die ja nur verführt worden seien – ganz so, als sei einst ein ganzes deutsches Volk in seiner Naivität von einem Adolf Hitler verführt worden.

 

Wolfgang Bosbach, innenpolitischer Scharfmacher der CDU,zeigt sich von seiner einfühlsamen Seite, wenn er den Dresdner Demonstranten attestiert, sie hätten „sicherlich nichts mit dem rechtsradikalen Milieu zu tun haben wollen“. Sicherlich hatte er dabei die eigene leicht schizophrene Rolle im Visier, die knallharte Argumentationshilfen für die Fremdenhasser vorsieht, sie aber mit der gutbürgerlichen Besorgnis des Kümmerers vereint. Horst Seehofer, Vorsitzender einer Partei, deren Übervater F.J.S. einst kritische Intellektuelle als „Ratten und Schmeißfliegen“ denunzierte, spricht von „berechtigten Sorgen vieler Bürger“ und bietet dem menschenverachtenden Pöbel von Pegida folgerichtig den Dialog an. Da darf natürlich SPD-Chef Sigmar Gabriel , der billige Jakob der politischen Werte, nicht fehlen:  In Bild (wo sonst?) kündigte er an, auf die Pegida-Anhänger zugehen zu wollen. Es scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, dass seine Partei sich ohnehin schon seit Jahrzehnten Schritt für Schritt dem reaktionären Argumentationsspektrum nähert. Koalitionsfreund De Maizière will – welch redundantes Gefasel – die „Sorgen der Bürger ernst nehmen“. Mit  „Bürgern“ sind jene Verbal-Täter gemeint, deren Denk(?)ansätze die Christsozialdemokraten nicht nur tolerieren, sondern in ihren Programmen sogar beherzigen. Übrigens konnte sich Pegida ideologisch bei der Aktion Linkstrend stoppen! dersächsischen CDU bedienen, die den Kampf gegen „schleichende Islamisierung“ vor Jahren schon propagierte.

 

Allerdings könnte man auch sagen, dass unsere Regierung für (mehrheitlich moslemische) Flüchtlinge eine weit tödlichere Gefahr darstellt als alle Neonazi-Schreier auf den Marktplätzen. Als die Öffentlichkeit in Italien durch die Bilder von vor den Küsten des Landes tot oder gerade noch lebendig geborgenen Menschen aufgeschreckt wurde, sandte Rom eine Hilfsflotte aus, die unter dem Rubrum Mare Nostrum Zehntausenden von Verzweifelten das Leben rettete. Die Kosten trog das abgewirtschaftete Land allein, da die EU unter Federführung Berlins eine Beteiligung verweigerte und stattdessen die Operation Triton unter Führung der Grenzagentur FRONTEX durchsetzte. Nun soll nicht mehr vorrangig gerettet, sondern abgeschreckt werden, was man u. a. dadurch erreicht, dass man Flüchtlinge mit Gewalt bedroht und ihre nicht mehr seetüchtigen Boote abdrängt. Selbst FRONTEX-Direktor Ilka Laitinen gab solche Vorgehensweisen zu, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte die dieser Praxis zugrunde liegende EU-Anordnung als „Menschenrechtsverletzung“. Es muss den verantwortlichen Politikern, die skrupellos sein mögen, aber nicht dumm, klar sein, dass sie den Tod Tausender von Flüchtlingen „billigend in Kauf nehmen“, denn Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben als ein elendes Leben, lassen sich durch nichts abschrecken. Immerhin muss man für Ertrunkene keine Sammelaufnahmelager errichten – und man besorgt das Geschäft des sich sorgenden Mobs auf den Straßen von Dresden.

 

Keine Absolution für Grüne und Linke

 

Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid ergab, dass 54 Prozent der Unionsanhänger und 46 Prozent der SPD-Sympathisanten Verständnis für die Pegida-Demonstranten haben – bezeichnend für das geistige Klima in diesen Parteien sowie den Gedankenaustausch zwischen deren Funktionären und ihrem Umfeld.

 

Doch auch Grüne und Linke können sich nicht beruhigt zurücklehnen und mit anklagendem Zeigefinger auf das reaktionäre Potential der anderen deuten. Jeweils 19 Prozent ihrer Wähler gehen den chauvinistischen Rattenfängern ebenfalls auf den Leim. Die Grünen, schon seit Joschka Fischers Völkerrechtsbruch in Serbien auf dem Weg zur veritablen Kriegspartei, dürfen sich nicht wundern, gerieren sie sich doch mit ihren Forderungen nach Interventionen und Waffenlieferungen (die bekanntlich nie in die richtigen Hände gelangen oder dort verbleiben), durch die regionale Konflikte erst zu Massenflucht-Auslösern gepusht werden, zu einer FDP neuen Stils (ähnlich wirtschaftsgeile Klientel, aber viel bellizistischer).

 

Und die Linke sollte die Ostalgiker in ihren Reihen im Auge behalten. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet auf dem Gebiet der früheren DDR, wo eine bürokratische Machtelite Antifaschismus und Internationalismus per Dekret verordnete, ohne in einen inhaltlichen Dialog mit den Menschen zu treten, wo Arbeiter aus Vietnam (Volksmund: Fidschis) oder Mosambik säuberlich von den deutschen Kollegen getrennt lebten, die gefährlichsten Rechtsradikalen marodieren. Als ich kurz nach der Wende in Thüringen arbeitete, musste ich beobachten, dass sich in Schleiz, Gera oder Jena (wo sich auch der NSU zusammenrottete) ein vorauseilender Ausländerhass breit machte, dessen Motive noch nicht der westlichen Denkungsart entsprangen). So wurde bereits gegen Türken gehetzt, bevor sich die ersten überhaupt dort ansiedeln konnten.


Idioten des Abendlandes

 

Gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ wenden sich die von einschlägig Vorbestraften, Neonazis und den omnipräsenten fürchterlichen Vereinfachern der AFD angeführten Hooligans von Pegida. Es verbietet sich, mit manipulierten Eiferern und Rassisten in einen Dialog übe rihr irrationales Gesellschafts- und Geschichtsbild sowie ihre inhumanen Forderungen zu treten, doch sollte kurz hinterfragt werden, was sie überhaupt über die Genese und den Erhalt der abendländischen Werte, die sie schützen wollen, wissen.

 

Im düsteren europäischen Mittelalter war es ausgerechnet das Emirat (später Kalifat) der Umayyaden im spanischen Cordoba, das die Zeugnisse, und Inhalte dessen, was wir als Ursprünge der Kultur unseres Kontinents betrachten, für die Nachwelt bewahrte. Während im barbarischen Christentum den einzigen Schriftkundigen, den Mönchen, das Kopieren von Texten aus der heidnischen Antike von den Kirchenoberen mehr und mehr untersagt wurde, strömten die Wissenschaftler von überallher nach Andalusien, wo ihnen ein tolerantes Regime freie Hand bei der Vermessung und Erklärung der Welt ließ. Jüdische, christliche und mohammedanische Philosophen, Mathematiker, Astronomen und Poeten arbeiteten vor allem im 9. und 10. Jahrhundert gemeinsam daran, die Schriften von Aristoteles, Thales oder Ovid zu übersetzen und die Erkenntnisse der Griechen und Römer weiterzuentwickeln – und schufen dabei die neben Byzanz einzige Hochkultur dieser Zeit auf europäischem Boden.

 

Abendland ist kein geografischer, sondern ein historisch-kultureller Begriff. Die Pegida-Schreier wollen also ein Abendland vor der Islamisierung retten, das einst vom islamischen Cordoba gerettet wurde. Man könnte den Polit-Rabauken, die das nicht wissen, diese historische Tatsache erklären. Aber sie würden das nicht wissen wollen.

 

Zwei Jahrhunderte Intoleranz

 

Bei Pegida haben wir es mit einer Zusammenballung von Menschen zu tun, die entweder ihr politisches Süppchen auf einem von archaischer Intoleranz errichteten Scheiterhaufen kochen wollen oder zumindest gewillt sind, sich vom Duft der Ressentiments einlullen zu lassen. Logische Argumente würden hier nicht verstanden oder nicht akzeptiert. Seine Ignoranz Kardinal Reinhard Marx von München möchte im Gegensatz zum Bamberger Amtsbruder Schick seinen Schafen die Teilnahme an Pegida-Demonstrationen nicht verbieten, was angesichts der mittelalterlichen Intoleranz der Katholischen Kirche für Kontinuität spricht. Er will das rechtsradikale Bündnis nicht dadurch aufwerten, „dass wir es zu einer Bewegung hochstiliseren“.

 

Recht hat er, dann scheinbar hat sich wirklich nichts bewegt in Deutschland. Seit den ersten nationalen Bestrebungen der Burschenschaften vor 200 Jahren, der antisemitischen „Revolutionäre“ in Frankfurt wenig später und der romantischen Blut-und-Ehre-Dichter ist im Ursumpf germanischer Psyche nur eins verlässlich auszumachen: Hass gegen Fremde und Andersdenkende. Der frühere Nürnberger Kulturdezernent Hermann Glaser hat in seinem Buch Adolf Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf" die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen von Holocaust und Euthanasie akribisch analysiert.

 

Als im mittelfränkischen Vorra drei Unterkünfte für Flüchtlinge kurz vor deren Ankunft von Neonazis abgefackelt wurden, schrieb der Berliner Kabarettist Martin Buchholz: Die waren noch nicht bezogen – glücklicherweise. Seltsam, wie bescheiden und pervers man zuweilen das Wort „Glück“ verwendet. Man ist schon „froh“, dass „nur“ ein paar leer stehende Heime in Flammen aufgegangen sind.

 

In Nordrhein-Westfalen benennen sich die rechtsextremen Gruppierungen gern nach ihren Heimatstädten, womöglich um Europa aus einer dem Wesen nach deutschnationalen Angelegenheit herauszuhalten. In Bonn demonstrierte folgerichtig Bogida und ließ den Internet-Publizisten Karl-Michael Merkle zu Wort kommen. Laut FAZ erklärte dieser, die Bewegung werde „die Verbrecher, Medien und Gewerkschaften von der Landkarte spülen“, die Deutschen müssten sich „von sozialistischem Dreckspack“ regieren lassen.

 

Solch krude Ausbrüche wollen sich die neuen Pegida-Versteher in der deutschen Politik gar nicht erst anhören. Sie haben den neuen Braunbürgern die geistige Munition geliefert und sind auch weiter dazu bereit, „die Sorgen dieser Menschen“ anzuhören und Lösungen zu entwickeln, die diese potentiellen Wähler bei der Fahnenstange halten. Nein, Pegida ist wirklich kein Rand- oder Straßenphänomen. Bei all der Verlogenheit, verdrucksten Xenophobie und anti-sozialen Hybris in den meisten Parteien, Institutionen und bürgerlichen Organisationen möchte man meinen, Pegida komme aus der Mitte unserer Gesellschaft, sei ein Teil von Deutschland. Und manchmal drängt sich einem das Unfassbare auf: Pegida ist Deutschland.

 

12/2014

 

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Gemeiner Nutzen

 

Attac sei als Verein nicht förderungswürdig, befand das Finanzamt Frankfurt und entzog dem weltweit vielleicht wichtigsten Zusammenschluss von Kritikern der Globalisierung (d. h. der Marktideologie einer Internationale von Banken-, Handels- und Produktionsoligopolen) die Gemeinnützigkeit. Dass dies ausgerechnet im Schmuse-Bundesland für Steuersünder geschah, welch fragwürdige Begründung man bemühte, welche Kriterien man außer Acht ließ und wie großzügig in anderen Fällen verfahren wurde, soll hier ins rechte Licht gerückt werden.

 

Hessische Dialektik

 

Die Mitglieder und Unterstützer von Attac gehören in der Regel nicht den finanzkräftigen Gesellschaftskreisen an. Wenn sie dennoch spenden, um Aktionen gegen die Machenschaften der Großbanken, die Entmündigung der Regierungen mittels Freihandelsabkommen à la TTIP oder gegen Umweltzerstörung mitzutragen, ist für viele von ihnen die Möglichkeit, diese vergleichsweise geringe, von manchen aber als schmerzhaft empfundene Ausgabe von der Steuer abzusetzen, eine spürbare Erleichterung; sie haben schließlich nicht die mannigfaltigen Gelegenheiten zur Steuervermeidung, wie begüterte Mitbürger sie mal völlig, mal weniger legal tagtäglich nützen. Nun hat das Finanzamt Frankfurt den basisdemokratischen Attac-Financiers auch diese bescheidene  Kompensation genommen, indem es die Organisation als nicht förderungswürdig einstufte. Die geschmäcklerische Begründung für die Aberkennung der Gemeinnützigkeit gipfelte in der Feststellung, Attac verfolge „allgemeinpolitische Ziele“.

 

Man kann es getrost als Treppenwitz bundesdeutscher Fiskalpolitik betrachten, dass gerade in Hessen eine Behörde strengste (und irrelevante) Maßstäbe an die inhaltliche Bonität einer weltweit agierenden, non-kommerziellen NGO anlegt. Vergessen sind die Spendenskandale der Landes-CDU, verdrängt die Fakten, dass der Hochtaunuskreis in Sachen Millionärsbefall in Deutschland nur noch von der Gemeinde Starnberg übertroffen wird, dass Frankfurt am Main stets mit der Hochfinanz, der Spekulation und dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht wird (eine Stadt der Täter eben) – und dass all dies eher Maßnahmen gegen Steuerverkürzung und Finanzbetrug in großem Stil erfordern würde als die Rücknahme von (gesetzeskonformen) Vergünstigungen in Cent-Größenordnung, aufgrund derer eine unbequeme, aber als integer bekannte Gruppierung auf mehr materielle Unterstützung zählen kann.

 

Es ist ja nicht so, dass in Hessen nie etwas unternommen wurde, um an die Schlupflöcher des großen Geldes zu kommen, nur waren solche Nachforschungen damals politisch nicht erwünscht – im Gegensatz zur Austrocknung des ökologisch-pazifistischen Sympathisantensumpfes namens Attac, eines antikapitalistischen Biotops mitten in der schönen neoliberalen Kulturlandschaft. Dass man gegen letzteres Ambiente und seine geheimen Abflusskanäle in noch schönere Steuerparadiese besser nicht vorgeht, mussten vor einigen Jahren vier aufrechte Finanzbeamte erfahren. Als Angehörige einer Spezialabteilung der Frankfurter Steuerfahndung ermittelten sie gegen die Inhaber verdeckter Auslandskonten, beschlagnahmten Akten bei diversen Banken und leiteten mehrere tausend Verfahren ein, von denen sie etliche erfolgreich durchzogen (und dabei den öffentlichen Kassen Unsummen retteten). Zu erfolgreich offenbar, denn plötzlich wurde das Quartett von den meisten noch unbearbeiteten Fällen abgezogen. Als die Steuerfahnder, unterstützt von Kollegen, gegen diese Maßnahme protestierten und den Verdacht äußerten, die hessische Landesregierung wolle wohl milde mit Steuersündern umgehen, mussten sie sich psychiatrisch begutachten lassen. Der „Sachverständige“ attestierte den den vier Widerborstigen eine „paranoid querulatorische Entwicklung“, worauf sie per Dekret von oben in den Ruhestand versetzt wurden.

 

Zwar erklärte das Verwaltungsgericht Gießen die Gutachten für unzureichend, zwar urteilte ein Richter des Bundesverwaltungsgerichts dem Spiegel, die Zwangspensionierungen seien „grob rechtswidrig“ gewesen und Finanzminister Karlheinz Weimar hätte sie prüfen müssen, zwar konstituierte sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Wiesbadener Landtag, doch für die berüchtigte Regierung Roland Kochs blieb auch dieser Skandal folgenlos.

 

Umso bemerkenswerter erscheint nun die Akribie und die haarspalterische Begründung, mit deren Hilfe ein paar Steuergroschen vor den Privatschatullen aufmüpfiger Bürger bewahrt werden sollen, wo man doch etlicher Millionen und Milliarden in der Halbwelt der Reichen und Mächtigen hätte habhaft werden können.

   

Was alles gemeinnützig ist…

 

Selbst die meisten Medien, sonst eher auf der wirtschaftsliberalen Seite des Spektrums verortet, bewerten die Herabstufung von Attac schlicht als politische Retourkutsche. Rupert Strachwitz, Leiter des Maecenata-Instituts nennt als inhaltliche Gründe die „Willkür der Ämter und ein archaisches Verständnis von Gemeinnützigkeit an sich“.

 

Sehen wir uns die Voraussetzungen für die Anerkennung als steuerbegünstigte Körperschaft näher an: Paragraph 52, Absatz 2 der Abgabeordnung (AO) führt insgesamt 25 mögliche Ziele als Voraussetzungen für Gemeinnützigkeit an. Auf Attac bezogen, entfallen einige davon, etwa die Förderung von traditionellem Brauchtum, Sport oder Denkmalschutz, von vornherein. Im Gegensatz zu anderen geförderten Organisationen, die oft nur einen einzigen anerkannten Zweck verfolgen, ist die Frankreich gegründete und mittlerweile in vielen Ländern (auch der Dritten Welt) aktive Bewegung jedoch gleich auf mehreren relevanten Ebenen vertreten:

-     Sie fördert die politische Bildung, in dem sie auch Unterprivilegierten den Zugang zu Informationen ermöglicht, die ihnen Regierungen und Mainstream-Medien vorenthalten.

-     Sie fördert schon durch ihre internationalistische Aufstellung die Völkerverständigung.

-     Im Gegensatz zur offiziellen, auf Handels-und Militärstrategien ausgerichteten Politik fördert Attac die Entwicklungszusammenarbeit an der Basis.

-     Das bürgerschaftliche Engagement zugunsten gemeinnütziger Zwecke ist ein Hauptanliegen der Organisation, die den bislang Stimm- und Mittellosen die Möglichkeit einräumt, sich friedlich für die eigenen sozialen Interessen (und die der Entmündigten weltweit) einzusetzen.

 

All das legitimiert Attac nach der AO als förderungswürdig. Das Frankfurter Finanzamt hat aber – vermutlich auf höhere Weisung – noch ein wenig recherchiert und glaubt ein formaljuristisches Häkchen gefunden zu haben, an dem sich künftig jede kritische Initiative mit Spendenbedarf steuertechnisch strangulieren lässt.

       

Die rechte Bildung muss es sein!

 

Die "allgemeinpolitischen Ziele" von Attac sind also der Dorn (oder Balken) im Auge der Frankfurter Beamten, seien solche doch den Parteien vorbehalten. Wenn aber Bildung ein anerkanntes Sujet für Gemeinnützigkeit ist, dann beinhaltet dies auch politische Bildung durch Information, Recherche und Analysen, die gängige Oberflächen-Propaganda durch die Entscheider entlarven. Und wenn diese Wissensvermittlung nicht nur zur Teilnahme an Jauchs Millionen-Quiz berechtigen, sondern zu konstruktiver Beteiligung an gesellschaftlich relevanten Projekten führen soll, dann muss sie auch Vorschläge oder Anweisungen zum konkreten Handeln anbieten.

 

Sollte jede Aktion aus gesellschaftspolitischer Verantwortung heraus als allgemeinpolitischer Fauxpas eingestuft werden, können sich so ziemlich alle in der Öffentlichkeit agierenden Organisationen, die in Deutschland auf Spenden angewiesen sind, von Greenpeace über Campact bis zum Bund Naturschutz langsam nach neuen Finanzquellen umsehen.

 

Alle? Nein, da wären ja noch die Stiftungen der im Bundestag vertretenen Parteien. Diese erhalten nicht nur Millionen vom Bund, sie sind darüber hinaus noch als gemeinnützig anerkannt, und die meisten von ihnen verstehen sich als Träger der rechten Bildung. Hier spielt es nun keine Rolle, dass die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen die Umstürzler auf dem Maidan aktiv unterstützte und auf ihren Podien die Devise ausgegeben wurde, den Antisemitismus und das Nazi-Faible eines großen Teils der ukrainischen Klientel ja nicht zu thematisieren. Auch die guten Beziehungen der Konrad-Adenauer-Stiftung zu thailändischen Möchtegern-Putschisten, die eine gewählte Regierung aus dem Amt zu jagen suchten (was letztlich in den Militär-Coup mündete) scheinen nicht beanstandet werden zu müssen, handelt es sich hierbei doch offenbar nicht um allgemeinpolitische Aktivitäten, sondern um eine jener speziellen Intrigen, wie sie unsere Stiftungen mithilfe öffentlicher Gelder und privater (absetzbarer) Spenden als lange Arme ihrer Mutterparteien gern in Szene setzen.

 

Aber aufgepasst, ihr Unternehmer, Banker und Lobbyisten, die ihr euch in Erwartung üppiger Gegenleistungen Almosen für solch gemeinnützige Wegbereiter abpresst! Nach den Paragraphen 61 bis 64 der AO kann die Anerkennung der Gemeinnützigkeit rückwirkend entzogen werden, wenn derart altruistisch aufgehäuftes Vermögen zweckfremd verwendet wird. Und siehe da: Sowohl die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD als auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linken finanzierten wohl die eine oder andere Auslandreise aus den mildtätigen Mitteln. Den Vogel schoss aber die Hanns-Seidel-Stiftung der CSU ab, die den ungehemmten Markt predigt, anscheinend aber nicht viel von seinen Mechanismen versteht. Jedenfalls glichen die tiefschwarzen Bayern Verluste, die sie beim Tagungs- und Hotelbetrieb in Wildbad Kreuth und Kloster Banz eingefahren hatten, kurzerhand aus den millionenschweren Bundeszuschüssen und Spenden aus. Es ist nicht bekannt, ob die Behörden die Aberkennung der Gemeinnützigkeit prüften. Aber die Hanns-Seidel-Stiftung hat auch das Glück, nicht im Bereich des gestrengen Finanzamts Frankfurt angemeldet zu sein, sondern im tiefen Süden der Republik.

  

Was noch so alles förderungsfähig ist… 

   

In Röthenbach an der Pegnitz, nahe Nürnberg, produziert der Waffenkonzern Diehl, den Jürgen Grässlin, wohl der renommierteste Rüstungskritiker bundesweit, wegen der Angebotspalette und der Exportpolitik als das „zweittödlichste Unternehmen“ Deutschlands nach Heckler & Koch bezeichnet. Irgendwann wurde eine Diehl-Stiftung ins Leben gerufen, die wiederum ein Wehrtechnik-Museum auf dem Werksgelände betreibt, in dem sich Gruppen nach Voranmeldung ein Bild von diversen Tötungsmaschinen der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte machen können.

 

Sonderausstellungen liefen unter anregenden Titeln wie „Rund um die Pistole Colt M 1911“, „Firma Diehl – Spuren aus 105 Jahren Firmengeschichte“ (wobei im Mittelpunkt nicht unbedingt der massenhafte Einsatz von Zwangsarbeitern im Dritten Reich gestanden haben dürfte), aber auch die Friedenserziehung wird nicht vernachlässigt: „Vom Stahlhelm zum Jaucheschöpfer –Umnutzung nach 1945“. Selbstverständlich kann man Spenden für diese Art von Kulturarbeit von der Steuer absetzen. Wer würde hierzulande schon den Bemühungen um das Volkswissen über die Raffinesse und Effektivität von Mordwaffen das gemeinnützige Motiv absprechen, zumal der Kult um Militaria beinahe schon zum preußisch-deutschen Brauchtum zählt?

 

Da steht Attac als Organisation, die solche Produkte (und die damit verbundenen Gewinnmargen) am liebsten aus der Welt schaffen würde und Lappalien wie Fairen Handel, Mindestlohn, Abschaffung von Steueroasen, demokratische Kontrolle der Finanzmärkte und auch noch Frieden auf Erden fordert, ja schon wieder auf der ganz falschen Seite.

 

12/2014

  

 

  

Kreide gespeist

 

Der Eiertanz arrivierter deutscher Parteipolitiker um das unsägliche Pegida-Phänomen zeitigt wenigstens einen nützlichen Effekt: Die gutbürgerlichen Masken fallen, und bei nicht wenigen werden dahinter die Visagen einer zutiefs treaktionären, einer xenophoben oder einer hemmungslos opportunistischen Gesinnung sichtbar.

 

Hoppla, sagen die Bosbachs, Seehofers und Friedrichs von der Union sowie die Gabriels von der Spezialdemokratischen Partei, die Leute, die da in Leipzig gegen eine dräuende Islamisierung (die nur sie selbst wahrnehmen können) anschreien, sind ja unsere Wähler – oder könnten es zumindest werden. Offenbar haben wir nicht genügend Verständnis für sie gezeigt, sind ihrem Verlangen nach radikaler Abgrenzung von migrantenfreundlicher Humanduselei nicht weit genug entgegengekommen. Das muss anders werden.


Die CSU, gern in der Vorreiterrolle, wenn es um die Verteidigung doof-deutscher Ressentiments geht, setzt in Wildbad Kreuth ein besonders starkes Zeichen der Solidarität – mit Pegida: Ihr bayerischer Innenminister Hermann kündigte die schnellere Ausweisung abgelehnter Asylbewerber an. Ein anderer altgedienter Parteisoldat allerdings langte in der Sache und bei der Adressatin seiner Suada wieder einmal voll daneben: Ausgerechnet Hans-Peter Friedrich, einst Rundum-Versager in zwei Bundesministerien, versuchte, Klartext zu reden und demonstrierte überzeugend die eigene Ahnungslosigkeit. In einem Interview mit dem Spiegel gab er Angela Merkel eine Mitschuld am Aufkommen von Pegida: „Wenn Sie mich vor ein paar Jahren gefragt hätten, hätte ich gesagt: Wir putzen die weg, indem wir ihnen die Themen wegnehmen.“ Da träumt die Inkarnation des Scheiterns und Ewig-Gestrigen von der Zeit, als sich seine CSU an den Stammtischen noch so nationalistisch und ausländerfeindlich äußern durfte, dass AFD- und Pegida-Anhänger wie Weicheier daneben gestanden hätten, als es – hier weist er auf die doppelte Staatsbürgerschaft hin – im schwarzen Milieu noch nicht denkbar war, dass, wie heute, „mit der Identität unseres Volkes und unserer Nation zu leichtfertig umgegangen wird“.

 

Solche Vorwürfe tangieren die Bundeskanzlerin nicht einmal peripher. Sie braucht die ultra-reaktionären Krakeeler in der Union, um den extremen Rand nicht an rechtsradikale Gruppierungen zu verlieren. Ansonsten setzt sie darauf, dass AFD oder Pegida mit der Zeit wegen internerZwistigkeiten implodieren, nimmt die Kreide unverbindlicher Humanität zu sich und gibt gar Verständnis für Flüchtlinge vor, ohne die eigene restriktive, Menschenleben kostende Asylpolitik zu erwähnen und ohne sich als typische Machttaktikerin und Sozial-Autistin zugleich in verpflichtende Empathie zu verstricken. Mehr als das Zustimmungsgekläffe der rechten Gefolgschaft ist ihr das internationale Renommee der ausgleichenden Sphinx wert, denn das begünstigt die Durchsetzung ihrer eigentlichen Ziele: Als gelehrige Schülerin der Vordenker in den Think-Tanks des wirtschaftlich-militärischen Komplexes will sie den globalen Finanz-, Dienstleistungs- und Produktionsoligopolen die Hürden aus dem Weg räumen, die eine weltumspannende Marktbeherrschung noch behindern. Dazu benötigt sie weder Kreativität noch kritischen Intellekt, sondern nur Geduld – und eine dezente Tarnung als sozialpolitisch Interessierte, um die zur Entmündigung anstehenden Landsleute in Sicherheit zu wiegen.

 

Wie dilettantisch nimmt sich dagegen der AD(H)S-verdächtige Sigmar Gabriel aus. Auch seine Partei hat sich nach Hartz IV und Vermögenssteuer-Abschaffung, TTIP- und CETA-Befürwortung längst in eine neoliberale Lobbyisten-Vereinigung mit sozialen Vignetten verwandelt. Nun aber treibt es Gabriel offensichtlich um, dass fast die Hälfte der SPD-Anhänger Sympathien für Pegida hegt. Und statt diese (angesichts der eigenen Politik vorhersehbare) Entwicklung zu ignorieren und auszusitzen wie die Kanzlerin, schmeißt er sich an die Chauvinisten heran, heuchelt Verständnis und bietet denen Gespräche an, deren brauner Hirnausfluss in Hasstiraden mündet.

 

Doch auch Linken-Chef Bernd Riexinger reagiert, als sei er im falschen Film. Im typischen Polit-Sprech von abgehalfterten Machos wie Schröder oder Steinbrück fordert er Angela Merkel auf, „klare Kante“ zu zeigen gegen sich häufende Versuche, die Union zum rechten Rand zu öffnen. Das kann er nicht ernst meinen, das war ein Sprüchlein für die Galerie.


Denn zum einen ist die Union so ziemlich allem, was ideologisch von rechts kommt, seit jeher so offen wie ein Scheunentor. Wir entsinnen uns gern des launigen und ehrlichen Bekenntnisses von Franz Josef Strauß: „Rechts von mir ist nur die Wand.“ Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit gefällig? Bitte sehr: Für die Brandenburger CDU-Landesvorsitzende Saskia Ludwig sind Inklusionsschulen, in deren Klassen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen, „Einheitsschulen“ und Belege für eine von der SPD und der Linken propagierte soziale Gerechtigkeit, die tatsächlich ein „trojanisches Pferd des Totalitarismus“ (O-Ton Ludwig im Rechtsaußen-Blatt „Preußische Allgemeine Zeitung“) sei.

 

Zum anderen läuft man stets Gefahr, sich lächerlich zu machen, wenn man Angela Merkel moralisch attackiert. Die Kanzlerin zeigt keine Emotionen, reagiert nicht auf Argumente oder Tadel, ist für keine Fehlentwicklung persönlich verantwortlich zu machen. Wie personifiziertes Valium lullt sie in der Neujahrsansprache die Bevölkerung ein, heißt – politisch formal korrekt – Flüchtlinge hierzulande willkommen, meint damit aber nur jene, die es wider alle (auch tödlichen) Abschreckungsmaßnahmen bis zu uns geschafft haben, und verströmt dabei die menschliche Wärme eines lieblos konstruierten Androiden. Wer diese Frau allen Ernstes dazu auffordert, sich kritisch mit Parteitaktikern oder gar den Inhalten der eigenen Regierungspraxis auseinanderzusetzen, vergisst, dass Angela Merkel gleichzeitig Galionsfigur und gut geöltes Zahnrad des Systems ist, willentlich und gut eingepasst.

 

Riexinger sollte sich lieber sorgen, dass seine Partei sich nicht um irgendwelcher Regierungsbeteiligungen willen von der SPD in eine wirtschaftsliberale Umarmung ziehen lässt (siehe Braunkohlen-Tagebau), und er müsste sich dringend um den Geisteszustand der 19 Prozent Linken-Anhänger kümmern, die laut Emnid die kruden Pegida-Forderungen goutieren.

 

01/2015

Dazu auch:

Väter von Pegida in derselben Rubrik

Mieser alter Mief im Archiv dieser Rubrik

       

 

 

Europa der Diebe

  

Die altgriechische Mythologie war der christlichen Religion in puncto Anschaulichkeit und Realitätsnähe weit überlegen. Hier wie dort trugen die göttlichen Wesen menschliche Züge, doch während in der Antike deftige Charaktere mit abgründigen Leidenschaften auf dem Olymp thronten, statteten die Jünger Jesu ihre Idole mit kryptischen Symbolen und rational schwer verdaulichen Attributen (unbefleckte Empfängnis, Folterkreuz und Dornenkrone etc.) aus. Kein Wunder, dass die frühe Geschichte Europas viel treffender durch ein handfestes Sex-and-Crime-Szenario hellenischer Provenienz als mittels Wiederauferstehung, Pfingstwunder sowie Missionierung durch Märtyrer abgebildet wird.

 

Einst verwandelte sich der allzeit geile Göttervater Zeus in einen Stier (ein Tier, das Brokern nur noch als Synonym für steigende Aktienkurse geläufig ist), entführte eine phönizische (!?) Königstochter namens Europa auf seinem Rücken und zeugte mit ihr drei Bälger. Mittlerweile tumultuös in die Gegenwart gebeamt, sammelte die schöne Entjungferte die meisten ihrer Körperteile zusammen und konstituierte sie als Europäische Union; den Menschen zum Wohlgefallen – wie sie meinte. Befremdet musste die Gründungsmutter allerdings bald feststellen, dass sich nur Bordellbesitzer, Wucherer und Glücksspieler ernsthaft für sie interessierten.

 

Gut ging es hingegen der Filzlaus Jean-Claude, die damals in der flauschigen Mitte des Körpers das Sagen und Saugen hatte. Da sie auch ihre Schmarotzer-Freunde am wohlfeilen Blutrausch teilhaben lassen wollte, lud sie diese kurzerhand zu einer Billig-Orgie ins kleine, aber feine Schamhaar, welches sie zärtlich mein Luxemburg nannte, ein. „Wir schließen eine kleine legale Abmachung“, schlug Jean-Claude der Wanze Pepsi, dem IKEA-Floh und der Kopflaus Apple sowie diversen Egeln und Stechmücken vor. „Ihr lasst eure Zechen in den anderen Körperteilen einfach offen, und ich schicke Rechnungen von hier raus, die eure Schulden auf null bringen. Was ihr dabei spart, versaufen wir hier gemeinsam, und ich gebe acht, dass Europa dabei nicht aufwacht.


Gesagt, getan! So ließen es sich Jean-Claude und seine Kumpane etliche Jahre lang gutgehen, bis der Vampir-Mäzen über einen veritablen Abhörskandal stolperte. In einem Anfall geistiger Umnachtung oder auf dem Zenit eines alkoholischen Härtetests hatte sich die Filzlaus offenbar für eine Wanze gehalten. Zur gleichen Zeit wurde bei der Europäischen Union galoppierende Anämie festgestellt, ganze Gliedmaßen, vor allem die unteren (also südlichen), starben ab, weil sie wegen ständiger Blutentnahme nur noch unzureichend versorgt wurden. Da beschloss die Königstochter zu handeln. Und als sie Jean-Claude von seinem Volk davongejagt und so ganz seiner Ämter und Würden entkleidet sah, dauerte er sie und sie machte ausgerechnet ihn zum EU-Kommissionspräsidenten, zum obersten Kontrolleur eines geordneten Blutflusses sozusagen.

 

Auchauf dem Olymp gab es derweil eine Veränderung. Der alte Kidnapper und Vergewaltiger Zeus mit seinen nicht mehr zeitgemäßen Brachial-Methoden wurde von seinem eigenen Sohn gestürzt. Im Reich der Unsterblichen herrscht nun Hermes, Gott der Kaufleute und Diebe.

 

11/2014        

 

 

Primus aus Ankara

 

Schmallippig entrüstete sich Kanzlerin Merkel über die Haltung der türkischen Regierung im Kampf um die syrische Kurden-Stadt Kobane (dabei hätte sie das Dilemma dank der Bespitzelung Ankaras durch den BND doch voraussehen können). Brüskiert zeigte sich auch Außenminister Kerry, als die Osmanen seiner US-Army samt Verbündeten Stützpunkte, von denen aus der Islamische Staat (IS) angegriffen werden sollte, glatt verweigerten. Doch ist die Indignation gerechtfertigt? Zeigt Erdogan nicht viel mehr, dass er in der Schule des Imperialismus gut aufgepasst, von den USA und der NATO viel gelernt hat?

 

Der türkische Staatspräsident verkörpert die Synthese von ungezügeltem Kapitalismus und reaktionärem Islamismus – eine Mischung, die bei den neoliberalen Jesus-Fundamentalisten in den USA sehr gut ankam, bis Erdogans Entscheidung, die kurdischen Verteidiger von Kobane von den IS-Milizen massakrieren zu lassen, dem Vorhaben der amerikanischen Alliierten, die Terror-Geister, die man einst rief, wieder loszuwerden, zuwiderlief.

 

Zwar war es zunächst die von den USA, Qatar und Saudi-Arabien betriebene Destabilisierung Syriens mit Waffenlieferungen an alle möglichen Dschihadisten-Gruppen gewesen, die den IS stark gemacht hatte, doch trug bald auch die türkische Regierung ihr Scherflein dazu bei, indem sie die dem fundamentalistischen Nachschub im Gegensatz zu den kurdischen Freiwilligen, die Kobane verteidigen wollen, die Grenzen öffnete, der Terrortruppe Erdöl abkaufte und sie wohl auch mit Kriegsgerät versorgte. Inzwischen nimmt die Türkei eine „neutrale“ Position ein, d. h. sie sieht dabei zu, wie die Zeloten die ungeliebten Kurden abschlachten, und hofft, dass die Aggressoren dabei auch ein wenig geschwächt werden.

 

Im Grunde tut die türkische Regierung nur das, was die USA und die NATO bereits zuvor in dieser Weltregion praktiziert haben: Um missliebige Autokraten wie Gaddafi in Libyen, Assad in Syrien oder – ein paar Jahre früher – Nadschibullah in Afghanistan loszuwerden, paktierte der Westen mit dem Teufel und zerschlug ganze Länder. Besonders aufmerksam dürfte der eifrige Macht-Eleve Erdogan das Vorgehen der USA in zwei Nachbarländern der Türkei analysiert haben. Im Iran ließ die CIA 1953 den Premier Mossadegh, der die Erdöl-Industrie verstaatlichen wollte, aus dem Amt jagen und machte Schah Reza Pahlavi zum Alleinherrscher von Washingtons Gnaden, zum Gedeih der deutschen Klatschblätter und zum Verderb Zehntausender seiner Landsleute. Ein paar Jahrzehnte später – der Iran war zum Gottesstaat geworden – rüsteten die USA die Armee eines gewissen Saddam Hussein im Irak hoch, damit dieser einen Krieg gegen das Regime in Teheran vom Zaun brechen konnte. Wieder ein knappes Vierteljahrhundert danach zerstörten NATO-Truppen den Irak, um den zum neuen Hauptschurken ernannten Saddam Hussein unter absurden Vorwänden aus dem Verkehrzu ziehen.

 

All das hat sich Erdogan gemerkt. Täuschen, Betrügen, Lügen gehören zum Handwerk ebenso wie Waffenschiebereien, Seitenwechsel und Brutalität. Zwar haben solche Taktikdeterminanten den USA im Nahen und Mittleren Osten letztendlich nichts genutzt, doch denkt der türkische Präsident wie jeder selbstverliebte Machtpolitiker, dass er es besser ausfechten könne. Und imperiale Interessen hat das türkische Regime en masse: Das Land soll die Hegemonialmacht in der Region werden, dazu der Transit-Monopolist für die Energieströme fossiler Herkunft – und wenn beim Kampf gegen den Konkurrenten Syrien ein paar Öl- und Erdgas-Felder sowie Raffinerien per Annektion erworben werden könnten, wäre das ja auch nicht schlecht. Dafür verrät Erdogan die Friedensverhandlungen mit den Kurden, die er selbst in Gang gebracht hat und für die ihm selbst seine Gegner Anerkennung zollten.

 

Kobane sei keine Tragödie, sondern nur der Kampf zweier Terrorgruppen, verlautete es aus Regierungskreisen in Ankara. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PPK) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) von der syrischen Schwesterorganisation, leisten einer zahlenmäßig und waffentechnisch weit überlegenen IS-Truppe Widerstand mit dem Rücken zur Wand, und als Wand fungiert die nahe türkische Grenze. Erst spät griffen Bomber der USA, die nun auch die Dschihadisten fürchten, und ihrer Verbündeten aus sicherer Höhe in die Kämpfe ein. Denn auch in den westlichen Staaten gelten die PKK-Kämpfer als Terroristen.

 

Die PKK wurde im November 1978 zu einer Zeit gegründet, als wechselweise Konservative, Sozialdemokraten und Militärs herrschten, Kurden als „Bergtürken“ verspottet wurden, ihre Sprache ebenso verboten war wie ihre Parteien, als ihre Vertreter verhaftet und kritische Journalisten erschossen wurden. Wie so viele Befreiungs- oder Widerstandsorganisationen in aller Welt, von den Vätern des Staates Israel bis zu den heute regierenden Sandinisten in Nicaragua, begingen die Kämpfer der PKK Überfälle und Attentate. Später schloss die PKK einen inoffiziellen Waffenstillstand mit Ankara und zog ihre Truppen mehrheitlich in den Nordirak ab. Seit 2005 fordert der inhaftierte Vorsitzende Ocalan keinen völlig autonomen kurdischen Staat auf  türkischem Gebiet mehr, sondern einen Demokratischen Konföderalismus. Diese etwas vage Idee wird immerhin von Aussagen begleitet, wie sie der islamische Nahe Osten bislang noch nicht kannte: „Demokratisch-ökologische und auf Geschlechterbefreiung ausgerichtete Gesellschaft“. Erstaunliche Statements für eine terroristische Gruppierung...

 

Als 20.000 Jesiden und turkmenische Schiiten von den IS-Horden im nordirakischen Sindschar-Gebirge eingekesselt wurden, waren es nicht die Pechmerga der autonomen Kurdenregion (die sich lieber mit ihren neuen Waffen um Erbil eingruben) und auch nicht die Luftwaffe der reuigen USA, sondern PKK- und YPG-Kämpfer, die eine rettende Bresche in den Belagerungsring sprengten. Eine entkommene Jesidin: „Die PKK hat uns den Weg geöffnet. Die Guerillakämpfer waren die einzigen, die uns geholfen haben.“

 

Vielleicht sollten sich auch Politiker der Grünen oder Linken hierzulande solche Sachverhalte zu Gemüte führen, bevor sie einer wahllosen Waffenverteilung an unsere Verbündeten das Wort reden. Recep Erdogan indes würden diese Informationen nicht beeindrucken, er hat gut aufgepasst in den Geschichtsstunden seiner NATO-Lehrmeister.

  

10/2014                  

 

 

Gegen ein Monstrum

 

Selten wird auf dieser Homepage zu direkter Aktion aufgerufen; sie ist eigentlich der kritischen Reflexion, einer die gängigen Medien konterkarierenden Sichtweise und der Veröffentlichung von Totgeschwiegenem gewidmet. Wenn aber eine für die Zukunft entscheidende Weichenstellung von Wirtschaft und Politik derart verfälscht und verharmlosend dargestellt sowie die Durchführung so mafiös betrieben wird, dass die Bevölkerung in den EU-Ländern ahnungslos in eine Falle tappt, muss auch hier schnelles Handeln gefordert werden. Die Rede ist vom Freihandelsabkommen TTIP und dem Kampf einer staatenübergreifenden Bürgerinitiative dagegen.

 

Um das Vertragsmonstrum zu stoppen, das jede verantwortliche Sozial-, Gesundheits- und Umweltpolitik bedroht, haben sich 230 Organisationen, darunter Campact, zu einer Europäischen Bürgerinitiative (EBI) zusammengeschlossen. Sie möchten über eine Million Unterschriften gegen TTIP und dessen unscheinbarere, aber nicht minder gefährliche Schwester Ceta (Freihandelsabkommen mit Kanada) sammeln, damit die EU-Kommission sich mit dem Völkerbegehren befassen muss und den Initiatoren die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Ziele und Beschwerden vor dem Europäischen Parlament vorzustellen.

 

Schon einmal ist es Campact und verbündeten Organisationen mittels 1,7 Millionen Unterstützern gelungen, das EU-Parlament zum Einlenken zu zwingen und so die Privatisierung der Wasserrechte zu verhindern. Diesmal will sich die Kommission (eigentlich eine Art Kabinett, das Wählerwillen umsetzen soll, tatsächlich aber ein verlängerter Arm der Wirtschaft) nicht überrumpeln lassen und bedient sich einer rabulistischen Argumentation: Stop TTIP sei als Bürgerinitiative abzulehnen. Die Verhandlungsmandate zu TTIP und Ceta seien nämlich keine Rechtsakte, sondern interne Vorbereitungsakte, die eine Bürgerinitiative nicht anfechten könne – so die fadenscheinige Begründung. Anders ausgedrückt: Die Bevölkerung hat das Maul zu halten, während Entscheidendes ausgekungelt wird. Ist das Lobbyisten-Werk erst mal gesetzlich festgeklopft, kann sie ruhig noch ein bisschen dagegen protestieren.

 

Campact und andere Unbelehrbare lassen sich durch solch krude Logik nicht beirren und versuchen dennoch, über eine Million Unterschriften binnen kurzem zusammenzubekommen. Hier sollte jeder, der die Machenschaften der Monopole nicht als Schicksalsfügung hinnehmen möchte, tätig werden; weitere Informationen sind direkt bei Campact in der Rubrik Achtung, Links! dieser Homepage abzurufen. Zusätzlich erwägen Umweltverbände derzeit, vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Entscheidung der EU-Kommission zu klagen.

 

Die Politik und viele Medien hatten zu Beginn der Diskussion um TTIP eine falsche Fährte gelegt. So erregten sich die Bürger über „Chorhähnchen“ aus den USA, eine Petitesse, zu der sich sicherlich ein Kompromiss finden ließe, während sich die wirklich gravierenden Risiken hinter unscheinbaren, bürokratisch klingenden Begriffen wie Investorenschutz verbergen. Es wird Zeit, die demokratiefeindliche Herangehensweise an ein Vertragswerk,dessen Inkraftsetzung die Realität in Europa verändern wird, zu entlarven sowie einige der immensen Gefahren für unsere Sozial- und Gesundheitssysteme und die Umwelt beim Namen zu nennen.

 

- Die Verhandlungen über TTIP und Ceta sind geheim und unterliegen keinerlei rechtsstaatlicher Kontrolle. Nur wenige ausgewählte Politiker, dafür aber Scharen von Konzern- und Hochfinanz-Vertretern sowie Lobbyisten, kennen die Inhalte. Die ahnungslosen Abgeordneten in Brüssel und ihre Kollegen in den Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten sollen also über eine Katze im Sack abstimmen, die sich als tollwütiger Tiger entpuppen kann.

