Neo-alte Weltordnung?


Uwe Friesel, Schriftsteller, Dramaturg, Mitherausgeber der AutorenEdition bei Bertelsmann und Ex-Vorsitzender des deutschen VS, ist neben Uwe Timm einer der profiliertesten literarischen Chronisten der 68er Generation. Im folgenden Essay kritisiert er die Machtpolitik in der Ära Trump/Putin, die Verwerfungen in der zweigeteilten Nachkriegsgeschichte unseres Landes sowie die mediale Manipulation, die geschichtsvergessene reaktionäre Einstellungen bei vielen jungen Menschen fördert und einen Generationenkonflikt befeuert.


Europa sieht alt aus in Zeiten Trump’scher Geschichtsdeutung. Der alte Kontinent ist out und Amerika ist in. Oder great. China ist noch um einiges größer und wirkt in der Anmeldung geografischer Ansprüche mittlerweile ebenbürtig. Selbst kleinere Länder wie Israel und die Türkei tun es den Großmächten nach: Krieg als Politik mit anderen Mitteln. Wir erleben ein Dirigat egomanischer Potentaten, die verstehen, dass die preußische Musik von gestern wieder funktioniert.


Nicht, dass sie allesamt musikalisch wären oder wenigstens Schach könnten, doch in bizarren Kakophonien und Rochaden kennen sie sich aus. Weltfrieden oder auch nur ein Gleichgewicht des Schreckens sind ihnen im Wege – für Remis oder Wohlklang sind sie nicht zu haben, für Demokratie schon gar nicht.


Globale Probleme? Welche Probleme? Die Klimakrise ist ihnen schnurzegal – es gibt gar keinen Klimawandel, obwohl gerade sie ihn befeuern. Laut ihrer paläontologischen Logik haben Industrialisierung, Verstädterung, Bodenversiegelung, Kanalisierung der Flüsse, Trockenlegung der Moore, Plastik-Verseuchung der Meere, Abholzung der Regenwälder mit der zunehmenden Erderwärmung nichts zu tun, mögen auch weltweit Eisberge und Gletscher abschmelzen.


Man könnte angesichts solcher Despoten, die auch gern, ob nun gläubig oder atheistisch, Kinderköpfe tätscheln oder mit Kerzen am Altar stehen, dieser Multimilliardäre, die angeblich mit allen Mitteln (die eigene) Korruption bekämpfen – man könnte versucht sein, bei ihrem Anblick an den alten Zungenbrecher aus Kindheitstagen zu denken: Hottentotten-Potentaten-Tanten-Attentaten-Täter. Doch gegenwärtig sind nicht einmal Zungenbrecher harmlos, denn Attentate auf diese Potentaten werden fehlschlagen: Sie selbst sind ja die Gewalttäter. Und schaffen es zugleich, von uns gewählt zu werden, ganz demokratisch. Hatten wir das nicht schon? Erinnern wir uns noch, wenn auch nur vage?


Dass Trump sich trotz deutscher Vorfahren nicht erinnert, ist klar, jetzt da AfD-Frau Weidel im Einklang mit einem völlig außer Rand und Band geratenen Präsidenten-Flüsterer Elon Musk über Brandmauern schwadroniert. Es gebe sie nicht und sie seien auch gar nicht nötig, sagt auch US-Vizepräsident Vance. Sich gegen die AfD abzugrenzen, das sei eine Einschränkung der demokratischen Meinungsfreiheit, und deren oberster Wächter sei eben jener wahnwitzige Elon Musk. Der hat ja, um alle Welt über Meinungsfreiheit aufzuklären, eigens die Plattform Twitter gekauft und in das enigmatische X umbenannt. Via X  können nun auch du und ich, ganz anonym oder mit vollem Namen, aberwitzige Meinungen kundtun oder Bitcoins erwerben, genau wie Trump. Der ist dadurch noch reicher geworden als durch seine Immobilien-Spekulationen in New York, hinterzogene Steuern inklusive.


Was bei uns schieflief


Hier nun muss man sich als Bürger dieses mitteleuropäischen Kleinstaats namens Deutschland fragen, ob wir an Trumps absurdem Geschichtsbild und seiner Nazi-Affinität gänzlich unschuldig sind? Auch bei uns greift ja der Irrsinn um sich, ohne dass wir es zu merken scheinen. Lassen wir Adolf mal eine Weile beiseite und betrachten wir nur Deutschland in den Grenzen von heute. Noch immer haben wir nicht begriffen, was fast vier Jahrzehnte getrennte Geschichte aus diesem Einig Vaterland gemacht haben, nämlich ein Uneinig Vaterland.


