| Judas und die Heuchler Mit dreißig Silberlingen hätte sich Friedrich Merz, ehemals BlackRock-Statthalter in Deutschland, sicherlich nicht zum Verrat „überreden“ lassen – schließlich hat er als Assistent für schwerreiche Investoren im Heuschrecken-Modus selbst Millionen verdient. Da der beinahe manisch ambitionierte Sohn des Sauerlands nur einen als Herrn und Heiland anerkennt, nämlich sich selbst, kann auch von einem klassisch mythologischen Verrat wie im Neuen Testament nicht die Rede sein. Was allerdings stutzig macht: Für Merz, den Hüter des reinen Neoliberalismus, zählte bislang nur das Wort, sein Wort. Und das hat er nun gebrochen und damit den souveränen Wahlsieg gegen einen glück-, prinzipien- und (ziemlich) leblosen Olaf Scholz zumindest kurzfristig aufs Spiel gesetzt. Warum nur? Und wieso beschleicht eine/n angesichts der vermeintlich rechtschaffenen Empörung seiner Gegner ein gewisses Unbehagen? Gier macht Tölpel Eigentlich hätte sich der „Mann der Großkonzerne“ (Recherchenetzwerk CORRECTIV) zurücklehnen können und sich bis zum 23. Februar an den hilflosen Versuchen der Ampelreste, Tatkraft oder Weitsicht zu simulieren und das Scheitern ihrer Regierung nach dem Aufweichen und danach Aufgabe der wesentlichen Positionen in wichtigen Punkten zu entschuldigen, ausgiebig delektieren können. Klar, er war als arroganter Schnösel verschrien und immer wieder mal wurden seine Rolle als Handlanger und Lobbyist des Kapitals, etwa mittels seiner Anwaltskanzlei für die Pharmaindustrie, sowie seine Aversion gegen Sozialstaatsträume oder Klima- und Umweltschutz mild kritisiert, doch bei solchen Gegenkandidaten schien die Wahl bereits entschieden. Ausnahmsweise hatten die Polit-Auguren von SPIEGEL, Süddeutscher Zeitung und anderen Printmedien recht, die schrieben, das einzige relevante Hindernis für Friedrich Merz auf seinem Weg zur Macht in Berlin sei Friedrich Merz selbst, so dünnhäutig, unbeherrscht, wenig tolerant und empathisch, wie er nun mal auftrete. Allerdings verzeihen die Wähler immer gern, wenn sich Ausfälle von Politikern gegen Menschen wie Migranten oder Bürgergeldempfänger richten – vermeintliche Schmarotzer also, die auf der sozialen Leiter unter ihnen stehen. Tatsächlich kam dem CDU-Chef die eigene Ungeduld in die Quere. Statt abzuwarten, bis er das Sagen im Reichstag hätte, wollte er schon vorher – einem Donald Trump durchaus ähnlich – durch eiserne Entschlossenheit und rasches Handeln glänzen; und welches Sujet eignete sich dafür besser als der Streit um die „illegale“ Zuwanderung, eine Auseinandersetzung, die längst überwunden geglaubte Vorurteile und Rassendünkel in der Mehrheit der hiesigen Bevölkerung wiederauferstehen ließ und so zweitrangige Themen wie Daseinsfürsorge, soziale Ungerechtigkeit, marode Infrastruktur oder Erhalt von Natur und Atmosphäre in den Hintergrund drängte. Die kaum zu bändigende Gier nach der Macht, – die Übernahme vorzugsweise ad hoc – überwältigte den Juristen jenseits berufsüblichen Abwägens, und er begann, zugleich skrupellos und ungeschickt zu taktieren. Jetzt, sofort, am besten schon gestern, sollten Grenzen für Flüchtlinge ohne Visum dichtgemacht werden, Abschiebungen seien im Akkord durchzuführen – ob in Bürgerkriegsländer, Diktaturen oder Hungergebiete, egal! Bis die Vehikel für den Rausschmiss bereitstehen, würde man die Subjekte (auf Menschen beziehen sich die fünf Punkte des Kandidaten eigentlich nicht) im Knast unterbringen. Diese und weitere inhumane Härten wollte Merz in Gesetzesform gießen lassen. Dass etliches davon gegen die Genfer Konvention und geltendes EU-Recht verstößt, kümmerte den gelernten Anwalt nicht weiter. Wie er es sieht, wenn sich Politiker wie Merz aus leicht zu durchschauenden Gründen auf eine Anti-Flüchtlingsstrategie versteifen, statt die existenziellen gesellschaftlichen Baustellen anzugehen, machte Hannes Schamann, Professor an der Uni Hildesheim, in der SZ für sein Fachgebiet Migrationspolitik deutlich: „Sie knüpft Bande zwischen Gesellschaften, sie mildert globale Ungleichheit. Aber gegen viele gesellschaftliche und staatliche Krankheiten unserer Zeit hilft Migrationspolitik eben nicht. Manche kann sie sogar schlimmer machen. Selbst als Placebo.