- Der Investorenschutz erlaubt es Privatfirmen, einen Partnerstaat wegen dessen Behördenverordnungen oder Gesetzgebung zu verklagen (Umgekehrt ist einem Staat die Klage gegen ein Unternehmen nicht möglich!). Verhandelt wird vor einem anonymen, wirtschaftslastigen Schiedsgericht.

- Umwelt- oder Gesundheitsstandards eines europäischen Staates können wegen der Benachteiligung von US-Anbietern ausgehebelt werden. Das – im Kern TTIP ähnliche – Freihandelsabkommen NAFTA zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Nachbarländern führte zu Schadenersatzforderungen von US-Konzernen, unter anderem wegen des gesetzlichen Fracking-Verbots in Kanada und wegen eines von einer mexikanischen Provinzregierung verfügten Baustopps für eine Giftmülldeponie in einem Naturschutzgebiet. In Deutschland könnte das Erneuerbare-Energien-Gesetz als „geschäftsschädigend“ empfunden werden.

- Soziale Errungenschaften wie das öffentliche Gesundheitssystem oder die kommunale Wasserversorgung könnten als„verbotene Subventionierung“, die einen „freien Wettbewerb“ verhindert,sanktioniert werden. Auch wenn derzeit die Unterhändler beschwichtigen, diessei nicht geplant – die Pharma-Konzerne, Klinik-Konzerne, Energieversorger, diesich durch staatliche Konkurrenz an der Profitmaximierung gehindert sehen,stehen bereits Gewehr bei Fuß. 

- Tarif- und Streikrecht, Mindestlohn oder Betriebsverfassungsrecht stünden auf dem Prüfstand, weil sie die Expansion der sozial eher light tendierenden US-Konzerne behindern könnten.

- Die US-Multis der Agrar-Industrie wie Monsanto werden sich die Restriktionen von Umweltministerien nicht gefallen lassen, wenn sie Europa mit unkontrollierbaren Pestiziden, genmanipulierten Getreidepflanzen und Saatgut-Patenten überschwemmen wollen.

- Früher oder später wird ein Staat, der ständig Regressforderungen in Milliardenhöhe zu befürchten hat, nur noch die Gesetze beschließen, die der Wirtschaft freien Lauf lassen.

 

Nachdem zunehmend deutlich wird, dass der „Widerstand“ deutscher Politiker, allen voran des Umfallmännchens Gabriel, gegen den Investorenschutz und andere durchsickernde Knebel-Vereinbarungen nur für die Galerie gedacht war, ist es um so wichtiger, dass die NGOs ihren Kampf gegen die Entmündigung der Bevölkerung (und der nationalen Legislative wie Judikative) in der EU intensivieren. Die Unterschriftenkampagne gegen TTIP und Ceta muss Brüssel klarmachen, wie eine engagierte Bürgerschaft in Existenzfragen tatsächlich tickt. Skeptiker, die solche Aktionen für sinnlos halten, seien auf folgende Aspekte hingewiesen:

 

- Dass selbst das abgehobene EU-Parlament vor einem strikten Kurs gegen den Bürgerwillen zurückschreckt, hat die erste EBI „Right2water“ gezeigt, die zumindest vorerst die öffentliche Wasserversorgung in Europa vor dem Zugriff von Konzernen wie Nestlé rettete.

- Plebiszitäre Kampagnen sollten in Europa nicht separatistisch-populistischen Gruppen, die Länder aus unsolidarischen Motiven zerstückeln wollen, überlassen bleiben, sondern beweisen, dass es eine EU von unten gibt, die den Menschenrechten und nicht den Wirtschaftsinteressen verpflichtet ist.

- Wenn wir nichts tun, stärken wir jene Politiker, die sich gerade in Deutschland augenblicklich als Erfüllungsgehilfen einer bedenkenlos Menschen wie Ressourcen ausbeutenden Wirtschaftsmacht profilieren.

 

Am Ende seines Konzerts auf dem Nürnberger Bardentreffen rief der große englische Folk-Sänger Billy Bragg seinem Publikum zu: „Euer größte Feind ist nicht der Kapitalismus, sondern der Zynismus in euch selber.“ Also jene Haltung, die jedes Engagement als nutzlos denunziert und politisches Handeln per se für aussichtslos und lächerlich hält. Immer wieder aber hat sich gezeigt, dass Proteste, Mobilisierung und intelligente Aktionen, zumal wenn sie europaweit organisiert werden, die fortschreitende Bevormundung der Bevölkerung durch die wahren Machthaber in den Konzern- und Bankenzentralen wenigstens partiell aufhalten können.

 

10/2014

 

Dazu auch:

Der Teufelspakt im Archiv díeser Rubrik     

              

  

 

FREIHEIT und DEMOCRACY

 

Nato-Bemühungen um Menschenrechte (Auswahl)

 

Die NATO, die EU und die USA als Führungsnation des Westens im Besonderen sind derzeit auf etlichen Baustellen einer aus den Fugen geratenen Welt zugange, mal mittels direkter Militäraktion, dann wieder durch verdeckte Finanzierung und Ausrüstung, oft auch per wirtschaftliche und politische Strangulierung der von der Allianz des Guten ausgemachten Feinde des Fortschritts. Angesichts der Vielzahl der Konflikte und der erratischen Definition von Freund und Feind drängt sich allerdings die Frage auf, ob es nicht diese Hüter von Frieden und Demokratie selbst waren, die vieles in Schutt und Asche gelegt haben und nun bei dem Versuch versagen, die Trümmer wegzuräumen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Bertolt Brecht das Gedicht „Anachronistischer Marsch“ (dessen Untertitel für die Überschrift dieser – unvollständigen – Bestandsaufnahme entlehnt wurde), in dem er ausführt, dass manchmal die Täter am lautesten lamentieren.

 

Rumble in the Jungle

 

Noch klingt es in den Ohren, wie die französische Regierung sich damit brüstete, den Vormarsch von Al Qaida im Wüstenstaat Mali gestoppt zu haben. Dabei wurde verschwiegen, dass es gerade die früheren gallischen Kolonialherren waren, die es versäumt hatten, dem Volk der Tuaregs Territorien sowie Rechte einzuräumen, und so die religiös eher laxen Nomaden langfristig an die Seite der fanatischen Islamisten trieben, was deren militärische Anfangserfolge erst ermöglicht hatte.

 

Auch in der Zentralafrikanischen Republik treten französische Truppen als „Friedensstifter“ auf, nachdem gemeldet worden war, mohammedanische Putschisten würden die christliche Bevölkerung drangsalieren. Dass Paris etliche Jahrzehnte lang die brutalsten Unterdrücker in Bangui hofiert hatte, dass sich sogar ein Premier (Giscard d`Estaing) vom selbsternannten und des Kannibalismus verdächtigten Kaiser Bokassa erwiesenermaßen hatte schmieren lassen, gehört dagegen unter den Teppich des ewigen Vergessens gekehrt. Dank des uneigennützigen Militäreinsatzes, der die Gewichte in europäischem Sinn verschoben hat, werden mittlerweile islamische Dorfbewohner von einheimischen Christen vertrieben oder massakriert.

      

Überall, wo der Westen, repräsentiert durch Europa oder die USA, in Schwarzafrika eingriff, um seine Werte (euphemistische Umschreibung von Interessen) durchzusetzen, kam es zu Blutvergießen, ja zum Verfall ganzer Länder. Um den (ebenfalls wenig zimperlichen) Chinesen nicht die alleinige Handelspartnerschaft  mit dem rohstoffreichen Sudan zu überlassen, betrieben NATO und EU die Spaltung dieses Landes. Als sich dann im neuen Staat Südsudan christliche und animistische Bevölkerungsgruppen gegenseitig abschlachteten (nicht zuletzt, um die Kontrolle über die Erdölfelder zu erringen), hielten sich die europäischen Propagandisten bürgerlicher Freiheit vornehm zurück – bis zur Stunde.

 

Der klassische Sündenfall, der wie kein zweiter beweist, dass das hohle Versprechen von Hilfe zur Freiheit und Demokratie auf diesem Kontinent sich stets zum blutigen Gemetzel materialisiert, fand und findet im Kongo statt. Als das große Land, das so ziemlich über alle begehrenswerten Bodenschätze verfügt, 1960 nach der belgischen Kolonialherrschaft, der nachgewiesen grausamsten auf afrikanischem Boden, „in die Unabhängigkeit entlassen wurde“, gewann die Partei des jungen Sozialisten Patrice Lumumba die ersten freien Wahlen. Da als Demokratie nur gilt, was den eigenen Interessen nützt, organisierten die CIA, der britische Geheimdienst Ml 6 sowie dessen belgisches Pendant einen Putsch, der mit der Ermordung Lumumbas im Januar 1961 endete. (Mehr als 50 Jahre später nahm die Staatsanwaltschaft in Brüssel deswegen Ermittlungen auf.) Die westlichen „Helfer“ bereiteten damit nicht nur die 32 Jahre dauernde Gewaltherrschaft Mobutus über Zaire (so der zwischenzeitliche Staatsname) vor, sie zündeten auch die Lunte zu einem endlosen „asymmetrischen“ Krieg im Kongo, der bis heute anhält und Hunderttausende von Menschenleben gefordert hat.      

 

Fata Morgana

 

Dass die um Menschenrechte so besorgte NATO sehr wohl zu differenzieren weiß zwischen einem (angeblichen) Völkermord in einer Region, die ihr strategisch und/oder wirtschaftlich bedeutend erscheint, und einem Genozid in the middle of nowhere, machen zwei Beispiele klar: Im Kosovo wurde ohne jeden Beweis ein flächendeckendes Massaker prognostiziert, das als Begründung für prophylaktische (völkerrechtswidrige) Bombardierungen Rest-Jugoslawiens herhalten konnte, 1994 in Ruanda hingegen interessierte man sich keinen Deut um die Ermordung von mehr als 500.000 Tutsis durch die aufgehetzte Hutu-Mehrheit. Den Gipfel der Heuchelei aber stellte die westliche Haltung zur Beendigung des Terrors in Kambodscha dar: Nach etlichen Grenzverletzungen durch die Khmer Rouge eroberte die vietnamesische Armee an der Seite der kambodschanischen Truppen Hun Sens die Hauptstadt Phnom Penh und stoppten so einen organisierten Völkermord, dem bis dahin fast zwei Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Dafür wurde Vietnam als Aggressor von der UN-Vollversammlung verurteilt – auf Betreiben der USA und mit der Stimme des deutschen Vertreters…

 

Auch bei der Beurteilung von Autokraten beweisen die angemaßten Wahrer der Demokratie ein feines Gespür, das sich an einer Roosevelt zugeschriebenen Einschätzung des nicaraguanischen Diktators Somozas orientiert: „Er ist ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund.“ Saddam Hussein und Muammaral-Gaddafi waren widersetzliche Biester, weswegen sie liquidiert werden mussten. Dass der hilfreiche Westen dabei alle staatlichen Strukturen gleich mit vernichtete, zwei Länder mit fragilem nationalem Zusammenhalt in Stammesregionen zerhackte und in ein endloses Blutbad tauchte, gehört zu den üblichen Kollateralschäden bei der Durchsetzung moralisch verbrämter Interessen.


Überhaupt wurde der arabische Frühling, der sich mittlerweile als Fata Morgana entpuppt hat, allerorten genutzt, um klare Fronten zu schaffen. Die stets zündelnden Herrscher des mittelalterlichen Gottesstaates Saudi-Arabien und der ehrgeizige Emir von Qatar, der jede terroristische Gruppierung finanziert, wenn dies nur der Ausweitung seines Einflusses dient, gehören in die Hütte der braven Hunde. Assad hingegen, dessen Familien-Clan Syrien mit harter und gieriger Hand regierte, der aber zumindest die Verfolgung ethnischer und religiöser Minderheiten unterband, passte nicht in das Weltbild der NATO, zumal er der russischen Flotte den einzigen Hafen-Stützpunkt im Mittelmeer einräumte. Also trat man –  gegen den Rat vieler syrischer Exil-Oppositioneller – durch Aufrüstung und propagandistische Unterstützung vorwiegend islamistischer Gruppen einen Krieg los, der die gesamte Region noch auf Jahre hinaus destabilisieren und - im wahrsten Sinn des Wortes - ruinieren wird. 

 

Der ägyptische General Al-Asisi wiederum, der den bürgerlich-demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi aus dem Amt putschte (Die Ukraine lässt grüßen!), alle ernstzunehmenden Gegner mitsamt unbotmäßigen Journalisten ins Gefängnis werfen und Tausende von Todesurteilen verkünden ließ, der Mann also, dessen brutale Methodik die Repressionen des früheren Machthaber Mubarak bei weitem in den Schatten stellt, wird nach NATO-Logik zur Rasse der nützlichen Canidae (Köter) gezählt. Und damit es seiner Armee an nichts mangelt, wird sie mit enormer Militärhilfe aus den USA und der EU richtig einsatzfähig zum Kampf gegen Innen und Außen gehalten.

 

Von guten und bösen Islamisten

 

Derzeit überbieten sich NATO-Politiker verbal gegenseitig, wenn es um die Verurteilung der durch die Milizen des Islamischen Staates (IS) auf deren Vormarsch im Irak begangenen Grausamkeiten geht. Auch Waffenlieferungen an die (untereinander zerstrittenen) Kurden und die (unzuverlässigen) Truppen Bagdads werden erwogen oder sind – wie im Fall Frankreichs und der USA– bereits erfolgt. Im gegenwärtigen Szenario wirken allerdings die hervorragende Ausrüstung, das waffentechnische Know-how und das strategische Geschick eines vermeintlich wüsten Islamisten-Haufens sonderbar. Vielleicht trifft tatsächlich die – allerdings schwer verifizierbare – Darstellung in den von Edward Snowden veröffentlichten NSA-Papieren zu, dass der IS (damals noch ISIS) einst von Agenten der CIA, des britischen Geheimdienstes und des israelischen Mossad aus der Taufe gehoben wurde. Auch der ehemalige Al-Qaida-Kommandeur Nabil Naeem behauptet, der IS arbeite derzeit für die CIA, um im Rahmen der Strategie Hornissennest Syrien und andere Nahost-Staaten zu zerschlagen. So abstrus dies anmuten mag - man erinnere sich an andere (längst offiziell bestätigte) Geheim-Aktionen wie Gladio oder Operación Cóndor, mit denen die CIA linksliberale Bestrebungen in Italien hintertrieb bzw. die blutigen Militärputsche in Chile, Argentinien und Uruguay initiierte.

   

Selbst wenn der IS eine terroristische Eigen-Kreation sein sollte, dürfte doch die Mehrzahl der exzellenten Waffen, über die seine Truppen verfügen, von den USA, anderen westlichen Staaten oder den erzreaktionären Verbündeten auf der arabischen Halbinsel mit dem Zweck geliefert worden sein, das unbequeme Assad-Regime zu beseitigen. In diesem Fall wurde man die Geister, die man rief, nicht mehr los, und muss sich nun langsam mit dem Gedanken vertraut machen, die eigene Export-Artillerie und die einstigen Handlanger zu bombardieren.

 

Hatten wir alles schon einmal: Gegen die sowjetischen Besatzer rüsteten die Westmächte in Afghanistan Islamisten, Feudalherren sowie Banditen auf und beendeten ihr Engagement auch nicht, als die UDSSR ihre Truppen längst abgezogen hatten. Der Geheimdienst des damals engsten US-Verbündeten in der Region, Pakistan, trainierte derweil eine ultra-brutale Zeloten-Truppe, Taliban genannt, und schickte sie dann über die Grenze. Erst nachdem 11. September 2001 erkannten die US-Verantwortlichen, dass sie einst wohl auf die falschen Pferde gesetzt hatten. Die anschließende Besetzung Afghanistans durch westliche Miltärs kostete ungezählte Leben, ließ den Opiumhandel aufblühen und Islamistenvwie Hekmatyars Mudschaheddin (Ex-Verbündete) ebenso wie die zunächst vertriebenen Taliban wieder erstarken – und destabilisierte nebenbei den Nachbarn Pakistan; immerhin ein Staat mit Atombombe.


Es gehört zu den (ungeschriebenen) Gesetzen des ansonsten weitgehend zügellosen Markt-Liberalismus, dass es immer und überall Gewinner und Verlierer geben muss. Zu letzteren gehören die Menschen in den Krisengebieten und – in übertragenem Sinn – die Wahrheit. Als Gewinner können sich Machtpolitiker, Geheimdienste und – manchmal – Militärs fühlen, vor allem aber deren Hintermänner, die Brecht in seinem „Anachronistischen Zug“ so beschreibt:

 

Ihre Gönner dann, die schnellen

Grauen Herrn von den Kartellen:

Für die Rüstungsindustrie

FREIHEIT und DEMOCRACY!

 

Mittlerweile fordern deutsche Politiker von ganz rechts bis hin zur sich immer staatstragender gebärdenden Linken deutsche (diesmal nicht verdeckte) Waffenlieferungen in den Irak, also in ein Kriegsgebiet. Die Gewinner würden in jedem Fall feststehen.  

 

08/2014

 

Dazu auch:

Tod aus Deutschland in dieser Rubrik

Die Niederlage im Archiv der Rubrik Medien     

 

   

  

Tod aus Deutschland

 

In seinem Gedicht „Todesfuge“ fand Paul Celan gegen Ende des Zweiten Weltkrieges eine düstere Metapher für Auschwitz und den Vernichtungswillen der germanischen Herrenmenschen: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Heutzutage wird kaum jemand den Verantwortlichen in der Bundesrepublik unterstellen, sie planten Konzentrationslager oder totale Kriege. Und doch haben viele von ihnen beinahe überall auf der Welt die Hände im Spiel, wenn geschossen, gebombt und ermordet wird. Nur sind diese Händler des Todes keine uniformierten Nazis mehr, sie kleiden sich in Nadelstreifen und sitzen in den Chefetagen großer Konzerne oder im Bundestag. Und von dort lenken, kontrollieren oder genehmigen sie Waffenexporte, die in einem Teil der Empfängerländer Korruption und Armut, im anderen Menschenrechtsverletzungen und Massaker mit sich bringen.

 

Von wegen dritter Platz…

 

In seiner letzten Fünf-Jahres-Statistik stellte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI fest, Deutschland habe seine Exporte von schweren Waffen (Panzer, Kampfflugzeuge oder Kriegsschiffe) zwischen 2005 und 2009 verdoppelt. Nicht erfasst sind dabei die Unmengen an Gewehren und Handfeuerwaffen, die Konzerne wie Heckler & Koch über die Welt ausschütten. Gleichfalls unerwähnt bleibt ferner, dass die Bundesregierung dem Abkommen zum Verbot von Landminen immer noch nicht beigetreten ist und so deutschen Unternehmen weitgehend freie Hand beim Handel mit diesem „Exportschlager“ lässt.

 

Inzwischen steht die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin eines Staates, von dem einst der blutigste Krieg der Menschheitsgeschichte ausging, hinter den USA und Russland an dritter Stelle unter den Kriegswaffen und Rüstungsgüter ausführenden Nationen – nach absoluten Zahlen. Vergleicht man aber den Anteil der hiesigen Bevölkerung an der Weltpopulation (1,14 Prozent) mit dem der USA (4,35 Prozent), wird man feststellen, dass Deutschland mit einem Weltmarktanteil von elf Prozent am Waffenhandel in der Relation mehr tödliche Güter exportiert als die Nordamerikaner, die mit 30 Prozent offiziell an der Spitze liegen. Berücksichtigt man solche Zahlenverhältnisse, wird unser friedliebendes Land in der Verbreitung von Vernichtungsinstrumenten nur noch von Putins Russland übertroffen.

 

Korrupt in Berlin und anderswo

 

Seit geraumer Zeit bemüht sich die SPD den Ruch der Pazifisten-Partei loszuwerden. Dass es dabei nicht immer mit legalen Mittel zugeht, zeigt die unlängst aufgedeckte Verstrickung zweier Ex-Bundestagsabgeordneter in die den internationalen Waffenhandel wie eine Zwillingsschwester begleitende Korruption: Die Münchner Rüstungsschmiede Krauss-Maffei Wegmann (KMW) hat zwischen 2000 und 2005 heimlich mehr als fünf Millionen Euro an die Beratungsgesellschaft von Dagmar Luuk und Heinz-Alfred Steiner gezahlt, wie bei einer internen Untersuchung zu zwei Panzergeschäften mit Griechenland festgestellt wurde. Die Summe scheint riesig, relativiert sich aber zu einem Trinkgeld, wenn man das Gesamtvolumen von zwei Milliarden Euro des KMW-Deals mit Athen berücksichtigt, und sie scheint gut investiert gewesen zu sein: Sozialdemokrat Berger, MdB von 1980 bis 1994, war zeitweise stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses; seine Genossin Luuk gehörte dem Parlament von 1980 bis 1990 an und galt als Griechenland-Expertin der SPD. Die Kontakte und das Hintergrundwissen der beiden Politiker waren offenbar Gold wert. Einfluss auf die Auftragserteilung zu nehmen, möglicherweise Wohlverhalten der Zuständigen in Athen finanziell zu belohnen, war einfach, denn dort regierte damals die Schwesterpartei PASOK.

 

Auch in Griechenland selbst wird gegen Funktionäre und Beamte ermittelt, die sich von Waffenproduzenten aus dem anständigen Vorzeigestaat Deutschland bestechen ließen. Eigentlich erschütternd aber ist, dass ein von Krisen gebeuteltes Land durch die EU unterMer kels und Schäubles Federführung dazu gezwungen wird, die öffentlich-rechtlichen Medien quasi zu liquidieren, Tausende aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen und das Gesundheitssystem an die Wand zu fahren, während seine Armee, die allenfalls gegen den NATO-Partner Türkei losschlagen könnte, weiter ungehemmt aufrüsten darf (und soll), weil dies der deutschen Wirtschaft nützt.     

 

Ein Chamäleon namens Gabriel

 

Natürlich gibt es sogar für die Bundesregierung ethische Gründe, den Export von militärischen Gütern in bestimmte Regionen zu unterbinden – auf dem Papier. So soll nicht in Krisengebiete und nicht an Länder geliefert werden, deren Regimes die Waffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzen könnten. Allerdings unterliegen die Entscheidungen, was wohin ausgeführt werden darf, keiner parlamentarischen Kontrolle. Es ist der Bundessicherheitsrat mit neun ständigen Mitgliedern (neben der Kanzlerin noch ihr Vize, ihr Amtschef und einige Minister), der in geheimer Sitzung Exporte billigt oder verbietet, aber nur wenn sich die zuständigen Ressorts zuvor nicht einigen konnten. Zuständig für die Erstgenehmigung aber ist meist der Wirtschaftsminister, und der ist Sozialdemokrat und heißt Sigmar Gabriel.

 

Nach außen gibt sich Gabriel fast wie ein kämpferischer Pazifist, wenn er ankündigt, ein Panzer-Geschäft mit Saudi-Arabien platzen zu lassen, oder behauptet, zwei Drittel aller Export-Anträge würden abgelehnt (angesichts der bisher mit Regierungsplazet belieferten Kunden muss man annehmen, dass wahre Monster vorstellig geworden sind), die nackten Zahlen indes belegen eine ganz andere Praxis. In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat Gabriel Waffenexporte im Wert von 1,2 Milliarden Euro genehmigt, der Wert der Ausfuhren in kritische Drittländer außerhalb von EU und NATO stieg sogar, und zwar auf 649 Millionen. Altlasten, die er von seinem FDP-Vorgänger geerbt habe, entschuldigt sich Gabriel. Dies entlastet ihn in keiner Weise, müsste er doch auch frühere Vereinbarungen oder Ankündigungen kippen, wenn sie den deutschen und internationalen Kriterien für Menschenrechte zuwiderlaufen. Die Affinität der SPD zur deutschen Kriegslobby, die bereits unter den Kanzlern Brandt und Schmidt zu beobachten war, scheint sich – im Schulterschluss mit der IG-Metall-Spitze – ungebremst fortzusetzen.

 

Kleiner Atlas tödlicher Exporte

 

Eine kleine, aber exquisite Auswahl von Staaten, die mit Hilfe deutscher Waffen zur Bedrohung für die Nachbarn oder die eigenen Bürger wurden, zeigt, dass Bundesregierungen im Zweifelsfall stets für die Machthaber und gegen die Menschen entschieden:

 

Auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellungin Berlin (derart unverfänglich nennt sich die wohl wichtigste Wehrtechnik-Messe Europas) fungiert die Türkei als offizielles Partnerland. Während die Regierung Erdogan immer autokratischere Züge annimmt und sogar die deutsche Politik sich zu verbalem Tadel aufrafft, feiert die hiesige Wirtschaft die Milliarden-Geschäfte mit der türkischen Armee, die von Gewehren über Leopard-Panzer bis hin zu Kriegsschiffen alles abnimmt, was gut, teuer und tödlich ist. Keine Rolle bei den Ausfuhrgenehmigungen spielt dabei, dass die deutschen Waffen gegen Kurden eingesetzt werden, dass die Opposition dem Regime vorwirft, einen Angriffskrieg gegen Syrien zu planen, und dass immer wieder Konflikte mit dem NATO-Partner Griechenland aufflammen; aber den beliefern die deutschen Rüstungsfirmen ja auch (s. o.).

 

In einer der geopolitisch gefährlichsten Weltregionen verdienen Konzerne wie EADS oder Rheinmetall, indem sie Indiens Marine, Luftwaffe und Heer mit Unterstützung des Berliner Wirtschaftsministeriums ausrüsten und fairerweise auch dessen Erzfeind Pakistan ermöglichen, mit Hilfe deutscher Logistikzu töten.

 

Die theokratische Feudaldiktatur Saudi-Arabien, die bei fast allen Konflikten im Nahen Osten und im benachbarten Afrika mitmischt, konnte sich bei der Niederschlagung der Demokratie-Bewegung im „befreundeten“ Bahrein auf deutsche Wertarbeit in Form von Fuchs-Spürpanzern verlassen.

 

In Südafrika ist vor allem die Kontinuität deutschen Waffenhandels bemerkenswert. Während heutzutage die ANC-Regierung Kriegsschiffe und Raketen für ihre Marine u. a. von EADS bezieht, stattete während des Apartheid-Regimes Daimler-Benz die Streitkräfte mit Hochleistungsmotoren aus, damit Mandelas ANC effizient gejagt werden konnte.

 

Noch ein Verbrechen aus der Vergangenheit: Im April 1977 genehmigte der Bundessicherheitsrat der Regierung Schmidt/Genscher den Export von sechs U-Booten nach Argentinien – ein gutes Jahr, nachdem dort das Militär geputscht hatte, zu einer Zeit, da über 30.000 Menschen umgebracht wurden und in der die Angehörigen verfolgter, verschwundener und ermordeter Deutschstämmiger sich an die Bonner Regierung wandten. Weitere Waffenlieferungen folgten, bis sich die Generäle in Buenos Aires stark genug fühlten, einen Krieg um die Malvinas/Falkland Islands gegen den deutschen NATO-Verbündeten Großbritannien zu beginnen.

 

Olymp der Scheinheiligkeit


Kaum eine Krisenregion der Welt, kaum eine dem Westen gewogene Diktatur oder dubiose Polizeitruppe musste und muss auf deutsche Todes-Logistik verzichten. Ob der Empfänger Israel heißt oder Algerien, Mexiko oder Kolumbien – die Qualitätsprodukte von Heckler & Koch, Diehl oder Walther sind weltumspannend im Einsatz. Umso scheinheiliger wirkt es, wenn die Merkel-Regierung die Bundeswehr schlagkräftiger und mobiler für internationale „Friedenseinsätze“ machen will. Der Zeitpunkt scheint nicht mehr fern, an dem ein deutscher Soldat die Folgen deutscher Präzisionsarbeit am eigenen Leib verspüren wird.

 

Steigerung von Umsatz und Profit ist das Existenzprinzip des Kapitalismus. Wo so schnell und einfach Geld verdient wird wie in der Rüstungsbranche, kann die Wirtschaft nicht davon überzeugt werden, dass Know-how besser in die erneuerbaren Energien oder in die medizintechnische Produktion investiert werden sollte. Die Konversion kann nur durch Verbot von Waffenexporten erzwungen werden. Dies sei vor allem den Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionären gesagt, die das Geschäft mit dem Tod rechtfertigen, weil es Arbeitsplätze garantiere – und die zunehmend bei Bundeswehr-Seminaren auftauchen, deren Hauptredner über die moderne und logistisch ausgereifte militärische Intervention sinnieren.

 

Solange aber Deutschland seiner historischen Friedensverpflichtung nicht nachkommt, solange Rüstungs-Lobbyisten das Kabinett erfolgreich umsorgen, kann man der jetzigen Regierung nur empfehlen: Haltet lieber euren Mund, wenn es um Frieden und Menschenrechte geht. Ihr seid unglaubwürdig!

 

 05/2014

 

Dazu auch:

Waffenbrüder? im Archiv derselben Rubrik   

 

 

 

Kokain

 

Ein Parlamentsbeschluss brachte das verschlafene Uruguay, das selbst in Südamerika außerhalb der wichtigen Nachrichtenströme liegt, in die internationalen Schlagzeilen. Mit knapper Mehrheit stimmten die Abgeordneten in Montevideo Ende Juli der Legalisierung von Marihuana in bestimmtem Rahmen zu: Jeder volljährige Bürger des Landes kann sich demnach bis zu 40 Gramm der Droge in der Apotheke besorgen, darf in der Öffentlichkeit kiffen und sogar bis zu sechs Cannabis-Pflanzen selbst anbauen. Die Politiker, Juristen und Chefpolizisten der Ersten Welt warnten und schäumten, SZ-Korrespondent Peter Burghardt indes lobte, dass Präsident José Mujica, der einst als Guerillero gegen die Militärdiktatur gekämpft hatte, neue Wege einschlagen wolle, da „die repressive Drogenpolitik katastrophal gescheitert“ sei. Dies ist zweifellos richtig, doch der entscheidende Krieg findet auf höherer Ebene und auf einem anderen Schlachtfeld statt –eigentlich geht es um Kokain.

 

Verbote sind gut fürs Geschäft

 

Nie wurden mit Alkohol in einem Staat höhere Gewinne erzielt als in den Vereinigten Staaten zur Zeit der Prohibition. Irische und italienische Gangster-Organisationen übernahmen die Distribution und korrumpierten nebenbei die Hälfte der US-Kommunen. Die Geschichte wiederholt sich doch, nur diesmal in Lateinamerika, mit anderen Drogen und in einer Brutalität, die frühere Mafia-Verbrechen in Chicago oder New York wie Bagatell-Vergehen anmuten lassen. Und dabei ist Marihuana nur das Zubrot für die Kartelle, die Milliarden werden mit Kokain gemacht.

  

Vor gut dreißig Jahren beobachtete ich im kolumbianischen Cali merkwürdige Aktivitäten. Mitten in den Morast, der die „illegal“ angelegten Slums „El Vergel“ und „El Retiro“ beherbergte, ließ der aus dem oberfränkischen Igensdorf stammende Jesuitenpater Alfred Welker scheinbar völlig sinnlose Gehsteige zementieren. Tags zuvor war die Räumung der barrios durch die Armee angekündigt worden, doch ein skurriles Gesetz untersagte die Stürmung von „Invasionsgebieten“, wenn diese über Trottoirs verfügten. So konnte Welker (der später als Padre Alfredo durch seine unkonventionellen Methoden und die Energie, mit der er für Tausende von Kindern und Jugendlichen Horte, Grundschulen, Gymnasien und Gesundheitszentren errichtete, Berühmtheit weit über die Grenzen Kolumbiens hinaus erlangte) die Soldaten aus den Vierteln fernhalten, nun aber musste er das Einsickern der narcos, der bewaffneten Drogenhändler, fürchten. In einem ähnlichen Projekt, dem Barrio Popular Uno in Medellín, hatte das Kartell um Pablo Escóbar und die Ochoa-Familie junge Menschen als Drogenkonsumenten, Klein-Dealer und Auftragskiller rekrutiert. Schon damals äußerte der Jesuit mir gegenüber die These, dass die großen Organisationen zusammenbrechen würden, wenn Kokain weltweit legalisiert würde. Der Preisverfall könnte die blutigen Verteilungskämpfe und die gigantische Geldwäsche-Maschinerie stoppen, pharmazeutische Kontrolle würde die bei Kokain besonders schädlichen Streckmittel eliminieren oder zumindest kontrollieren, und die Konsum-Szenerie verlöre ihr kriminelles Umfeld.

  

Es ist sogar zu erwarten, dass mittelfristig das Interesse an Kokain global zurückginge, da der Reiz des Verbotenen entfiele, zumal der Stoff nicht das Suchtpotential von Heroin oder Nikotin birgt. Niederländische Erfahrungen mit der kontrollierten Cannabis-Freigabe weisen jedenfalls solche Annahmen als realistisch aus.

 

Einzel-Delikte und nationale Katastrophen

 

Die im weltwirtschaftlichen Verteilungsschema vorgesehene Zumessung von Konsum und Leiden funktioniert auch im Kokain-Geschäft: Während vor allem (nicht selten betuchte) Bürger der Ersten Welt die Droge konsumieren und lediglich einzelne Dealer oder User eingesperrt oder entzogen werden, sterben in Lateinamerika Hunderttausende im Kampf um die Marktanteile (meist als Opfer von „Kollateralschäden“). Dabei sind dort weniger die Länder betroffen, in denen die Coca-Pflanze (ein uraltes indianisches Heilmittel) angebaut wird, Bolivien und Peru etwa, als die, in denen sich die Labors zur „Verfeinerung“ befinden oder durch deren Territorien die wichtigsten Handelsrouten führen, also Kolumbien, die mittelamerikanischen Kleinstaaten Panama, Honduras und Guatemala sowie Mexiko („So fern von Gott, und so nah an den USA“, wie einst Porfirio Diaz höhnte).

 

Die Erst-Welt-Staaten, vor allem wegen der Folgekosten im Gesundheitswesen besorgt, geben vor, ihre Bürger vor Sucht und Gesundheitsschäden schützen zu wollen, indem sie den Endhandel mit und den Konsum von Kokain kriminalisieren und unerbittlich verfolgen. Dass sie mit dem de facto nicht durchsetzbaren Verbot eines längst florierenden „Warenverkehrs“ erst die Grundlagen für ungeheure Profitmaximierung, verbunden mit Terror und kriegsähnlichen Zuständen auf einem anderen Subkontinent, dessen Länder unregierbar zu werden drohen, schaffen, gehört zu den absurden Begleiterscheinungen einer wirtschaftsliberal konzipierten Politik. Es lohnt sich nämlich exorbitant, riskante Geschäfte an den Gesetzen vorbei zu tätigen: Schätzungen zufolge nimmt Kokain als Export-Produkt unter den Rohstoffen bzw. Genuss- und Nahrungsmitteln mittlerweile den zweiten Platz im Welthandel ein, hinter Erdöl, aber vor Kaffee.

 

Und wer so erfolgreich in der Weltwirtschaft mitmischt, bedient sich natürlich auch einiger Taktiken und Strategien, die globale Konzerne erfolgreich vorgelebt haben, als da u. a. wären Monopolbildung oder exzessiver Lobbyismus.

  

Eine Hydra des freien Marktes

  

Gemäß den Gepflogenheiten der multinationalen Konzerne schlossen sich Drogen-Banden zu Konsortien zusammen, die ihre Claims absteckten, gemeinsames Vorgehen und die Höhe der Preise untereinander absprachen, die Staatsorgane manipulierten – und jede externe Konkurrenz mit allen Mitteln bekämpften. Das Synonym für gediegene Marktbeherrschung verband sich zunächst mit zwei kolumbianischen Millionenstädten: Die Kartelle von Medellín und Cali dominierten über Jahrzehnte den weltweiten Kokain-Handel. Pablo Escóbar, der Pate des erstgenannten Trusts, brachte es laut Forbes Magazine sogar zum siebtreichsten Menschen des Globus. Seinem deutschstämmigen Vertrauten Carlos Lehder, vornehmlich für Schmuggelrouten und Transport-Logistik zuständig, wird übrigens die Entwicklung von Crack zugeschrieben, dem gefährlichsten Rauschgift, das je zusammengemischt wurde. Da Kokain allein nicht unbedingt süchtig macht und in handelsüblicher Verarbeitung zu teuer für viele Menschen ist, wurde eine kostengünstige Mixtur aus Kokainsalz und Natron kreiert, die, in kleinen Pfeifen geraucht, in wenigen Sekunden zum „Kick“ führt und meist lebenslange Abhängigkeit mit rapide fortschreitender geistiger und physischer Degeneration verursacht. Crack ist gewissermaßen das Kokain der Armen, es wird sowohl in den Slums von Los Angeles als auch in den Favelas von Rio konsumiert und löst dort unbeschreibliche Gewaltorgien aus.

  

Pablo Escóbar, der übrigens glänzende Geschäftsbeziehungen zu Teilen des kolumbianischen Heers unterhielt, wurde letztendlich von seinen Konkurrenten denunziert, von der Polizei verhaftet und 1993 auf der Flucht erschossen. Während danach das Medellín-Kartell zerfiel, stieg das Cali-Kartell zum wichtigsten internationalen Drogen-Syndikat auf. Um ihre Ziele durchzusetzen, bediente sich sie Organisation vorzugsweise der Polizei, infiltrierte Verwaltungen sowie Parteien und finanzierte beispielsweise den Wahlkampf des späteren Präsidenten Ernesto Samper. Die Strategien des Cali-Kartells ähnelten frappierend denen der Multis in der freien Wirtschaft: Marktanalysen, Optimierung der Lieferketten, aktive Bestechung; nur die Methoden blieben – zumindest vordergründig – brachialer und blutiger.

 

Zehntausende von Kolumbianern (und Menschen in den Transitländern) fielen den Kämpfen um den Drogenmarkt zum Opfer. Viele weitere werden sterben, wenn sich das nächste Kartell durchsetzen will. Denn mit der Propagierung des „Kriegs gegen die Rauschgift-Mafia“ ist nichts gewonnen. Im Gegenteil: Ein Staat, in beträchtlichen Teilen ohnehin unterwandert, setzt seine Bürger permanenter Lebensgefahr aus und lässt die Verrohung der eigenen Armee und Polizei zu, ohne dass sich nennenswerte Erfolge belegen ließen. Mexiko macht gerade die Erfahrung, dass einer Hydra etliche Köpfe nachwachsen, wo man einen abschlägt.

 

Im Norden kämpfen das Tijuana-Kartell und die Organisation aus Ciudad Juarez um die Kontrolle der Kokain-Ströme in die USA. Bedroht werden beide von den Konkurrenz-Organisationen aus Sinaloa an der Pazifikküste und dem Golf-Kartell, von dem sich wiederum dessen einstige Armee unter dem Namen Los Zetas sowie in Michoacan La Familia, eine pseudo-religiöse Bande, deren Spezialität das Enthaupten ihrer Feinde ist, abgespalten haben. Im Gemetzel mischen weiter die korrupte Polizei und die Streitkräfte mit, und zwar mit solcher Brutalität, dass sich die in zwischen die Fronten dieses Bürgerkriegs geratenen Menschen fragen, wen sie mehr fürchten sollen, die um das Monopol kämpfenden Truppen der Kokain-Milliardäre oder die bewaffneten Staatsorgane. Wird schließlich der Boss eines Kartells inhaftiert oder getötet, bedeutet dies nur, dass die konkurrierende Organisation kurzzeitig die Oberhand gewinnt.

  

Die im Licht sieht man nicht!

  

Nicht nur konservative Politiker, auf Wiederwahl bedachte Regierungen oder moralisierende Richter sind strikt gegen die Legalisierung von Drogen (im vorliegenden Fall: von Kokain), auch eine bunte Allianz aus Immobilien-Konzernen, Luxusgüter-Produzenten, Investment-Fonds und Großbanken lehnt die mit staatlicher Kontrolle verbundene Entkriminalisierung als dirigistischen Eingriff in das freie Spiel der Marktkräfte ab. Müssen die Drogen-Milliarden doch schließlich gewaschen, angelegt und ausgegeben werden, wovon (neben anderen Spielarten des Kapitalismus) die o. a. Branchen besonders intensiv profitieren.

 

Wie viele Nobel-Villen zwischen Acapulco und Marbella wurden mit Kokain-Erlösen gebaut, wie viele Yachten und Diamanten mit Blutgeld bezahlt? Wie viele Edelrestaurants in aller Welt erwarten ungeschliffene, aber zahlungskräftige Gäste, von deren Vermögensquellen man gar nichts wissen will?

 

„Die im Licht sieht man nicht!“ möchte man in Umkehrung eines Verses aus Brechts „Dreigroschenoper“ feststellen, wenn man sich die Hauptprofiteure des Kokain-Booms ansieht: die Banker und Spekulanten. Obschon sie eigentlich permanent im Spotlight stehen, genossen sie in dieser Geschäftssparte lange Zeit eine Anonymität, wie sie in unserer indiskreten Welt ungewöhnlich ist. Der kanadische Ex-Diplomat und Politologe Peter Dale Scott schätzt, dass die Einnahmen von US-Banken aus Drogen-Cash allein im Jahre 2009 etwa 250 Milliarden Dollar betragen haben. Beweise für Geldwäsche trugen Drogenfahnder auch gegen die britischen Geldinstitute HSBC (größte Bank Europas) und Barclays zusammen. Über den Finanzplatz Schweiz brauchen wir gar nicht erst zu reden, und es wäre verwunderlich, wenn die Dealer der deutschen Kredithäuser allesamt saubere Hände vorzeigen könnten. Konsumiert und verdient wird somit bei uns, gestorben woanders...

 

„Die im Dunkeln“, die Massaker-Opfer in den Massengräbern von Kolumbien, Mexiko oder Guatemala, sieht man übrigens auch nicht.

 

09/2013          

 

 

Hässliches Profil

 

Die Aufregung scheint sich langsam zu legen: Hat die Bundesregierung wirklich keine Ahnung von der Total-Ausspähung der Bundesbürger durch die NSA – oder war sie informiert und billigt das Abgreifen der Daten stillschweigend? Egal. Man könnte meinen, unsere Bundeskanzlerin und ihre Kabinettszwerge seien entweder doof oder verlogen. Na und! Jeder Einzelne soll zum gläsernen Untertanen mutiert sein? Stört nicht, man hat ja nichts zu verbergen! Wie kurz die gleichgültige Mehrheit denkt und welche verhängnisvollen Weiterungen die systematische Ausspionierung für die Bürger zeitigen kann, soll im Folgenden thematisiert werden.

 

Es geht um Kontakte und Inhalte

 

Immerhin schwant mittlerweile zumindest einem Teil der Bevölkerung die Dimension der Überwachung (nicht so natürlich Innenminister Friedrich, der frei bekennt, dass er nichts weiß, dass dieses Nichts aber in Ordnung ist). Wie sich allerdings die Erfassung einer riesigen Datenmenge durch den Großen Bruder auf das Individuum auswirken könnte, wird noch nicht einmal ansatzweise durchgespielt. Selbst der „Spiegel“, vom Flaggschiff des internationalen Enthüllungsjournalismus, dem britischen „Guardian“, an der Erstveröffentlichung des Snowden-Materials beteiligt, lag zunächst falsch, als er schrieb, der NSA ginge es nicht um die Inhalte des Kommunikationsverkehrs, sondern um die Meta-Daten, die aufzeichnen wer mit wem telefoniert, wer wem Mails sendet, wer was bei Google sucht und wer sich wo einloggt. 

 

Inzwischen hat auch der „Spiegel“ kapiert, dass die NSA mit dem System XKeyscore, das mit freundlicher Genehmigung auch der deutsche Verfassungsschutz einsetzt, „wohl zumindest teilweise Kommunikationsinhalte erfassen“ lässt. Weiter ist da bereits die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in der Debatte auf ihrer Feuilleton-Seite: „Neue Datenbankkonzepte erlauben das effiziente Speichern, Säubern und Strukturieren riesiger Datenmengen, die sehr schnell und effektiv durchsucht werden können.“ Yvonne Hofstetter, die dies schreibt, ist Geschäftsführerin Firma Teramark, Datenmengen für die Wirtschaft und die Rüstungsindustrie auswertet! „Doch die größte Gefahr“, fährt sie fort, „lauert nicht beim schnelleren Auffinden unserer Daten, sondern darin viele digitale Fußspuren in einen Kontext zu bringen.“

 

Von der Belästigung zur Gefahr

 

Dazu trimmen „Machine-Lerning-Teams“ Supercomputer auf „parallele Algorithmik“; d. h. Stichwörter, Namen, Adjektive etc. werden nach Synonymen, Ähnlichkeiten, Bedeutungen, Verbindungen überprüft, wodurch Schemata entstehen. Nicht nur die NSA erarbeitet sich so Profile, Internet-Buchhändler, soziale Netzwerke und Suchmaschinen tun dies auch. Im „Spiegel“ sagt der Net-Aktivist Morozov: „In fünf Jahren werden Unternehmen und Geheimdienste Daten auf dem freien Markt Daten auf dem freien Markt erwerben können.“

 

Wozu? Und warum sollte das für einen unbescholtenen Bürger gefährlich werden können?

 

Dass ein Warenkauf im Internet oder per Kreditkarte eine Myriade gezielter Werbe-Angebote auf dem PC, per Telefon oder Post nach sich zieht, mag unangenehm sein, wirkt aber noch nicht bedrohlich. Arbeitet jemand in einer Bürgerinitiative, Gewerkschaft oder Partei mit, hält sich jemand während eines Verbrechens in Tatortnähe auf, ähneln sein Name und/oder sein Aussehen denen eines Verdächtigen, wird die Sache schon unangenehmer. Richtig schlimm kann es aber werden, wenn sich die Wirtschaft (oder der Staat) der algorithmisch geordneten Daten bedient, um (verdeckt) Entscheidungen gegen eine Person zu treffen.

