Welt auf dem Kopf


In diesen Zeiten sind Gewissheiten selten und nicht von langer Dauer. Dass sich im Augenblick aber Paradigmen, Treueschwüre, ambitionierte Vorhaben oder ethische Ausschlusskriterien immer häufiger ins Gegenteil verkehren bzw. in Luft auflösen, impliziert eine Situation multilateraler Absurdität. Für viele ist dieses geistig-historische Chaos nicht ganz zu Unrecht eng mit dem Namen Trump verbunden, doch sollten sie nicht übersehen, dass Donalds Epigonen mittlerweile überall lauern.


Die neue Bomben-Diplomatie


Einst verdächtigte man das Mullah-Regime in Teheran, den Bau der Atombombe voranzutreiben. Nun wünscht sich niemand, der bei Sinnen ist, das Erscheinen einer neuen kriegerischen Nuklearmacht auf der Weltbühne, schon gar nicht, wenn es sich dabei um einen Gottesstaat handelt. Also verhandelte man lange und zäh, drohte mit Mega-Sanktionen, bis sich der Iran mit der friedlichen Nutzung von Kernenergie zufriedengab. Dann aber gelangte Donald Trump ins Weiße Haus, ein Mann, der Gerüchten, Verschwörungstheorien und seinen eigenen Ressentiments mehr glaubt als den lückenlosen Überwachungsberichten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), denen zufolge sich Teheran an die Vereinbarungen hielt.


Also kündigte der US-Präsident kurzerhand den Vertrag, und die Mullahs reicherten das Uran daraufhin nach Herzenslust, möglicherweise bis zur Bombentauglichkeit, an. Trump wurde abgewählt, die Biden-Regierung unternahm – wie üblich – nichts, und Anfang 2025 kehrte der erratische Berserker Donald wie zu einem schaurigen Déjà-vu ins Oval Office zurück. Jetzt aber behauptete er den Vertrag anzustreben, den er Jahre zuvor willkürlich annulliert hatte. Er drohte mit Zerstörung – und bot neue Verhandlungen an. Und während er noch von Diplomatie säuselte, überzog sein Lieblingsverbündeter Benjamin Netanjahu, den nur sein Amt vor einem israelischen Knast schützt, den Iran mit Luftkrieg und Bombenterror. Zwar brachte Trump daraufhin einen Waffenstillstand und Gespräche ins Spiel, schloss sich aber wendig seinem mutmaßlich erfolgreichen Geistesfreund in Jerusalem an und ließ die eigene Luftwaffe von der Leine.


Was man/frau daraus lernen kann? Verträge müssen nicht gehalten werden. Wenn man ihren Abschluss aber im Augenblick für opportun hält, sollte man erst einmal bombardieren, bevor man verhandelt – und sich günstigstenfalls mit dem Feind auf dessen Kapitulation einigt. Auch werden Kriege nicht mehr erklärt, sondern nach Lust, Laune und Interesse an einem vorteilhaften deal entfesselt. Man darf sie inzwischen gemäß Trump-Mentor Putin auch als militärische Spezialoperationen verharmlosen – selbst wenn sie vier oder mehr Jahre dauern und Hunderttausende Menschenleben kosten.


Ein Quartalsirrer wird gesellschaftsfähig


Trumps eifriger Gefolgsmann hierzulande, Bundeskanzler Friedrich Merz, mochte die Angriffe auf den Iran nicht kritisieren, für Israels Attacke wählte er sogar eine Formulierung, die ihm Lob von seinem Herrn und Meister in Washington eingebracht haben dürfte. „Das ist die Drecksarbeit, die Israel macht für uns alle.“ Die für üppige Kollateralschäden bekannte Kriegsführung der Regierung in Jerusalem, die Hunderte ziviler Opfer im Iran gefordert hat, wird hier zu fleißigen Reinigungsarbeiten ganz im Sinne des Westens verklärt. Vielleicht hätte Merz ergänzend noch den Hygiene-Eifer der israelischen Armee bei der weitgehenden Säuberung des Gaza-Streifens von palästinensischer Bevölkerung hervorheben sollen. Der renommierte iranische Schriftsteller Navid Kermani, übrigens ein scharfer Kritiker des Mullah-Regimes, fand für die verbale Entgleisung des deutschen Kanzlers deutliche Worte in der SZ: „Wer Respekt vor der Drecksarbeit hat, Bomben auf Zivilisten abzuwerfen, ist selbst ein Dreckskerl.“


Doch während Friedrich Merz nur ein Mann des (Un)Worts ist, profiliert sich Donald Trump als Mann der (Un)Tat. Er kastriert das Justizwesen, indem er unliebsame Richter und Staatsanwälte entlässt, weist Millionen, die seit Jahrzehnten für die Landwirtschaft oder das Gesundheitswesen in den USA unentbehrlich waren, in ihre (oft genug mit Hilfe Washingtons) destabilisierten Heimatländer aus, kürzt den Armen die Sozialhilfe, schürt den Hass auf Minderheiten und versucht, sich der Medien und der Universitäten zu bemächtigen. Der Weg in eine autokratisch gesteuerte Gesellschaft scheint vorprogrammiert.