“ Das Gute: Ein kollektiver Aufschrei Den Populisten Merz, Trump und den Rechtsextremen von der AfD dient „Migrationspolitik“ in ihrer Horrorversion als Placebo für Menschen, die unter ihrem niedrigen sozialen Status leiden, oder Bürger, die Angst um ihren bescheidenen Wohlstand haben. Perspektiven werden ihnen nicht angeboten, nur Sündenböcke. Nun mag der begüterte CDU-Parteivorsitzende die Weidels und Höcke nicht, sie sind ihm zu vulgär, ihre Anhänger dürfte er als lauten Pöbel ansehen. Auch ist Merz wohl kein glühender Ausländerfeind, die Migranten in ihrem Elend bilden für ihn Manövriermasse in einem Wahlkampf, in dem er der AfD Stimmen abjagen will. Der abgehobene Kanzler in spe glaubt, Volkes Stimme zu verstehen und aus deren Essenz einen Coup gegen die Ampelparteien brauen zu können. Es ähnelte einer ungeschickten Erpressung, als er vor allem SPD und Grüne vor die Alternative stellte, mit ihm zusammen contra Migranten abzustimmen oder andernfalls zähneknirschend zu registrieren, dass er sich die Stimmen aus der Hölle holen werde. Merz fühlte sich zunächst wie ein gefeierter Macher, als das Pendel plötzlich zu seinen Ungunsten ausschlug. Der Entschließungsantrag (Fünf-Punkte-Plan zur Migrationspolitik) als Antwort auf die Regierungserklärung von Olaf Scholz ging am 29. Januar mit den Stimmen der Union, der AfD, der FDP und des BSW, das damit seine Glaubwürdigkeit endgültig verlor, noch im Bundestag durch, zwei Tage später jedoch setzte es eine krachende Niederlage. Eine knappe Parlamentsmehrheit lehnte das Zustrombegrenzungsgesetz ab, weil zwölf CDU-Abgeordnete und etliche Freidemokraten nicht dafür votieren wollten. Da stand er nun, der Judas, der einst Treue gelobt und eingefordert hatte, indem er am 11. Januar deklarierte: „Wir sollten vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben. Denn das hätten diese Damen und Herren von Rechtsaußen doch gern, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen.“ Hier enden die Ähnlichkeiten mit der biblischen Geschichte, denn Merz/Judas verriet nicht seinen Herrn Jesus, sondern sich selbst bzw. seine hehren Aufforderungen zu politischer Keuschheit. Und er tat es auch nicht des schnöden Mammons wegen, sondern weil er Trumps Tempo und Furor der Machtergreifung nacheifern wollte. Merz taugt also nicht zur Gestalt des Neuen Testaments, nach eigenem Bekunden aber auch nicht als christdemokratische Führungsfigur. Die „Brandmauer“ gegen die AfD sei in der Union Chefsache, betonte er noch am 24. Januar. „Ich knüpfe mein Schicksal als Parteivorsitzender der CDU an diese Antwort.“ Angesichts der Tatsache, dass ein zweifaches Votum der Rechtsradikalen, das ihm genehm war, ausreichte, um die Brandmauer abzufackeln, müsste Merz jetzt eigentlich seinen Abschied nehmen. Mit ziemlicher Sicherheit haben auch die Demonstrationen in der ganzen Republik, auf denen Wertkonservative mit humanistischem Hintergrund, Kulturliberale vom alten Schlag, Alternative und ökologisch Bewegte sowie Linke zu Hunderttausenden gegen die gleichzeitig perfiden wie irrigen Pläne eines Machtbesessenen auf die Straße gingen, etliche Unionspolitiker und FDP-Abgeordnete zur Stimmenthaltsamkeit im Bundestag bewogen – soweit das Positive. Ein beträchtlicher Teil des Landes ergibt sich diesmal nicht in gelähmtem Schweigen Ausländerfeinden mit faschistischen Neigungen und ihren bürgerlichen Helfershelfern. Das Schlechte: Die Selbstgerechten Andererseits wird Merz vermutlich dennoch Kanzler werden, denn wenigstens die Hälfte des Landes stellt Migranten seit der Tat von Aschaffenburg unter Generalverdacht und denkt nicht darüber nach, wie bescheiden sich die traurige Zahl der von psychisch kranken, religionsfanatischen oder schlicht kriminellen Flüchtlingen getöteten oder verletzten Deutschen ausnimmt angesichts der Anzahl der Einheimischen, die in Kliniken von syrischen Ärzten und Pflegern gerettet und medizinisch versorgt wurden. Noch etwas fällt bei näherer Betrachtung des Geschehens unangenehm auf. Den biblischen Aposteln sollte man nicht unbedingt glauben, aber sie liefern für diverse Situationen treffende Sprüche. So lässt Lukas einen Pharisäer beten, er danke Gott dafür, dass er nicht sei wie jene (gemeint sind üble Menschen). Diese bigotte Hybris legen derzeit auch die Spitzen von SPD und Grünen an den Tag. Sie wenden sich nun mit Verve (und formalen Argumenten) gegen Merz, weil sie durchschaut haben, dass er sie im Bundestag als Stimmvieh missbrauchen wollte, um dem Wahlvolk seine Tatkraft zu demonstrieren. Die Inhalte seines Begehren stehen es dabei weniger im Fokus, haben sich doch auch Scholz, Habeck, Faeser und andere – erst zögerlich, dann immer deutlicher – dem Vokabular und der Wagenburg-Hysterie der AfD angeschlossen, bis diese schließlich die inhaltlichen Schwerpunkte der öffentlichen Debatte bestimmte. In plapperseliger Naivität signalisierte Robert Habeck dem Unionsboss bei Maybrit Illner im ZDF unlängst klandestine sachliche Übereinstimmung. Er habe seinem Kontrahenten nach der Abstimmung im Bundestag gesagt: „Herr Merz, finden wir einen Weg da raus?“ Dieser vertrauliche Ton überrascht zunächst, bis Habeck die Katze aus dem Sack lässt: „In der Zielsetzung gibt es keinen Dissens. Dissens gibt es nur in der Methode.“ Mit anderen Worten: „Raus mit den Flüchtlingen, jawohl; aber bitte einvernehmlich und ohne Nazi-Beteiligung!“ 02/2025 Dazu auch: Alternative Merz? und Robert Wendehals im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit (beides 2023) |
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