 

Verfassungsschutz und Wirtschaft Hand in Hand

 

Es fällt auf, dass sich die großen Unternehmen mit Kommentaren zum NSA-Skandal weitgehend zurückgehalten haben. Der kleine oder mittelständische Spezialmaschinen-Bauer fürchtet wohl Industrie-Spionage, die großen Konzerne – nicht nur Internet- und Software-Giganten wie Facebook, Google oder Microsoft – indes sehen eher die Möglichkeiten: Wer an den richtigen Datensatz kommt, kann Konkurrenten bei der Ausschreibung für ein Großprojekt ins Leere laufen lassen. Über den Bewerber für eine wichtige Position herauszufinden, ob er in der Gewerkschaft ist oder gar kapitalkritische Positionen vertritt, erleichtert seine (natürlich „sachlich“ begründete) Ablehnung.

 

Denken wir an die Ära Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen!“): 1972 wurde der Radikalen-Erlass eingeführt, der von Rechten dominierte Verfassungsschutz bespitzelte linke Organisationen. Nach „Regelbefragungen“ wurden reihenweise aufmüpfige Bewerber für den Staatsdienst wegen Zweifels an ihrer Grundgesetztreue abgelehnt. Dieses Verfahren erregte Aufmerksamkeit und weckte Widerstand. Heutzutage ließe sich das „Problem“ viel eleganter lösen: Über den Lehrerkandidaten wäre vieles, wenn nicht alles (oft sogar Falsches) bekannt, man könnte ihn unauffällig mit der Begründung ablehnen, es seien qualifiziertere Bewerber aufgetaucht.

 

Fürchten muss sich auch die Presse: Wie soll ihr Informanten-Schutz noch gewährleistet sein, wenn interessierte Stellen wissen, mit wem der Redakteur telefoniert und was ihm in einer Mail mitgeteilt wird? Verschlüsselung hilft in letzterem Fall auch nicht viel, da ja die Meta-Daten erhalten bleiben und die Provider Verschlüsselungsdetails nur allzu gern herausrücken. Ähnliches gilt natürlich auch für Rechtsanwälte, Ärzte, Umweltschützer etc.

 

Irrsinnige Ableitungen

 

Trotz ihrer Speicherkapazität und ihrer Fähigkeit, Unmengen von personenbezogenen Daten blitzschnell zu vergleichen, in Beziehung zu setzen, zu katalogisieren, bleiben die Super-Computer natürlich per se dumm. Mit Metaphern, Ironie oder Umkehrschlüssen können sie nichts anfangen, falsche Kombinationen und Bewertungen sind vorprogrammiert. Und so kann auch der unpolitischste Bürger unversehens in den Ruch des Radikalinskis kommen.

 

Nehmen wir diese Website als (unmaßgebliches, aber bezeichnendes) Beispiel. Sie ist weltweit einsehbar, dürfte daher eigentlich kein Spähobjekt für einen wissensdurstigen Geheimdienst darstellen. Eigentlich. Sollte jedoch die NSA oder eine Schwester-Organisation der Meinung sein, die Inhalte widersprächen dem „Sicherheitsbedürfnis“ und den Interessen der USA (oder einer befreundeten Nation, etwa der BRD), wird es für sie interessant, wer sich als User einloggt und welche Seiten er aufruft. Folglich werden nicht nur die Kontaktdaten gespeichert, sondern auch die Texte „maschinell“ analysiert.

 

Stellen wir uns vor, ein neugieriger User sieht sich unter der Rubrik Literatur das Autorenproträt von Graham Greene an. Zunächst wird er möglicherweise von Thalia oder Amazon mit Buch-Werbung zugemüllt, denn auch diese Web-Buchhändler wissen seine Unvorsichtigkeit zu schätzen. Dann legen andere Auswerter mit Assoziationen los: Graham Greene: „Der stille Amerikaner“ (Kritik an US-Politik) – „Der menschliche Faktor“ (Sympathie für kommunistischen Agenten) – Einreiseverbot in die USA – Freunde unter linken Politikern in Lateinamerika usw.

 

Unser argloser User klickt als nächstes „Der Tod in Laos“ unter Politik und Abgrund an. Gefundene Stichwörter und Ableitungen: Bomben – US-Kriegsverbrechen – Kissinger. Ließe sich daraus nicht prächtig eine Kombination aus Anti-Amerikanismus und Affinität zu Explosivem ableiten?

 

So, nun müsste unser harmloser User nur noch unter Nutzung seines Navi an einem US-Truppenübungsplatz vorbeifahren und im Internet eine Reise nach Kuba oder in den Iran buchen – und fertig wäre ein sauberes Feindprofil.

 

Was tun dagegen? Die Finger von dieser Homepage lassen? Den PC aus dem Fenster werfen, Fax-Gerät und Telefonapparat hinterher? Oder besser mindestens 30 Millionen Bundesbürger davon überzeugen, diese Website aufzurufen und so lange zwischen Graham Greene, Hugo Chávez, Laos und Vietnam hin und her zu blättern, bis die Server auf nordamerikanischem Boden wegen Überlastung ihren Geist aufgeben!

 

08/2013

Dazu auch:

Die "Asyl-Experten" im Archiv derselben Rubrik

Gewogen und zu schwer befunden im Archiv der Rubrik Medien 

 

 

 

Dorf schlägt Staat

 

Normalerweise verdrängen in unserer Gesellschaft kommerzielle Interessen die immateriellen Werte wie Mitgefühl oder Verantwortungsbewusstsein. In Boxdorf, einer kleinen Ortschaft nahe Nürnberg, ereignete sich Gegenteiliges: Vereinsmitglieder wollten eigentlich nur Geld verdienen – und kümmerten sich dann um Flüchtlinge. Ein Beispiel, das zeigt, was humanitär möglich ist – und wie schäbig die Politik handelt…

 

Ein Sportclub hat eine Idee

 

Der ASV Boxdorf plante, seine Turnhalle weiter zu renovieren, nur fehlte das nötige Kleingeld. Als daher die Regierung von Mittelfranken mit Sitz in Ansbach wegen der Einquartierung von Flüchtlingen nachfragte, witterten die Verantwortlichen des Vereins ein lukratives Geschäft. So wurden rasch Stockbetten aufgestellt und 100 Asylbewerber in der Sportstätte untergebracht. Was nach drangvoller Enge klingt, wirkte auf die Menschen, die aus dem hoffnungslos überbelegten Aufnahmelager in Zirndorf kamen, wie ein paradiesisches Idyll mit viel Platz und Luft zum Atmen.

 

Es sah zunächst wie eine bloße Aufbesserung der Vereinsfinanzen per Schlafstellen-Vermietung aus, artete aber bald in zeitintensive und anstrengende Betreuung aus. Die Bezirksregierung ließ die Boxdorfer von nun an nämlich komplett im Stich. Der Sportclub musste Verpflegung und Bekleidung für die Flüchtlinge, den Putz- und Sicherheitsdienst selbst organisieren und zusätzlich ehrenamtliche Helfer vom Bayerischen Roten Kreuz anfordern.

 

Einer Reporterin der Nürnberger Nachrichten gestand Claudia Trösken vom ASV-Vorstand ihre anfängliche „Heidenangst“ vor den Dorfbewohnern. Sie habe befürchtet, „dass die Leute uns steinigen“. Es kam ganz anders: Nachbarn brachten Kleidung und boten ihre Hilfe an, der Bürgerverein Boxdorf stellte sich hinter den Sportclub, sein Vorsitzender hielt sich am Wochenende 14 Stunden bei den Asylbewerbern auf.

 

Offensichtlich sind auch im vorgeblich xenophoben Deutschland viele Bürger in der Lage, hinter den von den Medien aufgebauschten Zahlen und trotz der von der Politik geschürten Angst vor einer „Flüchtlingswelle“ die hilfesuchenden Menschen zu erkennen, ihre Schicksale zu begreifen und ihre Anwesenheit zu akzeptieren.

          

Insel im Meer der Ignoranz

 

In einem Land,dessen Demoskopen immer wieder vor dem unmittelbar drohenden Bevölkerungsschwund und der gesellschaftlichen Überalterung warnen, wird die Zahl der für 2014 zu erwartenden Asylanträge vom Nürnberger Bundesamt für Migration, keine 20 Kilometer Luftlinie von Boxdorf entfernt, wie das Menetekel eines Immigranten-Tsunami gedeutet: 100.000, ausgeschrieben: hunderttausend. Der winzige Libanon, die Türkei, die kurdischen Autonomie-Gebiete im Irak, ja sogar die wenig generösen USA nahmen und nehmen etliche Millionen auf, während der wohlhabende Nachfolgestaat einer bestialischen Diktatur, vor der sich mehr als 500.000 Juden und politisch Verfolgte nur wegen der Aufnahmebereitschaft anderer Länder retten konnten, die Zuwanderung eines vergleichsweise geringen Kontingents als Katastrophe interpretiert.

 

Und alle Verantwortlichen geben vor, sie hätten diese „Massen-Invasion“ nicht vorhersehen können, die Behörden seien angesichts dieses Massenandrangs schuldlos überfordert. Dabei hätte man sich nur die Freihandelsverträge der EU mit schwarzafrikanischen Staaten näher ansehen müssen, um zu erkennen, dass mittels der Zerstörung bäuerlicher Strukturen durch europäische Importe, der Abschottung des Westens gegen Ausfuhren der armen Nationen und der willkürlichen Abwertung der Rohstoffe aus der Dritten Welt gegenüber den Fertigprodukten der Ersten die Massenflucht aus den Hungerzonen vorprogrammiert war. Und Frau Merkel und Herr Steinmeier hätten sich eigentlich denken können, dass die politische und/oder militärische Mitwirkung bei der Zerstörung staatlicher Strukturen, ob in Syrien, im Sudan, in Libyen oder (per BND) im Irak Millionen von Kriegsflüchtlingen in andere Länder, Hunderttausende übers Mittelmeer und einige eben auch nach Deutschland treiben würde. Und Horst Seehofer, der die Aufnahme von Asylbewerbern erst zur Chefsache machte, als die Zustände in den bayerischen Auffanglagern bereits menschenrechtswidrig waren, hätte sich zuvor bei den Spezln der Rüstungskonzerne in Nürnberg und München erkundigen können, an welche Golf-Diktaturen sie ihre Waffen, die dann später in benachbarten Kriegsgebieten für Tod und Vertreibung sorgen sollten, liefern.

 

Statt für eine anständige Unterbringung gequälter und gehetzter Menschen zu sorgen, statt eine tolerante Aufnahme-Kultur zu propagieren, kaprizierte sich die deutsche Politik auf Schuldzuweisungen und formaljuristische Spitzfindigkeiten. Schuld an der Menschenflut waren dann die Italiener (denen man eine Überforderung aufgrund der zahllosen Dramen vor ihren Küsten tatsächlich abnehmen kann), weil sie die Flüchtlinge nicht einsperrten und so von Deutschland fernhielten. Überhaupt würden die meisten Asylbewerber ja nicht aus politischen Gründen verfolgt; höchstens aus ethnischen, religiösen, sexuellen – was wiederum nicht zählt. Und dass andere, von Krieg und Gewalt traumatisiert oder vom Hungertod bedroht, aus eben diesen Gründen Gastrecht bei uns beantragen, kann von versierten Ablehnungsbeamten nur als unverschämte Themaverfehlung gewertet werden. Per Dekret wurden zudem Balkanstaaten, in denen Sinti und Roma rassistischer Hetze, sozialer Diskriminierung und ständiger Drangsalierung durch die Behörden ausgesetzt sind, zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt.

 

In einem Klima der Ignoranz und der staatlich verordneten Menschenverachtung wirkt Boxdorf in der Tat wie eine von rarer Verantwortung geprägte Ausnahme, doch darf diese nicht den Blick auf die traurige Regel verstellen.

 

Die Schattenseite

 

Derzeit wäre die Situation der Flüchtlinge ohne das Engagement einzelner Bürger und ehrenamtlicher Mitarbeiter von Wohlfahrtsverbänden und NGOs noch viel erbärmlicher, als sie es ohnehin schon ist. Es würde an Deutschkursen und Freizeitangeboten fehlen, an Betreuung von Schulkindern, die aus der Hölle kamen, und von vergewaltigten Frauen, die eine Hölle vergessen wollen. Um die Hilfesuchenden nicht in Verzweiflung und Depression abgleiten zu lassen, muss sofort gehandelt werden; man darf also nicht auf den Staat warten.

 

Andererseits wären aber Berlin und die Bundesländer für den Aufbau einer den materiellen und geistigen Grundbedürfnissen genügenden Infrastruktur bei der Unterbringung von Asylbewerbern zuständig. Allerdings läuft es in der Flüchtlingspolitik wie ein vielen anderen Bereichen der gesellschaftlichen Basisausstattung: Die Politik zieht sich aus der Planung und Finanzierung zurück, überlässt die gewinnträchtigen Projekte der privaten Wirtschaft und die (kostspielige) Aufrechterhaltung der existentiellen Rahmenbedingungen Stiftungen, Sozialverbänden und freiwilligen Helfern. Steuern und Abgaben werden vom Staat mehr und mehr dazu genutzt, das marode Bankensystem zu sanieren, fragwürdige Exporte abzusichern und die Lobbyisten der Wirtschaft zufrieden zu stellen, für das Lebensnotwendige hingegen sollen die Gutmenschen sorgen. Klar, dass Joachim Gauck, die Blockflöte des Systems, in höchsten Tönen über den Ruhm des Ehrenamts tiriliert…

    

Das Dilemma der Helfer

 

Wenn Not am Mann ist, wie in Boxdorf, kann die Gemeinschaft nicht warten, bis die Politiker einen Grundkurs in Verantwortungsbewusstsein absolviert haben. Zum einen würden die meisten bei der Abschlussprüfung durchfallen, zum andern geht es zunächst schlicht um Menschenleben. Dennoch muss daran erinnert werden, dass ehrenamtliche Hilfe eigentlich Zusatzangebote schaffen, auf die soliden Strukturen eines staatlichen Unterstützungssystem aufbauen soll. Es war nie daran gedacht, dass freiwillige soziale Arbeit die Grundlage erst schaffen muss (und dabei vielleicht professionelle Hilfe, Neueinstellungen und sogar bereits bestehende Jobs als Dumping-Alternative überflüssig macht).

 

Die Bürger von Boxdorf haben richtig gehandelt, wären doch ansonsten Flüchtlinge in eine noch üblere Lebenssituation geraten. Sie mussten handeln, weil die Bundes-, die Landes- und die Bezirksregierungen versagt haben, weil man nicht über Zuständigkeiten diskutieren kann, wenn Verzweiflungstaten zu befürchten sind. Das enthebt aber nicht die Mandats- und Amtsträger des Staates ihrer Verantwortung. Nehmen sie nicht ihre Fürsorgepflicht gegenüber den traumatisierten Opfern der (auch von der deutschen Politik verursachten) Gewalt und Ausbeutung wahr, überlassen sie etwa die ersten demnächst anstehenden Fälle von Lagerkoller den hilfsbereiten, aber dann wohl auch hilflosen Boxdorfer Laien, begehen sie fortlaufend (latente) Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

 

09/2014

 

Dazu auch:

Blut am Stacheldraht in diesem Archiv

EU-Verbrechen in diesem Archiv 

 

    

 

 

Der Teufelspakt

 

Das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU schien zunächst ohne jedes Aufsehen die Genehmigungshürden zu nehmen. Kein Wunder: Die Verhandlungen wurden im Geheimen geführt, niemand wusste, was da im Sinne von Agrar-Monopolisten, Daten-Sammlern und Export-Konzernen angerührt wurde. Erst als Snowden die Ausspähung der Europäer durch die NSA (und damit durch den Verhandlungspartner US-Regierung) publik machte, stellten einige Politiker den Fortgang der Gespräche in Frage. Die Bundesregierung wiegelte sofort ab, doch jetzt hat sich ein EU-Kommissar zum Moratorium entschlossen und greift den windelweichen Ministerneuling Gabriel direkt an. Zur gleichen Zeit realisieren immer mehr Menschen auch in Deutschland, was nach der Ratifizierung der Transantlantischen Handels- und Investititionspartnerschaft (englisches Kürzel: TTIP) auf sie zukommt und begehren dagegen auf.

 

Die kapitalistische Internationale

 

Natürlich sind auch hierzulande nicht alle gegen TTIP. Seit̉  an Seit̉  mit den US-Trusts marschieren deutsche Pharma-Multis, Maschinenbauer oder das wirtschaftsnahe IFO-Institut in den Kampf um die formaljuristisch abgesicherte Entmündigung der Bürger in Gesundheits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz-Fragen. Werden erst die laxen Standards der nordamerikanischen Gesetzgebung in Europa eingeführt, müssen auch die hiesigen Konzerne nennenswerte Auflagen nicht mehr fürchten und können sogar dagegen klagen. Ein leuchtendes Beispiel für letztere Praxis ist der US-Tabakriese Philipp Morris, der gerade gegen die australische Regierung wegen deren strikter Anti-Raucher-Gesetze prozessiert.

 

Es waren solche Investorenschutz-Klauseln, in denen Prävention als Geschäftsschädigung interpretiert wird, die den belgischen EU-Kommissar Karel De Gucht innehalten ließen und ihn dazu bewegten, den Gegnern (und Befürwortern) von TTIP drei Monate zur Darlegung ihrer Argumente einzuräumen. Im Grunde gefährden nämlich die Schadenersatz-Drohungen von Unternehmen, die den Umsatz durch Schutzbestimmungen gemindert sehen, die souveräne Rechtsprechung eines Staates zum Schutz seiner Bürger (soweit er überhaupt gewillt ist, diese Option wahrzunehmen).

 

Die eklige Spitze des Eisbergs

 

Was in Deutschland bezüglich der TTIP ruchbar wurde und die Gemüter der ersten Gegner erregte, war die ekelerregende Vision einer hemmungslosen Natur-Verstümmelung zum Nutzen des größtmöglichen Profits: Gen-Mais, geklonte Agrar-Produkte, Hormon-Fleisch oder mit Chlor behandelte Hähnchen, in den USA längst täglich̉   Brot, würden den europäischen Markt überschwemmen, lauteten die ersten Befürchtungen. Richtig, und doch handelt es sich nur um die Spitze eines zugegebenermaßen recht schmuddeligen Eisbergs; die eigentlichen Ausmaße sind erst in der Tiefe der Nahrungsproduktion (und des Bodens) eines Landes zu ermessen.

 

Nicht durch kleinliche Umwelt-Bedenken oder rechtliche Einsprüche behindert, werden Agrar-Multis wie Monsanto Europa ähnlich rigoros mit Gen-Samengut überziehen und mittels Patentrechten auf Nutzpflanzen knebeln, wie sie es mit vielen bedauernswerten Staaten der Dritten Welt getan haben. Die unausgegorene und möglicherweise hoch-schädliche Fracking-Methode wird allerorten bei der Gas-Förderung eingesetzt werden (derzeit klagen US-Firmen übrigens  gegen das Verbot in Kanada), und lebensspendendes Wasser wandelt sich vom Allgemeingut zum umkämpften Mittel der Profitmaximierung.

 

Wo ähnlich fatale Aktivitäten erschwert oder gar verboten werden, können die Konzerne künftig die Regierungen – vor einem Handelstribunal, dessen Richter von den Unternehmen und Staaten ausgenmauschelt werden und unmäßige Regress-Summen festsetzen können – in nicht öffentlichen Verfahren zur Rechenschaft ziehen. Bereits jetzt klagt ja der schwedische Nuklear-Versorger Vattenfall gegen die bundesdeutsche Energiewende...  

 

Geheim für wen?

 

Nun könnte man, wäre man naiv und würde noch an die Rechtschaffenheit aller Politik glauben, einwenden, es werde ja verhandelt, noch seien die Europäer in der Lage, das Schlimmste zu verhüten. Denkbar wäre dies allerdings nur gewesen, wenn in der EU die Lobbyisten nicht hätten dominant mitmischen dürfen, Courage gegenüber der US-Administration geherrscht hätte und – als vertrauensbildende Maßnahme – die Verhandlungen von vornherein öffentlich gewesen wären.

 

Die Menschen in Europa (auch die Parlamentarier) wussten also nichts, zumindest nichts Genaues, die Verhandlungsgegner in den USA indes wohl alles. Welche Absprachen die EU-Delegierten auch immer trafen – sie waren mit Sicherheit nicht geheim, wie die Snowden-Enthüllungen nahelegen. Gesetzt den Fall, sie wären tatsächlich an einer Strategie gegen den Expansionismus der polit-ökonomischen US-Macht interessiert, sie müssten sich nackt unter einem Wasserfall treffen, um zumindest eine kleine Chance auf Vertraulichkeit ihrer Planungn zu wahren.

 

Der stumme Affe 

 

EU-Handelskommissar De Gucht stand lange in der Kritik der europäischen NGOs, die ihm vorwarfen, die oben erwähnten Gefahren zu ignorieren. Seine jetzige Reaktion, die zunächst per se nur aufschiebende Wirkung zeitigt, deutet aber an, dass er die Bedenken teilt: „Jedes Abkommen muss das Recht bewahren, dass die EU oder ein Mitgliedstaat zugunsten der Umwelt, der Gesundheit oder eines stabilen Finanzsystems in die Wirtschaft eingreift.“

 

Und jetzt scheint es eher so, als hätten ihn die Regierungen bisher im Stich gelassen, allen voran die deutsche. Der neue Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sonnt sich offenbar lieber im Glanz des neuen Amts (wenn er nicht gerade die Renaissance der Braunkohle via Öko-Energie-Drosselung vorbereitet), als den unmoralischen US-Angeboten entgegenzutreten. Irgendwie erinnert der Niedersachse an die in fernöstlicher Symbolik erstarrten Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen wollen. De Gucht reizte dieses an den ruhenden Buddha gemahnende Phlegma derart, dass er Gabriel – zwar wenig diplomatisch, dafür aber inhaltlich zutreffend – frontal anging: „Ich rufe Sie und Ihre Ministerkollegen auf, proaktiv Ihr Wissen in diese kritische Diskussion einzubringen.“

 

Im Gegensatz zur zaudernden (oder unwilligen) Bundesregierung brachten (und bringen) Hunderttausende von deutschen Internet-Usern bereits ihren Standpunkt in die Diskussion ein. Sie fordern per Mausklick den sofortigen Stopp der Verhandlungen zwischen der EU und den USA, also das Ende der TTIP. Einer guten Idee sollte man sich anschließen: https://www.campact.de/TTIP-Aktion !

 

 

01/2014

   

 

         

 

Blut am Stacheldraht

 

Wie die EU sich gegen Flüchtlinge abschottet und deutsche Firmen dabei verdienen…

 

In London veröffentlichte Amnesty International (AI) einen Bericht, in dem der EU vorgeworfen wird, „eine zunehmend undurchdringliche Festung“ zur Abwehr „irregulärer Migranten“ geschaffen zu haben. Die Bilanz der vor allem auch von Deutschland vorangetriebenen und perfektionierten Aussperrung von Millionen verfolgter und verzweifelter Menschen: Mindestens 23.000 Tote in den letzten 14 Jahren.

 

Absurde Kriterien

 

Man stelle sich vor, ein Sachbearbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sei zurück ins Jahr 1938 gebeamt worden und müsse nun in einem Nachbarland Deutschlands das Asylgesuch eines jüdischen Ladenbesitzers aus Hamburg prüfen. Hitlers fanatischer Antisemitismus hatte sich zumindest in seiner tödlichen Konsequenz nicht überall in Europa herumgesprochen, und von Vernichtungslagern wusste man noch nichts. Nach der Aktenlage des Jahres 2014 hätte der Beamte das Asylgesuch wohl abgelehnt, da zwar möglicherweise ethnische Diskriminierung vorliege (wie heutzutage bei Sinti und Roma auf dem Balkan), die materielle Existenz bedroht sei (wie bei schwarzafrikanischen Hunger-Flüchtlingen), vielleicht sogar die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen drohe (wie sie für syrische oder afghanische Migranten längst Fakt geworden ist), aber keine dezidiert politischen Motive erkennbar seien.

 

Nun wird unser Sachbearbeiter gegenwärtig nur relativ selten solche Bittsteller empfangen müssen, da erstens Deutschland in der Mitte der Europäischen Union liegt und die Randländer mit entsprechenden Küsten und Grenzen laut der Dublin-II-Verordnung die Flüchtlingsströme aufnehmen und begutachten müssen, und weil zweitens die EU als Ganzes alle militärischen (und repressiven) Maßnahmen ergreift, um Verfolgte erst gar nicht auf das Hoheitsgebiet ihrer Mitglieder vordringen zu lassen.

 

Anstifter und Zuschauer

 

„Europa stöhnt unter dem Ansturm afrikanischer und asiatischer Flüchtlinge“, so tönt es immer wieder in den deutschen Medien, für die allein die Tatsache, dass saumselige Behörden nicht in der Lage sind, Unterkünfte für ein paar tausend Migranten bereitzustellen und Asylanträge objektiv sowie in angemessener Zeit zu bescheiden, als Beleg dient, dass der alte Kontinent, und hier vor allem unser Land, hoffnungslos überfordert "mit der Flut" sei. Mit dieser Tatsachenverdrehung räumt nun AI gründlich auf: Unter den zehn Ländern, die weltweit die meisten Flüchtlinge aufnehmen, befinden sich Habenichtse wie Äthiopien und der Tschad, „Schurkenstaaten“ wie Pakistan oder der Iran, winzige Gebilde wie der Libanon und sogar die als wenig gastfreundlich bekannten Großmächte USA und VR China – aber keine Mitgliedsstaaten der EU.

 

Von den inzwischen 2,8 Millionen syrischen Kriegsflüchtlingen haben die EU-Länder gerade mal 96.000 (3,4 Prozent) einreisen lassen, was nicht bedeutet, dass nicht europäische Gelder wegen dieser menschlichen Katastrophe flossen. Bleibt nur die Frage: zu welchem Zweck? So unterstützte Brüssel 2012 die Türkei, die immerhin 280.000 Syrer aufnahm, mit 3,8 Millionen Euro bei der Unterbringung; weitere 20 Millionen Euro hingegen erhielt Ankara, um seine Grenzen zur EU dicht zu machen: ein Almosen für die Opfer europäischer Interessenpolitik und Waffenexporte, demgegenüber eine stattliche Summe für externe Wach- und Schließgesellschaften – auch Libyen und die Ukraine wurden so als Hüter unserer Splendid Isolation geködert.

 

Dass Millionen von Afrikanern in eine wie auch immer geartete Sicherheit fliehen wollen, ist nicht zuletzt der ständigen Nato-Einmischung in regionale Konflikte und einer EU-Handelspolitik, die durch gezielte Exporte in arme Staaten aus Kleinbauern Land- und Mittellose machte, geschuldet. Die Auswirkungen der eigenen Strategie lassen die Europäer von angemieteten Handlangern bekämpfen und fühlen sich dabei in der Rolle von nun plötzlich passiven Beobachtern, die ihre Hände in „Unschuld“ und Ignoranz waschen, einstweilen noch recht sicher.

 

Das deutsche Gedächtnis

 

Millionen von Deutschen siedelten sich seit dem 18. Jahrhundert in aller Welt an, um dem materiellen Elend oder dem Despotismus in der Heimat zu entgehen. Während der gut zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs“ flohen ethnisch Verfolgte, Wissenschaftler, Künstler und linke Intellektuelle zu Hunderttausenden in Länder wie die USA, Großbritannien, aber auch Argentinien, Mexiko oder die Türkei. Hätten sich diese Staaten damals ebenso engstirnig bzw.egoistisch verhalten wie die Bundesrepublik heute, wäre der Morgenthau-Plan, nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland eine Bauernrepublik ohne hochentwickelte Industrie und politischen Einfluss zu machen, zumindest teilweise Wirklichkeit geworden, weil die Flüchtlinge, die als Rückkehrer später ihre Intelligenz und ihr Know-how in den Wiederaufbau einbringen konnten, nicht überlebt hätten.

 

Daran erinnert sich offenbar kaum einer der derzeit politisch Verantwortlichen, die sich – was den geistigen Horizont angeht – offenbar nachträglich gut in die Verbauerungspläne Morgenthaus einfügen, sich aber andererseits, teils aus schlauem Eigeninteresse, teils aus Willfährigkeit den Konzernen gegenüber, eine Möglichkeit zur profitablen Toleranz offengelassen haben: Aufgenommen werden sollen nämlich doch Menschen, sogar aus der Dritten Welt, nämlich solche mit Eigenkapital oder verwertbarem Grips, also Ingenieure, Techniker oder Wissenschaftler (auch auf die Gefahr hin, dass deren Heimat durch den Exodus ökonomisch und geistig ausblutet), bitte aber keine kritischen Intellektuellen und erst recht nicht verarmte Verfolgte. Letztere möchte man von Deutschland und – präventiv – bereits von den Außengrenzen der EU fernhalten, zu welchem Zweck Berlin Spezialisten an Bulgariens und Griechenlands Zäune oder auf das Mittelmeer entsendet – natürlich nicht, um dort Flüchtlingen in Seenot beizustehen, sondern um sie abzuschrecken, zur Umkehr zu zwingen und notfalls mit Gewalt zurück zu schleppen. Es musste nachträglich bei der Formulierung der Aufgaben eigens betont werden, dass die Mitarbeiter der für die Überwachung zu See zuständigen Behörde Frontex zur Not auch Menschenleben retten dürfen…

 

Deutsche Wertarbeit

 

Dass durch Sperrung der „einfachen“ Fluchtrouten verzweifelte Menschen zu immer gefährlicheren Wegen übers Meer, zu im wahrsten Sinne des Wortes halsbrecherischen Klettertouren gezwungen werden oder sich und ihre Familien immer übleren Schlepperbanden ausliefern müssen, ficht die deutsche Politik nicht an, hat sie doch das Wohl nationaler Wirtschaftsunternehmen im Sinn. Denn die vielen Millionen Euro, die Brüssel aufbringt, um die EU weitgehend „flüchtlingsrein“ zu halten, fordern zwar schreckliche Opfer, gerinnen aber in den Bilanzen hiesiger Firmen zu ansehnlichen Umsätzen und Gewinnen.

 

So erhielt nach Recherchen des Online-Dienstes German Foreign Policy (siehe Rubrik Wichtige Links) die Rüstungsfirma Airbus Defence and Space (früher Cassidian), Tochtergesellschaft der deutsch-französischen Airbus Group (ehemals EADS) ohne jede Ausschreibung den milliardenschweren Auftrag, in Zusammenarbeit mit Siemens Rumäniens mehr als 3000 Kilometer lange Grenzen mit moderner Kontrolltechnologie auszustatten. Derselbe Konzern rüstete die bulgarische Grenzpolizei mit dem Funknetz TETRA aus. Die Bremer Firma Signalis (früher Atlas) wurde derweil damit beauftragt, die Überwachung der bulgarischen Schwarzmeerküste auf neuesten technischen Stand zu bringen. Wie viele menschenwürdige Unterkünfte für Asylbewerber und Schulen für deren Kinder hätten mit diesen Geldern wohl gebaut und unterhalten werden können?

 

Manchmal bleibt die Effizienz eines Produktes europäischer Wertarbeit nicht in abstrakten Berechnungen verborgen, sondern manifestiert sich optisch, physisch und letal: Die spanische Firma European Security Fencing mit deutschem Sitz in Berlin, stellt mit 22 Millimeter langen Klingen bestückten Stacheldraht her, der die mehrere Meter hohen Grenzzäune, die Ceuta, eine von Marokko umgebene spanische Exklave, vor dem Ansturm von Elendsflüchtlingen aus den Ländern südlich der Sahara schützen, unüberwindlich machen soll. Einige Verzweifelte, die das Stück Europa auf afrikanischem Boden dennoch erreichen wollten, stürzten in den Drahtverhau, schnitten sich an den Klingen Nerven, Sehnen sowie Adern durch und verbluteten hilflos. Dies veranlasste laut taz selbst die Gewerkschaft der ansonsten hartgesottenen spanischen Grenzschützer zu einem geharnischten Protest: "Wir sind nicht mehr bereit, noch mehr Subsaharis zu finden, die blutend im Stacheldraht festhängen.“

  

07/2014  

  

Dazu auch:

EU-Verbrechen (im Archiv dieser Rubrik)         

       

     

 

 

Mieser alter Mief

 

Nicht wenigen Mitgliedern der Linken, vor allem solchen in den neuen Bundesländern, sagt man eine gewisse Sehnsucht nach dem Milieu des real nicht mehr existierenden Staatsbürokratismus, bekannt als DDR, nach. Nun mag man die Ostalgie als Vorliebe für die einfacheren Verhältnisse der Vergangenheit wie eine Privatsache akzeptieren, problematisch aber wird es, wenn längst überwunden geglaubte, umweltschädliche Methoden der Energiegewinnung zum Nutzen der aktuellen Monopolisten und mit Zustimmung einer linken Partei wiederbelebt werden, wenn der alte Mief zurückkehrt und Menschen umgesiedelt werden sollen, weil sie durch bloße Anwesenheit höheren Profiten im Wege sind.

 

Der Geruch des Giftes

 

Umweltgifte sind heimtückisch. Viele stinken nicht, und man spürt sie erst, wenn es zu spät ist. Dagegen waren die Braunkohle-Heizungsanlagen in der früheren DDR aufrichtige Dreckschleudern. Wer im Herbst oder Winter durch einen Ort des mittlerweile abgewickelten Staates kam, wird sich noch heute an den für die einen stechend, für die anderen gemütlich riechenden Dunst erinnern, der einem vor allem bei Inversions-Wetterlagen buchstäblich den Atem raubte. Trotz allem Verständnis für eine gewisse Toleranz den aus der Kindheit bekannten Aromen gegenüber – das Zeug war gefährlich!

 

Unter den umweltschädlichen fossilen Brennstoffen nimmt Braunkohle den Spitzenplatz ein, was Luftverschmutzung angeht. Bei ihrer Verfeuerung setzt sie, bezogen auf den Energiegehalt, 80 Prozent mehr Kohlendioxid frei als Erdgas. Der Braunkohle-Tagebau bedingt extensive Landschaftszerstörung, zudem müssen ganze Ortschaften weichen. Die beim Heizen entstehenden Emissionen lösen Atemwegserkrankungen wie Asthma, Pseudokrupp bei Kindern und sogar Lungenkrebs aus oder verschlimmern sie zumindest. Durch die für einige Konzerne höchst profitable „Zwischenlösung“ Braunkohle wird zudem der Ausbau erneuerbarer Energien verzögert. Statt Know-how und Geld zu investieren, um das Problem der Speicherung und effektiven Weiterleitung in den Griff zu bekommen, profitieren die Monopolisten, denen dezentrale Modelle ohnehin ein Dorn im Auge sind, von Genehmigungen einer veralteten Umweltkiller-Technologie.

 

Zu den wenigen Erfolgsgeschichten im Osten nach der Wiedervereinigung gehörte das Auslaufen der Braunkohle-Verheizung. Doch nun scheinen die stinkenden Kohlendioxid-Multiplikatoren wieder auf dem Vormarsch zu sein, auch dank der Linken, die sich zwar auf Bundes- und Landesparteitagen gegen Braunkohle-Tagesbaue ausspricht, diese aber als Koalitionspartner der SPD fördert.

       

Greenpeace fordert Rechenschaft

 

In der Lausitz soll das Dorf Proschim den Baggern zum Opfer fallen, da der schwedische Staatskonzern Vattenfall das Gelände für den Braunkohle-Tagebau benötig. Hunderten von Menschen droht die Enteignung, weil sie ausgerechnet dem Konzern, dessen unverantwortlicher Umgang mit Kernkraftwerken aktenkundig ist und der – sozusagen als Vorgeschmack auf das Freihandelsabkommen USA-EU – die Bundesregierung wegen der Energiewende verklagt, im Wege sind. Mit der skandinavischen Heimat scheint Vattenfall übrigens schonender umzugehen: Sollte die Förderung im Tagebau Welzow-Süd II tatsächlich angefahren werden, würden allein die drei Braunkohle-Kraftwerke des Konzerns in der Lausitz jährlich mehr als 50 Millionen Tonnen CO2 produzieren, laut Greenpeace etwa so viel wie das ganze Land Schweden.

 

Nun hatte sich zwar die Linke in ihrem Programm für die Bundestagswahlen ausdrücklich für den Kohleausstieg und gegen weiteren Braunkohleabbau ausgesprochen, 2012 ergänzt durch den Beschluss der Brandenburger Landespartei („Es dürfen keine neuen Tagebaue aufgeschlossen werden!“), doch was stört den linken Wirtschaftsminister in Potsdam, Ralf Christoffers, das Geschwätz von gestern. Ungeachtet der Proteste von Greenpeace-Aktivisten, die Teile der Bundesparteizentrale in Berlin besetzten, um auf die Wählertäuschung aufmerksam zu machen, betreibt er die Umsiedlung von ca. 800 Menschen und die Landschaftszerstörung in der Lausitz.

   

Und Christoffers beweist auch, dass er zu tricksen versteht, um sein Vorhaben durchzusetzen – ganz so, als seien ihm ganz wie den erfahrenen Koalitionsfreunden von der SPD in den vergangenen Jahren als Berufspolitiker die  letzten Skrupel abgeschliffen worden: So behauptet der gewendete Genosse, bei Welzow Süd II handle es sich nicht um einen neuen Tagebau, sondern lediglich um eine Erweiterung. Mit Recht weist Greenpeace darauf hin, dass für das neue Abbaufeld weder ein gültiger Braunkohleplan, noch eine bergrechtliche Genehmigung vorliegt. Die Enteignung der Anwohner hatte die Brandenburger Landesregierung 2012 im Rahmen ihrer „Energiestrategie 2030“ beschlossen; erst ein Jahr danach kam sie auf die Idee, ein Gutachten in Auftrag zu geben, das die „energiewirtschaftliche Rechtfertigung“ nachliefern sollte. Die von den Grünen eingeschaltete Berliner Rechtsanwältin Cornelia Ziehm dagegen hält den Neuaufschluss von Braunkohle-Tagebauen für verfassungswidrig. Zudem betont sie, dass im (früheren) Falle Garzweiler das Bundesverfassungsgericht verlangt habe, die Interessen von Grundeigentümern höher zu gewichten.

 

Im Artikel 14 des Grundgesetzes werden die Hürden für Enteignungen hoch gelegt: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“ Von Landwegnahmen zur Schädigung der Umgebung oder zur Umsatzsteigerung des Energiekonzerns Vattenfall steht nichts in der Verfassung.

   

Kompromisse bis zur Selbstaufgabe

 

Es ist der Linken nicht vorzuwerfen, dass sie versucht, in Koalitionen so weit an Planungen und Entscheidungen mitzuwirken, wie es Politikern in einem markt- und akkumulationsbestimmten System gestattet wird. Auch ohne ökonomische Macht lässt sich vieles bewegen und einiges verhindern. Der Schulterschluss mit Umweltverbänden und anderen NGOs hilft dabei. Wenn aber eine weltweit gehörte Stimme wie Greenpeace die Partei des Betrugs bezichtigt („Die Linke – 100 % unglaubwürdig – Raus aus der Braunkohle“), reicht es nicht, wenn die Vorsitzende Katja Kipping jovial erklärt: „Wir als Linke freuen uns immer über lebendige soziale Bewegungen.“ Und das unerträglich lässige Angebot eines Runden Tisches mit Betroffenen (darunter 800 demnächst Enteignete) und Vertretern der Brandenburger Landesregierung ist als Witz aufzufassen, wenn die (nicht ideologisch verstandenen) roten Linien längst vom Genossen Christoffers überschritten worden sind.

 

Nicht zum ersten Mal lässt sich die Linke in einer Koalition mit der SPD von den lang erprobten Kämpen der schleichenden Prinzipienaufgabe über den Tisch ziehen: Unter dem extrem geltungsbedürftigen, aber nur marginal verantwortungsbewussten Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit wurde sie in Berlin als brave, unsoziale Bündnispartnerin in der Personalpolitik vorgeführt. In einer Koalition sind Kompromisse unumgänglich,wenn sie aber an die politische und soziale Substanz gehen, ist ein Verzicht auf Harmonie wichtiger als Bescheinigungen der „Regierungsfähigkeit“ durch oberflächlich urteilende Medien.

   

 Bald eine bessere SPD?

 

Wie leicht es mit dem Verlust des inhaltlichen Standpunkts und der politischen Identität gehen kann, hat man an den Grünen gesehen. Anfangs vom Gegner hämisch als „Fundamental-Opposition“, „Pazifistenhaufen“ und „linke Blümchen-Bewegung“ apostrophiert, ließen sie sich von einem eloquenten, aber nicht unbedingt vertrauenswürdigen Joschka Fischer zur Bellizisten-und Sozialbbau-Partei (Serbien-Krieg; Hartz IV und Abschaffung der Vermögenssteuer) umfunktionieren. Einige immer noch respektable ökologische Inhalte werden heute durch die Versuche verwässert, eine mittlerweile wohlhabendere, liberale Klientel zu bedienen.

 

Bei dem Versuch, den Besserverdienenden zu gefallen, geraten die Grünen allerdings zunehmend mit ihrem früheren Koalitionspartner aneinander, denn seitdem das Windfähnchen in Person, Sigmar Gabriel, Wirtschaftsminister ist, lässt er keine Gelegenheit aus, seine Partei der der Unternehmerschaft als bessere FDP anzudienen.

 

Als die SPD unter Schröder sich vom relativ milden Keynes-Kapitalismus (Motto: Staat als Reparaturbetrieb) ab- und der marktrabiaten Friedman-Variante (keine Behinderung der Finanzmärkte durch „soziale Träumereien“) zuwandte, wurde eine gesellschaftspolitische Lücke frei im bundesrepublikanischen Parteienspektrum. Der Linken stünde es gut an, dieses vergiftete Platzangebot auszuschlagen und sich nicht als bessere Sozialdemokratie zu „profilieren“. Nur wenn sie entschieden soziale, ökologische und pazifistische Inhalte vertritt, kann sie sich vom neoliberalen Einheitsbrei der anderen Parteien abheben. Mit Entscheidungen wie der für den Braunkohle-Tagebau in der Lausitz hingegen setzt sie ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel.

 

06/2014    

 

 

 

Die Herren des Landes

  

Dass die Armen immer ärmer werden, trifft nicht nur für die bundesdeutsche Gesellschaft zu, es ist ein weltweites Phänomen: Ganze Subkontinente driften in auswegloses Elend und ökonomische Unmündigkeit ab, während in den großen Finanzzentren die Mächtigen an den Spieltischen hasardieren. Mit welch raffinierten und inhumanen Methoden die Monopol-Unternehmen und ihre politischen Handlanger Milliarden Menschen der Dritten Welt in eisernem Griff halten, soll anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden.

 

Der Kupfer-Deal

 

Zur wirtschaftlichen Unterwerfung eines Landes sind längst keine militärischen Eroberungen mehr nötig, und die neuen Herren müssen nicht aus Hegemonialstaaten kommen oder imperialistische Abenteurer sein. Das Vorgehen ist subtiler geworden, und die Machtübernahme wird von modernen Konzernzentralen in fernen Metropolen gesteuert. Die Partner oder Opfer der dort residierenden Manager und Investoren sind oft hilflose (oder korrupte) Drittwelt-Regierungen.

 

Unlängst konnte man im „Spiegel“ nachlesen, wie die Förderung wertvoller Bodenschätze, die für ein Volk der Schlüssel zur Unabhängigkeit und zum Aufbau einer vernünftigen Infrastruktur führen könnte, zur Gefahr für die nationale Souveränität wird. Vermeintlicher Reichtum verkehrt sich in Abhängigkeit: In der Mongolei wurde ein riesiges Kupfervorkommen entdeckt – eine regelrechte Bonanza in den Zeiten knapper werdender Edelmetalle. Weil das bettelarme Land nicht über die Mittel und das Know-how zum aufwendigen Bau einer Mine verfügt, tat sich die Regierung mit dem Bergbau-Multi Rio Tinto zusammen. Der britisch-australische Konzern ist an der Börse (imaginär) 60 Milliarden Dollar wert, das Sechsfache dessen, was drei Millionen Mongolen im Jahr (real) erwirtschaften.

 

Die Kosten zur Anlage und verkehrstechnischen Erschließung der Mine werden fünf Milliarden Dollar übersteigen. Die Mongolei, mit 34 Prozent der Junior-Partner in diesem Joint Venture, hat das Geld nicht, um seinen Anteil an den Investitionen zu tragen; also leiht Rio Tinto dem klammen Staat die nötige Summe. Da der Konzern das Sagen hat, trifft er allein die wichtigen Entscheidungen in der Bauphase, honoriert beispielsweise die eigenen Manager großzügig aus dem gemeinsamen Topf. Nach der anfänglichen Euphorie rechneten Verantwortliche in Ulan Bator die gemeinsame Unternehmung gründlicher durch und kamen zu dem ernüchternden Schluss, dass die Mongolei erst in 20 oder 30 Jahren den ersten Cent aus dem Kupferabbau sehen wird. Und das auch nur, wenn Rio Tinto die Ausbeutung des Vorkommens dann noch als profitabel erachtet. Zuvor wird die Mongolei vollauf mit der Tilgung des Darlehens und dem Zinsdienst beschäftigt sein. Dass der Staat an den vom Multi gesponnenen Fäden zappelt, wurde kürzlich deutlich: Weil sich die Genehmigung der Pläne verzögerte, da nach der mongolischen Regierung noch das Parlament zustimmen muss, stellte Rio Tinto kurzerhand die Bauarbeiten vorübergehend ein.