In Westeuropa  mokierten sich die meisten Regierungen zunächst über den Krawallkurs des großen Narzissten – inzwischen knicken sie reihenweise vor ihm ein. Als Trump tobte, die EU-Staaten sollten künftig für den Schutz, denen ihnen die USA gewährten, mehr zahlen, ihnen dann befahl, drei Prozent, später sogar fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Militärausgaben aufzuwenden, schüttelten die Verantwortlichen in Berlin, Paris oder Brüssel zunächst ungläubig den Kopf. Nachdem sie ihre Hälse in Rekordzeit gewendet hatten, krochen sie zu Kreuze und versprachen nun (mit Ausnahme Spaniens), bis 2025 die geforderten fünf Prozent aufzubringen – Billionen, die in der maroden Infrastruktur (soweit sie sich nicht zu Kriegszwecken nutzen lässt), in der Daseinsvorsoge und im Kampf gegen die Umweltzerstörung fehlen werden! Und dass die Rüstungsindustrie mit einer Überproduktion von konventionellen Waffen ein Land in Zeiten asymmetrischer Kriegsführung und atomarer Bedrohung wesentlich sicherer machen kann, ist doch sehr fraglich.


Die sehr flexible Wertegemeinschaft


Doch die exklusive EU-Gesellschaft, diese selbsternannte Wertegemeinschaft, die ihren humanitären Anspruch vor allem durch hochtrabende Worte und weniger durch soziale Taten untermauert, benötigt gar keinen Donald Trump, um blitzschnell von der reinen Menschenrechtslehre abzufallen. So gelten die Gebote der Bewegungs- und Reisefreiheit, des Seerechts und der vorrangigen Hilfeleistung nicht mehr, wenn es sich bei Ertrinkenden im Mittelmeer um Flüchtlinge handelt. Das Völkerrecht wiederum wird sehr wählerisch interpretiert: Putins Aggression gegen die Ukraine wird zu Recht als Verstoß gewertet, Netanjahus „Präventivschläge“ hingegen werden von vielen „Moralisten“  mit wohlwollendem Schweigen oder gar – siehe Merz – derber Ermunterung begleitet.


Wenn einige EU-Staaten fordern, die Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee, die palästinensische Familien kreuz und quer durch den Gaza-Streifen treibt, von Nahrung abschneidet, um sie dann bei den wenigen Essensausgabestellen zu beschießen, und Schulen sowie Krankenhäuser gezielt in Schutt und Asche legt, durch wirtschaftliche Sanktionen gegen Jerusalem zu ahnden, steht die Bundesrepublik in Nibelungentreue zur Regierung Netanjahu.


Überhaupt gleichen Anstand und Verantwortungsbewusstsein in Berlin kleinen Fähnchen, die sich leicht im Wind drehen. Vor allem die Christen-Union betont stets den „Vorrang der Familie“. Das gilt aber nicht für alle Menschen. Flüchtlinge, die hier nur subsidiären Schutz genießen, dürfen nun (vorerst) zwei Jahre lang keine Angehörigen mehr nachholen. Das bedeutet, dass Kinder ohne Eltern aufwachsen müssen, hilflose und alte Menschen ohne Unterstützung durch Verwandte bleiben, ganze Familien möglicherweise für immer auseinandergerissen werden. Durchgesetzt hat dies im Bundestag die CDU/CSU-Fraktion – mit Hilfe der SPD-Abgeordneten (und der AfD).


Ein winziger positiver Aspekt fällt auf, wenn sich man die Diskussion und das Abstimmungsverhalten zur Aussetzung des Familiennachzugs näher ansieht: Die Grünen haben sich vehement gegen das inhumane Vorgehen ausgesprochen. Machtverlust scheint also doch manche Politiker läutern zu können. Die Bereitwilligkeit, mit der sich die Öko-Partei als Ampel-Mitglied den Asylvorstellungen der AfD näherte, legt allerdings den Schluss nahe, dass die Entscheidung wohl anders ausgefallen wäre, hätte es zu einer Koalition mit der Union gereicht. 


06/2025


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