Dabei hätten wir es an unseren spät hinzugekommenen Mitbürgern aus der Ex-DDR erkennen können. Ihnen ließ man in fortschrittlichen Arbeiter- und Bauernakademien eine Sozialisation angedeihen, die sie gegen den westdeutschen Turbo-Kapitalismus quasi wehrlos machte. Wohlgemerkt, die Rede ist von einem Kapitalismus, der sich demokratisch nennt, in dem Reisefreiheit herrscht - und der begehrte EURO. Wo quasi jeder kleine Budiker Luxuswaren vorrätig hat wie einst nur die Intershops in der alten Heimat für betuchte Wessis. 50 € Begrüßungsgeld reichen da nicht aus. Und ohne EUROs kein Einstieg in die ersehnte Karriereleiter. Nur wie sie erklimmen? Man musste zumindest über Fremdsprachen-Kenntnisse verfügen – es ging also schon damit los, dass die internationale IT-Sprache Englisch war und nicht Russisch.


Nach der Wende von 1989 lebte ich lange Zeit in Sachsen-Anhalt und erinnere mich jetzt an zwei Beobachtungen: etliche junge Ossis fuhren sich mit aufgemotzten Wessi-Schrottautos, die für Kopfsteinpflaster immer noch viel zu schnell waren, am nächsten preußischen Chausseebaum tot. Und wenig später: Der als Plaste-Bomber verspottete Trabi erlebte ein Revival, wird immer noch von Sammlern gehegt und gepflegt und inzwischen höher gehandelt als jeder alte Opel.


„Wohlstand für alle“ hieß nach dem Krieg das Versprechen vom Zigarren-Kanzler Erhard. Bis hin zum überraschend erfolgreichen EURO mitsamt den Grenzöffnungen und der Zollfreiheit in (West-)Europa nahm der ja auch zu. Jedenfalls bei den Westdeutschen. Dass die alten Kolonialländer in Afrika und Asien die Kosten trugen, interessierte kaum, auch nicht dass diese Länder eines Tages etwas vom Wohlstands-Kuchen fordern würden, zu dem sie uns selbst  die Zutaten geliefert hatten. Wir ignorierten auch, dass aus den Gastarbeitern der ersten Stunde und ihren Nachkommen deutsche Mitbürger wurden. Schließlich zahlten diese richtig Steuern und waren somit auch richtige Deutsche.


Und in der DDR? Da war’s grundanders gewesen. Die Näherinnen aus Nordvietnam sowie die Straßenbauer und Minenarbeiter aus Kuba oder Mozambik waren zwar willkommen, doch zu gleichberechtigten Mitbürgern werden sollten sie eigentlich nie.


Nach der Vereinigung klagten nicht wenige ostdeutsche Jugendliche, diese Fremdlinge samt ihren Kindern, die noch immer nicht richtig Deutsch sprächen, raubten ihnen die Arbeitsplätze. Sogar die Ausbildungsplätze. Und bei Bewerbungen würden ihnen dunkelhäutige IT-Spezialisten aus Mumbai die lukrativsten Posten vor der Nase wegschnappen.


Zuvörderst geht es hier um Befindlichkeiten. Man kann die Vorurteile dieser jungen Leute aus dem Osten nicht einfach als hirnrissig abtun. Denn weder wollen sie nach Amerika noch nach Australien auswandern, sondern einfach nur hierbleiben, in ihrer Heimat und ihrer vertrauten Sprach-Umgebung. Und sie haben auch nicht die Pflicht, solche Befindlichkeiten zu rationalisieren oder gar als eigenes Vorurteil zu empfinden. Deshalb ist nach meinem Dafürhalten die gutbürgerliche Empörung über ihre Anfälligkeit für Höcke-Sprüche wie „Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken!“ oder „Alles für Deutschland!“, die fatal an Nazi-Sprech erinnern, tatsächlich eine Art Arroganz.