 

Willkür des Handels

 

Die Staaten der Dritten Welt verfügen oft über Ressourcen, die von den Produktions- und Handelsgiganten in den USA, in Japan oder der EU mit Begehrlichkeit betrachtet werden: Bodenschätze, Agrar- und Plantagenprodukte, ausgedehnte Ländereien. Diese unbearbeiteten Güter sollten eigentlich ein wertvolles Äquivalent im internationalen Warenaustausch darstellen, tun es aber nicht. Denn den Gegenwert eines Rohstoffs bestimmen die Monopole der Ersten Welt.

 

Schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts warnte Fidel Castro in einem inzwischen wohl vergriffenen Buch davor, dass die Fertigprodukte der Industrienationen immer höher, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Dritten Welt dagegen immer niedriger eingepreist würden. So betrug der Wert eines Traktors, ausgedrückt  in Sack Kaffee, damals bereits das Vielfache des Preises in den 60er Jahren. Und diese Entwicklung beschleunigt sich.

 

Der Uruguayer Eduardo Galeano beschreibt in seinem Klassiker „Die offenen Adern Lateinamerikas“, wie Länder des Subkontinents an ihrem Reichtum beinahe zugrundegingen, weil die Ausfuhren, ob Silber, Kakao oder Zucker, immer weniger einbrachten, während sich die ganze Gesellschaft auf die oft einzige Einnahmequelle verlassen musste. Natürlich spielten die großen Konzerne auch verschiedene unterentwickelte Länder gegeneinander aus und drückten so die Preise weiter. Wer die Macht hat, bestimmt den Wert der Ware.

 

Gefangene des freien Marktes

 

Der Westen unterstütze doch die ärmsten Länder jährlich mit Milliarden von Euros, hört man aus den Metropolen der Ersten Welt. Wirklich? Davon abgesehen, dass beispielsweise Deutschland die eigenen Zusagen seit Jahren nicht einhält und in der Vergangenheit unsinnige Projekte (Leberkäse-Produktion in Togo, Viehzucht für Thais, die Kuhmilch nicht vertragen können, weil ihnen zur Verdauung notwendiges Enzym fehlt) finanzierte, dient Entwicklungshilfe heute vor allem der eigenen Wirtschaft. Der zuständige Minister Niebel versteht sich als Türöffner für die deutsche Industrie, mithin als Initiator von Unternehmungen, die – ob sinnvoll oder nicht für die „Nutznießer“ – vor allem Profit für hiesige Firmen erzielen sollen.

 

Dabei könnte die EU wesentlich effektivere Maßnahmen ergreifen, ohne gönnerhaft vergiftete Almosen zu verteilen, etwa indem sie Schutzzölle gegen landwirtschaftliche Importe aus der Dritten Welt abbaut, statt absurde Subventionen an die eigenen Agrar-Betriebe zu zahlen (Beispiel: Zuckerrübenanbau). Doch wirklich interessiert sind die Verantwortlichen in Brüssel (und den anderen europäischen Hauptstädten) nur am ungehemmten Export in die armen Länder. So werden minderwertige Teile von Schlachthähnchen (Hälse, Innereien etc.), für die es in Europa keinen Markt gibt, nach Westafrika ausgeführt, wodurch nebenbei die dortigen Geflügelzüchter, die weniger massenhaft und dadurch teurer produzieren, ruiniert werden.

 

Ein Blick in die Vergangenheit des eigenen Kontinents müsste die Apologeten des „freien“ Marktes eines Besseren belehren: Die letzte große Hungersnot in Europa von 1845 bis 1852 wurde in Irland durch die Kartoffelfäule ausgelöst und durch die Tyrannei des schrankenlosen Marktes zum Massensterben verschärft. Als eine importierte Pilzkrankheit die Ernte des Hauptnahrungsmittels der Iren vernichtete, entzogen die englischen Kolonialherren den Hungernden zunächst den Weizen, mit dem der Mangel hätte kompensiert werden können, indem sie es nach England verschifften. Als in London wenig später die liberalen Whigs, Befürworter des Freihandels, an die Macht kamen und Zollschranken abbauten, machte billiges Korn vom Kontinent und aus Nordamerika die irischen Ausfuhren nach England unrentabel. Die Pächter auf der grünen Insel konnten ihre Abgaben nicht mehr zahlen, verloren ihr Land und gesellten sich zu den Hungernden und Heimatlosen auf den Landstraßen. Binnen weniger Jahre halbierte sich die Einwohnerzahl Irlands, mehr als eine Million Menschen verhungerten, noch viel mehr wanderten aus. Trotz kontinuierlicher Bevölkerungszunahme in den letzten hundert Jahren  hat die Insel (Republik und Ulster zusammen) heutzutage lediglich 5,8 Millionen Einwohner, nur gut 70 Prozent der Zahl von 1845: Ein Lehrstück für die Nachhaltigkeit des freien Welthandels. Menetekel für die Teile der Erde, die wir inzwischen nach Frantz Fanon Dritte Welt nennen?

 

Unabhängige „Schurken“

 

Versucht ein Staat der Dritten Welt, der Abhängigkeit von den großen Konzernen zu entkommen, treten Militärs und Geheimdienste vor allem der USA als Reparaturkolonnen in Erscheinung, die mit brachialen Mitteln die Panne, die Souveränität heißt, beseitigen.

 

Bereits 1953 wurde der letzte ordentlich gewählte Präsident des Iran, Mohammad Mossadegh, auf Betreiben der CIA gestürzt. Sein Verbrechen gegen die Herren der Erde hatte darin bestanden, die in britischen Händen befindlichen Erdölquellen des Landes zu nationalisieren. Ein Jahr später organisierte die CIA mit Hilfe der US-Luftwaffe einen Putsch gegen den guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Árbenz, der im Zuge einer Landreform in nordamerikanischer Hand befindlichen Großgrundbesitz enteignen wollte. Als Chiles Präsident Salvador Allende es wagte, die Kupferminen zu verstaatlichen, an denen bis dahin ausschließlich ausländische Kompanien verdient hatten, inszenierten die USA einen blutigen Militärputsch gegen seine Regierung. Da auch die christdemokratische Opposition die Verstaatlichung befürwortet hatte, kam sie als Partner nicht in Frage, und man setzte stattdessen Pinochet als Statthalter der Multis ein, einen General, der mit solcher Brutalität vorging, dass sein Name in Lateinamerika zum Synonym für Diktator wurde.

 

Gelang es einem Land, sich aus der Dominanz der Marktbeherrscher zu befreien, wurden und werden seine verantwortlichen Politiker als „Schurken“ diffamiert, wobei ein Großteil der freien Presse des Westens stets ihr Scherflein zum Feindbild beiträgt. Von Lázaro Cárdenas, der 1938 die Ölvorkommen seines Landes nationalisierte, wird noch heute in Mexiko ehrfurchtsvoll berichtet, er sei der einzige Präsident gewesen, der während seiner Regierungszeit nicht reicher geworden sei. Für die Medien jenseits des Rio Grande war er ein Gangster, der redliche nordamerikanische, britische und holländische Petroleum-Konzerne ihrer Profite beraubt hatte. Venezuela unter Chávez war für Washington ein rotes Tuch, weil er die gigantischen Erdölreserven des Landes vergesellschaftete.

 

Besonders interessant ist das Beispiel Boliviens. Vor sieben Jahren wurde Evo Morales zum ersten indigenen Präsidenten Südamerikas gewählt. Er hatte erfolgreich gegen die Übertragung der Wasserrechte an einen US-Konzern gekämpft. Nach der Verstaatlichung der bedeutenden Erdgasvorkommen widmete sich Morales den Lithium-Ressourcen Boliviens (vermutlich die weltweit größten). Die Gewinnung des seltenen Leichtmetalls, das u. a. zum Bau von Batterien benötigt wird, ist relativ kompliziert, dennoch verzichtete Morales auf die üblichen Joint Ventures mit den Schlange stehenden Multis. Bolivianische Ingenieure und Techniker sollen selbst die Technologie zum Abbau erlernen und steuern. Das ist sicherlich ein langsamer und mühsamer Weg, der auch Fehler beinhaltet, der aber dem Land später die ausschließliche Nutzung des Bodenschatzes garantiert. Aus dem Westen erntet Morales dafür Spott und Hass.

 

Legaler Landraub

 

Unter Schwellenländern versteht man – polemisch gesagt – Nationen, die bezüglich des Wirtschaftswachstums und des technischen Know-how mittlerweile ganz vorne mitmischen, deren Bevölkerung aber mehrheitlich im Elend lebt und unter beinahe feudalistischen oder früh-industriellen Bedingungen arbeitet. Diese internationalen Parvenüs haben offenbar von der Ersten Welt gelernt, wie man ärmere Länder ausbeutet.

 

Die VR China muss ihre Milliarden-Bevölkerung irgendwie ernähren, wozu das eigene Territorium offenbar nicht mehr ausreicht. Also kauft sie riesige Ländereien in afrikanischen Staaten auf, die in Ackerland zur Ernährung der chinesischen Bürger umgewandelt werden. Auf diesem von korrupten Politikern verschacherten Grund und Boden haben die ursprünglich dort sesshaften Kleinbauern, Viehzüchter und Nomaden kein Lebensrecht mehr. Ähnliches plant Indien, während sich die argentinischen und brasilianischen Rinder- und Soja-Barone den Gran Chaco im bettelarmen Paraguay vorgenommen haben. Als Vorbilder dienten jene legendären Lebensmittel-Konzerne von United Fruit, Brands über Procter & Gamble und Dole bis hin zu Nestlé, auf deren mittelamerikanischen Plantagen eine eigene Rechtsprechung herrschte und deren Arbeiter auch heute noch, von Insektiziden zerfressen, mit 35 Jahren als Krüppel oder Leichen aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

 

Kolonialismus? Nicht mehr nötig!

 

Als im 16. und 17. Jahrhundert spanische und portugiesische Konquistadoren sowie englische Puritaner in die beiden Subkontinente Amerikas einfielen, hatten sie vor, sich das fremde Land untertan zu machen, es auszubeuten oder zu bebauen; die meisten blieben schließlich dort. Als im 18. und 19. Jahrhundert britische, französische, holländische, spät auch deutsche Soldaten und Kaufleute weite Teile Asiens und Afrikas eroberten, wurden Kolonialbeamte eingesetzt, die zumindest ihr Berufsleben in der Fremde zu dem Zweck verbrachten, den Reichtum der Mächtigen ihres Heimatlandes zu mehren.

 

Dieser klassische Kolonialismus, der die Präsenz der Eroberer und die Nachhaltigkeit der Bewirtschaftung voraussetzt, ist einer Beherrschung und Ausbeutung aus der Ferne gewichen: Die Schicksale von Ländern werden an den Rohstoffbörsen, durch Einfuhrbestimmungen oder Handelsdiktate entschieden; nur im Notfall marschieren noch Soldaten auf, lieber kauft man Regierungen oder lässt sie stürzen. Den einstigen Kolonialisten war das besetzte Land noch wichtig, sie verbrachten ja einen Teil ihres Lebens dort, den heutigen Monopolisten genügen im Computer-Zeitalter das Programmieren eines Plans sowie das An- und Abschalten eines Wirtschaftsfaktors – und handle es sich um ein ganzes Volk.

 

09/2013     

 

Dazu auch:

Vorsicht: Hilfe! im Archiv derselben Rubrik 

 

 

 

Modell Haderthauer

 

 

Politiker, so plappert der Volksmund, könnten nicht mit Geld umgehen, redeten zu viel und sorgten sich nicht um die Probleme ihrer Mitmenschen. Die bayerische Staatskanzlei-Chefin Christine Haderthauer ist da ganz anders – und das passt der Opposition, der Staatsanwaltschaft und neuerdings ihrem Landesfürsten Seehofer nun auch wieder nicht…

 

Geradezu rührend kümmerte sich Frau Haderthauer, der einst als Arbeitsministerin wegen ihrer barschen Behandlung von Asylbewerbern „soziale Kälte“ unterstellt worden war, seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts um eine sinnvolle Beschäftigung psychisch kranker Straftäter. Da traf es sich gut, dass ihr Mann Hubert Arzt und Therapie-Leiter war und in den Bezirkskrankenhäusern Ansbach sowie Straubing das Gute mit dem Nützlichen verbinden konnte, indem er fingerfertige Delinquenten rekrutierte, die unter Anleitung eines dreifachen Mörders maßstabsgetreue Modelle von Mercedes-Edelkarossen bauten. Für Mann und Monat wurden 250 Mark einkalkuliert, während die eigens von den Haderthauers und zwei Partnern gegründete Firma Sapor Modelltechnik pro Mini-Wagen bis zu 12.000 DM Gewinn einstrich.


Christine will sie sich aus dem ebenso menschenfreundlichen wie einträglichen Geschäft zurückgezogen haben, als sie 2003 in den bayerischen Landtag einzog – was ihr böse Zungen nicht glauben, weil sie weiterhin in der Sapor-Korrespondenz mitmischte, das Treuhand-Konto geführt sowie die eine oder andere Unterschrift für die Firma geleistet haben soll und auf Business-Reisen zugegen war. Darf eine Politikerin denn keine Hobbies haben?

 

Und verschwiegen waren die Haderthauers! Weder vor den Finanzbehörden noch vor ihrem späteren Partner Roger Ponton, der mit 2011 läppischen 20.000 Euro abgefunden wurde, prahlte das bescheidene Paar mit seinen finanziellen Erfolgen. So sollen 143.500 im Schweiße des Patienten-Angesichts verdiente Euro (aus Versehen, wie wir vermuten) nicht versteuert worden sein, und der rachsüchtige Franzmann Ponton verklagte Hubert Haderthauer voriges Jahr gar wegen Betrugs.

 

Schade. Da hat eine ebenso sozial ambitionierte wie finanziell lukrative unternehmerische Initiative, die ein wenig Licht in den trüben Alltag straffällig gewordener Seelenkranker gebracht hatte, ein jähes Ende gefunden, bevor sie noch segensreich ausgeweitet hätte werden können. Wäre nicht auch der Auto-Narr und angebliche Psycho-Täter Gustl Mollath auf andere Gedanken gekommen, als die wackere bayerische Justiz zu nerven, wenn er in den Bezirkskrankenhäusern Bayreuth und Straubing (!) an schnittigen Boliden-Modellen hätte basteln dürfen? Und warum nur Straftäter mit möglichem Dachschaden? Uli Hoeneß soll ein sehr geschickter Mensch sein.

 

Neider bringen nun eine karrierebewusste Frau zu Fall, deren Tugenden (Geschäftstüchtigkeit, Diskretion und Nächstenliebe) eigentlich zu höheren Aufgaben prädestiniert hätten.

 

08/2014     

  

 

 

Bad Man Gabriel

 

Erstaunliches tut sich im Kampf um respektive gegen das Fracking: Da leistet sich eine Initiative eine (entschuldbare) Fehlinformation und bekommt dennoch innerhalb einer Woche fast 400.000 Unterschriften zusammen, denn dem SPD-Wirtschaftsminister wird mittlerweile so ziemlich jede Schurkerei zugetraut. Es gibt im Deutschen eine Menge antagonistischer Wort- und Begriffspaare wie schwarz und weiß oder Wahrheit und Lüge: Gabriel und Glaubwürdigkeit ist eines davon.

 

Mit Fehler zum richtigen Ergebnis

 

Die Kampagnenorganisation Campact (s. Rubrik Achtung, Links!), die bereits erfolgreich gegen die Privatisierung der europäischen Wasserversorgung mobilisiert hatte und derzeit gegen das Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) kämpft, hatte die Internet-User dazu aufgerufen, 200.000 Unterschriften gegen das Vorhaben Sigmar Gabriels, ein Gesetz zur Genehmigung von Fracking unter geringen Auflagen am 25. Juni in das Kabinett einzubringen und durch den Bundestag zu pauken, zu leisten. Der Zeitpunkt sei bewusst gewählt kurz vor der Sommerpause des Parlaments gewählt, mutmaßte Campact, da die Öffentlichkeit durch die Fußball-WM abgelenkt werde.

 

Tatsächlich kamen in den ersten Tagen bereits über 300.000 Unterschriften gegen Fracking zusammen, allerdings wurde bereits kurz vor dem 25. Juni klar, dass Zeitplan und Themenschwerpunkte die Behandlung des Gesetzes im Kabinett und seine Verabschiedung durch den Bundestag vor der Sommerpause nicht mehr zuließen. „Falschinformation“, „Foul“ und „Rote Karte für Campact“ schäumte die SPD. Doch da der Sachverhalt weiter virulent ist und man den Wirtschaftsminister auch in Zukunft jeden Tricks für fähig hält, wird die Aktion fortgesetzt und dürfte demnächst die Halbmillionen-Grenze überschreiten. Tatsächlich hat Gabriel die Spekulationen über eine blitzschnelle flächendeckende Genehmigung von Fracking selbst ausgelöst: Am 23. Mai schrieb er der Vorsitzenden des Haushaltsausschusses Gesine Lötzsch (Die Linke): „Ziel ist es, diese Entwürfe in den nächsten Wochen zu finalisieren… Eine Kabinettsbefassung – das gilt auch für auch für die Ministerverordnung – mit den Entwürfen wird noch vor der Sommerpause angestrebt.“ Kein Wunder, dass selbst die ARD-Tagesschau die Informationspanne in Sachen Fracking in erster Linie Gabriel selbst anlastete: „Dass diese Gerüchte überhaupt aufkamen, hat das Ministerium aber mit zu verantworten.“

 

Gabriel wollte also, er konnte aber nicht, vielleicht auch, weil seine Parteifreundin, Umweltministerin Barbara Hendricks, gegensteuerte, da sie Fracking „für die falsche Antwort auf die Energiefrage“ hält.

      

Zeitbombe Fracking

 

Für Groß-Prospektoren und Energiekonzerne stellt die billige, vielerorts anwendbare, aber risikoreiche Fracking-Methode eine Goldgrube dar. Bei dieser Technologie wird Gestein in bis zu 5000 Metern Tiefe mittels eines Gemischs aus Wasser, Sand und Chemikalien unter hohem hydraulischen Druck aufgebrochen. Über Tief- und Querbohrleitungen kann Gas aus den tiefen Schichten gefördert werden.

 

Was sich auf den ersten Blick wie eine Antwort auf alle Energie-Engpässe ausnimmt, birgt tatsächlich hohe Gefahren für Mensch und Umwelt: Durch das mit Chemikalien versetzte Bohrwasser werden zunächst das Grundwasser und dann – beim Zurückpumpen – das Oberflächenwasser verunreinigt. Die Trink(und die Brau)wasserversorgung wird so schwer beeinträchtigt. Beim Abtransport des belasteten Brauchwassers drohen Unfälle. Zudem können Stoffe aus den Lagerstätten andere Erd- und Gesteinsschichten durchdringen. Selbst kleinere Erdbeben aufgrund der enormen Vibrationen sind nicht auszuschließen. Untersuchungen der Universität von  Missouri in Columbia ergaben, dass beim Fracking eingesetzte Spülflüssigkeiten in das Grundwasser benachbarter Brunnen gelangten. Mehr als 100 der verwendeten Substanzen stehen in dringendem Verdacht, Krebs, Unfruchtbarkeit und Missbildungen im männlichen Genitaltrakt zu fördern.

 

Die Atomenergie teilweise durch Fracking zu ersetzen, wirkt wie der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Folgerichtig haben mehrere Staaten, darunter Frankreich, diese Technologie kategorisch verboten. Der Provinzregierung in Quebec, die aus Sorge um die Umwelt Fracking ebenfalls untersagte, drohen nun milliardenschwere Schadenersatzforderungen von US-Konzernen. Kanada befindet sich nämlich im Zangengriff des Freihandelsabkommens Nafta mit den Yankees und Mexiko: ein schöner Ausblick auf den vergleichbaren TTIP-Abschluss, vor allem hinsichtlich der Erpressbarkeit europäischer Regierungen…

 

Opportunismus im Blut

 

„In unserem Wahlprogramm zur Bundestagswahl fordern wir deshalb einen Verzicht auf das Fracking, bis alle Risiken für Gesundheit und Umwelt bewertet und ausgeschlossen sind.“ Diesen verantwortungsvollen Satz äußerte – als noch keine „Regierungsverantwortung“ drohte – kein anderer als … Sigmar Gabriel. Bewertet wurde von Wissenschaftlern zwar schon, und zwar überwiegend negativ, ausgeschlossen konnte bislang kein Risiko werden, dennoch will Wirtschaftslobbyist Gabriel, den wieder einmal sein Geschwätz von gestern nicht stört, jetzt das Fracking.

 

Das wohlgenährte Leichtgewicht der politischen Kultur hat sich immer schon schnell von (vorgetäuschten?) Überzeugungen verabschiedet, wenn ihm die Gegenposition gerade opportun erschien. Erinnern wir uns: Als Gabriel 2003 seine Wiederwahl als Einwechsel-Ministerpräsident Niedersachsens desaströs vergeigt und 14,5 Prozent der SPD-Wählerstimmen verloren hatte, verschaffte ihm seine Partei in ihrer sozialen Versorgungsmentalität den neugeschaffenen Posten des Pop-Beauftragten (der nach ihm auch gleich wieder abgeschafft wurde). In dieser Zeit verdiente er sich auch ein Scherflein nebenbei, indem er im Auftrag einer PR-Agentur für Volkswagen arbeitete und dabei wohl die Wirtschaft und ihr Lobbyisten-System kennen und lieben lernte.

 

Als sich die SPD wieder einmal von ihrem markigen „Mit uns nicht!“ verabschiedete und 2005 als Juniorpartnerin in die Große Koalition unter Frau Merkel eintrat, dabei von der strikten Ablehnung jeder MWSt-Erhöhung, erst recht der Unions-Forderung nach zwei Prozent mehr, auf den denkwürdigenKompromiss von drei Prozent mehr sprang, wurde Gabriel Umweltminister, ohne dass sich irgendeine Befähigung für dieses Amt hätte ausmachen lassen. Was er damals als Ober-Ökologe der Bundesrepublik von sich gab, hat er heute als Chefideologe eines wie auch immer gearteten Wirtschaftswachstums längst vergessen.

 

Das Dilemma des umtriebigen, ein wenig AD(H)S-verdächtigen Genossen der Bosse ist, dass ihm niemand glaubt und seine vollmundigen Ankündigungen längst nicht mehr ernst genommen werden. Als für die Genehmigung von Waffenexporten zuständiger Minister kritisierte er ein wenig künftige Panzerlieferungen an Saudi-Arabien und versprach strengere Regeln. Im selben Atemzug gab er in kurzer Zeit vergleichsweise zu mehr Vernichtungs-Ausfuhren sein Plazet als jeder seiner Amtsvorgänger (siehe auch Tod aus Deutschland unter Politik und Abgrund).

 

Womöglich ist Sigmar Gabriel ja gar nicht das leichtfertige schwarze Schaf oder besser: Chamäleon der deutschen Politik, vielleicht ist er nur der Prototyp des bedenkenlosen Karrieristen im mottenzerfressenen Parteifell.

 

06/2014

 

Dazu auch:

Brave SPD! I und II im Archiv derselben Rubrik 

 

 

     

 

 Krippen ohne Heu

 

Das Wort „Krippe“ verband sich für die Liebhaber historisierender Märchen einst mit dem süßen Jesuskindlein. Prosaische Gemüter dachten in diesem Zusammenhang eher an den Futterbehälter für das liebe Vieh. Mittlerweile aber versteht man unter der Krippe die – respektlos ausgedrückt – multifunktionale Besserungs- und Verwahranstalt für Vorschul-Sprösslinge. In der Tat soll in den Kinderkrippen“ korrigiert werden, was die hierzulande herrschende soziale Ungleichheit vielen Babys an ökonomischen und kulturellen Defiziten in die Wiege gelegt hat. Der Ansatz des Gesetzgebers an sich ist lobenswert, nur fehlt es - im übertragenen Sinn - an Heu und Stallknechten, an pädagogischen Strategien und geeigneten Erziehern mithin.

 

Der Stall steht

 

Seit Monaten melden Bundesländer und Kommunen in fast gleichlautender Hybris, auf ihrem Hoheitsgebiet sei dem Gesetze Genüge getan, jedem Kleinkind sei der ihm rechtlich zustehende Krippenplatz sicher. Wirklich angesprochen wird bei dieser Bestandsaufnahme aber nur der bauliche und technische Teil der Garantie. Und tatsächlich pflanzte man Pavillons auf Parkhaus-Dächer, stellte Hütten aus Beton auf und schaffte ein paar Holztrümmer und Plastikrutschen für den kindlichen Spieltrieb herbei.

 

Um beim Eingangsbild zu bleiben: Der Stall steht. Was aber ist mit dem Heu, der inhaltlichen Ausgestaltung und Betreuung während einer Lebensphase, in der Kinder die entscheidenden Impulse für ihre schulische Laufbahn, berufliche Orientierung, den Grad ihrer Selbstverwirklichung erhalten, die für künftige „Bildungsferne“ (wie dies Soziologen blumig umschreiben) oder sozio-kulturelles Engagement, Verantwortungsbewusstsein oder Knastkarriere, spätere Vereinsamung oder gesellschaftliche Teilhabe prägend ist?

 

Eines streiten auch die politisch Verantwortlichen nicht ab: Es mangelt an qualifizierten Erzieherinnen (die weibliche Form macht hier schon deshalb Sinn, weil männliche Exemplare in diesem Beruf viel zu selten zu finden sind). Bei Alten- oder Krankenpflegern sieht die Personallage ähnlich aus, doch hier kann man Osteuropäerinnen oder indische Krankenschwestern einfliegen lassen und binnen kurzem an die Front schicken. In Kinderkrippen indes sollen tunlichst Kräfte arbeiten, die nicht nur einen Crash-Kurs in Deutsch und Sozialkunde hinter sich haben, denn sie müssen intensive Kenntnisse vermitteln und die Versäumnisse von Familie und Gesellschaft ausgleichen. Doch welche Wertschätzung erfährt dieser komplizierte Beruf?

   

Allround-Genie Erzieher

 

Was wird von den ErzieherInnen nicht alles erwartet: Geduldig und ausgeglichen sollen sie sein, Empathie zeigen, alles über Vorschul-Pädagogik wissen, Sprachdefizite von Migranten-Kindern ausgleichen können, die kognitiven, hygienischen oder sozialen Schwierigkeiten der Unterschicht-Abkömmlinge minimieren, religiöse und ökonomische Differenzenausgleichen, musisch und handwerklich begabt sein - und nun auch die Inklusion vorantreiben, also jedes kleine Individuum in seiner Besonderheit als gleichberechtigt anerkennen und fördern (im Gegensatz zur früher oft gönnerhaft als Anpassung betriebenen Integration/Eingliederung).

 

Stellte man Anforderungen in solcher Vielfalt an Lehrer, die GEW würde zurecht protestieren – oder Manager-Gehälter fordern. Den Verantwortlichen ist das Ausmaß der geforderten Qualität und Vielseitigkeit aber offenbar gar nicht geläufig; wie sollte man sonst die Anregung aus Unionskreisen werten, Langzeit-Arbeitslose könnten doch flugs zu Erziehern umgeschult werden?

 

Was fehlt: Aufwertung des Berufs

 

Zwei bis viereinhalb Jahre lernen Erzieher an Berufsfachschulen oder Kollegs, um dann mit Anfangsgehältern zwischen 1400 und 2000 € brutto in ihren nervenaufreibenden Beruf einsteigen zu dürfen. Ob im Unterricht Theorie und Handlungsansätze fundiert genug vermittelt sowie Praktika ausreichend betreut und ausgewertet werden, ist fraglich, zumal derzeit in Sachen Inklusion schlecht vorbereitet Neuland betreten wird (dazu auch Inklusionslügen in derselben Rubrik), doch will ich mich hier auf die „harten Fakten“ beschränken.

 

Und die sind niederschmetternd: Die langwierig und universell ausgebildeten Fachkräfte werden in der Öffentlichkeit nicht als Hochqualifizierte wahrgenommen und von den Anstellungsträgern derart mies entlohnt, dass sie ihre erzieherischen Fähigkeiten kaum in einer von ihnen selbst in jungen Jahren gegründeten Familie beweisen können. Da die Fachschulausbildung auch nicht zu den Rentenbeitragszeiten zählt, droht angesichts eines Lohnniveaus, das späteres Aufholen ausschließt, zusätzlich Altersarmut.  

 

Kommunen an die Front!

 

Eine besondere Verantwortung kommt hierbei den Kommunen zu. Ihre Tarif-Modelle werden nämlich in der Regel von den kirchlichenTrägern – natürlich nicht ohne höchst unchristliche Abschläge – übernommen. Es ist also gerade die öffentliche Hand, die eine Vorreiter-Funktion bei der Einstellung von für die gesellschaftlichen Perspektive immens wichtigen Leistungsträgern zu Dumping-Löhnen einnimmt!

 

Als während der Warnstreiks im öffentlichen Dienst die (gut betuchten und fürstlich abgesicherten) Oberbürgermeister mehrerer Großstädte vor „überzogenen Forderungen“ warnten und darauf hinwiesen, das Säckel der Kommunen sei leer, vergaßen sie dabei ihre Fürsorgepflicht für die prekär bezahlten Mitarbeiter. Stattdessen hätte es einen landesweiten Schulterschluss der Rathaus-Herren geben müssen, um von der Bundesregierung eine Umverteilung der Mittel aus der Sphäre fragwürdiger Großprojekte in die Wohngegenden abzuzwingen, dorthin also, wo die Wortblase „Infrastruktur“ tatsächlich Gestalt annimmt, wo die Zukunft benachteiligter Kinder entschieden wird. Gelder wären in Deutschland ausreichend vorhanden und beschaffbar. Man denke nur an kontraproduktive Firmen-und Agrarsubventionen, die auf Abenteuer in fernen Ländern angelegte Modernisierung des Militärs, eine konsequente Besteuerung von Großunternehmen und Börsenspekulationen und die längst fällige Wiedereinführung der Vermögenssteuer.

 

DGB-Versäumnisse

 

Auch die Gewerkschaften haben sich in ihrem Bemühen um leistungsgerechte Bezahlung von „Dienern des Gemeinwohls“ nicht gerade mit Ruhm bekleckert. So hatte Ver.di in den letzten Tarifrunden stets die Bezüge der Staats- und Kommunal-Angestellten (also der eingeschriebenen Mitglieder) im Auge, ließ aber zu, dass die öffentlichen Arbeitgeber die Einstiegslöhne auf einen beinahe lächerlichen Level absenkten und LOB (Leistungsorientierte Bezahlung) einführten, ein Prämiensystem, das Opportunisten bevorzugt und die Machtstellung von Abteilungstyrannen stärkt.

 

Zwar war die Durchsetzung eines Sockelbetrags bei den letzten Tarifverhandlungen das richtige Zeichen für ein Stück weit ausgleichende Gerechtigkeit den unteren Lohngruppen gegenüber, der Verzicht auf eine gleichzeitige strukturelle (prozentuale) Anhebung in diesem Jahr aber lässt die Berufsanfänger, die im Sommer und Herbst die Arbeit, z. B. in Kinderkrippen, aufnehmen, noch weiterzurückfallen.

 

Zu dem Verantwortungsbewusstsein, das man künftigen Erziehern stillschweigend unterstellt, sollte also noch eine gehörige Portion Masochismus kommen. Selten wurden gute Absichten, pädagogisches Wissen und soziales Engagement so schamlos ausgenutzt.

 

04/2014

 

Dazu auch:

Business à la Jesus im Archiv derselben Rubrik          

 

 

 

Kleine Drohnenkunde

  

Die komplizierten Zeitläufte erfordern neue semantische Definitionen bislang eindeutig zugeordneter Begriffe oder Wörter (Denken Sie nur an die Doppeldeutigkeit der Vokabel amigo!). Höchste Zeit also, sich mit einem früher nur für das Insektenreich gebräuchlichen Begriff und dessen Sinnesvervielfältigung zu beschäftigen:

 

Drohne (zoologisch): Seltsamerweise ist die Drohne eine männliche Honigbiene, die ihre Existenzberechtigung einem Part in der Fortpflanzung verdankt, ansonsten nichts arbeitet und, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hat, alsbald von den fleißigen Weibchen massakriert wird.

 

Drohne (militärisch): Hier versteht man unter der Drohne einen unbemannten Flugkörper, mittels dessen Sprengkraft man aus weiter Ferne gefahrlos und kostengünstig Feinde (und solche, die es werden könnten) ermordet. Der vom US-Militär bevorzugte Typ der Drohne zeigt hierbei einen Hang zum Übereifer, was häufig zu Kollateralschäden (ein schöner Euphemismus für Unbeteiligten-Gemetzel) führt, eignet sich jedoch prächtig dazu, quasi jedes Ziel (Armeesprache für Mensch) weltweit auszuspähen. Die Drohnen der Bundeswehr hingegen gelten als ebenso überteuert wie faul und bleiben vorerst auf dem Boden.

 

Drohne (soziologisch und im übertragenen Sinne): Männliche und (Zoologen mögen tief durchatmen!) weibliche Mitglieder europäischer Fürsten- und Königshäuser, deren erster Daseinszweck analog ihren tierischen Pendants in der Fortpflanzung zur Erhaltung der Dynastie (bisweilen auch zur Mehrung außerehelichen Nachwuchses) besteht. Außerdem werden die royalen Drohnen noch von den Regenbogen-Medien dazu benötigt, den Massen eine schönere Welt, zu der diese allerdings keinen Zutritt haben, zu suggerieren und so ihre Zufriedenheit und Arbeitskraft zu erhöhen.

   Entgegen der bisherigen wissenschaftlichen Lehrmeinung konnte erst unlängst am Beispiel der spanischen Prinzessin Cristina nachgewiesen werden, dass königliche Drohnen auch abseits von Balz und Kopulation fleißig sein, ja möglicherweise sogar einen kriminellen Ehrgeiz entwickeln können – hierin ihren animalischen Namensvettern ganz unähnlich. Die Infantin, verheiratet mit dem ehemaligen Handball-Profi Iñaki Urdangarín, wird von einem Untersuchungsrichter der Geldwäsche und des Steuerbetrugs beschuldigt. Der Gatte hat anscheinend als Präsident einer Stiftung Gemein- mit Eigennutz verwechselt und staatliche Gelder in Höhe von sechs Millionen Euro unterschlagen. Cristina, die gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Consulting-Unternehmen als Strohfirma betrieben und die Einkünfte dem Finanzamt verschwiegen hatte, wollte von den Machenschaften des Gespons nichts mitbekommen haben. Das glauben ihr wiederum die kleinlichen bürgerlichen Juristen nicht.

   Die europäischen Königshäuser sollten es sich zur Warnung dienen lassen: So weit kommt es, wenn die eigenen Gören hergelaufene Sportler heiraten, statt sich aus der Inzucht-Menagerie des Hochadels zu bedienen.

 

Übrigens führt Wikipedia Drohne noch als Ortsteil von Sternwede auf. Fragen Sie mich aber bitte nicht, wo das nun wieder liegt.

 

 

01/2014

 

               

 

 

Vorsicht: Hilfe!

 

Anfang April findet der vierte EU-Afrika-Gipfel in Brüssel statt. Es sind wieder hehre Reden, die Solidarität mit den ärmsten Staaten und die nachhaltige Unterstützung durch die Europäer umschreibend, zu erwarten – den Menschen in Afrika indes ist anzuraten, auf der Hut zu sein: Noch nie haben Intervention und Entwicklungshilfe durch den alten Kontinent strukturelle Verbesserungen initiiert oder wenigstens erleichtert, im Vordergrund standen für die Erstwelt-Staaten stets eigene wirtschaftliche und militärstrategische Interessen!

 

Vergiftete Gaben

 

Die deutschen Erwartungen an den Gipfel wurden im Bundestag diskutiert und in jeweils einen Antrag der Regierungskoalition und der Linken gegossen. Zur breiten Mehrheit von Union und SPD stießen auch die Grünen, wobei deren Mandatsträger ihrer Basis erklären sollten, warum sie den paternalist-berechnenden Entwurf des Entwicklungshilfe-Ministeriums mit seinen vergifteten Gaben und indirekten Bevormundungen mittrugen und nicht den ihrer Oppositionskollegen, der wenigstens den Waffenexport nach Afrika erschwert und die interventionistischen Launen, wie sie vor allem Frankreich an den Tag legt, gerügt hätte.

 

Gerd Müller, CSU-Minister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung, dürfte wie die meisten der Amtsvorgänger den Schwerpunkt seines Ressorts in der Förderung und Absicherung deutscher Exporte sehen. Er ließ seine Untergebenen 16 Kernpunkte ausarbeiten, von denen einige zunächst richtig sympathisch klingen – bis man genauer hinsieht: So sollen zehn „grüne Zentren für nachhaltige landwirtschaftliche Wertschöpfung“ aufgebaut werden, und zwar „gemeinsam mit der deutschen Agrarwirtschaft“; also unter der Fuchtel jenes Ökonomie-Sektors, der die bäuerliche Infrastruktur vieler afrikanischer Länder systematisch zerstören half. Ein weiterer „Kernpunkt“, der dem schwarzen Kontinent kaum, dafür umso mehr den hiesigen Exportfirmen nützen dürfte, ist „die schrittweise Erweiterung der Hermes-Deckungen für deutsche Unternehmen“. Man minimiert also die Risiken der Konzerne, die Altlasten, Unnützes und Waffen nach Süden verschiffen, durch Ausfallbürgschaften, für die im Notfall der Steuerzahler geradestehen muss.

 

Neben dem Almosen von zehn Millionen Euros jährlich für die Ausrottung der Kinderlähmung werden noch „Bildungsprogramme speziell für fragile Staaten“ sowie die „Begleitung der Transformationsprozesse in Nordafrika“ angekündigt. Ungeachtet der Tatsache, dass so mancher Staat erst durch europäische Intervention fragil wurde, soll den Gesellschaften südlich des Mittelmeeres unsere Sicht der Weltpolitik vermittelt werden. Und der Beitrag der Europäer zu den Transformationsprozessen im muslimischen Norden hat verheerende Folgen gezeitigt. Doch davon später.

 

Der Wettlauf

 

Natürlich hat das eine oder andere vom Westen finanzierte Gesundheits- und Bewässerungsprojekt lokalen Nutzen erbracht, selbstverständlich benehmen sich die Chinesen, die immer größere Ländereien in Afrika aufkaufen, ähnlich feudalherrlich wie einst die europäischen Kolonialmächte; doch was sich für die Zukunft der Dritten Welt so besonders fatal auswirkt, ist die Subtilität der Methoden, mit der die Konzerne aus Europa die schwache einheimische Wirtschaft vollends zerschlagen, um sich passgenaue Absatzmärkte zu sichern.

 

Mittlerweile liefern die großen Hähnchen-Schlachtereien der EU Teile wie Hälse oder Innereien, die sich in Europa nicht verkaufen lassen, en masse nach Westafrika und ruinieren die dortigen Geflügelzüchter. Mit Schadstoffen belasteter Elektro-Müll wird auf den Schutthalden von Kamerun entsorgt, und den Müttern dort wird suggeriert, Stillen sei ungesund, um den Trockenmilchabsatz zu steigern. Zugleich schützt die EU durch Zölle die eigene subventionierte Agrar-Industrienm vor landwirtschaftlichen Einfuhren aus Afrika. Wer womit handeln darf, bestimmen die Lobbyisten in Brüssel, deren politische Handlanger nach völliger Verarmung ganzer Regionen demonstrativ mit dem Scherflein der Entwicklungshilfe winken (das letztendlich nur wieder der eigenen Absatzsteigerung dienen soll).

 

Zugleich bestreiten alle Erstwelt-Staaten einen verbissenen Wettlauf um die Ressourcen des ärmsten Kontinents, um fruchtbare Böden, Erdöl, seltene Erze wie Koltan, um Gold und Edelsteine – und um die strategisch wichtigen Häfen sowie Zugänge zu den Rohstoffen.

Die Korruption in Afrika, die Bestechlichkeit von Amtsinhabern und wirtschaftlichen Eliten (so vorhanden), ist kein Relikt des alten Kolonialismus mehr, sondern Folge der verfeinerten Strategie der internationalen Multis, die nicht mehr einzelne Beamte, sondern komplette Staatsapparate kaufen und im Notfall auch ethnische Gruppen oder ganze Völker gegeneinander ausspielen.  

     

Blick in eine düstere Geschichte

 

Für viele Kriege, blutige Unruhen und Massaker kann aber auch heute noch die Kolonialherrschaft der Europäer zumindest mitverantwortlich gemacht werden, sei es, dass Grenzen willkürlich mit dem Lineal gezogen und Völker auseinander dividiert wurden, sei es, dass die weißen Herren bei ihrem Abzug die grausamsten und ihnen ergebensten Bluthunde als Statthalter und Wahrer ihrer Interessen eingesetzt oder die Länder völlig ausgeplündert zurückgelassen hatten.


In der Tat ist die Epoche des europäischen Engagements in Afrika eine Geschichte des Schreckens. Rund zehn Millionen Menschen wurden binnen eines Jahrhunderts im Namen des Profits allein in der belgischen Kronkolonie Kongo umgebracht (Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“ spielt in dieser grausamen Szenerie.), die deutsche Kolonialmacht schlug auf dem Gebiet des heutigen Tansania drei Volksaufstände blutig nieder und gab sich Mühe, im Südwesten des Kontinents die Hereros vollständig auszurotten. Buren und Engländer lieferten sich auf südafrikanischem Boden einen erbitterten Herrenmenschen-Krieg, und die Anzahl der von französischen Soldaten und Fremdenlegionären bis 1960 in Algerien begangenen Greueltaten ist furchterregend.

 

Afrika hatte nie Gelegenheit, sich von dieser Horror-Zeit zu erholen, denn bevor die Länder eine eigenständige Entwicklung auch nur andenken konnten, wurden sie von Europa (und den USA sowie mittlerweile auch der VR China) in den ökonomischen Würgegriff genommen. Um die eigene Macht auch ohne ständige Präsenz zu bewahren, lieferten vor allem die Westmächte ungeheure Mengen von Waffen, besonders gern an skrupellose Warlords, mit deren Hilfe sie nach Bedarf Unruhen schüren und unbotmäßige Regimes bedrohen konnten.

 

Pyrrhus-Siege der Gegenwart

 

Auch die jüngere Vergangenheit Afrikas mutet wie ein blutiges Panoptikum westlicher Kriegsspiele und Irrungen an. Im Kongo wurde der Hoffnungsträger Patrice Lumumba mit Unterstützung der damals westeuropäisch und nordamerikanisch dominierten UNO gestürzt und ermordet, um den Weg für den Langzeit-Diktator Mobutu freizumachen. Nach dem Abzug der portugiesischen Kolonialtruppen rüstete der Westen die Mörderbanden der UNITA in Angola und der RENAMO in Mosambik auf. Zwar unterlagen diese „Widerstandsbewegungen“, aber erst nach verheerenden Kriegen – und nicht ohne riesige Territorien vermint zu hinterlassen. Wobei wir beim nächsten europäischen Exportschlager für Afrika wären: Weil sich mit Streumunition glänzende Geschäfte machen lassen, trat die deutsche Regierung in Sorge um die nationale Rüstungsindustrie dem Ottawa-Abkommen zum Verbot von Landminen gar nicht erst nicht bei.

 

Wenn auch die europäischen Medien ihre Regierungen derzeit beinahe unisono zu Interventionen drängen (Stichwort Arabischer Frühling), so sind doch die bisherigen Ergebnisse militärischer Einmischung seitens der NATO-Staaten meist kontraproduktiv oder fatal: Somalia ist ein failed state geblieben; die so eifrig betriebene Teilung des Sudan führte sogleich zu einem völlig neuen Bürgerkrieg im südlichen Teil; das einst wohlhabende Libyen dürfte für immer in einander bekämpfende Stammesgebiete zerschlagen worden sein. Und so weiter!

 

Man kann den Afrikanern eigentlich nur raten, die Flucht zu ergreifen, wenn Westeuropa „gemeinsame“ wirtschaftliche Aktivitäten vorschlägt, Bildungsangebote unterbreitet, durch die Eliten in seinem Sinn und Dienst geschaffen sollen, oder „uneigennützig“ Hilfe gegen Wohlverhalten anbietet. Aber wohin sollen die Leidgeplagten gehen? In Europa jedenfalls wollen die selbsternannten Philanthropen sie nicht haben…

  

03/2014

 

 

Sport, Spiel, Krieg!

  

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz zog Außenminister Frank-Walter Steinmeier verbal vom Leder: Deutschland müsse bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und entschlossener einzumischen. Im Klartext bedeutet dies, die neue „Großmacht“ wird ab jetzt zeitnah aktiv, wenn es irgendwo Irritationen oder Konflikte gibt – und sind die Andersdenkenden nicht willig, gebraucht sie auch schon mal die Bundeswehr.

 

Die Vorsager

 

Dann bemühte Steinmeier einen sportiven Vergleich, eine Plattitüde von der Art, die jeder Politiker dieses Landes aufgrund der historischen Weiterungen bis in alle Ewigkeit unbedingt meiden sollte: „Deutschland ist eigentlich zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“ Mit Schrecken erinnern sich viele Völker an die beiden großen Begegnungen, die deutsche Truppen bereits mitten auf dem internationalen Spielfeld bestritten haben – um bei der unsäglichen Metapher zu bleiben. Dabei ist Steinmeier noch nicht einmal die lauteste Tröte des neuen deutschen Geltungsbedürfnisses.

 

Deutschland leistet sich einen Bundespräsidenten, der im Wesentlichen repräsentiert und Gesetze unterzeichnet. Zu sagen hat das Staatsoberhaupt de facto nichts, doch gehört es zu den Gepflogenheiten der meisten Amtsträger, viel über alles Mögliche zu reden. Keine Ausnahme bildet da Joachim Gauck, der wie Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die Münchner Sicherheitskonferenz dazu nutzte, einem illustren Publikum aus Politikern, Militärs und Wirtschaftsbossen die revidierte, nun stahlglänzende Position der deutschen Außenpolitik zu erklären, wobei er allerdings die Binsenweisheit, der zufolge Eigenlob stinkt, außer acht ließ: „Das ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen.“ Und damit der Rest der Welt auch optimiert werde, postulierte der Pastor, Deutschland müsse „entschlossen“ vorgehen, um den (globalen) „Ordnungsrahmen ... zu formen“. Dabei könne „auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein“.

 

Gaucks Vorgänger Horst Köhler hatte ganz ohne das moralische Brimborium mit Blick auf Afghanistan den Einsatz der Bundeswehr zum Schutz der internationalen Handelswege begrüßt. Und darum geht es auch wirklich: Die deutsche Wirtschaft will verdienen, die Bundeswehr soll den Warenverkehr sichern, indem sie weltweit strategische Positionen aufbaut; damit nicht andere den Handel monopolisieren und die Profite einstreichen können – schon gar nicht die Einheimischen...

 

Wir sind wieder wer!

 

Angesichts der schwungvollen Hybris ihrer Polit-Kollegen wollte sich Verteidigungsministerin von der Leyen, bei der man immer das Gefühl hat, für ihre Karriere ginge sie über Überzeugungen und andere Leichen, in München auch nicht lumpen lassen: „Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren.“ Ob die Bundeswehr fähig dazu ist, einen internationalen (bevorzugt afrikanischen) Einsatz zu bestreiten, sei dahingestellt, die Mittel (sprich: Waffen) hierfür hat sie allerdings in der Tat. Bleibt die Frage, wem es in der Dritten Welt nützt, wenn deutsche Soldaten ohne Sprach-, Landes- oder Kulturkenntnis schwerbewaffnet durch Wüsten und Urwälder patrouillieren.

 

Inzwischen sollen auf Anordnung der ehrgeizigen Dame in Mali bis zu 250 (statt wie bisher 180) Bundeswehr-Ausbilder einheimische Pioniere drillen. Als der französische Staatspräsident Hollande, wohl eher auf sein Image als auf die Rettung der Kulturgüter von Timbuktu bedacht, französische Truppen in den Sahara-Staat entsandte, um den Vormarsch der Islamisten und Tuaregs aus dem Norden zu stoppen, bestand der deutsche „Beitrag zu einer schrittweisen Lösung der aktuellen Krisen“ (von der Leyen) noch darin, dem Pariser Nato-Partner Transportflugzeuge zur Verfügung zu stellen und ihn dafür kräftig abzukassieren. Jetzt aber möchte unsere oberste Feldherrin die Bundesrepublik zum Global Player, notfalls auch mit Brachialgewalt, machen.

 

Ursula von der Leyen hat seinerzeit im Erdkunde-Unterricht aufgepasst und untermauert den paternalistischen Kontroll-Anspruch unseres Erdteils mit der (nur geografisch korrekten) Beobachtung, dass Europa eine besondere Verantwortung für Afrika habe, da die beiden Kontinente lediglich ein Seeweg von 14 km trenne. Dass es zu nah am „Abendland“ liegt, hat Afrika in der Vergangenheit bereits leidvoll erfahren müssen, wie verängstigt dürfte nun aber erst Asien sein? An vielen Stellen wird es nicht einmal vom schmalsten Meeresarm vor dem europäischen Wohlwollen geschützt...

 

Es gibt zu denken, dass ein zunehmend arroganter werdendes, selbstvergessenes Deutschland, das nur noch vor den USA kuscht, die Speerspitze im Kampf um Freiheit und Demokratie (nach Berliner Lesart) mimt, dabei skrupellos eigene Wirtschaftsinteressen durchsetzt, „faule“ Südeuropäer maßregelt, sich in den Machtkampf korrupter Oligarchen in der Ukraine einschaltet und zumindest mit dem Gedanken spielt, seine Streitkräfte zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen aufmarschieren zu lassen. Dabei würde bereits ein Blick in die jüngere Vergangenheit helfen, hausgemachte militärische Interventionen als gefährlich und sinnlos zu klassifizieren.

     

Eine lausige Bilanz

 

Selbst ohne Berücksichtigung des mutmaßlich völkerrechtswidrigen Kriegseinsatzes gegen Serbien beinhaltet die Bilanz bundesdeutscher Militär-Interventionen im Ausland genügend desaströse Fehlbuchungen:

 

Ende 1992 wurden US-Marines bei dem Versuch, den somalischen Warlord Aidid in Mogadischu außer Gefecht zu setzen, von dessen Milizen gedemütigt. Die Vereinigten Staaten handelten wie stets in unklaren Situationen: Erst inszenierten sie eineCowboy-Aktion, nach deren Scheitern instrumentalisierten sie dann die Uno. Im Rahmen der militärischen UNOSOM-Mission der Vereinten Nationen kamen so 1993 insgesamt 4000 Bundeswehrsoldaten nach Somalia. Ihre Hauptaufgabe sollte die Sicherung des Nachschubs für eine indische Kampfbrigade sein; Pech nur, dass diese nie auftauchte. Geschützt wurden das deutsche Lager übrigens von italienischen Blauhelmen. Als 1994 die letzten Bundeswehreinheiten unverrichteter Dinge wieder aus Somalia abgezogen waren, nahmen sich die Ergebnisse des Einsatzes bescheiden bis katastrophal aus: Zwar waren eine temporäre Wasserversorgung installiert und (bald darauf wieder zerstörte) Krankenstationen eingerichtet worden, doch hätten dies zivile Hilfsorganisationen für einen Bruchteil der Mittel bewerkstelligt. Ein somalischer Einbrecher war von einem Wachposten erschossen worden. Rund 20 Soldaten wurden des Haschisch- und Marihuana-Missbrauchs überführt. Kurze Zeit nach dem Abzug der UN-Truppen übernahmen die islamistischen Schabab-Milizen, die dem Vernehmen nach mit Al Qaida kooperieren, die Macht in Somalia.

 

Blutiger und folgenschwerer verlief (und verläuft noch) der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Nach 55 eigenen Gefallenen, über 100 zivilen Opfern eines Kollateral-Massakers bei Kunduz, dessen Urheber, Oberst Georg Klein, unlängst zum Brigadegeneral befördert wurde, und der Vergeudung von (offiziell) 3,6 Milliarden Euro (vorwiegend zum Wohle der Rüstungsindustrie) verlassen die deutschen Truppen nun demnächst das Land. Die Resultate der ISAF-Mission, an der sie beteiligt waren, konnten schlimmer kaum ausfallen: Eine korrupte Regierung wurde in Kabul an der (eng begrenzten) Macht gehalten, sämtliche sozio-ökonomischen Projekte scheiterten, überall sind die Islamisten auf dem Vormarsch (s. auch "Die Niederlage" in der Rubrik "Medien"). Als die Bundeswehrsoldaten in die Nordprovinzen einrückten, galten diese als relativ friedlich und ruhig. Inzwischen sind die Taliban dort eingefallen, und die deutschen „Retter“ machen sich auf den geordneten Rückzug. Die westliche Allianz hat aus dem Debakel der Sowjets nichts gelernt. Nach fast vierzehn Jahren verlassen die ISAF-Truppen ein zerstörtes Land, das den Taliban und Hekmatyars Mudschaheddin wie ein überreifer Apfel in die Hände fallen wird.

 

Im Labyrinth

 

Sicherlich hätte man sich 1994 in Ruanda ein schnelles militärisches Eingreifen von UN-Truppen gewünscht, als Hutu-Milizen Angehörige der Tutsi-Minderheit niedermetzelten. Doch dieses winzige Land stand nicht auf der Agenda der Haupt-Interventionisten: strategisch bedeutungslos, kaum Bodenschätze, wirtschaftlich uninteressant. Vor allem die früheren Kolonialmächte wählen mit Bedacht aus, wo sie sich in Afrika einmischen. In Ländern, die sie bereits früher etragreich heimgesucht haben, also leidlich kennen, glauben sie den späteren Mehrwert ihres Engagements besser berechnen zu können.

 

Auch der Bundesregierung sollte man den „Einsatz für das Gute“ als Begründung für das plötzliche Fernweh der Militärpolitiker nicht ohne weiteres abnehmen. Es geht um Machtteilhabe und ökonomische Beherrschung. Allerdings liegen die Erfahrungen mit eigenen Domänen in der Dritten Welt schon so lange zurück, dass die Verantwortlichen sich oft bei der Auswahl von Verbündeten vertun und sich deutsche Soldaten in exotischer Wildnis leicht verirren können.

 

02/2014




2013

       

 

 

Waffenbrüder?

 

Gewiss gab es in den letzten Jahren und Dekaden viel zu kritisieren an den deutschen Gewerkschaften und ihren Spitzenfunktionären: Da waren die missglückten Ausflüge des DGB in ins Profit-Lager (Bank für Gemeinwirtschaft, Neue Heimat), da verärgerten die oft kritiklose Übernahme inhaltlicher Positionen einer immer weiter nach rechts driftenden SPD, die Behandlung der Angestellten eigener Bildungsträger oder ungeschickte Verhandlungen mit den Arbeitgebern (Einstiegslöhne im öffentlichen Dienst).

 

Andererseits wäre ohne einen starken Gewerkschaftsbund die Position der tariflich Beschäftigten angesichts der gnadenlosen Markt- und Börsenfixierung der Wirtschaft noch weit schwächer geworden, als sie es ohnehin schon ist. Man muss dem DGB auch zugute halten, dass er die Altersarmut thematisiert oder die Integration von Kollegen aus anderen Ländern vorantreibt. Bei einem originären Anliegen einer Arbeiterorganisation, die weltweite Beziehungen pflegt, sollte man allerdings genauer hinsehen: Die traditionelle Unterstützung von Abrüstung und Friedensbewegung scheint zumindest in einigen Funktionärszirkeln dem Hang zu militärstrategischen Planspielen gewichen zu sein.

 

Für die schnelle Eingreiftruppe

 

Ende Oktober lud der DGB „Experten“ zu einem „Friedens- und sicherheitspolitischen Workshop“ nach Berlin ein. Die dort behandelten Themen und die Auswahl der Fachleute lassen vermuten, dass sich die Gewerkschaftsführung von ihrer einst pazifistischen Ausrichtung entfernt hat und stattdessen lieber die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Steigerung der deutschen Rüstungsexporte mitgestalten möchte.

 

Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer erklärte, man wolle „das Verhältnis der Gewerkschaften zum Militär“ diskutieren. Vermutlich versteht er unter dem „Meinungsaustausch“ wohlwollende Zustimmung der Arbeitervertreter zu aggressiven Thesen der militärpolitischen Berater und Verantwortlichen, so wie er sie im Februar 2013 bei einem Treffen mit Verteidigungsminister de Maizière demonstriert hatte, als dieser unwidersprochen fabulieren durfte, die Bundeswehr sei ein Teil der Friedensbewegung. Kein Wort Sommers zum völkerrechtswidrigen Kampfeinsatz 1999 gegen Serbien, keines zum Debakel in Afghanistan und nur ein schüchterner Einwand gegen den geplanten Ankauf von Kampfdrohnen (deren Einsatz von amnesty international als „schwerwiegendes Vergehen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft wird).

 

Zu den Referenten auf dem Berliner Workshop gehörten u. a. der Wehrpolitiker der Grünen, Winfried Nachtwei, der fordert, die deutschen Soldaten im „gesamten Fähigkeitsspektrum“ auszubilden, „mit der Kampffähigkeit als Grundlage“, und der Polizei-Gewerkschaftler Jörg Radek, der am liebsten schon während des Bürgerkriegs in Libyen seine Kollegen dorthin entsandt hätte. Dies forderte den Unmut vieler anwesender DGB-Mitglieder, darunter die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe, heraus, zumal „Friedensbewegte“ vor der Abschlussrunde überhaupt nicht zu Wort gekommen wären, hätte nicht Rainer Braun von der Vereinigung deutscher Wissenschaftler die Aufgabe, der „Interventionsarmee durch Konversion die materielle Basis zu nehmen“, in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt.

 

Als Redner war auch der IG-Metall-Funktionär Jürgen Bühl, der den beim Vorstand angesiedelten AK „Wehrtechnik und Arbeitsplätze“ leitet, nominiert. Wie der Informationsdienst German-Foreign-Policy (s. Links) berichtete, hatte dieses illustre Gremium in einer Studie unlängst den Ausbau der „wehrtechnischen Kernfähigkeiten“ der deutschen Industrie und die Forcierung der Rüstungsexporte postuliert. Bühl steht für jene Fraktion in der IG Metall, die traditionell auch die inhumansten Strategien der deutschen Wirtschaft mit dem Argument unterstützt (oder zumindest verteidigt), die Arbeitsplätze hierzulande seien andernfalls gefährdet.

 

Zwei Gesichter des DGB

 

Dass sich Gewerkschaften um die Konkurrenzfähigkeit der heimischen Wirtschaft sorgen, mag verständlich sein, ist doch einerseits ein ökonomischer System-Umbau derzeit nicht in Sicht und geht es doch zum anderen vorrangig um die berufliche Existenz ihrer Mitglieder; dass aber immer wieder Arbeitgeber-Initiativen, die gegen internationales Recht verstoßen, von den DGB-Spitzenfunktionären kritiklos begleitet werden, macht deren Friedensappelle bei anderen Gelegenheiten nicht unbedingt glaubwürdiger.

 

Ingeborg Wick, langjährige Geschäftsführerin der Anti-Apartheid-Bewegung (ABB), weiß ein traurig΄ Lied davon zu singen, wie ambivalent sich die IG Metall im Kampf gegen das Rassisten-Regime in Südafrika verhielt. In seltener Einmütigkeit hatte der UN-Sicherheitsrat 1977 ein bindendes Rüstungsembargo gegen Pretoria beschlossen, was allerdings weder Daimler noch Rheinmetall von einer umfassenden militärtechnischen Zusammenarbeit mit den weißen Herrenmenschen abhielt (wofür vier Rheinmetall-Manager später zu Haft- und Geldstrafen verurteilt wurden). Während die AAB wirtschaftliche Sanktionen und die Unterstützung der Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika propagierte, reagierten SPD und DGB eher zögerlich, um nicht zu sagen: kontraproduktiv. So stellte die IG Metall 1987 für BRD-Unternehmen in Südafrika zusammen mit der dortigen Metallgewerkschaft NUMSA einen 14-Punkte-Kodex auf, der die von der Apartheid geprägten Arbeitsbedingungen humanisieren sollte. Zwar nutzte dies wohl dem einen oder anderen Beschäftigten vor Ort, bedeutete de facto aber, dass der internationale Boykott unterlaufen wurde. Als Ingeborg Wick im Rahmen einer Gewerkschaftskonferenz auf diese Tatsache hinwies, reagierte IG Metall-Chef Franz Steinkühler, der später gehen musste, weil er sein Mandat im Daimler-Aufsichtsrat zu Insider-Geschäften genutzt hatte, „ungewöhnlich scharf und wurde fast ausfallend“ (Wick).

 

Zu oft singen hierzulande Gewerkschaftsführer das Lied derer, die sie als sakrosankte Brötchengeber für die Kollegen ansehen. Es ist nichts dagegen zu sagen, dass Ver.di die Angestellten der Streitkräfte vertritt oder die IG Metall die Arbeiter der Rüstungsbetriebe, doch entbindet dies den DGB nicht der Pflicht, den eigenen inhaltlichen Ansprüchen gerecht zu werden. „Nie wieder Krieg heißt für uns: Zivile Produktion statt Rüstungsexporte. Unsere Grundsatzposition lautet: Keine Rüstungsgüter in Krisengebiete, keine Exporte in Länder, in denen Menschenrechte verletzt werden... Wir stehen unverändert zur Konversion von militärischer Produktion und militärischem Know-how.“ Diese Auszüge sind nicht einem Pamphlet von „linken oder pazifistischen Spinnern“ entnommen, sondern dem Aufruf des DGB-Bundesvorstands „Stoppt den Waffenhandel!“ zum Antikriegstag 2013.

 

Der Traum von der Konversion

 

Es war zuerst die Friedensbewegung, die in ihrem Kampf gegen die Nachrüstung und die zunehmende Militarisierung von Produktion und Gesellschaft die „Konversion“ ins Spiel brachte, also die Umwandlung waffentechnischer Fabrikation in die Herstellung ziviler Güter und der militärischen (todbringenden) Technologien in das Leben erleichterndes Know-how. Zwar griffen die Gewerkschaften den Begriff halbherzig auf, doch ließen sie sich von der „Macht des Faktischen“, dem Bekenntnis großmütiger Vaterlandsverteidiger wie Diehl, Krupp oder Helmut Schmidt zur „wehrhaften Demokratie“, überzeugen.

 

Nach dem Kalten Krieg kam der Bundesrepublik die äußere Bedrohung abhanden, und die Konversionsbefürworter witterten Morgenluft. Doch nun mochten die Konzerne nicht mehr von ihrem lukrativen Geschäft lassen und bemühten das Totschlagargument vom sicheren Arbeitsplatz, um die gewerkschaftlichen Kritiker trotz immer bedenkenloserer Expansion in immer kriegerischer werdende Ferne mundtot zu machen. Mittlerweile belegt Deutschland mit einem Handelsanteil von neun Prozent den dritten Platz unter den Waffenexporteuren der Welt (weit vor der VR China, über deren Rüstungsproduktion ständig besorgt schwadroniert wird). Und einige Länder, die besonders viele tödliche Qualitätswaren made in Germany kaufen, liegen in den gefährlichsten Krisenregionen der Erde: Algerien, Israel oder Saudi-Arabien. Interessant auch, dass die EU unter Federführung Frau Merkels das hochverschuldete Griechenland dazu zwang, Lehrer zu entlassen, Löhne zu senken und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu kappen, dass aber keinerlei Einsparungen im überdimensionierten Verteidigungshaushalt genehmigt wurden. Schließlich wollen die deutschen Rüstungsunternehmen als Hauptakteure weiter im Geschäft bleiben, auch wenn Athen die Panzer und Flieger allenfalls gegen den Nato-Partner Türkei einsetzen kann (den die hiesige Waffen-Industrie gerechterweise gleichfalls beliefert).

 

Perspektivisches Denken erlaubt

 

Sicherlich wurde die Diskussion über die Potentiale der Konversion zunächst etwas naiv geführt. Als im Munitionswerk der fränkischen Waffenschmiede Diehl 1998 der Betriebsrat vor der Belegschaft eher verlegen auf die zivile Produktionsalternative hinwies, entgegnete der Betriebsleiter höhnisch, dass nicht-militärische Güter gerade mal ein Prozent des Umsatzes ausmachten. (Tatsächlich ließ sich auch das zivile Vorzeige-Projekt „Junghans-Uhren“ trefflich für die Zeitzünder-Technik nutzen.) Bedenken hinsichtlich friedenspolitischer Geschäftsschädigung äußerte er allerdings angesichts der neuen „rot-grünen“ Bundesregierung. Der Mann hätte sich keine Sorgen um Diehl machen brauchen: Unter Schröder und Fischer blühte der Waffen-Export erst richtig auf, und für weiteren Umsatz sorgte deren Kabinett, indem es erstmals Bundeswehrsoldaten ohne völkerrechtliche Legitimation in fremde Kriege schickte.

 

Dass über Konversion fast nur noch Bürgermeister sprechen, deren Städte wegen Kasernenschließung Arbeitsstellen, zahlungskräftige Einzelhandelskunden und trinkfreudige Kneipengäste verloren haben, ist auch der defensiven Haltung des DGB geschuldet. Gewerkschafter und Wissenschaftler wären gut beraten, Perspektiven für die Produktion zu projektieren. Aber der oberste DGB-Funktionär Michael Sommer scheint sich lieber anhören zu wollen, wie man durch militärische Intervention und handelspolitisches Laisser-faire den Konzernen das Geschäft mit dem Tod erleichtert.

 

11/2013  

 

 

Lobbykratie BRD

 

Tatort Europa (Teil 1):Ein Baulöwe will irgendwo im Süden des Kontinents eine Hotelanlage hochziehen. Dass es sich bei der location um ein Naturschutzgebiet handelt, ist ärgerlich, aber ein umschiffbares Hindernis. Der Bürgermeister des nächsten Ortes sowie die Beamten der zuständigen Bauordnungsbehörde erhalten stattliche Trinkgelder und genehmigen das Vorhaben. Folgen für die Gesellschaft: Das regionale Öko-System wird bedroht, die Kommunalpolitik erweist sich als bestechlich, und es wird festgeschrieben, das nur zu seinem „Recht“ kommt, wer ausreichend Geld dafür einsetzen kann.

 

Tatort Europa (Teil 2): Eine mitteleuropäische Regierung verhindert, dass die Europäische Union derAutomobilindustrie strenge Grenzwerte für Schadstoff-Emissionen vorgibt. Die PKW-Bauer des betreffenden Staates verdienen nämlich ihr Geld vornehmlich mit Luxus-Dreckschleudern. Also „überzeugen“ sie die maßgeblichen Politiker mit dem (nicht unbedingt bindenden) Versprechen künftigen Wohlverhaltens in der Beschäftigungspolitik und enormen Zuwendungen an deren Parteien. Folgen für die Gesellschaft: Die Umwelt wird landesweit so belastet, dass Folgen für Gesundheit und Lebenserwartung der Bürger unausweichlich sind, und denkende Menschen beginnen sich zu fragen, wer das Land regiert, die Automobilkonzerne oder deren gewählte Vertreter im Parlament.

 

Zwischen beiden Beispielen besteht ein gravierender Unterschied: Im ersten Fall handelt es sich um Käuflichkeit, Vorteilsannahme, Bestechung, kurz gefasst: Korruption. Das ist böse, und wird hierzulande mit Mafia, unehrlichen Italienern, verschlagenen Griechen, halt mit Südeuropa assoziiert. Das zweite Szenario hingegen beschreibt die (weitgehend) legale Einflussnahme des großen Geldes auf deutsche Volksvertreter, die in der Bundesrepublik gestattete, ja gewollte Manipulation des politischen Willens durch Vergünstigungen (notfalls auch durch Liebesentzug und Drohungen), vulgo Lobbyismus.

 

Die Ehrlichkeitstester von Transparency International (TI) haben unlängst ihren jährlichen Korruptionsbericht veröffentlicht. Demnach liegt Deutschland unter 177 überprüften Staaten auf dem respektablen zwölften Rang der Unbescholtenen, weit vor Krisenländern wie Griechenland oder Spanien. Doch selbst der hiesigen Sektion von TI scheint aufgefallen zu sein, dass sich die Reihung auf den vordergründigen Tatbestand (Korruption) beschränkt, die mächtigere Gefahr durch verdeckte Steuerung (Lobbyismus) aber nicht berücksichtigt wird. Zwar lassen sich Äpfel nicht unbedingt mit Birnen vergleichen; kann dies aber ein Grund dafür sein, Birnen nicht zu untersuchen?

 

Nicht, dass Berliner Politikern die simple Bestechung (Bestechlichkeit) völlig fremd wäre – ein bisserl was geht immer. Deshalb weigerte sich auch die Bundesregierung 2012 das UN-Abkommen zur Bekämpfung der Korruption zu unterzeichnen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Siegfried Kauder (missratener Bruder von Volker) brachte es damals als Vorsitzender des Rechtsausschusses auf den Punkt: DieRatifizierung eines solchen Knebelvertrages bedeute, „dass Parlamentarismus nicht mehr funktioniere“. Wenn man das Schmiermittel verbietet, darf man sich nicht darüber wundern, dass alle Rädchen des Systems stillstehen.

 

Der Lobbyismus mit seiner gestalterischen Kraft spielt allerdings in einer ganz anderen Liga, weshalb die besorgte Vorsitzende der deutschen TI-Sektion, Edda Müller, die Politik zu einer „Integritätsoffensive“ aufrief und einen Lobby-Check sowie ein Register forderte, damit man erkennen könne, welchen Einfluss Lobbyisten auf die Gesetzgebung hätten. Zudem sollten prominente Mandatsträger eine Karenzzeit von drei Jahren einhalten, bevor sie ins Wirtschaftslager wechselten. Aufgemerkt, Politiker, dieSchnüffler wollen euch eure Villen im Hochtaunus wegnehmen!

 

Müller bezog sich insbesondere auf den Fall Eckart von Klaeden, der als Staatminister im Kanzleramt die Interessen von Daimler vertrat und nun wohl wegen der kürzeren Wege sein Büro gleich beim Autohersteller aufschlägt, und auf den des Arbeiterführers Kurt Beck, der sich nach gesundheitlichen Schwierigkeiten, die ihn am Ausbaden des Nürburgring-Skandals hinderten, wieder fit genug für den Pharma-Giganten Boehringer Ingelheim fühlt (siehe auch „Schröder für Arme“ unter Helden unserer Zeit). Die Dame von TI hat in allem recht, und ihre Forderungen sind hehr und lauter; nur scheint sie das innerste Wesen unserer Lobbykratie nicht so ganz verstanden zu haben.

 

In der Bundesrepublik ist es meist nicht nötig, finanzielle Interessen mit Hilfe von Bestechungen oderErpressungen durchzusetzen. Statt Banknoten-Bündeln oder schussbereiten Pistolen hält die Wirtschaft eloquente Juristen oder Betriebswirte bereit, die dem zweifelnden Politiker nicht unmittelbare, sondern nachhaltige Belohnungen in Aussicht stellen und ihn so ohne direkte Versuchung oder äußeren Zwang zu seinem und ihrer Auftraggeber Besten überreden. Die Symbiose wurde mittlerweile so verfeinert, dass manchmal die augenblickliche Position nicht sogleich erkennbar ist. Agierte Gerhard Schröder nun als Bundeskanzler, der die Automobilindustrie mochte, oder als Interessenanwalt, der von ihr ins Kanzleramt eingeschleust worden war? Sind viele Bundestagsabgeordnete ihrem Gewissen (dem unbekannten Wesen) verantwortlich, oder sehen sie sich eher als Praktikanten, die nach ein, zwei Legislaturperioden endlich in die höher dotierten Beraterjobs der Wirtschaft wechseln dürfen?

 

Ob Aushebelung des Umweltschutzes, dubiose Bauvorhaben, zweifelhafte Vergaben öffentlicher Aufträge, Proletarisierung der Energiekosten, Zulassung und Verschreibung nutzloser oder gefährlicher Medikamente – an allen Entscheidungsprozessen wirken die eifrigen Initiatoren und Argument-Zulieferer aus den Konzernen erfolgreich mit. Korruption überlassen wir den Sizilianern, wir haben Lobbyisten!

 

12/2013  

 

 

 

 

Partei der V-Leute

 

 

Die Bundesländer bringen einen neuen Verbotsantrag gegen die NPD beim Verfassungsgericht ein, Bundestag und Bundesregierung beteiligen sich nicht daran. Gerade diese beiden höchsten Kontrollinstanzen für die Dienste, die das Grundgesetz eigentlich schützen sollten, sind mit einem ähnlichen, im Jahre 2001 gestellten Antrag vor dem zweiten Senat des obersten deutschen Gerichts gnadenlos gescheitert. Die Begründung der Richter legt nahe, dass es sich nicht nur um „eine Blamage“ handelte, sondern um das Versagen der Kontrolleure. Oder hat sich der Verfassungsschutz inzwischen verselbständigt? Oder spielte seine traditionelle rechte Ausrichtung eine Rolle? Oder wurden aus Schützern gar Anstifter und Täter? Fragen über Fragen...

 

Wer mitmischt, kann nicht klagen!

 

Dass die Regierung und das Parlament sich dem aktuellen Verbotsantrag nicht anschließen, hat ausnahmsweise nicht den Grund in der sonst üblichen Tolerierung extrem nationalistischer Auffassungen, sondern in der Annahme, dass angesichts der Konfusion und de rundurchsichtigen Praktiken im Bundesamt und in den Landesämtern für Verfassungsschutz eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung des Verfahrens offenbar nicht garantiert werden kann: die „Abschaltung“ der V-Leute in den Führungsgremien der NPD.

 

Radikale demokratie- und ausländerfeindliche Parolen, wie sie das tumbe Fußvolk der Nationaldemokratengern skandiert, wären eine unzureichende Verbotsbegründung (lassen sich doch verstreute CSU-Mandatsträger hinsichtlich reaktionären Vokabulars nur ungern rechts überholen), folglich muss der Partei eine verfassungswidrige Programmatik nachgewiesen werden. Um sich „Klarheit“ zu verschaffen, schleusten die Verfassungsschutzbehörden, deren Demokratieverständnis auch nicht gerade über jeden Zweifel erhaben ist, massenhaft V-Leute in die Partei und deren Führungszirkel ein – mit der Konsequenz, dass der dringende Verdacht besteht, die Schützer unserer Grundordnung hätten selbst heftig an der Bombe zu deren Beseitigung mit gebastelt.

 

Im März 2003 stellte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts das zwei Jahre zuvor angestrengte Verbotsverfahren gegen die NPD ein. Vier Richter hatten für die Durchführung gestimmt (sechs wären nötig gewesen), drei Richter erklärten, dass ein nötiges „Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit“ nicht gegeben sei. Einige der Begründungen für das ablehnende Votum sind auch in der aktuellen Situation virulent, weil sie verdeutlichen, dass damals die V-Leute inhaltlich an der Schraube des Extremismus gedreht haben: „Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar.“ An anderer Stelle monierten die Richter, dass es die Helfer der Grundrechtsschützer selbst waren, die nationalsozialistisches Gedankengut verbreiteten: „Die Antragsbegründungen sind auch zweifelsfrei auf Äußerungen von Mitgliedern der Ag (Antragsgegnerin=NPD) gestützt, die als V-Leute für staatliche Behörden tätig sind...“

 

Alle Richter stimmten darin überein, dass von „Staatsfreiheit der Führungsebene der Ag ... keine Rede sein“ könne, auch wenn die Antragssteller betonten, höchstens 15 % des NPD-Leitungspersonals stünden im staatlichen Sold. Anders herum: Jeder sechste bis siebte NPD-Funktionär sonderte – angeleitet von einem Verfassungsschutz-Mitarbeiter („VP-Führer“) braunen Schund ab, plante Hetz-Aktionen – und wurde nach Tarif („Allgemeine Grundsätze zur Bezahlung von V-Personen und Informanten“) dafür honoriert...

 

Klare politische Orientierung

 

Schon die Geschichte des Verfassungsschutzes bietet hinreichend Indizien für die politische Orientierung seiner Mitarbeiter, die man kurz so kennzeichnen könnte: einfaches Weltbild, das eine Observierung linker Aktivitäten aus rechtem Blickwinkel vorsieht. Zwar schneidet der Dienstim Rahmen einer Untersuchung der Nazi-Infiltrierung bundesdeutscher Behörden zwischen 1950 und 1975 gegenüber braunen Tummelplätzenwie dem Auswärtigen Amt, dem Bundeskriminalamt und dem BND relativ gut ab, doch war dies zunächst der Kontrolle durch die Alliierten geschuldet, die den Aufbau einer neuen Gestapo fürchteten. Immerhin waren dann Ende der 1950er Jahre rund 15 Prozent der Beschäftigten, von denen viele als freie Mitarbeiter begonnen hatten, ehemalige NSDAP-Mitglieder.

 

Wie die Hüter des Grundgesetzes wirklich tickten, belegen zwei großkalibrige Beispiele: Der SS-Obersturmbannführer Walter Odewald, der während des Krieges für die Zerstörung des alten Hafenviertels von Marseille und die Deportation von 800 Bewohnern in Konzentrationslager verantwortlich gewesen war, brachte es immerhin zum Leiter der Verfassungsschutz-Niederlassung Hannover. Hubert Schrübbers, der als Richter in der NS-Zeit Unrechtsurteile gefällt hatte,musste erst 1972 nach langjähriger Tätigkeit als Verfassungsschutzpräsident (!) zurücktreten.

 

Doch es sind nicht nur die personellen Altlasten, die den Dienst desavouieren, mittlerweile lassen Ausrichtung und Handlungsweise den Schluss zu, dass sich die Verfassungsschützer im rechten Milieu außerordentlich wohlfühlen. Effektiv waren sie vor allem, wenn es um Berufsverbote und Bespitzelung linker Organisationen ging. Ein sozialistischeroder pazifistischer Bewerber hätte in der Behörde keine Chance gehabt (wobei man unterstellen darf, dass sich auch kaum einer bereitgefunden hätte); bei der Observierung der rechtsradikalen Szene aber leisteten sich die Schlapphüte soviele Pleiten und Pannen, dass man versucht ist, an systematisch geplante (oder systemische) Vorgehensweisen zu denken. Nur ein naiver Mensch, der jede Woche von neuem den Sechser im Lotto ernsthaft erwartet, kann noch glauben, dass es sich im Zusammenhang mit der NSU-Mordserie bei den Aktenvernichtungen, dem Verschweigen von Tatbeständen, den Fehlinformationen, der Bereitstellung von Finanzmitteln, dem Legen falscher Spuren oder dem Untertauchen der Verdächtigen trotz intensiver Überwachung durch V-Leute um nichts weiter als die zufällig aneinandergereihten Glieder einer Kette von Missgeschicken handelt.

  

Fragen eines denkenden Beobachters

 

Das undurchsichtige Agieren des Verfassungsschutzes (VS) innerhalb der NPD und im Umfeld des NSU drängt verschiedene brisante Fragen auf, deren Beantwortungen sich überschneiden oder einander ausschließen können, zumeist aber als beunruhigend bis alarmierend einzustufen sind:

 

-      Stiften die V-Leute-Führer des VS ihre Spitzel dazu an, Straftaten in der rechtsextremen Szene zu decken?

-      Werden V-Leute sogar als Agents provocateurs eingesetztund begehen selbst Straftaten?

-      Oder ist der VS von Neonazis unterwandert, die sich auf der Führungsebene der NPD profilieren und dafür vom Staat alimentieren lassen?

-      Könnte folglich der VS die Strategien rechtsextremer Organisationen mit bestimmen oder zumindest beeinflussen?

-      Warum enthält der VS anderen Behörden belastendes Material vor oder vernichtet dieses (scheinbar) aus Versehen?

-      Stehtder VS überhaupt noch auf dem Boden der Verfassung, die er eigentlich schützen soll (falls er jemals dort gestanden hat)?

 

Schon diese Auszüge aus einem viel umfangreicheren Fragenkatalog lassen vermuten, dass der VS auf die eine oder andere Weise in rechtsextreme Aktivitäten verstrickt ist, es ist nämlich nicht damit zu rechnen, dass die Antworten, wenn sie denn gegeben würden, alle implizierten Bedenken ausräumen könnten. Daraus folgt wiederum die Forderung nach einem konsequenten Schlussstrich.

 

Noch ein Verbot

 

Herauszufinden, ob die Katastrophen (die im schlimmsten Fall Menschenleben gekostet haben) durch Unfähigkeit, Fahrlässigkeit oder klammheimliche Sympathie für demokratiefeindliche Kreise bedingt wurden, ist Sache der (offenbar unfähigen) Kontrollinstanzen (Bundes- und Länderministerien) und der Strafverfolgungsbehörden, das Anliegen der kritischen Öffentlichkeit aber muss es sein, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Ein derart intransparenter, möglicherweise kriminell arbeitender und bestenfalls unnützer Dienst wie der Verfassungsschutz sollte unverzüglich aufgelöst werden.

 

Es gibt Anekdoten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen und zeigen, dass sich Geschichte eben doch – wenn auch als traurige Farce – zu wiederholen droht: Im Jahre 1919 wurde ein V-Mann für die Nachrichten- und Aufklärungsabteilung des Gruppenkommandos des „Übergangsheeres“ angeworben und geschult. Er wurde u. a. beauftragt, eine Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei (später: NSDAP) zu besuchen. Der Mann hieß Adolf Hitler.

  

11/2013

        

                       

 

 

Brave SPD! (I und II)

Erster Teil 

  

Die Führung der Spezialdemokratischen Partei Deutschlands und die staatstragenden Medien konzentrieren unisono ihre Hoffnungen, Befürchtungen und Manipulationspotentiale auf eine sonst eher vernachlässigte Klientel: Die leidgeprüften SPD-Mitglieder sollen sich doch bitteschön bei der Urabstimmung für einen „Koalitionskompromiss“ entscheiden, der den wirtschaftsdevoten Merkel-Kurs mit kosmetischen Sozial-Einsprengseln versieht. Ansonsten dürfte nämlich die karrieristische Führungsriege um Gabriel und Steinmeier (mit Hannelore Kraft in der Nebenrolle als Kurzzeit-Bedenkenträgerin) nicht mitregieren, und die Grünen hätten stattdessen die Möglichkeit, sich an der Seite der Union von ihren letzten Prinzipien zu verabschieden.

 

Kleineres Übel forever

 

Wahl für Wahl haben Millionen sozial denkender Bürger der SPD ihre Stimmen gegeben, nicht weil sie mit grundlegender Veränderung oder ernsthaftem Widerstand gegen den Neoliberalismus rechneten, sondern um vermeintlich Schlimmeres zu verhüten. Erst als die grün-sozialdemokratische Koalition in einem beispiellosen wirtschafts- und sozialpolitischen Amoklauf (der so selbst unter Kohl undenkbar gewesen wäre) mit der Abschaffung der Vermögenssteuer, Hartz IV, Erhöhung des Rentenalters, Stärkung des Zeitarbeit- und Billiglohn-Sektors zeigten, wo die treuen Genossen der Bosse sitzen, begannen sich nicht wenige zu fragen, wie denn angesichts dieses kleineren Übels (als das die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten posiert) ein wirklich großes ausschauen möge.

 

Dennoch feiert das Prinzip des Teufels, den man kennt eine fröhliche Renaissance innerhalb der Mitgliedsbeiträge zahlenden SPD-Gemeinde, die – von einigen Politapparat-Parvenüs abgesehen – mehrheitlich aus redlichen Gewerkschaftern, denen der Durchblick abhanden gekommen ist, verwirrten Altgenossen, die von Brandt, Bebel oder Lasalle träumen, und reichlich masochistischen Jusos besteht. Sigmar Gabriel beschwor die gefürchtete „Basis“ im unheilschwangeren Tenor Beethovens (Motiv: „So klopft das Schicksal an die Pforte!“) und Shakespeares („Sein oder Nichtsein...“), nur ja den lauen Vereinbarungen zuzustimmen, da andernfalls die Zukunft der SPD (die er mit seiner eigenen verwechselt) auf dem Spiel stünde. Bleibt die Frage, warum man überhaupt das Fußvolk votieren lässt, wenn der eigene Vorschlag ohnehin „alternativlos“ (Gabriels Übermutter A. Merkel) ist.

 

Tolle Erfolge

 

Um den trüben Brei, den sie mit angerührt hat, den Mitgliedern, die ihn schlucken müssen, wenigstens schmachhaft erscheinen zu lassen, brüstet sich die SPD-Spitze mit grandiosen Errungenschaften, die sie gegen den schwarzen Feind durchgesetzt habe. Zur Schlacht mit siegreichem Ausgang wird so auch die Spiegelfechterei um den Mindestlohn hochstilisiert. Schon die Höhe ist – perspektivisch gesehen – ein schlechter Scherz. Maximal 1450 Euro brutto (!) bei einer 40-Stunden-Woche reichen weder zu einer einigermaßen gesicherten Lebensführung noch später zu einer angemessenen Rente oder gar zu ergänzenden Rücklagen fürs Alter. Doch keine Angst, das horrende Stundenhonorar soll ja erst 2015 ausgezahlt werden. Für etliche Beschäftigte aber darf es sogar bis Anfang 2017 dauern, ehe sie in den Genuss des Mindestlohns kommen. Und dann sind laut ZEIT-Berechnung die stolzen 8,50 €, da ohne Inflationsausgleich vereinbart, gemessen an der augenblicklichen Kaufkraft nur noch 7,85 € wert (vermutlich noch weniger, da die Inflationsprognose einen Warenkorb mit günstigen Fernreisen oder Geräten der Unterhaltungselektronik vorsieht, die für arme Leute relevanten Preise für Nahrung oder Energie aber viel schneller steigen). Außerdem dürften dann auch die kleinsten Klitschen in der Uckermark diese Entgelthöhe erreicht haben (und das Lohnniveau nun auf dem miesen Level deckeln). Wahrlich ein Pyrrhus-Sieg der einstigen Arbeiterpartei...

 

Von unterhalb des Tisches, über den sie gezogen wurden, tönen die Genossen vorgeblich selbstbewusst, auch die Rente mit 63 bei 45 Beitragsjahren hätten sie durchgesetzt. Allenfalls eine verschwindend kleine Handvoll rüstiger Arbeitnehmer wird ihnen dankbar sein. Denn die Wartezeiten, die bislang zu den Versicherungsjahren zählten, fallen weg oder werden verkürzt angerechnet, und wie viele Erwerbsbiografien mit 45 lückenlos dokumentierten Beitragsjahren gibt es jetzt noch? Und wie wenige wird es in Zukunft geben? Auch die 63 Jahre riechen nach Etikettenschwindel: Dieses Renteneintrittsalter für Langzeit-Beschäftigte gilt nur bis Ende 2014, danach steigt es Jahr für Jahr, bis 2030 wieder das derzeit gültige Alter von 65 erreicht wird.

 

Wiedereinführung der Vermögenssteuer? Bürgerversicherung statt Elendsrente? Disziplinierung der immer zügelloser werdenden Kapitalmärkte? Fehlanzeige. Die SPD war nicht in der Lage, wenigstens ansatzweise die Korrektur der einst von ihr selbst begangenen Fehler durchzusetzen.        

 

Die echte Macht

 

Viele Parteimitglieder fragen sich verwundert, warum die Opportunisten und geborenen Wahlverlierer Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier oder Andrea Nahles (die eine für spezialdemokratische Funktionäre typische Sozialisation vom linken Aufmupf zur rechten Beschwichtigerin in Rekordzeit durchlief) nicht die Option wahrnahmen, der SPD in einer Koalition mit Grünen und Linken die Pfründe und ein größeres Stückchen von der repräsentativen Macht zu sichern. Politische Skrupel scheiden als  Hinderungsgründe aus, da sie längst am Eingang zur Berliner Bühne an der Garderobe abgegeben wurden. Sicherlich spielte es eine Rolle, dass den prominenten Versagern schwante, dass für neue Allianzen auch die Hauptdarsteller hätten ausgewechselt werden müssen; entscheidend aber dürfte die Furcht vor der echten Macht im Lande gewesen sein.

 

Zwar stöhnen die Arbeitgeber-Verbände, Bankiers und Wirtschaftsweisen noch immer reflexartig auf, wenn ein SPD-Politiker soziale Reformen anmahnt, tatsächlich aber hat sich die Partei längst hervorragend mit DAX-Unternehmen, Rüstungskonzernen, Energie-Versorgern oder der Pharma-Industrie arrangiert, wie auch die vielen Lobbyisten-Jobs für Alt-Genossen in diesen Branchen belegen. Es ist zu vermuten, dass die „stillschweigende Duldung“ der Partei (bei deren Wohlverhalten,versteht sich) durch das Finanz- und Produktionskapital zu vorauseilendem Gehorsam geführt hat. Die SPD steht als Wartungsbetrieb der ungehemmten Marktwirtschaft bereit und absorbiert die Unzufriedenheit der kritischeren (und weniger privilegierten) Teile der Bevölkerung, indem sie folgenlos Abhilfe verspricht und Pläne entwickelt. Der traditionelle Begriff Kanalarbeiter für besonders rechte Sozialdemokraten gewinnt so eine neue Bedeutung: Die SPD kanalisiert das politische Unbehagen und den sozialen Protest und verdünnt die brisante Substanz in den riesigen Auffangbecken der "Staatsräson" bis zur Unkenntlichkeit.

 

Mit anderen Worten: Die Wirtschaft braucht ihre SPD so, wie sie jetzt ist, und nicht eingebunden in eine Koalition, die wenigstens ansatzweise Alternativen erwägt. Also droht man den Sozialdemokraten bei üblem Betragen Konsequenzen wie den Abbau und die Verlagerung von Arbeitsplätzen, noch ausgereiftere Steuerflucht, Verlassen des Finanzplatzes Deutschland etc. an, falls sie sich mit linken Schmuddelkindern einlässt. Und die Partei wird kuschen und die übliche Streicheleinheit von Unternehmerhand erhalten: Brave SPD, gutes Kind!

 

 

Zweiter Teil 

  

Im Dezember 2013 verschied nach langem Siechtum die deutsche Sozialdemokratie. Sie wurde von einer überwältigenden Mehrheit der SPD-Mitglieder, die sich an der innerparteilichen Abstimmung beteiligt und entschlossen für systemerhaltenden Opportunismus und gegen inhaltliche Alternativen votiert hatten, zu Grabe getragen.

 

Der große Irrtum

 

Es gab Zeiten, da man der SPD ihre Existenzberechtigung nicht gänzlich absprechen mochte. Zwar hielten ihre Theoretiker von der Gründung an die Verteilung von Gütern und Geld für das entscheidende gesellschaftliche Kriterium und nicht die Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln, doch unterstützte die Partei wenigstens zeitweise Arbeiter bei ihrem Kampf für bessere Entlohnung (und war auch ab und zu für den Weltfrieden). Mit anderen Worten: Von vornherein verwechselten die Sozialdemokraten Ursache und Wirkung, versuchten in der Vergangenheit aber wenigstens, die Folgen der Kapitalkonzentration erträglich zu halten.

 

Damit war es unter Schröder vorbei. Der Genosse der Bosse gestaltete als Bundeskanzler nun die Regeln des Arbeitsmarktes erträglich bis optimal für die Unternehmer, legte den Lohnabhängigen nahe, dass Beschäftigung (auch minimale) an sich bereits einen Wert darstelle und nicht auch noch unbedingt gerechte Bezahlung erfordere, hob das Steuer-Joch von den gebeugten Schultern der Reichen und beseitigte nebenher die üppigen Privilegien der Erwerbslosen, Kleinrentner und Bedürftigen.