Haben nicht auch wir Wessis allzu lange Parolen wie „Ausländer ’raus!“ geduldet? Besonders, da mit Ausländern meist junge Erwachsene gemeint sind, die scheinbar tatenlos an Bahnhöfen herumlungern (warum wohl?), sich aber trotzdem an deutsche Mädchen heranmachen und obendrein jene Jobs ergattern, die auch die Eingeborenen-Jugend gern gehabt hätte. Da macht es dann auch keinen Unterschied, wenn Flüchtlinge Folter und Gefangenschaft hinter sich haben und fast im Mittelmeer ertrunken wären, nein, sie haben andere Hautfarben und andere Tischsitten, tragen Kopftücher oder gar den Tschador – kurz, sie sind unerwünscht, sind Fremde, sind Schmarotzer an unserem Sozialsystem.


Konsumverhalten und Altersdiskriminierung


Die Veränderungen auf dem Globus seit dem Fall der Mauer und der als sicher empfundenen globalen Bi-Polarität bewirken bei uns eine Art Generationenkonflikt, die Altersdiskriminierung mit einschließt. Was habt ihr uns schon noch zu sagen, ihr Klugscheißer? hören Grundschullehrer hinter ihrem Rücken oder lesen es abends im Internet.


Was nun das Verhalten von Kindern und Jugendlichen betrifft, so spielt auch die Dauerberieselung von TV- und Internet-Werbung eine Rolle. Denn natürlich braucht jeder das neueste Paar Nike- oder Adidas-Sneaker, die dann ihrerseits wieder im billigeren Ausland produziert werden. Die Älteren sind ja sparsam, sprich geizig, und deshalb als Kunden zu vernachlässigen. Denn diese Älteren benötigen ja keinen Mercedes mehr, um dem BMW- oder Audi-Nachbarn zu imponieren, schlimmer noch, Senioren hätten gegen ein Tempolimit auf der Autobahn nichts einzuwenden, wenn dadurch Menschenleben gerettet würden. Doch da sei die Autoindustrie vor, samt ihren Lobbyisten! Porsche kehrt zum Verbrenner-Motor zurück? Gewiss doch! Man darf schließlich nicht die FDP-Klientel vernachlässigen.
Dies ließe sich nun beliebig fortspinnen. Doch man kann sicher sein, die Werbung wird sich umstellen, sobald sie erkannt hat, dass diese immer älteren Senioren die eigentlich potenten Käufer sind. Da gilt es, Renten und Ersparnisse zu plündern, bevor es zu spät ist.


Dummerweise bewirkt der erratische Trump etliche Irritationen. Die Perversität der Schuldumkehr, die er gerade vollzogen hat, als er der Ukraine die Verantwortung an Putins Angriffskrieg unterschob, kann nicht überboten werden, war aber auch nicht zu erwarten gewesen. Dass ein amerikanischer Präsident einen derartigen Irrsinn ungestraft zur offiziellen US-Politik gegenüber Russland erheben darf, ist neu. Es offenbart die Defekte einer Demokratie, die sich bis zur Unkenntlichkeit deformiert hat. Wachstum um jeden Preis heißt die Devise, und zwar auch bei der Gewichtung von Außenpolitik. Den Preis, fürchte ich, muss am Ende die Ukraine zahlen, zusätzlich zu dem furchtbaren Blutzoll und allen Gedenkfriedhöfen zum Trotz.


Und wir? 1968 sezierte Rudi Dutschke noch die Widersprüche des Spätkapitalismus. 2025 sind wir Philosophen aus dem Land der Dichter und Denker gehalten, die Wiederauferstehung des Manchester-Kapitalismus mit neuen Methoden in beiden Hemisphären genau zu analysieren. Sollte uns das zu beschwerlich vorkommen, schliddern wir womöglich blindlings in kommende Krisen hinein. Die Vergangenheit ist nicht tot, sie hat noch nicht einmal begonnen. Immerhin, soviel ist gewiss, die Ukraine wird auch nach einem gemeinsamen Triumph des Duos Putin./.Trump nicht von der Landkarte verschwinden.


Und wer weiß schon, was passiert, sollte Putin unerwartet ins Gras beißen? Die russischen Oligarchen in der Schweiz und anderswo haben nicht vor, Russland zu alter Größe zu verhelfen: Sie sind es zufrieden, wenn ihnen ihre Konten in aller Welt wieder zugänglich werden.


03/2025


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Eine gewisse Freiheit im Archiv der Rubrik Medien (2022)