 

In der Opposition schlug dann das soziale Gewissen der SPD, und nun wollte sie alles rückgängig machen und versprach radikal Besserung. Doch nahmen ihr das die Wähler nicht so recht ab; also ließ sie sich – willig – von einem Mann in die Koalition mit der CDU/CSU locken, der minimale Zugeständnisse, die Frau Merkel nichts kosten, als gigantische Verhandlungserfolge verkauft, beredt aber zur Festschreibung unsozialer Strukturen schweigt, einem Vertretertyp, der einen Schrottplatz zum Gebrauchtwagen-Salon hochredet.

 

Posten und Position

 

In der „erneuerten“ Spezialdemokratischen Partei Deutschlands geht es nämlich längst nicht mehr um (inhaltliche) Positionen, sondern um lukrative Posten und Pöstchen, die zur Klientel-Bedienung genutzt werden können – und Kundschaft wie Auftraggeber rekrutiert die SPD seit geraumer Zeit nicht mehr aus der Masse der Habenichtse, sondern aus der edlen Wirtschaftselite.

 

Sechs Minister darf die einstige Arbeiterpartei im Koalitionskabinett stellen. Sigmar Gabriel, der übrigens im Leitungsgremium des ausgewiesen rechten Seeheimer Kreises sitzt, wird Ressortchef für Wirtschaft und Energie. Das passt zu ihm: Während im Finanzministerium die wirklich wichtigen Entscheidungen über Einzug und Verteilung von Steuergeldern fallen, ist der Wirtschaftsminister traditionell eher ein Pausenclown, der die Konzerne bei Laune halten und vor Produktionsbeschränkungen (etwa zugunsten der Umwelt) schützen soll. Zudem versucht er eifrig, in anderen Ländern ein gutes Klima zu schaffen, damit deutsche Unternehmer Rüstungs- und Pharmaerzeugnisse oder sonstigen Tand dorthin verkaufen können. Dass Gabriel auch noch für Energie zuständig wird, bedeutet mit ziemlicher Sicherheit, dass bald wieder die Kohlenrauchschwaden übers Land wabern dürften.

 

Frank-Walter Steinmeierist ist eine adäquate Besetzung für das Außenressort. Schon als Chef im Bundeskanzleramt unter Schröder ließ er sich von den US-Geheimdiensten davon überzeugen, dass es für sie und uns nur vorteilhaft sein kann, wenn sie alles über uns unsichere Kantonisten wissen (und wir nichts über sie). Washington kennt ihn also als Bundesgenossen, mit dem man durch Dick und Dünn gehen kann, sogar in einen völkerrechtswidrigen Krieg (Serbien). Daneben trug Steinmeier in der Schröder-Regierung alles mit, was Ungerechtigkeit zementierte (Abschaffung der Vermögenssteuer, Hartz IV etc.) und wogegen er sich später in der Opposition Lippenbekenntnisse abrang. Wahrlich eine Personalie, die den Neuanfang der SPD so richtig glaubwürdig macht...

 

Noch ein Wort zum neuen Fraktionsvorsitzenden der SPD im Bundestag: Thomas Oppermann war ein ganz Wilder. Wie hat der im Sommer den Pofalla und den Friedrich in der Snowden-Affäre bloßgestellt und vor sich her getrieben! Von den USA hat er ultimativ Aufklärung und Rechtstaatlichkeit gefordert. Und mit sinnbildlich erhobenem Zeigefinger drohte er auf seiner Website: „Wie bei jedem anderen Asylantrag auch, ist zu prüfen, ob Edward Snowden politisch verfolgt wird.“ Vor der Wahl ist nicht nach der Wahl. Im November erklärte Oppermann kleinlaut: „Wir sollten Edward Snowden nicht einladen, wenn wir seine Sicherheit nicht garantieren können. ... Und es geht drittens darum, das deutsch-amerikanische Verhältnis nicht zu ruinieren. Von einem nationalen Alleingang Deutschlands rate ich ab.“ Das nenne ich ein der neuen braven SPD angemessenes Statement!

    

Wiederauferstehung? Untote!

 

Auferstanden aus Ruinen macht sich die SPD daran, wieder ein Stückchen von dem zu verwalten, was sie für die Macht hält. Ein kurzer Check der Inhalte und des Personals aber ergibt, dass die Totengräber von einst lediglich zu Geburtshelfern von heute ernannt wurden.

 

So wie es sich bei der Behauptung, die SPD habe sich bei den Koalitionsverhandlungen weitgehend gegen die Union durchgesetzt, um ein frommes Märchen handelt, so geht es auch bei der Reanimierung der einen oder anderen Parteileiche nicht um die biblische Wandlung vom Saulus zum Paulus, sondern um bloßes Stühlerücken, sozusagen die karrieristische „Reise nach Jerusalem“. Die SPD hat nicht mehr die Kraft, sich politisch neu zu erfinden (und das wäre nötig gewesen).

 

Um in der mythologisch-religiösen Terminologie zu bleiben: Lassen wir uns nicht täuschen,wenn wir die altbekannten Protagonisten der SPD in neuem Gewande beobachten: Das sind nicht vom Tode Wiederauferstandene, das sind Untote, politische Zombies!

 

 12/2013    

  

 

 

Rechter Vormarsch

 

In zahlreichen europäischen Staaten sind rechtsradikale Parteien auf dem Vormarsch, im EU-Parlament wollen sie ein länder-übergreifendes Bündnis eingehen, in der Schweiz und in Norwegen greifen sie nach der Macht. In Deutschland hingegen müssen sich die nationalistischen Gruppierungen mit den billigen Plätzen im Polit-Theater begnügen. Also alles in Butter hierzulande – oder ein gefährlicher deutscher Sonderweg?

 

Salonfähige Populisten

 

Auch in der deutschen Presse macht man sich langsam Sorgen: In Frankreich kehre der Rassismus zurück (als sei er jemals fortgewesen), rechtsradikale Parteien würden in einigen Staaten salonfähig, ausgerechnet für die EU-Wahlen sei eine aussichtsreiche Allianz nationalistischer, europafeindlicher Kräfte zu befürchten. Warum die Populisten und Rassisten im Aufwind sind, welche „angesehenen“ Parteien durch politische Versäumnisse ihren Vormarsch begünstigten und sich sogar von ihnen in den Regierungssattel hieven ließen, wird ebenso wenig untersucht wie der Einfluss des radikalen Chauvinismus hierzulande, wo er (scheinbar) parlamentarisch unbedeutend, in seiner Mobilisierung dafür umso gefährlicher ist.

 

Als Jean-Marie Le Pen, ein geifernder Antisemit, in Frankreich den Front National (FN) mit derben Parolen und Methoden führte, konnte man seine Wähler (bis zu 12,6 Prozent landesweit) noch als Ewig-Gestrige, zu kurz gekommene Kleinbürger abtun. Seine Tochter Marine, mittlerweile FN-Chefin, enthält sich jeder offen rassistischen Rhetorik und überzeugt Mitbürger in allen Schichten mit elegant rabulistischen Argumenten davon, dass man die Grenzen besser wieder schließe und der Migranten-Besatz in den Vororten der großen Städte abzubauen sei. Schließlich könnten sich die (weißen) Franzosen nicht mehr als Herren im eigenen Hause fühlen. Marine Le Pen traut man zu, dass sie den FN bei den Wahlen zum EU-Parlament zur in der Relation stärksten Partei macht. Und sie wird in Brüssel und Straßburg dann nicht ohne Bündnispartner sein.

 

Der Niederländer Geert Wilders, vielleicht der eloquenteste Rattenfänger der europäischen Nationalisten, dessen Partei für die Freiheit Moslems gern mit Islamisten gleichsetzt und damit bei furchtsamen Seelen punktet, möchte eine starke länderübergreifende Fraktion der Rechtsextremen gründen und hat deshalb seine Liebe zu Marine Le Pen entdeckt. Zum Bundesgenossen für das neue Traumpaar der Xenophobie eignet sich der österreichische FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache, einst übrigens mit dem Südtirol-Terroristen Nobert Burger befreundet, bestens. Auch die Schwedendemokraten mit ihrer Abstammung von lupenreinen Neonazis, die Separatisten des nordbelgischen Vlaams Belang, der die wallonischen Brüder und Schwestern loswerden will, und der Lega Nord, die eine Reinhaltung des lombardischen Herrenmenschentums von süditalienischen Elementen fordert, verstärken die saubere Schicksalsgemeinschaft. In der zunehmend von Rechtsradikalen unterwanderten Alternative für Deutschland befürworten ebenfalls nicht wenige Aktivisten die Mitgliedschaft in einer ultrarechten Fraktion nach dem (wahrscheinlichen) Einzug ins Europa-Parlament.

 

Ein kurzer Blick auf zwei Staaten außerhalb der EU: In der biederen Schweiz stieg ebenso diskret, wie früher Diktatoren-Gelder eingesammelt und verwaltet wurden, eine rechtsradikale Gruppierung zur stärksten Partei auf. Die Schweizerische Volkspartei hetzt nicht nur gegen Minarette, Flüchtlinge und Arbeitnehmer aus anderen Staaten, sie denunziert mittlerweile auch behinderte Menschen als „Sozial-Rentner“. Seit wenigen Wochen regiert in Norwegen die extremistische Fortschrittspartei mit, in deren Jugendorganisation sich einst Anders Breivik, der 2011 bei einem Attentat in Oslo und einem Massaker auf einer Ferieninsel 77 Menschen umbrachte, erste politische Anregungen holte.

 

Ziehväter und Steigbügelhalter

 

Die Ultra-Nationalisten treiben durch ihre Erfolge die etablierten Parteien vor sich her. Auch derenVokabular wird fremdenfeindlicher und intoleranter, dabei haben sie die durch soziale Diskriminierung und ökonomische Ausgrenzung bedingte Integrationsunlust von Jugendlichen mit Migranten-Hintergrund und den unreflektierten Unmut breiter Bevölkerungsschichten selbst zu verantworten. Was wurde gegen Ghettoisierung und Verslumung der banlieues in Frankreich unternommen, welche Schulkonzepte wurden entwickelt, um die Bildungs- und Berufschancen junger Immigranten zu erhöhen?

 

Wenn die deutsche Presse genüsslich darüber berichtet, dass die Regierung Hollande in Paris sich lächerlich macht, wenn sie ein gut integriertes Roma-Mädchen samt Familie ausweisen lässt, vergisst sie, dass sie ähnliche Themen ständig in der eigenen Umgebung aufgreifen könnte – nur dass die Bundesregierung sich nicht einmal bemüßigt fühlt, selbst bei solchen „Lappalien“ tätig zu werden oder sie auch nur zu kommentieren.

 

Die Hauptschuld an der neuen „Gesellschaftsfähigkeit“ rechter Extremisten aber tragen konservative und liberale Parteien, die sich ihrer bedienen, um an die Macht zu gelangen oder an ihr zu bleiben: Das bürgerliche Kabinett in Den Haag ließ sich – nicht ohne Gegenleistungen zu erbringen – von Geert Wilders tolerieren, in Italien koalierte der reaktionäre Clown Berlusconi mit der Lega Nord, die eigentlich mit Rom nichts zu tun haben wollte, und die vergreiste Österreichische Volkspartei bildete mit der FPÖ eine Regierung. Aus den Steigbügelhaltern sind mittlerweile Jäger geworden.

 

Insel der Seligen?

 

Glückliches Deutschland, das keine rechtsradikalen Parteien von einigem Belang kennt, könnte man denken. Weit gefehlt. Jenes Unwohlsein angesichts intransparenter Politik- und Finanzpraktiken, gepaart mit der Angst um die eigene soziale Zukunft und der Furcht vor Gefahren für Gut und Leben, die sich so trefflich in Fremdenhass kanalisieren lässt, hat nicht nur in anderen europäischen Staaten den Nationalisten Wähler und Anhänger zugetrieben, es befällt auch einen Großteil der Bevölkerung hierzulande, nur wird es anders therapiert: In Deutschland absorbierten früh die „Volksparteien“ die Denkschwachen mit den ausländerfeindlichen Parolen, für die erklärten rechtsradikalen Gruppierungenwie NPD, Republikaner oder DVU blieben – von temporären regionalen oder kommunalen Erfolgen abgesehen – nur die versprengten Fanatiker am äußersten Chauvi-Rand.

 

Abwehr oder Abschiebung von Flüchtlingen, verbale Diskriminierung von Minderheiten, Verweigerung integrativer Politik, Hohn und Spott für die Nöte der Südeuropäer – all das gehört längst zum Repertoire der Union, die ja die „Oberhoheit über den Stammtischen“ (Stoiber) behaupten muss, ist aber auch für etliche Ortsvereine der SPD kein fremdes Gedankengut. Zwar verzeichnete im erzgebirgischen Schneeberg die NPD einen „Achtungserfolg“, als sie zu einem Protestmarsch gegen ein Asylbewerberheim aufrief und Tausende von Bürgern Folge leisteten, doch wird die Mehrheit dieser „Empörten“ auch bei der nächsten Wahl für eine der großen Parteien stimmen. „Wir sind das Volk!“ skandierte die aufgeputschte Menge. Und ich fürchte, sie lag damit nicht völlig daneben.

 

Wenn „seriöse“ Politiker im Bestreben, rechtsradikalen Parteien das Wasser abzugraben, deren Argumente in geschliffene Form bringen, entsteht ein gesamtgesellschaftliches Klima, in dem sich irgendwann der Furor der Neonazis entlädt, auch wenn er nicht mehrheitsfähig ist. So haben wir im Gegensatz zu anderen Staaten in Deutschland offiziell keine große extremistische Bewegung in der Rechtsaußen-Position, dafür verzeichnete dieses Land eine von politischer Ignoranz, geheimdienstlicher Hilfestellung und polizeilicher Unfähigkeit begleitete Mordserie mit ausländerfeindlichem Hintergrund, wie sie in Europa bislang einzigartig ist. Woher hatte der NSU nur seine perversen Ideen?

   

11/2013                     

 

          

Die „Asyl-Experten“

 

Während ihre Granden nocheifrig verhandeln, um eine Große Koalition unionistischer Ignoranz mit sozialdemokratischer Feigheit auf die wackligen Beinchen zu stellen, haben die ausgewiesenen Parteien der Reaktion und Regression unisono wenigstens in einem Punkt Klarheit geschaffen: Politische Verfolgung gibt es de facto nicht, und deshalb ist die Gewährung politischen Asyls in Deutschland obsolet – und diplomatisch sowieso inopportun.   

 

Da hat der letzte Aufrechte der Grünen, Hans Christian Ströbele, nach seinem Moskau-Besuch bei Edward Snowden noch einmal das Menschenrecht auf eine sichere Bleibe in Deutschland für den Mann eingefordert, dem wir es verdanken, dass wir endlich ahnen, was und wie viel andere von uns wissen, und schon steht ihm eine Phalanx von Interpreten und Experten des Asylrechts aus den staatstragenden Parteien mit unschlagbaren Argumenten gegenüber.

 

Gut, die Kanzlerin gibt sich noch etwas geschmäcklerisch, wenn sie die dpa wissen lässt, dass sie von Asyl für den Ex-Geheimdienstler wenig hält – der scheint halt nicht ihr Typ zu sein. Wesentlich konkreter wird da ihr Innenminister Hans-Peter Friedrich. Der Mann, von dem wir inzwischen wissen, dass er nichts weiß, erklärt, dass Asyl für Snowden nicht in Frage kommt, denn von dem weiß er ganz sicher: „Er ist kein politisch Verfolgter...“ (Die US-Administration möchte wahrscheinlich seiner nur habhaft werden, um ihm den fatalen Hang zum Klatsch auszutreiben und einen geringfügigen Daten-Taschendiebstahl nachsichtig zu ahnden.) Denn, so Friedrich: „... er hat dies unter bewusster Missachtung der strafrechtlichen Tatbestände dieses Landes getan.“

 

Was Herrn Friedrich entgangen zu sein scheint: Fast jeder politische Flüchtling hat irgendwie ein von wenig demokratischen Regimes implementiertes Strafrecht missachtet, etwa indem er illegal über eine Grenze gegangen ist, unerlaubte Flugschriften verteilte oder laut gedacht hat, als das Landesgesetz ihm Schweigen befahl. Auch scheint der bayerische NSA-Experte nichts von der auch hierzulande anerkannten Notstandssituation zu wissen, die den Zeugen eines Verbrechens dazu zwingt, bestimmten Paragraphen zuwiderzuhandeln, um ein höherwertiges (in diesem Fall sogar weltweites) Rechtsgut zu schützen und Schlimmeres zu verhüten.

 

Dass der im Gewirr der Geheimdienste recht orientierungslose Minister von Seehofers Gnaden bei seiner apodiktischen Definition, wer kein politischer Flüchtling sei, einer Entscheidung der eigentlich zuständigen Richter vorgreift, ficht ihn nicht weiter an, erhält er doch massive argumentative Unterstützung aus der Spezialdemokratischen Partei Deutschlands. „Innenexperte“ Thomas Oppermann lehnt Asyl für Snowden ebenfalls kategorisch ab, da „die Partnerschaft mit den USA nicht gefährdet“ werden dürfe. EinFlüchtling darf demzufolge nicht die (zugegebenermaßen etwas intrigante) Liebesbeziehung zwischen Berlin und Washington gefährden. Selbstverständlich gilt dies auch für Hilfesuchende, die aus Staaten zu uns kommen, zu denen wir ausgezeichnete Wirtschaftskontakte unterhalten, oder aus solchen, die wir mit Waffen beliefern – also fast alle veritablen Diktaturen rund um den Globus.

 

Lässt man diese „Argumente“ Revue passieren, rechnet ihre Auswirkungen auf künftige Verfahren hoch und zieht die ohnehin ständig restriktiver werdende Anerkennungspraxis durch das Bundesamt ins Kalkül, könnte man schlussfolgern, dass sich das leidige Problem demnächst von selbst gelöst haben dürfte. Oder im schlichteren Deutsch unserer „Experten“: Politische Flüchtlinge gibt es nicht, weil die ja irgendwie alle Kriminelle sind und darüberhinaus unsere weltweiten Partnerschaften stören; folglich braucht es auch kein Asylrecht mehr.

 

11/2013      

 

 

 

Die FIFA lässt sterben

 

Dass der Fußball-Weltverband FIFA weitgehend von intriganten, schmierenden und bestechlichen Funktionären dominiert wird, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen. Dass sich der größte internationale Sportbund schwertäte, eine Weltmeisterschaft in einem politisch unbelasteten Land zu veranstalten (wenn er es denn wollte), ist der traurigen Tatsache geschuldet, dass es auf dem Globus kaum noch einen weißen Fleck gibt, der frei von Menschenrechtsverletzungen geblieben ist. Neu aber ist, dass die FIFA durch ihre WM-Vergabe für 2022 nach Katar erst die Voraussetzungen für Misshandlungen von Arbeitern bis hin zu deren Tod geschaffen hat.

 

Der Brasilianer João Havelange, Diktatoren-Freund und der millionenschweren Vorteilsannahme überführt, hatte bis 1998 in Präsidentenfunktion der FIFA ein rigides System aus Korruption und Günstlingswirtschaft übergestülpt, das von dem Schweizer Sepp Blatter in seinen vier Amtszeiten seitdem perfektioniert wurde. So währte folgerichtig auch das Lächeln über die Bewerbung des kleinen Wüstenstaates Katar für die Ausrichtung der WM 2022 nicht allzu lange. Das Emirat war zwar nur 113. der FIFA-Weltrangliste, hatte noch nie an einer Endrunde teilgenommen und verfügte weder über die sportliche Infrastruktur noch die Zuschauer-Massen, die ein solches Großereignis erst telegen machen – aber Katar saß auf Öl-Milliarden und wusste diese geschickt einzusetzen. Die Araber kauften einfach die Stimmen von afrikanischen, ozeanischen und lateinamerikanischen Funktionären des 24-köpfigen Exekutiv-Komitees. Sie sicherten sich sogar das Votum von Frankreichs Platini, dessen Sohn anschließend zufällig in den Vorstand von Quatar Sport Investment berufen wurde. Und so durften sie schließlich die kickende Jugend der Welt in die Wüste rufen.

 

Der wackere Eidgenosse Blatter gab all dem seinen Segen, obwohl man damals schon hätte bedenken können, dass in einem Feudalstaat, in dem „Gastarbeiter“ immer schon wie Leibeigene behandelt wurden, die übliche Terminhatz beim Bau von Stadien, Trainingsplätzen, Unterkünften oder Häfen das Leben der dringend benötigten Hilfskräfte aus armen Staaten zur Hölle machen würde. Zwar sinnierte man öffentlich über die extremen klimatischen Verhältnisse, doch nur, weil man sich Sorgen um die hochbezahlten und -versicherten Fußball-Stars machte. Um ihretwillen erwog man (und erwägt es noch), das WM-Turnier erstmals in die Wintermonate zu verlegen.

 

Es war der (immer unersetzlicher werdende) britische Guardian, der zuerst berichtete, dass allein in neun Sommerwochen dieses Jahres 44 zumeist aus Nepal und Indien stammende Arbeiter durch Herzversagen oder Unfälle auf den Baustellen, kurz: aufgrund unmenschlicher Beschäftigungsbedingungen, ums Leben gekommen waren. Nun warnte auch die Internationale Arbeitsorganisation ILO davor, dass bis zur Fertigstellung der Sportstätten die Zahl der Opfer wegen der „Sklavenhalter-Konditionen“ in die Tausende gehen könne. Einer der reichsten Staaten der Erde beute einen der ärmsten aus, hieß es angesichts der Flucht von 30 verzweifelten,  gänzlich rechtlosen Nepalesen in die Botschaft ihres Landes.

 

Immerhin war der DFB gegen die WM-Ausrichtung in Katar. Spät, sehr spät kündigte der deutsche FIFA-Funktionär Theo Zwanziger ein Treffen mit Menschenrechtsorganisationen an, und Dortmunds Vereinspräsident Rauball sprach gar von einem „sklavenähnlichen System“. In seiner Rede auf dem DFB-Bundestag in Nürnberg ging der Chef des Verbandes, Wolfgang Niersbach, nach dem Verweis auf den „engen Schulterschluss mit dem DGB“ bei der Aufklärung der Vorfälle in Katar dann zu den wirklich wichtigen Dingen des Lebens, den Spielplänen der internationalen Spitzen-Ligen, über: „Wenn wirklich ein neuer Termin im Winter gefunden werden muss, ... wären die Auswirkungen auf der ganzen Welt zu spüren.

 

Würde ein solcher Appell nicht folgenlos bleiben, müsste man den Fußball-Stars, von denen nicht wenige aus armen Verhältnissen stammen, zurufen: Bleibt Katar fern! Und der nicht reformierbaren FIFA möchte man raten: Löst euch auf! 

 

10/2013    

 

 

  

Merkel-Lohn

 
Schon seit geraumer Zeit erklären kritische Geister, im modernen Kapitalismus fungiere die Politik als Reparatur-Werkstatt sowie Wach- und Schließgesellschaft der Wirtschaft. Insofern ist die ganze Aufregung über läppische 690.000 €, die von der Familie Quandt (Großaktionärs-Sippe bei BMW) an die fürsorgliche CDU als Spende überwiesen wurden, völlig überflüssig: Frau Merkel hat sich das Geld redlich verdient!

 

Eine gute Reparatur-Werkstatt greift immer dann ein, wenn einem Kunden Pannen, Bedienungsfehler oder Unfälle passiert sind. Durch fahrlässige Engstirnigkeit bekamen die Automobil-Konzerne hierzulande nicht mit, dass in Deutschland, Europa und der Welt der Trend zum schadstoffarmen und energiesparenden Individualverkehr geht. Seite an Seite verschliefen sie die Entwicklung von Modellen mit geringem Benzin-Verbrauch, Elektro- oder Hybridantrieb, was die ausländische Konkurrenz skrupellos ausnutzte.

 

BMW, Daimler und Audi setzten weiter auf das Renommier-Image ihrer Protz- und Prunkboliden (Motto: Größer! Stärker! Dreckiger!), als sich plötzlich die EU als brutale Spaßbremse gerieren wollte und eine rigide Senkung der erlaubten CO2-Emissionen ab 2020 ankündigte – gut für die Umwelt, schlecht für das deutsche PS-Establishment. Dieses geriet prompt in Panik, liegt es doch in Sachen Öko-Technologie ein paar Jahre zurück; doch immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt aus Berlin ein Lichtlein her: in Gestalt von Mutter Merkels PKW-Werkstatt.

 

Einst war die rührige Frau Merkel Umweltministerin gewesen und hatte ganz Europa ausgeschimpft, weil es nicht genug für reine Luft tue, ganz im Gegensatz zu Klassenprimus Deutschland. Jetzt verhindert sie als umsichtige KFZ-Meisterin schon im Vorfeld wegen Kurzsichtigkeit drohende Pannen und Pleiten, indem sie ihren Stift Altmaier vorschickt, der den anderen Länder zu bedenken gibt,  eine saubere Umwelt sei schon wünschenswert, aber doch nicht sofort. Und schon ist der Emissions-Geiz weitgehend vom Tisch. Sind für Mutter Merkels selbstlosen Einsatz lumpige 700.000 € denn zu viel? Was glauben Sie denn, was Schröder in Rechnung gestellt hätte?

 

10/2013

 

 

EU-Verbrechen

  

Ein bis dato unbescholtener Bürger hört ein schwaches Klopfen an seiner Haustür. Als er öffnet, findet er einen auf der Schwelle liegenden Fremden vor, der offensichtlich mit dem Tod ringt. Der Bürger schließt die Tür wieder und überlässt den Sterbenden seinem Schicksal. Damit verstößt er gegen geltendes Recht und die Gebote der Menschlichkeit, aber er hat seine Argumente: Ich will keine Fremden in meinem Haus. Ich habe den Mann nicht eingeladen, und an seinem Zustand bin ich auch nicht schuld. So wie unser Bürger handelt derzeit die gesamte Europäische Union, doch die Empörung darüber hält sich in engen Grenzen, obwohl die Begründungen für die unterlassene Hilfeleistung fadenscheinig bis falsch sind.

  

Schuld? Welche Schuld?

  

In seltener Eintracht waschen die Politiker der mächtigsten EU-Staaten ihre Hände in Unschuld, wenn nach den Ursachen der Elendsflucht aus Afrika und dem Nahen Osten gefragt wird. Der Kolonialismus sei schließlich schon lange Geschichte und könne nicht für jede Hungersnot oder jedes Versagen der Regimes südlich des Mittelmeers verantwortlich gemacht werden. Obwohl diese Argumentation Tatbestände außer Acht lässt, deren Folgen bis in die Gegenwart reichen, etwa die Unterbrechung aller kulturellen Entwicklungen, die zwangsweise Implementierung ungeeigneter Wirtschaftsformen oder willkürliche Grenzziehungen, liegt auch ein Fünkchen Berechtigung darin: Nicht jede ökologische, politische oder ökonomische Katastrophe der Jetztzeit in der Dritten Welt lässt sich auf die Ära der Herrenmenschen zurückführen, doch kann man sicher sein, dass die potenten Staaten des Westens auch am aktuellen Verhängnis mit stricken.

  

Da werden arme Länder in Asien um die eigenen Bodenschätze betrogen, nach Afrika werden aus der EU minderwertiges Hühnerfleisch oder wässrige Tomaten exportiert und die heimischen Erzeuger mittels Dumping-Preisen en passant ruiniert. Durch Einfuhr-Sanktionen, Schutzzölle sowie Subventionen für die eigenen Bauern wird der „freie“ Handel nach Gutsherrenart geregelt (dazu auch „Herren des Landes“ unter selber Rubrik).

 

Die Regierungen und Parlamente der EU, deren Ziele die politische Einigung und kulturelle Verständigung in Europa hätten sein sollen, ähneln längst einem Haufen von der Wirtschaft getriebener Lobbyisten, die untereinander mit harten Bandagen konkurrieren und sich lediglich auf eine Fördermaßnahme für die kontinentalen Multis verständigen konnten: die Vergabe der Lizenz zur hemmungslosen Ausplünderung der Dritten Welt. Wehe dem Staat, der per Entwicklungshilfe aus der EU dem Elend gegensteuern will! Er wird bald merken, dass er sich mit den Almosen neue Grundherren, Markt-Monopolisten und Zins-Wucherer ins Land geholt hat. Als Büttel fungiert der Internationale Währungsfonds, der streng darauf achtet, dass Lebensmittel nicht subventioniert werden, dass ein Land seine Ressourcen und Herzstücke privatisiert und ja nicht zu viel Geld für Bildung und den Aufbau von Sozialstrukturen ausgibt. Dass die kleinen Gewerbebetriebe, die Agrar-Kooperativen und Dorfläden dabei auf der Strecke bleiben, wird in den europäischen Konzernzentralen durchaus positiv gesehen: Was nicht mehr produziert und in Eigenregie vertrieben werden kann, muss eingeführt und fremden Handelskonzernen verdealt werden.

 

Dass sich die EU nicht nur bei der Ausbeutung und Entmündigung der Länder im Süden die Hände schmutzig macht, sondern auch für den neben Armut und Perspektivlosigkeit wichtigsten Auslöser der gegenwärtigen „Flüchtlingswelle“ zumindest mitverantwortlich ist, wird deutlich, wenn man die skrupellose Außenpolitik in Berlin, Paris oder London unter die Lupe nimmt.

 

Die Achse des Bösen

  

Als der damalige US-Präsident George W. Bush 2002 plante, den Nahen und Mittleren Osten mit Krieg zu überziehen, schwadronierte er gern von einer „Achse des Bösen“, die von den finsteren Schurken in Nordkorea, Irak und Iran gebildet würde. Um bei dem metaphysisch wabernden Begriff zu bleiben: Eine solche Achse des Bösen könnt man auch gegenwärtig wieder am Werk vermuten, nur das die Koordinatenpunkte jetzt in Brüssel, Doha und Riad zu suchen wären.

  

In den arabischen und afrikanischen Ländern gibt es derzeit wohl keinen bewaffneten Konflikt, in den Saudi-Arabien nicht auf die eine oder andere Weise involviert wäre. Dieser fanatischste Gottesstaat auf Erden – um eine Brecht̉̉ sche Metapher zu bemühen: der noch fruchtbare Schoß, aus dem Al Qaida kroch – unterstützt, finanziert und bewaffnet Islamisten, intrigiert gegen laizistische Regimes und schmiedet Allianzen gegen jeden gesellschaftlichen Fortschritt, gern auch im Einklang mit EU und Nato.

  

Dieses Land, in dem dir weibliche Hälfte der Bevölkerung rechtlos ist, verfügt über die weltweit ergiebigsten Erdöl-Reserven, und seine Elite wird wegen ihrer Investitionsmacht und Kaufkraft im Westen hofiert. Die Prinzen und Wesire der anachronistischen Monarchie in Riad, werden von den demokratischen Staaten Europas als „strategische Verbündete“ betrachtet, weil sie häufig im Konsens mit Brüssel und Washington die „richtigen“ Schurken unterstützen. Wenn sie mit Entourage in London oder Paris einfliegen, werden sie überschwänglich begrüßt – ganz im Gegensatz zu ihren Opfern. Mit Freuden verkaufen ihnen die Europäer, allen voran die Deutschen, die modernsten Waffen; dass die Panzer oder Geschütze auch gegen das eigene Volk oder in einem Angriffskrieg eingesetzt werden könnten, wird dabei wohl als Kollateral-Risiko billigend in Kauf genommen.

  

Im Schatten des großen Bruders in Riad schmiedete auch der Emir von Katar ehrgeizige Pläne, um den Nahen Osten in ein Theater der islamisch-politischen Reaktion in modernistischem Gewande umzufunktionieren, in dem er Regie führen konnte. Sein Verhältnis zu Demokratie, Menschlichkeit und Sozialstaat illustrieren am treffendsten die Schicksale Hunderter indischer und nepalesischer Arbeiter, die auf den Baustellen der Fußball-WM 2022 ihr Leben ließen, sowie Tausender philippinischer und thailändischer Hausangestellter, die de facto in Sklaverei leben. Die kürzliche Inthronisierung seines Sohnes Tamin nach dynastischen Grundsätzen, die profane Kritiker nicht kapieren, wird kaum etwas an der unmenschlichen Ausbeutung und der aggressiven Außenpolitik ändern. 

  

Wer mit den Saudis und mit Katar kooperiert, sollte das Wort „Menschenrechte“ nicht mehr in den Mund nehmen dürfen und ist mit Sicherheit nicht dazu qualifiziert, irgendwo im Süden Strukturen vorzuschlagen, die eine Flucht vor Elend oder Krieg überflüssig machen könnten.

  

Menschenverachtung 

 

Es sind nicht die sizilianischen Fischer oder die leidgeplagten Bewohner des Inselchens Lampedusa, die permanent gegen internationales Recht und das Gebot der Hilfeleistung in höchster Not verstoßen. Es ist der italienische Staat, der Flüchtlinge wie Legehennen zusammenpferchen lässt und der bis heute das Berlusconi-Gesetz, demzufolge eben jene Fischer wegen Beihilfe zur illegalen Immigration vor Gericht gestellt werden können, wenn sie schiffbrüchige boat-people retten, noch nicht aufgehoben hat. Dabei ist es durchaus nicht so, dass die Regierung in Rom den Flüchtlingen keinen Respekt erweist, vorausgesetzt sie sind tot. Nach der (vorerst) letzten großen Katastrophe vor Lampedusa ordnete sie für die 362 Ertrunkenen, die aus dem Meer geborgen werden konnten,  ein Staatsbegräbnis an. Die 155 Überlebenden indes wurden wegen Verletzung der Einreisebestimmungen angeklagt...

  

Und es ist die Fortex, die  multi-nationale Einsatztruppe zur Sicherung der EU-Außengrenzen, die Flüchtlinge auf hoher See abdrängt, obwohl das internationale Recht die Möglichkeit, Asyl-Anträge zu stellen, und die Pflicht zur Einzelfall-Prüfung vorsieht. Durch die engmaschigen Patrouillen auf den gängigen Routen sehen sich zudem die verzweifelten Emigranten gezwungen, immer gefährlichere Wege übers Meer einzuschlagen. Bis heute hat übrigens die Fortex von den Innenministern dieser sozial-darwinistischen Union noch kein explizites Mandat zur Lebensrettung erhalten. Und schon installiert die EU ein weiteres (letztendlich nutzloses) Grenzkontrollsystem, „Eurosur“, an dem vor allem Rüstungskonzerne aus Deutschland oder mit deutscher Beteiligung wie EADS und Carl Zeiss Optronics gewaltig verdienen.  

  

Und es ist diese gesamte saubere Gemeinschaft, die alle Verantwortung auf ein paar Länder mit wegen kurzer Überfahrtswege prekären Küsten (Italien, Malta, Spanien) oder zum Transit geeigneten Landwegen (Griechenland) abwälzt, weil die mächtigsten Regierungen in der Dublin II-Verordnung dekretierten, dass Asyl ausschließlich im ersten EU-Staat, dessen Hoheitsgebiet betreten wurde, beantragt werden kann (und dessen Behörden auch gleich für die dauerhafte Beherbergung zuständig sind). Da für Immigranten der Luftweg wegen hoher Kosten und strenger Kontrollen weitgehend ausgeschlossen ist, hat Deutschland angesichts seiner unmittelbaren Nachbarn gute Karten; sind doch politische Flüchtlinge aus der Schweiz eher selten.

  

Die deutsche Amnesie

  

Doch der bundesdeutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich, der in der NSA-Affäre noch wie ein Simpel wirkte, dem man abnahm, dass er von nichts eine Ahnung hatte, pflegt in der Aufarbeitung der „Flüchtlingskatastrophe“ sein Faible für vorsätzliche Tatsachenverdrehung – und darüber hinaus das Image des durch und durch hässlichen Deutschen. Es sei ihm „völlig unbegreiflich“, wieso von der Bundesrepublik ein stärkerer Einsatz für Flüchtlinge gefordert würde, erklärte er bei einem Treffen der EU-Innenminister, als er nach der Lampedusa-Katastrophe von besorgten Kollegen zum Handeln aufgefordert wurde. Sein Land nehme in Europa die meisten Flüchtlinge auf – eine rabulistische Behauptung, da Deutschland im Verhältnis zur Bevölkerungszahl allenfalls im Mittelfeld der „Gastgeber“ liegt.

  

Kein Wort davon, dass es sich bei den verzweifelten Gestrandeten auf Lampedusa, Malta oder auf den Kanaren nicht um „aufgenommene Flüchtlinge“ handelt, sondern um angeschwemmte Massen, „Illegale“, in Deutschland nicht zu registrierende Immigranten außerhalb des offiziellen Zähl-Schemas.

  

Die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reichs hat mehr Leichen im Keller als andere Länder. Sie verdankt ihren raschen kulturellen und wirtschaftlichen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt der Bereitschaft anderer Staaten, die vor Hitler geflohenen Repräsentanten der jüdischen, linken und bürgerlichen Intelligenz aufzunehmen und so ihr Leben zu retten. Und dieses Land leistet sich heute einen Innenminister, der, ungerührt vom schlechten Gewissen, das einige seiner Kollegen angesichts von Zehntausenden im Mittelmeer Ertrunkener befallen zu haben scheint, in einer Mischung aus Ignoranz und Selbstgefälligkeit behauptet, es gebe „keinerlei Handlungsbedarf“.

  

Stattdessen hat Friedrich einen weiteren Schauplatz für seinen Kampf gegen die Aufnahme von Flüchtlingen eröffnet. Er zwang die Balkan-Staaten Serbien und Mazedonien, die nicht der EU angehören, aber wirtschaftlich von ihr abhängig sind, dem „Asylmissbrauch“ durch Bürger ihrer Länder gegenzusteuern. Gehorsam verabschiedeten die beiden südosteuropäischen Regierungen Gesetze, durch die den ohnehin schon drangsalierten und in Elend gehaltenen Roma faktisch die Ausreise untersagt wurde. Ein paar von ihnen hatten in den letzten Jahren (vergeblich wie 99 Prozent aller Flüchtlinge) Asyl in Deutschland beantragt.

 

Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding nannte Friedrichs Legenden vom „massenhaften Asylmissbrauch“ kurz und bündig „Bierzeltaussagen“. Schwerer wiegt die Aussage des ehemaligen Menschenrechtskommissars des Europarats, Thomas Hammarberg, das Vorgehen gegen die Roma verstieße gegen den Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.“

 

Ein deutscher Minister als Anstifter zum Menschenrechtsbruch...

 

10/2013 

 

 

 

Regio-Chauvinismus

  

Zweifellos verdankt die Europäische Union ihre Existenz vor allem wirtschaftlichen Interessen. Zu den angenehmen Nebenprodukten, die bei ihrer Gründung durch die ökonomisch und politisch Mächtigen für die Völker abfielen, gehörten aber immerhin bequemeres Reisen, intensivierter kultureller Austausch, die Förderung benachteiligter Gegenden und die Aussicht auf dauerhaften Frieden im einbezogenen Teil des Kontinents. Mittlerweile aber stilisieren immer mehr Regionen ihre charakteristischen Merkmale wie eigene Sprache oder autonome geschichtliche Entwicklung zu ethnischen Identitäten hoch und stellen in einigen Fällen sogar ihre Zugehörigkeit zum jeweiligen EU-Staat in Frage. Handelt es sich bei diesem Phänomen um berechtigtes Freiheitsstreben oder anachronistischen Miniatur-Nationalismus? Wer schürt die Entwicklung und wer will von ihr profitieren?

  

Beispiel Spanien

  

Der lange Schatten Francos liegt immer noch über der iberischen Halbinsel, und fast scheint es, als wolle sich das Gespenst des Caudillo an seinen Nachfolgern dafür rächen, dass sie die faschistisch-zentralistischen „Errungenschaften“ zumindest teilweise rückgängig gemacht haben. Die Falangisten setzten nach dem Bürgerkrieg alles daran, die kulturelle Eigenständigkeit der Katalanen und Basken zu brechen, weil diese besonders erbittert gegen Francos Truppen und für die (spanische!) Republik gekämpft hatten. Etliche repressive Maßnahmen von damals wurden in den letzten Jahrzehnten revidiert, die autonomen comunidades an der Biskaya und südlich der Pyrenäen geben die Steuern ihrer Bürger weitgehend unabhängig (und nicht immer sinnvoll) aus, und die unter Franco verbotene katalanische Sprache ist in den öffentlichen Medien gegenüber dem alltäglichen Gebrauch sogar überrepräsentiert; zwar existieren weiterhin Ungerechtigkeiten und die konservative PP-Regierung machte mit Hilfe des botmäßigen Verfassungsgerichts einige Zugeständnisse des sozialdemokratischen Vorgänger-Kabinetts rückgängig, doch gebärden sich die Separatisten beider Regionen, als gelte es immer noch, den von den Faschisten betriebenen Untergang der Kultur und vollständigen Verlust der Identität mit allen Mitteln zu bekämpfen.

  

Die Katalanen sind stolz auf ihren Widerstand gegen Franco, auf ihre Leistungen in Kunst und Wirtschaft, manche auch auf die anarchistische Tradition vor allem in Barcelona. Mitunter treibt das übersteigerte Selbstbewusstsein allerdings seltsame Blüten: etwa, wenn einem Landsmann aus Kastilien oder einem ausländischen Touristen, der stolz auf seine schütteren Spanisch-Kenntnisse ist, in einer Bank bedeutet wird, man spreche hier nur Katalanisch. Und das, obwohl bei einer statistischen Erhebung 2008 nur ein knappes Drittel der Bevölkerung der Autonomen Gemeinschaft das Katalanische als Muttersprache angab, während 55 Prozent das kastilische Spanisch als das Idiom, mit dem sie aufgewachsen waren, bezeichneten.

  

Als 2007 ein wenig unvorsichtig Katalonien als „Gastland“ der Frankfurter Buchmesse ausgerufen wurde, blieben mit Ausnahme von Jaume Cabré die wichtigsten und bekanntesten Autoren der Region wie Goytisolo, Mendoza, Zafón und Marsé zu Hause. Sie alle schreiben in spanischer Sprache und wollten sich wohl auch nicht vor den Propaganda-Karren der katalanischen Nationalisten spannen lassen.

  

Weg von den armen Verwandten!

  

Es ist nicht zu leugnen, dass viele Menschen in Katalonien die staatliche Unabhängigkeit ihrer Gemeinschaft (comunidad) anstreben, obwohl diese wie Galicien, das Baskenland und Navarra über ein ansehnliches Autonomie-Statut verfügt und ihre Kompetenzen 2006 noch erweitert wurden. Fast drei Millionen Demonstranten bildeten vor kurzem eine Menschenkette, wobei sie in ihre separatistischen Forderungen auch den französischen Teil Kataloniens mit einbezogen. Warum aber diese Sehnsucht nach Kleinstaaterei? Sprache und Kultur sind längst nicht mehr gefährdet, über die Verwendung eines Großteils des Steueraufkommens entscheiden die Politiker in Barcelona, sogar die Polizei wurde „katalanisiert“. Es geht also vor allem um die Privilegien einer Wohlstandsregion, die nicht für die armen Verwandten im Süden aufkommen will.

  

Was Bayerns Horst Seehofer in vergleichsweise milder Hybris praktiziert, wenn er den Länderfinanzausgleich revidieren möchte, haben das konservative Parteienbündnis CiU und die Linksnationalisten (eine Kombination eigentlich einander ausschließender Begrifflichkeiten) in Katalonien zur Sezessionsstrategie entwickelt. Und nicht selten nehmen die Ressentiments den Südspaniern gegenüber rassistische Züge an. So wurde mir von Katalanen erklärt, man lehne den Zuzug von Andalusiern ab, da diese „faul und korrupt seien – und eine dunklere Hautfarbe hätten“.Pech nur, dass auf der letzten von „El Pais“ veröffentlichten „Korruptions-Landkarte“ Katalonien mit seinen zur Selbstbedienung neigenden Politikern weit vor den „Südstaaten“ Andalusien, Kastilien-La Mancha oder der Extremadura lag. Und den Herrenmenschen in Barcelona sei die Lektüre des „Vergrabenen Spiegels“ von Carlos Fuentes empfohlen, in dem der Autor nachweist, dass die Wurzeln der neuzeitlichen Bevölkerungsgruppen und ihrer Sprachen in Spanien von Keltiberern, Goten, Juden und Mauren gleichermaßen geprägt wurden.

  

Die Forderung, das zentralistische PP-Regime in Madrid durch eine durchweg föderalistische Regierung zu ersetzen, macht Sinn, in der heutigen Zeit aber einen Staat aus regional-egoistischen Gründen in Klein-Republiken zu zerstückeln, brächte nur eine Mehrung von Bürokratie, Lobbyismus, Konkurrenzdenken und nationalistischen Vorurteilen mit sich. Ein Land ist eine Solidargemeinschaft (auch wenn diese durch Besitz- und Machtverhältnisse behindert wird), kein Ressort für Besserverdienende. Spanien ohne die Katalanen, die Basken und die Galicier (aber die werden sich vor Sezession hüten, weil sie selber arm sind) wäre eine kulturell und ökonomisch verarmte Nation (mit ein paar isolierten Duodez-Republiken außenrum).

  

Europäische Absetzbewegungen

  

Was in Spanien die Einheit eines Landes bedroht, lässt sich auch anderswo in Europa beobachten. So bildete die französischsprachige Wallonie in der Vergangenheit mit ihren Eisenerz- und Kohlevorkommen und ihren Produktionszentren das industrielle Rückgrat Belgiens. Seit der Kohlekrise und dem Niedergang der Fabrikation dort wollen viele Flamen in den wohlhabenden Handels- und Hafenstädten nichts mehr mit ihrem früher so dringendst benötigten Hinterland zu schaffen haben. Die offen rassistische Separatistenpartei Vlaams Belang treibt dabei die konservativen Bürgergruppierungen in Antwerpen oder Brügge zu immer deutlicherer Distanzierung von den proletarischen Habenichtsen in Lüttich oder Charleroi.

  

Etwas entspannter agiert die Scottish National Party, die im Parlament von Edinburgh über die absolute Mehrheit verfügt. In einem Referendum wird sie im Herbst 2014 über die „volle Unabhängigkeit“ abstimmen lassen, wobei im Erfolgsfall eine monarchische und soziale Union mit dem Vereinigten Königreich (Staatsoberhaupt weiterhin Elizabeth II.) entstünde. Auch hier geht es nur ums Geld: um die Steuern und vor allem die Einnahmen aus der Förderung des Nordsee-Öls. Inhaltliche Gründe würden die Schotten auch kaum finden. Sie sprechen – von einigen Hebriden-Bewohnern abgesehen – alle Englisch untereinander, stellten bereits britische Premierminister und Oppositionsführer, und als sie ihre Souveränität endgültig verloren, geschah dies nicht im Kampf um die Freiheit, sondern um die Hegemonie auf der Insel. Als der letzte Stuart, Prinz Charles Edward (in Folk-Songs als „Bonnie Prince Charlie“ verklärt), 1746 mit seinen Highlander-Clans auf dem Moor von Culloden den englischen Truppen unterlag, hatte er nicht die Unabhängigkeit Schottlands im Sinn gehabt, sondern die britische Krone in London.

  

Selbst in Südtirol rühren sich, inspiriert durch die ausländerfeindliche Lega Nord, die vor allem in der Lombardei gegen die „faulen“ Süditalierner und gegen Rom mobilisiert, auch wieder die Südtiroler „Nationalisten“. Sie negieren die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, den wirtschaftlichen Erfolg einer Region, der vor allem durch den gesamtitalienisch finanzierten Aufbau einer beispielhaften Infrastruktur im Land an Eisack und Etsch begünstigt wurde. Südtirol verfügt heute über einen öffentlichen Nahverkehr, von dem die Bewohner ländlicher Gegenden in Deutschland nur träumen können, ein ausgebautes Straßennetz, moderne Produktionsstätten in und um Bozen sowie die malerischsten und am sorgfältigsten restaurierten Städte im Alpenraum (Brixen, Klausen etc.). Die Menschen wissen dies auch im Alltagsleben zu schätzen. Selbst ältere Südtiroler Bergdörfler, die früher alles „Welsche“ ablehnten, begrüßen sich heute mit Buon giorno! und Ciao!, und wo einst Selchkaree mit Sauerkraut als kulinarischer Höhepunkt galt, werden heute Lamm, Steinpilze oder Kastanien als Grundlagen der bodenständigen Küche mit süditalienischen Kräutern verfeinert und zu Polenta serviert: Während die Politik noch stritt, näherten sich zwei Varianten von Lebensart einander latent an.

  

Wenn Separatisten jetzt wieder die Loslösung von Rom fordern, bleiben sie die Antwort auf die Frage schuldig, ob Südtirol ohne die Investitionen durch den italienischen Staat eine der reichsten Regionen Europas geworden wäre – oder vielleicht das ärmste Bundesland Österreichs. Aber zu Austria wollten die Vorläufer der Bewegung, die „Mastenbomber“ der 60er und 70er Jahre, ohnehin nie. Diese Rechtsradikalen, die enge Kontakte zu vorbestraften deutschen Neonazis wie Ekkehard Weil (und zumindest mittelbar auch zum Nürnberger Wehrsportgruppe-Chef Karl-Heinz Hoffmann) unterhielten, sahen Südtirol als Teil „Reichsdeutschlands“.

  

Kleinkarierte Mini-Staatler

 

Es soll hier keineswegs einer Europäischen Union der Konzerne, Großbauern und Banken das Wort geredet werden. Etliche Initiativen, die sich die Wahrung der Rechte von Minderheiten und die Implementierung wirklich föderaler Strukturen zum Ziel gesetzt haben, sind zu unterstützen; kritisch aber wird es, wenn unter dem Slogan „Unabhängigkeit“ egoistische Interessen einer regionalen Wirtschaftselite unter Ausschluss ärmerer Teile eines Landes durchgesetzt werden sollen.

 

Als Speerspitze der Kleinstaaterei fungieren nicht selten Blut-und-Boden-Aktivisten, die Ressentiments gegen die anderen schüren und die Konvergenz unterschiedlicher Gemeinschaften blockieren, um ihr braunes Süppchen am Köcheln zu halten. In den erwähnten Staaten wird derzeit keine Kultur unterdrückt, keine ansässige Ethnie (bei Armutsflüchtlingen aus der Dritten Welt sieht das etwas anderes aus) verfolgt, es ist keine Sprache verboten. Dass dennoch Probleme existieren, belegt die immer noch labile Situation im Baskenland. Es ist aber nicht anzunehmen, dass kleinkarierte Mini-Staatler, die sich künftig mitten in Europa vielleicht über die Grenzziehung oder die Wasserrechte streiten, diese besser lösen könnten als die heterogen zusammengesetzte Bevölkerung eines gewachsenen Landes.  

 

 

10/2013
 

          

 

 

Business à la Jesus

 

Beschäftigungspolitik im Zeichen des Kreuzes

 

Die beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik beklagen zwar Mitgliederschwund, schließen und verkaufen Gotteshäuser, doch auf dem Gebiet der sozialen, medizinischen wie beruflichen Rehabilitation oder der Benachteiligten- und Behindertenarbeit verfügen sie in vielen Regionen durch ihre Geschäftsableger Caritas, Diakonie, Katholische Jugendhilfe etc. über ein Quasi-Monopol als Arbeitgeber im Sozialbereich. Und da einige archaische, längst überholte Gesetzesregelungen den frommen Einrichtungen ein Arbeitsrecht nach Gutsherrenart zugesteht, gnade Gott ihren Beschäftigten!

  

Normalität als Erfolg

  

Die Zeitung „Publik“ der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vermeldete es als großen Erfolg. Erstmals werden die niedersächsische Diakonie, ver.di und der Marburger Bund miteinander Tarifverträge für die 30.000 Beschäftigten des evangelischen Arbeitgebers im sozialen Bereich abschließen. Die Diakonie muss nun bis April 2014 das kirchliche Arbeitsrecht ändern und einen Arbeitgeberverband für ihre Einrichtungen gründen. Damit wird das Prinzip der „Dienstgemeinschaft im christlichen Auftrag“ ausgehebelt, das – aus altvorderen Zeiten stammend – den Kirchen die Funktion eines Staats im Staate und den weitgehend wehrlosen Beschäftigten Ausbeutung im Namen Jesu garantierte.

  

Im Artikel 140 des Grundgesetzes wurden nämlich rechtliche Bestimmungen aus dem Jahre 1919 (kurz nach der kriegsbedingten Abwicklung des Junker- und Rüstungsindustriellen-Imperiums also) bestätigt, dem zufolge die Kirchen in einem teilweise zivilrechtsfreien Raum agieren können. Katholische und lutherische Arbeitgeber unterliegen beispielsweise nicht dem Betriebsverfassungsgesetz, was dazu führt, dass den Vorgesetzten kein Betriebsrat, sondern nur eine in ihren Befugnissen kastrierte Mitarbeitervertretung (MAV) auf die Finger schaut. Streikrecht und Mitbestimmung sind ebenfalls Fremdwörter in den religiösen Einrichtungen.

  

Dabei gerieren sich die Geschäftsführer und Vorstandmitglieder (seien sie geistlicher Profession oder gottesfürchtige Laien) der kirchlichen Profitcenter wie die weltlichen Pendants der „freien“ Wirtschaft. Sie verpflichten und feuern, geben Zeitverträge aus, bestreiten Machtkämpfe untereinander und senken die Lohnkosten (ohne Kontrolle und Widerstand durch Arbeitnehmervertreter). Im Auftreten, vor allem was Kleidung, Arroganz und Business-Denglisch angeht, erinnern sie eher an Investment-Banker denn an sozialen Ideen verpflichtete Personalverantwortliche.

  

Tricks und Finten

  

Diese selbst durchaus nicht schlecht verdienenden Führungskräfte verfallen auf allerlei Tricks, um ihre (eigentlich gewinnfreien) gemeinnützigen GmbHs auf Profit-Kurs zu trimmen. So wurde den Mitarbeitern einer bayerischen Einrichtung mitgeteilt, es werde in Zukunft kein Urlaubsgeld mehr ausbezahlt, um Rückstände für (utopische) Neueinstellungen aufzubauen. Als die Agentur für Arbeit als Financier der Reha-Leistungen Wind davon bekam, drohte sie, die Tageskostensätze, in die ja die Lohnnebenleistungen eingerechnet werden, entsprechend zu kürzen. Die Einrichtungsleitung dementierte flugs ihre Ankündigung und forderte stattdessen die Mitarbeiter per Rundschreiben auf, das Urlaubsgeld „freiwillig“ zu spenden. Welcher Kollege mit befristetem Arbeitsvertrag (und Hoffnung auf Verlängerung) oder in der Probezeit vermochte sich solch demütigem Bitten mit dem Zaunpfahl zu verschließen?

  

Im Norden der Republik rühmte sich der Leiter einer Reha-Einrichtung im Kollegenkreis, er habe die Besoldung seiner Angestellten um 20 Prozent unter die übliche AVR (kirchliche Lohnrichtlinien) gedrückt.

  

Zugleich fallen häufig gerade die gläubigen Sozialmanager durch Unregelmäßigkeiten im Geschäftsgebaren oder nicht erbrachte (aber abgerechnete) Leistungen auf, wenn Steuerprüfer oder Kontrolleure der Kostenträger auf den Plan treten.

  

Natürlich trägt am erzkapitalistischen Geschäftsmodell und der sinnfreien Reklame-Mentalität kirchlicher Einrichtungen auch der Gesetzgeber ein gerüttelt Maß an Mitschuld. Im Konkurrenz- und Ausschreibungswahn der Sozialministerien und der Arbeitsagentur wurde auf eine Überprüfung der Effizienz und Nachhaltigkeit sozialer Arbeit durch Fachleute zugunsten einer knalligen Selbstdarstellung der konkurrierenden Maßnahme-Bewerber in Sachen „schneller, billiger, lauter“ verzichtet. Zudem wirken zarte, mit Vitamin B getränkte Bande zwischen Staatsstellen und Maßnahme-Anbietern weit in das Vergabesystem hinein.

  

Problem „Tendenzbetrieb“

  

Die Rechtsprechung der 50er Jahre bekräftigte das umstrittene Dogma, dem zufolge Betriebe, die nicht in erster Linie Geld verdienen wollen, sondern politische oder erzieherische Ziele verfolgen, von bestimmten Pflichten zu entbinden seien – auch wenn diese etwa den grundgesetzlichen Anspruch der Gleichbehandlung bzw. Nichtdiskriminierung sicherstellen sollten.

  

Es ist vielleicht noch verständlich, wenn die CDU/CSU keine der SPD angehörende Fraktionssekretärin einstellen muss, da diese ja Interna weitergeben könnte (was eigentlich auch belanglos wäre, da die Sozialdemokraten ihre rechten Gegner mittlerweile auch so fast perfekt imitieren). Bei den Kirchen, deren Einrichtungen ebenfalls unter den Begriff „Tendenzbetriebe“ fallen, wird es da schon problematischer.

  

„Positive Einstellung zu christlichen Werten“ wird euphemistisch als Voraussetzung in Stellenangeboten gefordert. Naive Bewerber mögen nun (inhaltlich nicht unzutreffend) für sich in Anspruch nehmen, mit der Bergpredigt und den wenigen weiteren friedlichen Sequenzen in der Bibel hätten sie kein Problem – es nützt nichts, denn die beiden Großsekten in Deutschland wollen schlicht nur den Nachweis der Mitgliedschaft in der katholischen oder der evangelischen Kirche – Qualität und Motivation für Sozialarbeit spielen keine Rolle (was den Kostenträgern endlich zu denken geben sollte).

  

Erziehern oder Sozialpädagogen, die konfessionslos sind und in bestimmten Gegenden in Sozialeinrichtungen anheuern wollen, bleibt oft nur der Kircheneintritt, da sonst 70 bis 100 Prozent der Stellen für sie unzugänglich wären. Landläufig nennt man so etwas Heuchelei, aber im organisierten Christentum (wie in anderen Religionen) zählt Heuchelei eben zum Handwerk.

  

Vorwand Kirchensteuer

  

Nun verlautet immer wieder aus gewöhnlich fehlinformierenden Kreisen, die Reservierung der Jobs für Rechtgläubige sei schon deshalb legitim, weil ja die sozialen Einrichtungen beider Konfessionen teilweise mit den Einnahmen aus der Kirchensteuer betrieben würden. Dies ist schlichtweg falsch. Die Kirchensteuer fließt in kultische Projekte und Beschaffungen, die Rehabilitationsarbeit aber wird zu hundert Prozent von Kostenträgern wie der Arbeitsagentur refinanziert. Und deren Gelder stammen letztendlich aus Steuereinnahmen und Sozialabgaben – auch der Atheisten oder der Muslims, die in einigen besonders frommen Einrichtungen nicht einmal als Reinigungskräfte arbeiten dürfen.

  

Die einen werden als Arbeitnehmer knapp bei Kasse und weitgehend unmündig gehalten, die anderen müssen – ungeachtet ihrer fachlichen Qualifikation und menschlichen Eignung – draußen bleiben. Es ist zu hoffen, dass der Tarifabschluss in Niedersachsen eine neue Zeit einläutet, in der die unter dem Kreuz Tätigen nicht ständig daran erinnert werden, dass dieses christliche Ur-Symbol im Grunde nichts anderes als ein Folterinstrument ist.

 

07/2013 

 

 

 

Das „System Bayern“ (Iund II)

 

Erster Teil 

  

„Bayern ist schön, seine Landschaften sind typisch...“ So begann einst ein Werbespot, der das Panorama eines Freistaats pries, der den jüngsten Meldungen zufolge eher zum Panoptikum verkommt.

 

Krawall-Chroniken

  

Da betreibt die Gattin des CSU-Fraktionsvorsitzenden Georg Schmid eine  Firma, die so geisterhaft wirkt, dass bereits von Scheinselbständigkeit die Rede ist. Die Schreibarbeiten dieses anonymen Betriebs sind dem Fraktionschef mehr als 5000 € im Monat wert, berappt selbstverständlich vom Steuerzahler. Dass es sich bei dem Vorgang angesichts früherer Verfehlungen Schmids eher um das Vergeuden von Peanuts handelte, werden wir später noch beleuchten. Dennoch musste Schmid zurücktreten (wir haben ja Wahljahr), ebenso wie Parteikollege Georg Winter, der seine minderjährigen Söhne beschäftigte, also praktisch mit sich selbst als Erziehungsberechtigtem Arbeitsverträge für seine nur teilweise geschäftsfähigen Kinder abschloss und deren Taschengeld folglich von der Allgemeinheit zahlen ließ. Mittlerweile ist ruchbar geworden, dass auch das halbe Kabinett in München geeignete Mitarbeiter nur in der eigenen Sippschaft finden konnte.

  

Dann gibt es das Oberlandesgericht München, das der Welt wieder einmal deutlich gemacht hat, dass in Bayern die Uhren anders gehen, egal welche Zeitrechnung überall sonst gilt. Einen größeren Saal für den NSU-Prozess, mithin eines der wichtigsten Strafverfahren der letzten Jahrzehnte? Haben wir nicht. Die nach Meinung von Rechtsexperten statthafte TV-Übertragung in einen Nebenraum? Wollen wir nicht. Türkische Journalisten als Beobachter aus dem Land, das die meisten Mordopfer zu beklagen hatte? Brauchen wir nicht. (Man stelle sich vor, was in hierzulande los gewesen wäre, wenn die türkische Justiz beim Prozesse wegen angeblicher Vergewaltigung einer britischen Minderjährigen gegen den deutschen Jugendlichen Marco keine BRD-Medien zugelassen hätte). Zwar zwang das Bundesverfassungsgericht die Münchner Richter zumindest zur teilweisen Korrektur ihrer selbstherrlichen Anordnungen, doch stellte sich jetzt heraus, dass man im OLG offenbar sogar unfähig zur korrekten Durchführung einer schlichten Tombola ist.

 

Über Uli Hoeneß, den Propagandisten der Weißen Weste, dessen schmutzige Unterwäsche plötzlich sichtbar wurde, ist genug geschrieben worden; interessant aber zu beobachten, wie rasant die Unionspolitiker, die sich einst im Glanz seiner Erfolge beim FC Bayern sonnten, aus der Nähe des Delinquenten flüchten. 

 

Die Strauß-Kultur

 

Sicherlich gibt es auch in anderen Bundesländern genügend Beispiele von Korruption, Durchstechereien und Ignoranz, doch nirgendwo haben Unverschämtheit, Skrupellosigkeit und Hybris eine so lange und ehrwürdige Tradition wie in Bayern. Verbunden ist die weit in die Vergangenheit zurückreichende Adelslinie politischer Paten natürlich eng mit dem Namen der Familie Strauß. Ob Vibag-, Onkel Aloys- oder Schützenpanzer-Affäre, stets war Franz-Josef S. in Person Drahtzieher oder Mittäter. Erst über die Spiegel-Affäre stolperte er und musste als Verteidigungsminister zurücktreten. Doch die Resozialisierung von politischen Übeltätern folgt löblichen pädagogischen Ansätzen: Fördern statt strafen! Und so konnte FJS bayerischer Ministerpräsident und sogar Kanzlerkandidat der Union werden. Von der Justiz wurde er nie zur Verantwortung gezogen.

 

Auch sein Weggefährte Friedrich („Old Schwurhand“) Zimmermann, der in der Spielbanken-Affäre einen Meineid ablegte, kam in den Genuss einer gelungenen Wiedereingliederung in die feine Gesellschaft. Seine Bewährungsstrafe von vier Monaten wurde aufgehoben, weil er während der feierlichen Lüge unter Drüsenüberfunktion und Unterzuckerung gelitten hatte. Zum Glück schritt die Genesung rasch voran, und am Ende einer steilen Karriere war Zimmermann als Bundesinnenminister für die Wahrung von Recht und Ordnung verantwortlich. Es folgten Größen wie der Pleitier Gerold Tandler als CSU-Generalsekretär und der Amigo-Ministerpräsident Max Streibl.

  

Härtere Zeiten

  

In den schönen alten Tagen, als die CSU uneingeschränkt die „Oberhoheit über den Stammtischen“ (Stoiber) besaß, schlugen sich gestandene Mannbilder noch auf die Schenkel bei solcher Schlitzohrigkeit und intonierten bewundernd ihr Mantra: „Hund san`s scho!“ Aber die Zeiten ändern sich, die Sitten zwar nicht, doch die Reaktionen fallen schärfer aus. So musste sogar die Familie Strauß erfahren, dass gewisse Vergehen nicht statthaft sind, wenn sie öffentlich bekannt und für die Partei peinlich werden.

 

Dass der stets etwas tumb wirkende FJS-Sohn Max 2004 wegen Beihilfe zum Anlagebetrug zu 300.000 € Strafe verurteilt wurde, war noch zu verschmerzen, weil er nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte. Gravierender wirkten sich da die Verfehlungen der Tochter aus. Monika Hohlmeier, Kultusministerin und oberbayerische Bezirksvorsitzende ihrer Partei, musste von ihren Ämtern zurücktreten, weil sie in der Münchner CSU-Affäre des Stimmenkaufs und der Fälschung von Aufnahmeanträgen bezichtigt wurde. Zudem hatte sie als Ministerin Spezerln Karrieren ermöglicht und ein Schulzentrum gegen den damaligen Spartrend im Bildungswesen mit Millionen begünstigt, in dem zufällig gerade ihr Ehemann stellvertretender Direktor geworden war. Ganz die Tochter des großen FJS, trat Monika Hohlmeier mit Gepolter von der Bühne ab und drohte ihren Münchner Parteifreunden, sie habe über jeden von ihnen ein Dossier (dessen Beschaffung angesichts der üblichen CSU-Machenschaften kein großes Problem gewesen sein dürfte). Es wurde still um die FJS-Tochter, doch das System Bayern gibt jedem, der rechten Sinnes (d. h. in der CSU) ist, eine fünfte Chance. Den empörten Oberfranken wurde Monika Hohlmeier 2009 als Spitzenkandidatin für die Europawahl aufgedrückt. Und wenn sie nicht gestorben ist, sitzt sie noch heute gut versorgt in Brüssel.

 

Auch für andere CSU-Granden wurde das Klima langsam rauer. So saßen u. a. Günther Beckstein, Erwin Huber und Georg Schmid (Da war er wieder und blieb uns noch eine Weile erhalten!) im Vorstand der Landesbank Bayern, als diese still und gemütlich zehn Milliarden € an Verbindlichkeiten aufhäufte, deren Tilgung zur Rettung des Geldinstituts generös der bayerische Steuerzahler übernahm. Das Glanzstück verantwortungsvoller Bankenpolitik aber gelang den erwähnten Politikern mit dem Kauf der Anteilsmehrheit an der Kärtner Hypo Alpe Adria für 1,6 Milliarden (als Einfädler und Nutznießer agierte damals der rechtsradikale Antisemit Jörg Haider). Gut zwei Jahre später verkaufte man die Anteile zum „symbolischen“ Preis von 1 (in Worten: einem) Euro an die Republik Österreich.

 

Der nach Chefstotterer Stoiber installierten Doppelspitze Beckstein und Huber (die immer an das Komiker-Paar Dick und Doof erinnerte, nur dass  unglücklicherweise beide Protagonisten um die Rolle des Stan Laurel kämpften) bekamen die finanztechnischen Finessen gar nicht gut. Zum ersten Mal seit langem glaubten mehr als 50 Prozent der bayerischen Wähler nicht, dass alles nur zu ihrem Besten geschehe, und die CSU verlor die absolute Mehrheit. Doch da nahte die Rettung aus den Donauniederungen Ingolstadts: Horst Seehofer, der Mann mit den markigen Worten und den windelweichen Taten, wurde Ministerpräsident.

 

Der Wackelpudding aus Ingolstadt 

 

Seehofer, einst als Bundesgesundheitsminister Darling der Pharma-Industrie, ist ein Opportunist mit dem Wahlspruch „Wie soll ich wissen, wofür ich stehe, wenn ich noch nicht gehört, was ich heute erzähle?“ Nach dem ersten Abgang aus Berlin, einer Herzerkrankung und der Niederlage gegen Beckstein im Rennen um die Stoiber-Nachfolge zog er sich schmollend aus der großen Politik aus, übernahm die Leitung des VdK Bayern und erklärte, sein ganzes künftiges Streben in den Dienst dieses mächtigen Sozialverbandes zu stellen. Doch schon sieben Monate später ließ er die Behinderten und ihre Angehörigen, die Hoffnungen in ihn und seinen Bekanntheitsgrad gesetzt hatten, im Stich, weil er jetzt Verbraucher-Minister in Berlin werden durfte, bis ihn München endlich rief.

 

Der Mensch gewordene Wackelpudding Seehofer war strenger Befürworter der Studiengebühren, bis das Volk dagegen aufbegehrte. Nun mutierte er zum obersten Abschaffer. Gegen die völlige Gleichstellung homosexueller Ehegemeinschaften führte er den heiligen Schutz der Familie an, aus dem er sich selbst für einen folgenschweren Seitensprung begeben hatte. Seinen Finanzminister Markus Söder nannte er „von Ehrgeiz zerfressen“ und bescheinigte ihm „charakterliche Schwächen“ (schon richtig, aber wie kommt ausgerechnet der Horst darauf?), andererseits ließ er ihn die Karriereleiter etliche Sprossen hinauf stolpern. Gegen den Länderfinanzausgleich klagt er vor dem Bundesverfassungsgericht, obwohl der doch von CSU-Ministerpräsident Stoiber mit ausgehandelt worden war und unser Horst ihm 2001 selbst im Bundestag zugestimmt hatte. Die Begriffe „Integration“ und „Inklusion“ führt der fürsorgliche Landesvater stets im Munde, verschweigt dabei aber, dass bei der Beschäftigung behinderter Menschen die bayerischen Behörden bundesweit zu den Schlusslichtern gehören. Und dass die Inklusion im Freistaat ein Muster ohne Wert ist, können die Leiter der Modellschulen bestätigen, die vergeblich auf zusätzliche Lehrkräfte und Mittel warten. Hauptsache, man kann nach außen damit protzen...

 

Zwar hat Seehofer in materiellem Sinn bislang weiße Hände behalten, d. h. die finanziellen Vorteilsnahmen so vieler anderer CSU-Größen vermieden, doch inhaltlich ist der Mann eine Katastrophe, hängt er doch das Mäntelchen in jeden Wind, und sei es der leiseste populistische Furz.

  

Zweiter Teil 

  

Bayern, das noch bis 1986 als Geldempfänger am Tropf des Länderfinanzausgleichs (den es jetzt in Frage stellt) hing, ist inzwischen ein vergleichbar wohlhabendes Bundesland. Diesen Status verdankt der Freistaat aber nicht der Politik, wie die CSU suggerieren will, sondern natürlichen und teilweise dubiosen „Standortvorteilen“, die höchst unterschiedlich über die Fläche verteilt sind.

 

Bauern-Millionäre und Bussi-Gesellschaft

  

Als in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Tourismus aufzublühen begann, wurde die Schönheit der bayerischen Landschaften, allen voran des Voralpenlandes, zu veritablem Kapital. Mancher Grundbesitzer am Tegernsee oder im Allgäu legte sich als armer Nebenerwerbsbauer schlafen, um als Millionär wieder aufzuwachen. Zugleich zog die Metropole München mit ihrer oberflächlichen, aber heiteren Bussi-Gesellschaft Konzernverwaltungen, Dienstleister, Mode- und Lifestyle-Designer u. ä. an. Als besonderer Standortvorteil aber erwiesen sich die laxe Steuerfahndung und die allgegenwärtige Vetternwirtschaft, die Investoren lästige Genehmigungen und Prüfungen ersparten, wenn sie nur die richtigen Leute kannten.

  

Der Wohlstand war und ist im Freistaat allerdings keineswegs gleichmäßig verteilt. Während im Süden, vor allem im Speckgürtel Münchens, die Häuslebauer immer schickere Villen hinstellten, schufteten die Steinbrecher in der Oberpfalz ohne Tarifvertrag, Betriebsrat und Gewerkschaft noch vor einigen Jahren unter Bedingungen, die an die Dritte Welt erinnerten. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern berücksichtigt Bayern bei der Vergabe öffentlicher Arbeiten die Einhaltung fairer Beschäftigungsverträge durch die Auftragsnehmer weiterhin nicht. Und auch heute noch siecht ganz oben im Norden die Stadt Hof mit überalterter Bevölkerung, zerbröckelnder Innenstadt und hoher Arbeitslosigkeit vor sich hin. Als geniales Infrastruktur-Projekt erwies sich hier der Bau eines höchst defizitären Flughafens, auf dem die seltene Landung eines Fliegers immer noch als kleine Sensation gefeiert wird.

  

Das Oben/Unten-Schema setzt sich auch in der Schulpolitik fort. Zwar erreichen die Abiturienten im Freistaat gute Beurteilungen bei nationalen oder internationalen Studien – nur gibt es nicht allzu viele. Im Gegensatz zu Pisa-Spitzenreitern wie Finnland ist nämlich das bayerische Schulsystem nicht durchlässig; das heißt, ein Kind, das dem unteren sozialen Milieu entstammt, möglicherweise mit Migranten-Hintergrund, wird unten, also in der Haupt-, bestenfalls Realschule, bleiben, weil es seine Defizite in der Regel nicht in einer Ganztags- oder Gesamtschule mit ihren kompensierenden Hilfen abarbeiten kann. Auch so lässt sich eine Ordnung zementieren...

 

Störende Landschaften

 

Mit dem Kapital „Naturschönheit“ geht der Freistaat ebenfalls sehr fahrlässig um, und die eine oder andere störende Idylle soll sogar aus Gründen des Profits oder des Geltungsbedürfnisses ganz weichen. So hätte die Staatregierung bereits vor Jahren die Donau zu einem Schnellkanal ohne Auenwälder, dafür aber mit ordentlichem Überschwemmungspotential ausgebaut, wäre sie nicht von den Co-Finanziers des Bundes gestoppt worden. Am Alpenrand ist mittlerweile so ziemlich jede abschüssige Almwiese zum öden Ski-Hang mit Kanonen-Beschneiung umfunktioniert worden.

 

Hinter der Großmannssucht in der bayerischen Staatskanzlei möchte auch der Münchner SPD-Oberbürgermeister Christian Ude nicht zurückstehen und erneuert die gescheiterte Bewerbung für die Winterolympiade 2018, um wenigstens 2022 ein ökologisches Desaster auslösen zu können. Und wieder wird Oberammergau gegen den Widerstand vieler Einwohner in die Planung gehievt. Die relativ intakte Natur um den Hauptort bayerischer Lüftlmalerei soll einer gigantischen Anlage mit Loipen für den Ski-Langlauf und Schießständen für den deutschen Volkssport Biathlon geopfert werden. Hat Ude nie davon gehört, dass Infrastruktur-Investitionen sich bei fast allen bisherigen Olympischen Spielen für den jeweiligen Austragungsort nicht als „nachhaltig“, sondern ruinös (im gegenständlichen wie im finanziellen Sinn) erwiesen haben, ökologischen Raubbau inbegriffen?

 

Jahrzehntelang wurde in den bayerischen Staatsforsten gute Arbeit geleistet: Die endlosen Kiefern- und Fichtenreihen, die teilweise bereits seit dem Mittelalter als Nutzholz-Reservoire angelegt wurden, wandelten sich durch gezielte Wiederaufforstung zu für die Klima-Balance wichtigen Mischwäldern, bis 2004 eine „Forstreform“ von der Staatsregierung implementiert wurde. Das nun für Rodung und Aufforstung zuständige Landwirtschaftsministerium stellte den „wirtschaftlichen Nutzen“ des Waldes in den Vordergrund und bereitet seitdem Schritt für Schritt eine Privatisierung der Forsten vor. Trotz eines nur knapp gescheiterten Volksbegehrens gegen die Reform wurde die Zahl der Waldarbeiter im Staatsdienst drastisch reduziert, und schon klagt der Bund Naturschutz, dass allerorten wertvolle alte Bäume und ganze Waldstücke für den kurzfristigen Profit fallen müssen.

 

Auch in einer anderen Frage konnte sich die Holzwirtschaft durchsetzen. Bereits 2007 forderten der Bund Naturschutz und eine Bürgerinitiative, den fränkischen Steigerwald wegen seiner in Europa einzigartigen Rotbuchenbestände zumindest teilweise zum Nationalpark zu erklären. Die CSU/FDP-Regierung in München lehnte dies 2011 endgültig ab, unter Verweis auf den Widerstand vor Ort, will sagen: wegen der Bedenken der mehrheitlich rechts wählenden Waldbesitzer.

 

Justiz in guter Tradition  

 

Die bayerische Legislative ist durch Klientel-Politik, Verbreitung von Un- oder Halbwahrheiten sowie Vorteilsnahme genügend desavouiert.  Fast scheint es, als wollten sich Exekutive und Judikative da nicht lumpen lassen. Die prügelnden Rosenheim-Cops sind nur die Vorhut einer boarisch rigiden Polizisten-Mentalität, die sich unter anderem auch zeigt, wenn Anti-Nazi-Demonstranten (und mit ihnen Journalisten), in Gräfenberg eingekesselt werden.

 

Gewiss, viele „Pannen“ bei den Ermittlungen wegen der NSU-Morde passierten den Verfassungsschutzbehörden und Kriminalämtern außerhalb Bayerns, doch stehen etliche markante Fehlleistungen für die landestypischen Eigenheiten und die Ignoranz der Strafverfolger im Freistaat. Da werden Opfer zu Verdächtigen, da stuft man türkische Zeugen von vornherein als unglaubwürdig ein, und da wird apodiktisch behauptet, die NSU-Täter hätten keine Helfershelfer in Bayern gehabt; ganz so, als seien Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe mit den Stadtplänen von München und Nürnberg sowie einer Liste türkischer Geschäfte bereits auf die Welt gekommen und auch nur ganz zufällig an Telefonkontakte zur ehemaligen Nürnberger Neonazi-Kneipe „Tiroler Höhe“ geraten.

 

Und dann glänzt das Oberlandesgericht München mit einer Starbesetzung überforderter oder politisch unterbelichteter Darsteller, als da wären ein Richter Götzl, der in jedes Fettnäpfchen tritt, wenn er nur vermeintliche Revisionsgründe vermeiden kann, zwei Pressesprecherinnen, von denen man nicht weiß, ob sie wirklich völlig ahnungslos sind oder nur so tun, und ein Gerichtspräsident namens Karl Huber, der in einem Interview auf die Frage nach der Aufklärung von Fehlern der Ermittlungsbehörden in typisch bayerisch-barschem Ton erklärt:   

   „Das kann, glaube ich, nicht Teil des Strafverfahrens sein. Im Prozess geht es hauptsächlich um die Frage von Schuld oder Nicht-Schuld der Angeklagten.“  

   Was aber, wenn sich die Frage stellt, ob der Verfassungsschutz nur als Begünstiger der Morde durch Fahrlässigkeit in Erscheinung trat oder – wie mittlerweile nicht nur türkische Medien mutmaßen – inhaltlich relevanter Teil des Problems ist? Dann könnte nämlich die Beantwortung der Schuldfrage durch Aufklärung, etwa per Vernehmung von V-Leuten vor Gericht, eine ganz neue Dimension gewinnen.  

 

Das Handling der Akkreditierung von Medienvertretern durch das Oberlandesgericht München ist ein international beachteter Beleg für Sturheit und fehlende Sensibilität, doch stellt es nur ein weiteres Glied in einer Kette von Unterlassungen und Fehleinschätzungen in der Justiz des Freistaats dar:

 

  • Der Nürnberger Richter Otto Brixner schickte den KFZ-Techniker Gustl Mollath vor sieben Jahren in die geschlossene Psychiatrie, weil der in einem Prozess wegen mutmaßlicher Misshandlung seiner Ehefrau, einer Vermögensberaterin der HypoVereinsbank, von einem Schwarzgeldring und Geldwäsche in der Schweiz gesprochen und auch Namen genannt hatte. Aus welchen Gründen auch immer das Gericht die Aussagen des Angeklagten als Wahnvorstellungen und als nicht nachprüfenswert eingestuft hatte, es lag falsch. Bei einer Revision fand die HVB heraus, dass die Angaben korrekt waren – die Zwangsunterbringung Mollaths aber dauert bis heute fort.
  • Noch einmal Nürnberg: Fast schon vergessen ist der Justizskandal um die KOMM-Massenverhaftung Anfang 1981. Die Nürnberger Polizei nahm nach einer spontanen Demonstration, die vom alternativen Jugendzentrum KOMM ausgegangen war, 141 Menschen fest. Hektografierte Haftbefehle wurden ausgestellt, die Staatsanwaltschaft erhob Anklage. Doch bereits nach der ersten Sitzungswoche platzte der Mammutprozess. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Staatsanwalt Klaus Hubmann (laut „Stern“ der „Aktenzauberer von Nürnberg“) den Haftrichtern gezielt Seiten mit entlastenden Fakten aus den polizeilichen Vernehmungen vorenthalten hatte. Wurde Hubmann aus der Robe gestoßen und mit Schimpf und Schande aus dem Gericht gejagt? Natürlich nicht, denn hier griff wieder das bayerische Resozialisierungssystem: Nach einiger Zeit in der Versenkung wurde Hubmann so lange befördert, bis er Leiter der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth und ab 2008 Generalstaatsanwalt wurde.

 Bayern ist sich eben seiner Fürsorgepflicht so sicher, dass hier aus Handlungen, die anderswo negativ sanktioniert würden, für die Urheber noch Gutes herausspringen kann.

  

Auch Johannes Manger, damals Richter im KOMM-Prozess, vermittelte ab und zu einen Eindruck von jener typischen bajuwarischen Denkungsart, die vielen Menschen einen Schauder über den Rücken jagt. Zwar hielt der damalige Gerichts-Guru des „Spiegel“, Gerhard Mauz, den Vorsitzenden für einen „strengen“, aber „repektablen“ Juristen, doch mir als Beobachter der Verhandlung, schien Manger, als er den Prozess aussetzte, vor allem zornig zu sein, weil er wegen der Streiche seines Kollegen Hubmann keine drakonischen Strafen über die Demonstranten verhängen konnte. Jahre später geriet Manger noch einmal in die Schlagzeilen. Als es bei einer von ihm geleiteten Gerichtsverhandlung zu Unruhe im Zuschauerraum kam, verwarnte er das Publikum mit den denkwürdigen Worten: „Wir sind hier doch nicht in der Judenschule!“

  

Skandal und Farce

  

Es ist ein Merkmal unserer Zeit, der mehr und mehr die Tiefenschärfe in der Beobachtung und Wertung abgeht, dass politische oder ökonomische Fehlleistungen von großer Tragweite nur noch als vorübergehende Phänomene mit einem gewissen Unterhaltungswert wahrgenommen werden. In Bayern scheint der Skandal der Farce besonders nah zu kommen.

 

Wenn ein Georg Schmid im Vorstand der Landesbank folgenlos Milliardenverluste mit verantwortet, aber über ein paar tausend Euro für seine (schein)selbständige Gattin stolpert, wenn ein Oberlandesgericht die Wahrheitsfindung vor allem als Revisionsgrund fürchtet und ein Seehofer sich morgens fragen muss, wohin ihn seine Meinung heute trägt, dann entbehrt dies nicht einer gewissen Ironie. Die Irrungen und Schweinereien sind im Freistaat halt doch am Bühnenrand des Komödienstadels angesiedelt.
 

 

05/2013    

 

 

 

 

 

Ein bisschen Krieg

 

Irgendwie ähnelt Obama mittlerweile seinem Vorgänger Bush doch ein wenig. Schnell und phantasievoll konstruierten beide einen Kriegsgrund, um gegen „schurkische“ Regimes militärisch eingreifen zu können. Der eine fand im Irak Massenvernichtungswaffen, die allerdings nur ihm sichtbar waren, der andere weiß sicher, dass Assad in Syrien Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat, obwohl UN-Experten gerade erst ermitteln. Und beide stellen gern eine „Koalition der Willigen“ zusammen.

 

Assad mag – wie die meisten seiner arabischen Kollegen – ein skrupelloser Machtpolitiker sein, als Vollidiot war er indes bis jetzt nicht bekannt. Ein solcher müsste er aber sein, wenn er quasi unter Beobachtung durch die ganze Welt und während einer Untersuchung durch C-Waffen-Fahnder im eigenen Land mit Chemie-Waffen hantieren würde. Vergessen sind die Aussagen der früheren Chef-Anklägerin in Den Haag, Carla del Ponte, denen zufolge die Rebellen schon früher nahe Aleppo Giftgas eingesetzt hätten.

 

Nun werden die „Hüter der Freiheit“ die Verletzungen von Menschenrechten eben auf ihre altbekannte Art ahnden: indem sie Bomben auf ein ohnehin geschundenes Land regnen lassen. Sie werden Assads Armee möglicherweise entscheidend schwächen. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit enthüllt die möglichen Konsequenzen:

 

- Im Irak wurde ein Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten losgetreten, dessen Intensität derzeit rasant zunimmt.

Afghanistan wurde in ein Blutbad gestürzt, das seinen Höhepunkt erst erreichen wird, wenn die erfolglosen Nato-Truppen das Land verlassen haben werden.

In Libyen brach jede staatliche Ordnung zusammen. Das Land versinkt in tribalistischem Chaos.

Bereits jetzt vertreiben die in der Rebellen-Armee stark vertretenen Dschihadisten die Kurden im Zuge einer ethnischen Säuberung aus den von ihnen besetzten Gebieten. Was nach einem Sieg der seltsamen Koalition mit den in Syrien lebenden Christen, Alawiten, Schiiten, Drusen oder Juden geschehen wird, ist nur zu erahnen.

- Bereits jetzt kämpfen im syrisch-türkischen Grenzgebiet die Aufständischen mehr gegeneinander als gegen Assads Armee.

 

Befürworter einer US-geführten Militärintervention sind die lupenreinen Despoten in Katar und Saudi-Arabien, die zuvor schon den Konflikt angeheizt hatten, sowie die israelische Regierung, die im Nahen Osten immer schon gern zündelte, solange sich das Feuer von den eigenen Grenzen fernhalten ließ.

 

Der Erzbischof der chaldäischen Christen in Aleppo warnte vor einem militärischen Eingreifen des Westens, er sprach sogar von einem möglichen „Weltkrieg“. Das mag übertrieben sein, doch könnten sich die Folgen tatsächlich als verheerend für den Frieden und das Gleichgewicht zumindest in Eurasien erweisen. Wenn Russland seinen einzigen (für die Sicherheit des Westens völlig ungefährlichen) Mittelmeer-Stützpunkt verliert und weiteres aggressives Vorgehen der USA nahe seinen Grenzen registrieren muss, wird es eine Einkreisung durch feindliche Mächte fürchten. Und dann haben wir – auch wenn der Westen nur ein bisschen, ohne eigene Opfer, marodiert – den Kalten Krieg zurück.

 

 

08/2013     

 

 

   

 

 FDP-Vorbild Obama

 

Da dachte man, die FDP hätte ihre eigene Form der Volksherrschaft, die Lobby- und Klientel-Demokratie, nahezu perfektioniert – und dann muss man jäh erkennen, dass es noch gradlinigere Modelle der Begünstigung und Interessenbedienung im Namen des Bürgers gibt...

 

So bringen liberale Minister Gesetzesvorlagen ein, in die ganze Passagen aus den Vorschlägen der Pharma-Lobby eingearbeitet wurden. So sichert die FDP die Pfründe ihrer treusten Wählerschaft, der Ärzte und Apotheker, verhindert ein bisschen höhere Steuern für die geplagten Besserverdienenden, hält den Konzernen Umweltschutz-Auflagen oder eine bescheidene Beteiligung an den wachsenden Energie-Kosten vom Leibe und bringt die eigenen Parteisoldaten, ungeachtet ihrer Befähigung (bzw. Ahnungslosigkeit), fleißig in Amt und Würden. Durchaus löblich im Sinne der Solidargemeinschaft „Wir da oben!“, die zudem goutiert, dass die Freidemokraten auch durchaus konsequent handeln und „Privilegien“ beschneiden können, etwa wenn es um Hartz IV-Empfänger oder Bezieher von Mini-Renten geht.

 

Und doch wirkt die Förderung der eigenen Klientel ein wenig verdruckst angesichts der Direkten Belohnungsdemokratie, wie sie US-Präsident Obama unlängst wieder praktizierte: Zum neuen Botschafter der Vereinigten Staaten in Berlin ernannte er einen gewissen John B. Emerson, über dessen Deutsch-Kenntnisse oder Europa-Erfahrungen nichts bekannt ist. Allerdings weiß man, dass er als Manager der Capital Group in Los Angeles tätig war, die große Aktienpakete u. a. von Bayer, VW, SAP oder Fraport besitzt. Man kann also davon ausgehen, dass Emerson seinem Geld nahe sein wollte. Was aber bewog Obama zu der Berufung des diplomatischen Amateurs? Ganz einfach, Emerson sponserte seine Wiederwahl mit 1,5 Millionen Dollar und gehörte zu den erfolgreichsten Spendensammlern in Kalifornien. Diese Handwasch-Methode hat Tradition. Emersons Vorgänger Philip Murphy hatte sich für den Berliner Botschafter-Posten ebenfalls vor allem als Almosen-Zuträger für den damaligen Präsidentschaftskandidaten Obama qualifiziert.

 

Liebe FDP-Granden, wäre das nichts für Euch. Nach einer ansehnlichen – vorsichtshalber verdeckten – Parteispende könntet ihr doch gleich den Pharma-Cheflobbyisten von Bayer oder Merck zum Gesundheitsminister küren. Dann wüssten die Wähler wenigstens, woran sie sind.

 

 

08/2013    

 

 

 

 

Bravo, Niebel! 

 

Was haben wir den Mann gescholten (s. „Tricky Dirk“ unter Helden unserer Zeit): Als Möchtegern-Terminator aller Einrichtungen, in denen er keine Karriere machen konnte, und als findigen Teppichhändler haben wir ihn bloßgestellt. Weiter haben wir ihm vorgeworfen, sein Ministerium, das er einst hatte abschaffen wollen, zur Versorgungsanstalt für darbende FDP-Mitglieder umgebaut zu haben.

 

Und nun dieses: Aus dem Radio klingt Dirk Niebels glockenhelle Stimme mit froher Botschaft. Er danke der Regierung, dass sie den Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht habe. Ist also endlich Schluss mit der menschenunwürdigen Behandlung von Asylsuchenden? Ist künftig gesellschaftliche Teilhabe statt Ghettoisierung angesagt? Hat eine Regierung, deren Chefin man bislang nicht zugetraut hatte, das Wort „Menschlichkeit“ überhaupt buchstabieren zu können, ihr Herz für die Ärmsten der Welt entdeckt?

 

Leider nein. Entwicklungshilfeminister Niebel befindet sich wieder einmal auf Orientreise. Und sein Lob galt der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, die Tausende von Flüchtlingen aus Syrien aufnahm und ihnen einigermaßen erträgliche Lebensbedingungen schuf. Bei uns in Deutschland käme so etwas gar nicht in die Tüte...

 

08/2013

 

 

 

 

  

Spiele ohne Brot

 

Der französische Staatspräsident François Hollande hat bislang kein glückliches Händchen bewiesen. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, die Begüterten nutzen alle Schlupflöcher, um höheren Steuern zu entgehen, und – was vielleicht den Super-GAU darstellt – seine engsten Vertrauten und Minister gehörten zu den ersten, die den Spalt in die Briefkastenfirma bzw. den günstigsten Moment zum Absprung vom sinkenden Schiff ins tropische Steuerparadies fanden. Ungemach droht ihm nun auch noch von Seiten der Stars und Vereine des gallischen Spitzenfußballs, denn die können die Reichentaxe nicht einfach umgehen, indem sie künftig auf den Jungferninseln spielen oder die Stadien dorthin verlegen.

 

Es ist eine seltsame gesellschaftliche Fraktion, die da gegen die Versuche, die Euro-Krise per Einforderung pekuniärer Opfer zu entschärfen, aufbegehrt. Nicht Pensionäre und Rentner wie in Griechenland und Zypern, die fürchten, ihren Lebensrest in Armut verbringen zu müssen, oder portugiesische Arbeitslose, die durch Kürzungen ihrer Bezüge zur Rettung maroder Banken und wettsüchtiger Finanz-Jongleure (und ihrer politischen Assistenten) beitragen sollen, gehen auf die Barrikaden, sondern Fußball-Funktionäre und einige ihrer hochbezahlten Akteure auf dem grünen Feld der Ehre. Allerdings trifft die Reichensteuer, der zufolge für die nächsten zwei Jahre 75 Prozent von einem Jahreseinkommen über einer Million Euros an den Fiskus gehen würden, die meisten Spitzenkicker überhaupt nicht, da sie (oder besser: ihre Berater) so clever waren, sich ein Netto-Gehalt im Vertrag festschreiben zu lassen. Folglich müsste das Brutto-Entgelt in ungeahnte Höhen steigen, um die vereinbarte Entlohnung zu garantieren und gleichzeitig die Steuern zu bedienen. Zahlen würden also die Vereine.

 

Nun könnte man ja folgern, wer gewillt ist, irrsinnige Summen für sportliches Talent hinzublättern, dürfte sich über einen höheren Beitrag für die Solidargemeinschaft nicht aufregen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mit Ausnahme von Paris St. Germain, dessen Supertruppe von den geltungsbedürftigen, aber stets flüssigen Scheichs aus Katar alimentiert wird, barmen alle Erstliga-Klubs um die Konkurrenzfähigkeit der französischen Elite-Division, da die besten Spieler bei etwas weniger Tantiemen ins Ausland abwandern würden.

 

Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit, Solidarität von den anderen EU-Staaten einzufordern. Schließt euch dem Vorbild Frankreichs an, statt die Euro-Rettung von den Armen Südeuropas bezahlen zu lassen, und schon bleibt geldgierigen Profi-Kickern höchstens noch der Ausweg ins kalte Russland. Natürlich könnten die Profi-Ligen auch – wie in längst vergangenen Zeiten – Talente in der eigenen Umgebung sichten, junge Teams aufbauen, die lokale Identität bedienen und so nebenher die Wettbewerbsverzerrung qua Brieftasche beseitigen. In den banlieues von Paris oder Toulon laufen sicherlich genügend ballbegabte Jugendliche umher, die gewillt wären, für ein Jahresgehalt unter einer Million zu spielen. Aber das ist sicherlich blauäugig gedacht. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Misere und drohender Verelendung sind viele Menschen besonders auf Events und Erfolgserlebnisse im peripheren oder sinnfreien Bereich erpicht und auch bereit, ein enormes Scherflein, das sie sich eigentlich gar nicht leisten könnten, beizusteuern sowie absurde Exzesse der Verschwendungssucht durch „ihre“ Stars zu goutieren.

 

Schon die altrömischen Kaiser (Aufgemerkt Herr Westerwelle, hier passt der antike Vergleich!) wussten das Volk mit Brot und Spielen abzulenken und zu besänftigen. Nur werden alle Steuervorteile und Vergünstigungen für Sport und Unterhaltungsindustrie bald vielerorts nicht mehr darüber hinwegtäuschen können, dass zwar die Spiele noch stattfinden, aber kein Brot mehr da ist.  

 

  

 

 

 

Die Unbombe

  

Es ist eine seltsame Informationslandschaft, in der wir leben und selektiv berieselt werden: Da animiert die alarmierende Nachricht von einer Atombombe, die es nach übereinstimmender Auskunft noch gar nicht gibt und möglicherweise nie geben wird, die Krisenpolitiker, die Leitartikler und die Geheimdienstchefs zu drohenden, warnenden und abschwächenden Statements, während über eine andere Atombombe, die es in ungefähr der gleichen Weltgegend schon lange gibt, intensiv geschwiegen wird. Die Rede ist vom Plutonium anreichernden Iran und der tatsächlichen Nuklearmacht Israel.

 

Um es vorwegzunehmen: Kein Land der Welt sollte über nukleares Vernichtungspotential verfügen. Die Atombombe ist keine Waffe zur Selbstverteidigung, sondern entweder ein Mittel zum präventiven Massenmord oder eins zum „totalen“ Rachefeldzug. Da aber die zweifelhafte Doktrin eines „Gleichgewichts des Schreckens“ nun mal existiert, müssen wir uns derzeit wohl oder übel damit abfinden, dass die fünf Veto-Mächte im Weltsicherheitsrat über Nuklear-Arsenale verfügen.

 

Dass besser kein weiterer Staat diesem „erlesenen“ Club der potentiellen Massenvernichter hätte beitreten sollen, verdeutlichen uns die gefährliche Lage auf der koreanischen Halbinsel sowie die ständigen gegenseitigen Drohgebärden der Neo-Atommächte Indien und Pakistan. Es ist also verständlich, wenn man einem theokratischen Staat wie dem Iran mit einem üblen Eiferer namens Ahmadinedschad als Regierungschef die ultimative Vernichtungswaffe nicht zugestehen will. Allerdings hat bereits 2005 das iranische Staatoberhaupt Chamenei eine Fatwa (höchster religiöser Bann) gegen den Besitz von Atombomben ausgesprochen und später bekräftigt. Zudem hat der Iran, der selbst 1980 von den Truppen des damaligen US-Günstlings Saddam Hussein überfallen wurde, seit undenklichen Zeiten kein anderes Land mehr angegriffen. Auch glauben die Geheimdienste der USA, Deutschlands und selbst Israels nicht an Teherans Kernwaffen und warnen vor militärischen „Präventivschlägen“, wie sie vor allem die israelische Regierung immer wieder fordert.

 

Wenn ich aus irgendwelchen Gründen gezwungen wäre, in den Nahen oder Mittleren Osten zu emigrieren, würde ich Israel dem Iran oder den arabischen Staaten vorziehen. Nicht, dass mir die Politik dort sympathisch wäre, aber ich könnte meine Meinung (vermutlich weitgehend unbeachtet, wie hier auch) frei äußern und mich einer Bewegung wie „Frieden jetzt!“ anschließen, während ich anderswo in dieser Weltregion – schon aufgrund der Website – um meine Unversehrtheit fürchten müsste. Diese Präferenz bedeutet jedoch nicht, dass ich zur israelischen Siedlungspolitik oder seinem aggressiven Gebaren schweigen darf – oder zu seiner Atombombe.

 

Israel, das nie den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnete, besitzt die Bombe (vermutlich seit 1967) und hat auch deren Einsatz bereits erwogen, nämlich 1973, als eine Niederlage im Jom-Kippur-Krieg drohte. Der Staat hat sich auch der nuklearen Zusammenarbeit mit dem Apartheid-Regime in Südafrika schuldig gemacht (bevor unter Mandela wenigstens dieses Land atomar abrüstete). Aber darüber zu reden oder zu schreiben, kommt einem Tabubruch gleich. Nicht nur in Israel selbst, wo Wissenschaftler, Journalisten oder Agenten für immer in Geheimknästen verschwinden, wenn sie über das Nuklear-Programm informieren, sondern auch in Berlin oder Washington, wo jeder weiß, dass die Bombe Realität ist, aber keiner diese Tatsache in den Mund nimmt, als sei sie ein internationales Unwort, das auszusprechen sich nicht schickt.

 

Die einzige sinnvolle Lösung, nämlich die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone in Vorderasien, wird von vornherein durch den schizophrenen Konsens blockiert, eine mögliche Bedrohung aufzubauschen und eine faktische Bedrohung totzuschweigen.

 

04/2013   

 

 

 

 

Rächerin Ilse

  

„Das Rindsfilet wieherte“ titelte vor Jahrzehnten die bayerische „Abendzeitung“, als ruchbar wurde, dass ein Frankfurter Großmetzger Rinder und Rösser vertauscht hatte. Jetzt findet sich wieder europaweit Pferdefleisch in Fertiggerichten, deren Kernpampe eigentlich exklusiv das Hornvieh hätte liefern sollen. Das ist sicherlich Betrug, denn Fury hat in der der Tiefkühl-Lasagne nichts zu suchen.

 

Doch nun geriert sich Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner als gnadenlose Rächerin der getäuschten Gourmets, kündigt schärfere Überprüfungen, härtere Strafen für die Übeltäter, intensivste Zusammenarbeit der zuständigen Stellen an, propagiert lautstark einen wahren Feldzug für die Sauberkeit des Massenfraßes, eine Kampagne, die sich allerdings – aus der Nähe betrachtet – als Scharmützelchen am Rande erweist, bei dem kaum jemandem wehgetan werden wird.

 

Die Spurenelemente feuriger Hengste und sanfter Stuten in den Supermarkt-Produkten sind vernachlässigbare Sünden angesichts des Krieges, den die Monopolisten der Nahrungsmittelerzeugung gegen die Kleinbauern und Konsumenten in aller Welt (auch in Bayern, Frau Aigner!) führen. Und unsere Rächerin hat bislang tapfer dazu geschwiegen:

     

- Genaue Herkunftsangabe und Inhaltsanalyse von Fertigprodukten, Benennung der zuwider handelnder Firmen? Nicht mit dieser Bundesregierung – man will schließlich keine Mäzene verprellen.

- Das Abgreifen der EU-Agrarsubventionen durch bayerische Großbauern, auch für die Zerstörung von Landschaft und Lebensräumen durch exzessiven Maisanbau? Kein Wort von Ilse; wer, wenn nicht sie, weiß ja, wer in schweren Zeiten hinter der CSU steht.

Die Giganten der Anbautechnologie wie Monsanto, die am liebsten die gesamte Natur patentieren lassen würden, um sie im Alleingang verramschen zu können? Ilse ist ein bisschen gegen die Gentechnologie, aber gegen die Allmacht der Herrscher über Saat und Ernte sagt sie lieber nichts.Massentierhaltung, Bodenversiegelung, Umwandlung von Almen in künstlich beschneite Skipisten und und und – all das ist für unsere CSU-Parteisoldatin vermintes Gelände, stecken doch meist sympathisierende Interessenten hinter dem profitablen Raubbau. Nein, da zeigt frau lieber auf gefälschtes Hackfleisch und spürt wohlig warm den Rückenwind des entflammten Volkszorns.

 

Eine Analogie aus fernen (?) Zeiten: Als Upton Sinclair 1906 in seinem Roman „Der Dschungel“ die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der meist slawischen Immigranten und die unhygienischen Zustände in den Chicagoer Schlachthöfen thematisierte, empörten sich die Menschen überall in den USA. Es wurden strenge veterinärmedizinische Kontrollen eingeführt, die Arbeitsbedingungen indes änderten sich nicht. In seiner Enttäuschung darüber höhnte Sinclair damals: „Ich habe auf das Herz Amerikas gezielt, aber ich habe nur seinen Magen getroffen.“ 

  

 

 

 

Deutsche Parteien – ein Panoptikum

 

Wer bestimmt in der BRD die Politik, oder glaubt wenigstens, sie zu gestalten? Wen findet man alles in den politischen Parteien? Und warum? Und warum dann später wieder nicht mehr? Wer sind ihre Führer, grauen Eminenzen, Wähler, Bezahler (Zeche), Förderer (Spendenaufkommen)? In unserer kleinen Serie sollen auf diese Fragen in gebotener Kürze Antworten nach alphabetischer Reihenfolge (wir sind schließlich strikt neutral) erteilt werden.

 

1. CDU

2. CSU

3. FDP

4. Die Grünen
5. Die Linke

6. Die Piraten

7. Die SPD

 

1. Christlich Demokratische Union

In rühmendem Andenken an die Großtaten der Glaubensgemeinschaft Jesu, etwa die Kreuzzüge, die Hexenverfolgung oder die Borgia-Herrschaft in Rom, nannten die Gründer ihren wirtschaftstreuen Männerbund (an Angie war damals noch nicht zu denken) „christlich“. Konrad Adenauer wurde erster Kanzler der BRD und steckte alle ehemaligen Nazi-Funktionäre, die sich nicht schnell genug nach Südamerika absetzen konnten, in BND oder Verfassungsschutz. Um die Untersuchungs-gefängnisse nicht gänzlich verwaisen zu lassen, knastete er stattdessen in der „Spiegel-Affäre“ lieber widersetzliche Journalisten ein.

 

Nach dem Interims-Fürther Ludwig Erhard wurde mit Georg Kiesinger endlich auch ein Ex-Nazi Bundeskanzler. Dann war es zunächst einmal vorbei mit der CDU-Herrlichkeit. Doch in der Opposition gewann das Pfälzer Naturdenkmal Helmut Kohl (J. Fischer) an Breite und Gewicht. Und als Kohl dann Kanzler wurde, zeigte er der Wirtschaft, der eigenen Partei und allen Deutschen zunächst einmal, worum es in Wirklichkeit geht, nämlich um Bimbes. Unter diesem folkloristischen Begriff fasste er alles zusammen, was mit klingender Münze, ob als Steuereinnahme, finanzielle Subvention oder Parteienspende, zu tun hatte.

 

Dann musste die Partei trotz ihrer guten Beziehungen zu den wirklich Mächtigen eine zweite Auszeit nehmen, weil „Ich-will-da-rein“-Schröder ins Kanzleramt einzog, nur um Kohls Politik in neuem Outfit fortzusetzen. Doch sieben Jahre später hatten die Deutschen gemerkt, dass, wo CDU drin ist, auch CDU draufstehen sollte, und Tante Merkel zur Regierungs-chefin gemacht. Die wiederum zeigte den Sozis, was Dialektik ist: Mal rin in die Verlängerung der KKW-Laufzeiten, dann ganz schnell wieder raus; mal die Iren schimpfen, weil sie ihre missratenen Banken retten, dann selbst das ganze Finanzsystem sponsern; mal strikt gegen Mindestlohn, dann wieder ein bisschen dafür... Nun könnte ein unbedarfter Beobachter einwenden, Frau Merkel handle fortgesetzt gegen die eigene Überzeugung. Weit gefehlt, sie hat noch nie eine Überzeugung gehabt, das macht sie stark. Und wenn sie nicht gestorben sein wird und die anderen weiterhin so dilettantisch handeln, regiert sie auch noch in den nächsten Jahren. 

 

2. Christlich Soziale Union

Als die CDU gegründet wurde, mochten sich ein paar Bayern nicht mit der weinseligen Fröhlichkeit des rheinischen Klüngels anfreunden und riefen, nicht zuletzt, um die „Lufthoheit über den Stammtischen zu wahren“ (E. Stoiber Jahre später) die eher von Bierdunst geschwängerte CSU ins politische Leben. Die Programmatik des südlichen Wurmfortsatzes lässt sich auf die selbstbewussten Kernsätze Mir sann mir und Mir sann Hund` herunterbrechen, aber keine andere politische Partei in Deutschland hat jemals eine so deftige Menagerie von halbseidenen Brachialpolitikern dem staunenden Publikum präsentiert. Wir widmen uns im Folgenden einigen Prachtexemplaren des bajuwarischen Bauertheaters:

 

Friedrich Zimmermann schwor in der Spielbanken-Affäre vor Gericht einen blitzsauberen Meineid. Verurteilt wurde er dennoch nicht, da ihm Gedächtniseintrübungen wegen Unterzuckerung attestiert wurden. Sein Gesundheitszustand besserte sich zum Glück (in Bayern: Gott sei Dank!) so nachhaltig, dass er Jahre später als bundesdeutscher Innenminister für Recht und Ordnung sorgen konnte. Aus Saulus ist ja schließlich auch Paulus geworden.

 

Franz-Josef Strauß, u. a. bundesdeutscher Atom-, Verteidigungs-, Finanzminister und bayerischer Ministerpräsident. Skandale (in Bayern nennt man das eleganter „Affären“) pflasterten seinen Weg. In der Fibag-Affäre mischte er mit Spezi Zimmermann bei Bauvorhaben für die US-Armee mit, Rüstungsgeschäfte manipulierte er in der Onkel-Aloys- und der HS-30-Affäre gewinnträchtig, und weil ein Hamburger Magazin immer petzte, trat er die Spiegel-Affäre los. Soviel Chuzpe imponierte den schlitzohrigen Bayern. FJS war auch ein lupenreiner Demokrat und Förderer vor- und nachdemokratischer Strukturen. Innige Beziehungen pflegte er etwa zu Togos Diktator Eyadéma, in dessen Land die mit Strauß befreundeten Gebrüder März aus Rosenheim die in Afrika so dringend benötige Fertigung von Leberkäse aufbauten (unter guten Freunden hilft man sich). Nach dem Pinochet-Putsch in Chile mit Tausenden von Toten, Tausenden von „Verschwundenen“ und Tausenden von gefolterten politischen Gefangenen wiegelte FJS mit einem Bonmot, das die Volksweisheit, der zufolge beim Hobeln Späne fallen, humorvoll paraphrasierte: Bei einer Revolution gehe es halt nicht so zu, „wie wenn Franziskaner Suppe austeilen“. Er war eben ein Urviech, der Franz-Josef, der sich die Achtung und Zuneigung seiner Untertanen auf volkstümliche Weise erwarb. Und saufen konnte der...

 

Dann nahte in der CSU die weniger ruhmreiche Ära der Stolperer. Ministerpräsident Max Streibl, eine Art FJS für Arme, stolperte über die Amigo-Affäre, Generalsekretär Gerold Tandler stolperte über ökonomisches Unvermögen, Edmond Stoiber stolperte über Gabriele Pauli, die Grande Domina unter den Landrätinnen, und Baron Theodor zu Guttenberg (erinnern Sie sich noch an den?), der Mann, der mit eiserner Entschlossen-heit und brillanter Rhetorik nichts zu sagen wusste, stolperte über seinen Hang zu guten Noten aufgrund von Unterschleif. Und Kurzzeit-Bayernführer Günther Beckstein weiß bis heute nicht, worüber er eigentlich gestolpert ist.

 

Jetzt hat die CSU wieder einen Ministerpräsidenten, der nicht stolpert. Der Filou Seehofer dreht sich wie ein Kreisel in alle Richtungen, schrammt an den Barrieren entlang und ändert so lange flexibel Kurs und Meinung, bis er die Sonne der Volksmeinung auf der markanten Schwenkerstirn erglänzen fühlt. 

 

3. Freie Demokratische Partei

Es gibt eine Partei in Deutschland, deren bloße Existenz die Lobbyisten erblassen lässt und den verzweifelten Besserverdienenden signalisiert, dass es doch noch so etwas wie Solidarität und Hilfsbereitschaft auf der Welt gibt: die FDP. Mögen andere Abgeordnete von aufdringlichen Interessenvertretern der Industrie, des Bankenwesens und der Mafia belagert, bewirtet oder begünstigt werden – die Cracks der Liberalen bleiben unbehelligt; schließlich ist die FDP selbst zu hundert Prozent Lobby für alle, die den feinen sozialen Unterschied noch hochhalten.

 

Böse Zungen behaupten, der Daseinszweck der FDP bestehe darin, unabhängig von Inhalten, Überzeugungen oder politischen Richtungen in irgendwelchen Regierungen zu sitzen. Das stimmt nicht, denn diese Partei vertritt konsequent und völlig eigennützig die Interessen all jener, die sich für selbständig, wohlhabend und von den Sozialneidern verfolgt halten. Ob es sich um Hoteliers, die bei der Mehrwertsteuer nur bis sieben zählen können, handelt, um kleine Entrepreneurs, die sich zu den Säu(l)en des Mittelstandes rechnen, um Ärzte, die in ihrer Praxis dicke Haufen von Eseln abgeführter Dukaten erwarten, oder um Apotheker mit dem Berufsethos von studierten Krämern – sie alle finden in der FDP ihre Fürsprecherin, denn sie ist vor allem die Lobby der Noch-besser-verdienen-Wollenden. Aber auch die ganz großen Abzocker kommen nicht zu kurz. FDP ist Pharmas Liebling.  

 

Doch im Gegensatz zu Angie M. vertritt die FDP Überzeugungen, sie hat ihre strikten Feindbilder: Mindestlohn ist von Übel, Gewerkschaften sind des Teufels, und wer an der freiesten aller Marktwirtschaften oder dem so putzig verspielten Finanzsystem auch nur zu zweifeln wagt, hat eigentlich das Bürgerrecht verwirkt. Weshalb auch die Sparkassen-Kontoristen, die sich heute banker nennen, unsere FDP wählen...

 

Wenn schon das Programm nichts taugt, sollte wenigstens das Personal stimmen. Na ja. Über Westerwelle und Rösler darf man nicht mehr spotten, jede Sottise zu diesen Polit-Koniferen (schmeißen selbst im Herbst nicht hin) stolpert mittlerweile über den eigenen Bart. Gesundheits-Bahr ist vielleicht wirklich so naiv, wie er tut. Der zum Äußersten entschlossene Lindner („Mag nicht mehr“/“Jetzt mag ich wieder“) muss gar nicht in die Versenkung gestoßen werden, das schafft er locker selbst. Und der launische Kubicki erinnert  immer ein wenig an den „Quartalsirren“ (Google)  Möllemann, der einst zum großen Sprung antrat, ohne die Reißleine zu ziehen.

 

Immerhin besitzt die FDP jenes Überlebensgen, das alle fünf gerade sein lässt. Elegant schlängelt sie sich aus jeder Verantwortung heraus und in jede Machtbeteiligung hinein. Wenige geben offen zu, dass sie diese gelbe Götterspeise im politischen Menü wählen, aber am Ende erhält sie doch wieder mehr als fünf Prozent bei den Bundestagswahlen: ein Zuckerl für den gehobenen deutschen Mittelstand.

 

4. Die Grünen

Am Anfang waren die Grünen ganz Wilde. Heimatlose Linke, Spontis (sozusagen die Spaß-Autonomen von damals), antikapitalistische Naturfreunde und undogmatische Pazifisten schlossen sich zu einer Vereinigung mit viel Diskussion und wenig Programm zusammen, um die etablierten Parteien das Fürchten zu lehren. Mittlerweile haben die alteingesessenen Polit-Granden die Grünen das Taktieren gelehrt, und deren Leitungspersonal fürchtet um Einfluss und Pfründe.

 

Zuerst aber verließen die Blut-und-Boden-Ökos, bei denen man immer den Verdacht hatte, sie hätten Hitler recht sympathisch gefunden, wenn er nur die Autoahnen nicht gebaut hätte, die Partei. Dann übernahmen die Linken, aber die Dithfurts, Trampischs und Ebermanns erwiesen sich als zu sperrige Hindernisse auf dem Weg durch die Institutionen und auf den Bettvorleger der Macht. Einzig Jürgen Trittin schaffte den Sprung von der K-Gruppe in den Nadelstreifenanzug der Arrivierten ohne größere Häutungsverluste. Inzwischen sind die Grünen für fast alles, was moralisch klingt, aber die Verhältnisse so lässt, wie sie sind, zu haben – eine Art FDP für Vegetarier eben. 

 

Leute wie Cem Özdemir, der das Handwasch-System unserer Gesellschaft bereits verinnerlicht hat, wie seine lockere Kreditannahme belegte, und die gerade erst abgestrafte Claudia Roth, eine Mischung aus Hella von Sinnen und „Seelchen“ Maria Schell, stehen heute für eine Partei, die bereits von ihrem elder statesman Joschka Fischer auf Abwege geführt wurde. Dessen Biographie ist ein Musterbeispiel für die Amnesie, die deutsche Politiker manchmal hinsichtlich ihrer früheren Ziele und Überzeugungen befällt.

 

Fischer begann als Frankfurter Rabauke und rettete anfangs noch Teile seines Nonkonformismus in den Bundestag, etwa als er den Bundestagspräsidenten Richard Stücklen mit den aufrichtigen Worten attackierte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Dann erhielt er 1998 eine Anstellung in der Regierung Schröder und war als Außenminister ein Jahr später maßgeblich am ersten Einsatz deutscher Soldaten außerhalb eigener Grenzen im mutmaßlich völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg, in dessen Verlauf auch serbische Städte bombardiert wurden, beteiligt. Als die rechte Schröder-Regierung von der rechten Merkel-Regierung abgelöst wurde, zog er sich schmollend ins Privatleben zurück, wo er inzwischen mächtig Kohle macht, indem er Krethi und Plethi berät, wenn beide nur genug ausspucken, zum Beispiel den bekannt radikal-ökologischen Volksernährer REWE.

 

In seligem Angedenken an ehrlichere Zeiten möchte man bei solcher Kunde ausrufen: „Mit Verlaub, Herr Ex-Minister, Sie sind ein ...!“   

 

In die nächste Bundestagswahl führen besagter Trittin und Katrin Göring-Eckhardt als Spitzenkandidat(inn)en die Partei der entschlossenen Relativität. Die Dame war einst glühende Verfechterin der Agenda 2010, jetzt ist sie ganz arg gegen deren Auswirkungen. Da trifft es sich gut, dass sie auch noch Vorsitzende der 11. Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands ist, so kann wenigstens für die Hartz-IV-Opfer beten. 

  

5. Die Linke

Solange Zeit haben wir uns eine Partei gewünscht, die wirklich links tickt, die tatsächlichen Machtverhältnisse im Staat, also Wirtschafts- und Bankenchefs ganz oben, wir ganz unten und die gängige Politik als Schmiermittel dazwischen, offenlegt und den Willen zur Veränderung zumindest andeutet. Jetzt haben wir den Salat!

 

Es gäbe ganz schön was anzupacken in unserer halbseidenen Polit-Landschaft, in der die Parteivorstände mehr oder weniger als Erfüllungsgehilfen mächtiger Lobbyisten fungieren oder sich extrovertierte Solisten für „höhere Aufgaben“ profilieren wollen. Die Linke aber legt Hand an sich selbst; und dass man das nicht darf, weil man davon blind werden kann, haben uns unsere Eltern schonfrühzeitig gesagt.  

 

Da kämpfen ostalgische Verklärer des real existierenden DDR-Bürokratismus gegen Besserwessis, die der K-Gruppen-Pubertät noch nicht entwachsen zu sein scheinen. Optimierte Sozialdemokraten zanken sich mit Champagner-Marxisten der Marke Klaus Ernst. Haben schon die Grünen ein Kandidatenproblem mit dem Proporzzwischen Männlein und Weiblein, so kommt bei der Linken noch die geographische Dimension hinzu. Geeignet für die Doppelspitze wären eigentlich nur Transsexuelle, die genau auf der damaligen „Demarkationslinie“ zur Weltgekommen sind.

 

Am Firmament schwebt der Überonkel Gregor Gysi, der seinen Senf (eher süß oder mittel, niemals zu scharf) zu den Widrigkeiten des Alltags- und Parteilebensgibt. Das fotogene Vorzeigegesicht gehört Sarah Wagenknecht, die, obschon mitschärferem Intellekt als die meisten Bundestagsschläfer ausgestattet, eine seltsam morbide Neigung zu Auslaufmodellen zeigt: Mal erinnert sie sich an die behaglichen Seiten der DDR, in der sie sich selbst doch eigentlich rechtrenitent verhalten hat, dann lobt sie die soziale Marktwirtschaft (Sie ruhesanft!) von Ludwig Erhard (Fürther!!!), schließlich wirft sie sich Oskar Lafontaine an den Hals. Bei dem kleinen Saarländer mit dem großen Geltungsbedürfnis hat man immer das Gefühl, es wäre ihm lieber, wenn er seinen Namen nicht von dem französischen Fabeldichter, sondern von dem ambitionierten Korsen ableiten könnte. Allerdings wirkt er mittlerweile wie ein Bonaparte, der von Waterloo zu Waterloo eilt, weil seine Truppen bei den zahlreichen Schwenks stets zu spät kommen.

 

Vielleicht ist das ganze Tohuwabohu in der Linken aber nur eine infame kommunistische Taktik. Wenn ihre Abgeordneten nämlich sinnvolle Anträge einbringen, konstruktiv in Ausschüssen mitarbeiten oder Anfragen stellen, die diverse Minister in Erklärungsnot bringen, ist dies der bürgerlichen Presse meist kaum eine Notiz wert. Wenn sich die Genossen aber zerfleischen, stürzen sich die Journalisten auf die Story, als sei Lady Di als Sarah Wagenknecht wiedergeboren worden und werde von George Clooney in der Verkörperung von Gregor Gysi bedrängt. Und was tut man nicht alles, um in die Schlagzeilen zu kommen...    

   

6. Die Piraten

Zwar kennen sie den Bundestag höchstens als Besucher von innen (und arbeiten eifrig darauf hin, dass dies so bleibt), doch sitzen sie bereits in Landtagen und Kommunalparlamenten: die Piraten, eine bunte und flippige Wohlfühlpartei, schillernd wie eine Seifenblase, und gerade deshalb zumindest eine Zeitlang Darling der entpolitisierenden Politikteile in den Medien.

 

Das Motto „Wenn schon der Inhalt nichts taugt, sollte wenigstens die Form stimmen“ ist nur bedingt auf die Freibeuterpartei zu übertragen. Zwar sind Erscheinungsbild und  Forderungskatalog durchaus amüsant: ein wenig Basisdemokratie, viel Diskussionschaos, Tierschutz für das Internet, alles sofort kostenlos (umsonst), erstes Gieren nach Mandaten und Diäten; doch kann man die Inhalte keineswegs als verwerflich abqualifizieren. Die wesentlichen Aussagen der Piraten lassen sich bündig in folgenden anderthalb Zeilen zusammenfassen: „..........................................
............................................................................................................

.........................!“ „Oh, du glücklichster Kerntext einer Partei, der keine einzige Lüge und kein listiges Wahlversprechen für Minderbemittelte enthält!“ möchte man frei nach Laurence Sterne ausrufen. Doch ach, die Piratenpartei hat auch noch Mitglieder. Und die gibt`s leider wirklich.

 

Der Eine zieht peinliche Vergleiche mit NSDAP-Erfolgen, die Andere propagiert nach Parteiräson die kostenfreie Wiedergabe von Geistesprodukten, möchte auf die eigenen Tantiemen aber nicht verzichten, der Dritte weigert sich, von seinen Abgeordnetendiäten etwas abzugeben – wo keine Linie, da doch wenigstens Zoff. Die Namen? Unwichtig, braucht man sich nicht zu merken.

 

Die Piraten pflegen die Basisdemokratie. Doch da die Basis oft gerade beschäftigt ist, einkaufen geht oder keine Ahnung hat, kann sie auch einen Vormund, Paten, Guru (oder wie auch immer das bei ihnen heißt) damit beauftragen, das Stimmrecht für sie wahrzunehmen. Das ist praktisch gedacht, es entspricht aber nicht gerade dem Gedanken der direkten Demokratie, wenn es heißt: „Abstimmen sollen wir? Lass den Papa das mal machen.“

 

Allzu viel sollten wir über das Gebaren der Piraten allerdings nicht nachgrübeln. Mit dieser Partei scheint es sich wie mit dem Zeitgeist zu verhalten: Erst kommt er mächtig auf, dann ist er ganz schnell wieder weg.

 

7. Die SPD

In Nieder-Oberbayern sagt der Hubers Bauer zum Meiers Sepp, als er den einzigen Sozialdemokraten im Dorf das Bräuhaus betreten sieht: „Da kimmt`s widda, de rode Sockn!“ Der Neuankömmling hört dies, erbleicht und erwidert schüchtern: „Stimmt ned, i bin ganz farblos.“  Dieser kleine Scherz wurde von mir konstruiert und gehört dennoch nicht zu den Glanzlichtern des politischen Humors; dafür kennzeichnet er ganz gut den Zustand der SPD.

  

Spätestens seit dem Start der Bundesrepublik hat die SPD konsequent und engagiert alles aufgegeben, wofür sie einst zu stehen schien. Im Godesberger Programm 1959 wurde Marx zur Unperson, stattdessen faselte man von der „volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“, die möglicherweise jetzt gerade präsentiert wird. Bei den Notstandsgesetzen war die SPD mit von der Partie, unter Helmut Schmidt wurden in Hamburg Spezialeinheiten der guatemaltekischen Völkermörder Lucas García und Rios Montt (steht derzeit wegen Ausrottung indianischer Gemeinschaften  vor Gericht) geschult, und Schröder half den Armen mit seiner Agenda 2010 und einer nach dem berühmtesten Bordellkenner der Republik Hartz IV benannten Sozialreform auf die Sprünge (aus dem sechsten Stock). 

 

Dass die SPD überhaupt noch ernstgenommen wird, hängt damit zusammen, dass sie Posten zu verteilen hat: in Stadträten, Kreisräten, Landtagen, Sozialverbänden, manchmal auch in Gewerkschaften, im Bundestag und möglicherweise – wenn noch mehr über den gefürchteten Arbeiterführer Steinbrück durchsickert – im kommenden Wahlkampf als Ersatz-Kanzlerkandidat. Scheitert man, lässt die einst rote Mama SPD einen weich fallen, wie etwa den Berufsjugendlichen Gabriel, der nach seiner Abstrafung durch den Wähler in Niedersachsen für ein Jahr den Bundes-Pop-Beauftragten mimen durfte.

 

Andere gingen selbständig ihren Weg der Aussöhnung mit dem Klassenfeind, etwa der Versicherungsvertreter und Arbeitsminister Walter Riester, dem angesichts der eigenen Verrentungsaussichten so mulmig zumute wurde, dass er in den Aufsichtsrat eines Finanzdienstleisters flüchtete. Oder Gerd Schröder, der einstige Testosteron-Macho im Kanzleramt, der mit dem lupenreinen Kumpel Putin (masc.; fem. im Spanischen puta – bitte im Wörterbuch nachschlagen) die Ostsee per Ölpipeline unsicher bis unanwohnbar machen will.

 

Das sind extreme Beispiele, sagen Sie. In keinster Weise. Den letzten Rest an Solidarität hat sich die SPD für jene aufbewahrt, die ihr letztes Hemd und den letzten Gesinnungsfetzen dafür gegeben haben, dass es ihnen dereinst einmal gut gehen möge. Und so wird Farblosigkeit am Ende doch honoriert.

 

Man wird mir vorwerfen, dieser Beitrag über eine Volkspartei sei zu kurz geraten. Das mag sein, aber zum Thema „SPD“ fällt mir einfach nichts mehr ein.

 

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 10/2012

 

 

 

 

  

Kissinger goes to Fuerth 

 

Die SpVgg Greuther Fürth ist ein sympathischer Verein in der Fußball-Bundesliga. Sie hat wenig Geld, friedliche Fans, keine Allüren und galt bis zu ihrem Vormarsch in die erste Division als „unaufsteigbar“. Wenn nicht alles täuscht, wird sie bescheiden bleiben, einige reichere Klubs ärgern und sich nach angemessener Zeit wieder zu einem beschaulichen Dasein in die zweite Liga zurück verfügen. Allerdings hat die Spielvereinigung einen Ehrengast und Lieblingsfan, der zu denken gibt: HenryKissinger.

 

Was den Mann zunächst sympathisch macht und Mitgefühl weckt: Er wurde 1923 in Fürth als Heinz Alfred K. geboren und zeigt sich auf Fotos und in Interviews als verschmitztes Pendant zum Neuro-Komödianten Woody Allen. Mit den Eltern emigrierte er 1938 aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA, etliche andere Mitglieder der Familie starben in Konzentrationslagern. Im Kalten Krieg war sein Name mit einer Art Entspannungspolitik zwischen den Großmächten verknüpft.

 

Der andere Kissinger: Der stramm rechte Politikwissenschaftler diente der US-Regierung unter den Präsidenten Nixon ( überführter Watergate-Lügner) und Ford von 1969 bis 1973 als Nationaler Sicherheitsbeauftragter und dann bis 1977 als Außenminister. Die Bilanz seiner Aktivitäten in dieser Zeit liest sich wie eine Liste vorsätzlicher Ungeheuerlichkeiten:

 

- Henry Kissinger war maßgeblich an der Militärdoktrin, nach der Vietnam  

  „in die Steinzeit zurückgebombt“ werden sollte, beteiligt.

- Laut einer ARTE-Dokumentation war Kissinger der geistige Vater    

  des völkerrechtswidrigen (nicht erklärten) Luftkrieges gegen Laos, in

  dessen Verlauf jahrelang Tag und Nacht eine Bombenlast auf das kleine

  Land niederging,die insgesamt die Tonnage der gesamten Abwürfe

  während des Zweiten Weltkrieges übertraf. Noch heute verlieren

  laotische Bauern auf ihren Feldern Arme, Beine oder das Leben durch

  Minen und Splitterbomben von damals.

- Kissinger wirkte als Mentor bei den Putschvorbereitungen Pinochets

  gegen den gewählten sozialistischen Präsidenten Allende in Chile mit.

- Außerdem orchestrierte er in Südamerika die Aktion Condor, mit

  deren Hilfe den USA gewogene Generäle missliebige Regierungen

  beseitigen sollten. So geschehen u.a. in Argentinien und Uruguay mit

  Zehntausenden von Ermordeten und „Verschwundenen“.

 

Lohn und Rechenschaft: Als die US-Regierung einsah, dass sie den Krieg in Vietnam nicht gewinnen konnte, stimmte sie Verhandlungen zu. Henry Kissinger und der nordvietnamesische Außenminister Le Duc Tho handelten ein Friedensabkommen aus, wofür 1973 beiden der Friedensnobelpreis verliehen wurde, wobei wenigstens der Mann aus Hanoi den Anstand besaß, die Ehrung abzulehnen, da der Krieg noch weiterging und erst mit der Flucht der letzten US-Truppen aus Saigon endete – nach drei Millionen Toten, darunter zwei Millionen Zivilisten, in der Mehrheit Opfer der amerikanischen Luftangriffe. Doch es gibt Staaten, die Kissingers Anteil an der Menschenvernichtung nicht vergessen haben und in denen Haftbefehle existieren. In Europa war es der damalige spanische Untersuchungsrichter Garzón, der auch schon Pinochet in London festsetzen ließ, der Kissinger wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Gerichtshof bringen wollte (den die USA übrigens als nicht zuständig für eigene Staatsbürger erachten).

 

In Mittelfrankenaber überschlagen sich die Gazetten, wenn der „berühmteste Fürther“ zu Besuch kommt, um sich eine Heimniederlage der sympathischen Spielvereinigung im Stadion anzusehen. Überspitzt gefragt: Was hätten dieselben Journalisten wohl geschrieben, wenn sich Saddam Hussein als Schalke-Fan geoutet hätte und zu Heimspielen nach Gelsenkirchen eingeschwebt wäre?

 

10/2012 

 

 

 

 

US-Wahlen: Pest? Cholera?

 

Sie sammeln Hunderte von Millionen Dollar ein, liefern sich TV-Duelle, in denen die richtige Schminke und ein flotter Spruch mehr zählen als gediegene Argumentation oder gar ein Plan für die Zukunft, werden mit Konfetti beworben und mit schriller Hysterie gefeiert, sie setzen Detektive aufeinander an, predigen eine Moral, die jenseits aller Grenzen vonGod`s own countryKopfschütteln verursacht, versprechen Lobbyisten, was diese wollen, und „ihren“ Bevölkerungs-, Religions- und Berufsgruppen sowie den ethnischen Minderheiten, die jetzt als Zünglein an der Waage und nach der Wahl wieder als menschlicher Abfall gehandelt werden, die Erfüllung aller Forderungen: US-Präsidentschaftskandidaten im Endspurt. Kann man das ernstnehmen? Man muss, leider!

 

Auf der einen Seite steht Barack Obama, der mit so viel Vorschusslor-beeren gestartet war und noch vor einer ersten Bewährungsprobe mit einem Friedensnobelpreis für schöne Worte ausgezeichnet wurde, ein Präsident, der sein Land direkt wie klandestin in mehr kriegerische Konflikte geführt hat als selbst der unsägliche George W. Bush vor ihm, der die Guantanamo-Gefangenen weiterhin in subhumanem Knast schmoren lässt, obwohl er doch das Ende der Schande versprach, der keine echte soziale Alternative für die vielleicht 40 bis 50 Millionen wirklich Armen in den USA entwickelte, der allenfalls einer Minderheit der illegalen Immigranten ein wenig Erleichterung vom Verfolgungsdruck verschaffte. Man darf natürlich nicht verkennen, dass Obama durch den Kongress in einigen Angelegenheiten (z. B. Krankenversicherung für die Unterschicht) behindert wurde, doch wer hierzulande denkt, Obama, der eine Banken- und Börsenregulierung ebenso ablehnt wie die Abschaffung der Todesstrafe oder einen angesichts der katastrophalen Entsorgungs-situation in den USA dringendst angesagten Ausstieg aus der Nuklear-energie, sei einem irgendwie gearteten „linken Lager“ zuzurechnen, der täuscht sich gewaltig. Auf das deutsche Polit-Spektrum übertragen, wäre Obamas Spektrum am rechten Rand der CDU zu orten, wo man soziale Reparaturen allenfalls dann goutiert, wenn man damit die Leute ruhigstellen kann.

 

Auf der anderen, oder besser: noch reaktionäreren Seite steht Mitt Romney, Mormone (also Anhänger einer Glaubensgemeinschaft, deren von Engeln ausgeliefertes  Book of Mormon derart krude Visionen anbietet, dass selbst der Papst und andere Anführer christlicher Großsekten sich andererseits wie Mütter der spirituellen Vernunft fühlen dürften), ein Darling der American Rifle Association, ihrerseits wieder Urmutter aller Amokläufe, ein Repräsentant genau des Finanzkapitalismus, der mit schimärischen Geld- und Anteilsverschiebungen, Wetten auf profitable Entwicklungen (und vor allem Wetten dagegen) Millionen gemacht hat, der ausdrücklich sozial Schwache verachtet, der die Welt als Blinddarm Nordamerikas betrachtet und möglicherweise für einen Erstschlag gegen den Iran an der Seite Israels bereitstünde. Zwar gab es auch schon stramm rechte Präsidenten, unter denen nichts besonders Katastrophales passierte, etwa den Ersatzbankspieler Gerald Ford, doch macht Romney den Eindruck eines Mannes, der für den eigenen Vorteil nicht nur die eigenen Eltern, sondern auch den relativen Frieden zwischen den großen Mächten opfern würde.

  

Ein Blick auf das politische Spektrum in den USA: Wenn hierzulande SPD und Union in weiten Teilen ununterscheidbar geworden sind, so gilt das für die nordamerikanischen Republikaner und Demokraten seit geraumer Zeit in verstärktem Maß. Eine Links/Rechts-Orientierung ist kaum möglich, waren doch auch schon Südstaaten-Gouverneure der Demokratischen Partei Mitglieder des Ku-Klux-Klan. Die mehrheitsfähige ideologische Gefühlslage in den USA stellt sich als eine Mischung aus Sozialdarwinismus à la FDP und rigorosem, den Denkschemata der deutschen Reps ähnelndem Nationalismus mit einem Schuss kreationistischer Naiv-Religiosität dar: Adam statt Affe, nix Darwin!

 

Eine wichtige Rolle bei politischen Entscheidungen spielt auch der latent vorhandene Rassismus vor allem der weißen Bevölkerungsmehrheit. So können die im Land geborenen Chicanos ein Lied davon singen, wie selbst eine Fähigkeit übel ausgelegt werden kann. Sie werden misstrauisch beäugt, weil sie SpanischundEnglisch sprechen. Unter ihnen kursiert ein bitterer Scherz: „Wir sind zweisprachig, also müssen wir dümmer sein.“ Noch schlimmer trifft es natürlich die Afro-Amerikaner, denn in ihrem Fall treibt den Bevölkerungsteil, der ihnen erst Freiheit und Kultur, dann soziale Wiedergutmachung vorenthielt, das schlechte Gewissen in Aversion und Diskriminierung.

  

In der letzten Wahl retteten die ethnischen Minderheiten Obama vor der Niederlage gegen den geistig weit unterlegenen Gegenkandidaten McCain; in der weißen Bevölkerungsmajorität hatte der greise Krieger nämlich die Nase vorn. Und das, obwohl Obama halb weiß, nämlich Mulatte, ist. Doch in derwhite communitywird er ausschließlich als Schwarzer gesehen, auch wenn seine Politik im schlechtesten Sinn immer „weißer“ geworden ist. Da Obama die Hoffnungen derminorities weitgehend enttäuscht hat und er nicht mehr uneingeschränkt auf ihr Votum hoffen kann, werden ihn nun möglicherweise die Ressentiments der weißen Wähler die Wiederwahl kosten.

 

Man könnte sich eigentlich zurücklehnen, die Entscheidung in den USA als Wahl zwischen Pest und Cholera klassifizieren und sie mit dem höflichen Interesse eines neutralen Fußballzuschauers vor dem Bildschirm verfolgen. Ganz so einfach aber ist es nicht. Die Letalitätsquote liegt bei der Pest weit höher als bei der Cholera. Wir verbieten uns jeden Farbscherz (Pest =SchwarzerTod) und ordnen Romney die Menschheitsgeißel des Mittelalters zu. Denn von Obama ist nicht viel Gutes zu erwarten, mit Romney im Weißen Haus indes wird das Schlimmste denkbar.

 

10/2012

 

 

 

 

 

 










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