Die Ungeliebten


Wohin man sieht, fallen in der Politik die Anstandsregeln, bröckeln die „Brandmauern“, wird aus der Distanz zu xenophoben und insgesamt misanthropischen Schmuddelkindern vom strikt rechten Ufer unversehens inhaltliche, ja beinahe innige Nähe. Ob ein larmoyanter Christian Lindner in einer TV-Talkshow endlich seine wahren Idole offenbart, Konservative in Brüssel verlässlich mit Rassisten paktieren oder sich eine französische Regierung zeitweise von den Chauvinisten des RN abhängig macht – überall werden die letzten Schamgrenzen überschritten. Das bürgerliche Lager erklärt sich in Windeseile zur Kapitulation bereit, wenn es um Flüchtlinge, Umwelt oder soziale Diskriminierung geht.


Schöne Bescherung


All überall macht sich derzeit die Weihnachtszeit medial breit, klingelt in den Ohren, verdirbt die Mägen und anästhesiert die ohnehin nostalgisch trunkenen Hirne. Und just in dieser bürgerlich-heimeligen Zeit des Jahres wird man/frau vor die drohende Wahl eines neuen (oder doch eher gebrauchten?) Bundestags gestellt, soll sich zwischen künftigen Heilsbringern im Überangebot entscheiden. Und während die Tanne zum Fest freudig ausgesucht wird, überfällt eine/n die nüchterne Binsenweisheit, dass in der Politik kein Wunschzettel hilft.


Denn was sich mehrheitlich da zur Auswahl präsentiert, hat im Gros weder Format noch Integrität aufzuweisen, und die mögliche Perspektive für dieses Land scheint eher auf tiefschwarze Stille Nacht als auf irgendetwas Erbauliches hinauszulaufen, so dass der nächste Allgemeinplatz an Sinn gewinnt: Wir stehen vor einer Entscheidung zwischen Pest, Cholera und noch weiteren tödlichen Seuchen. Harmlosere Krankheiten scheinen derzeit keine Chance auf den Einzug in das hohe Haus zu haben.


Die Kandidatenliste für die Wahl am 23. Februar lässt sich mit der Hitparade der deutschen Volksmusik vergleichen: seichte, gefühlige Liedlein mit redundanten, im Refrain allerdings bisweilen deftigen, Texten, vorgetragen von abgehalfterten SchlagersängerInnen. Aus den Top Six, und zugleich auch aus dem Bundestag, herauszufallen, drohen die Interpreten der FDP. Dass sie Koalitionsbeschlüsse nach Belieben ausbremsten oder sabotierten und sich so zu den gefährlichsten Feinden der Ampel-Regierung mauserten, wurde in den Medien zur Genüge dokumentiert und kommentiert und soll hier nicht nochmals beklagt werden. Auch über Christian Lindners Versuche, den Märtyrer und aufrechten (von Porsche zertifizierten) Kämpfer für die „freie“ Marktwirtschaft zu geben, breiten wir den Mantel des gelangweilten Schweigens.


Doch die Äußerung des Liberalen-Chefs, Deutschland müsse mehr Milei oder Musk wagen, verdient hier eine Würdigung, zumal dem Großteil der Presse Lindners ganz eigene Logik entging. Schon der kleine Christian bewunderte große Firmenlenker und wollte selbst ganz schnell reich werden. Nachdem er aber bei mehreren Startup-Versuchen auf die Schnauze gefallen war, beschloss er, lieber in der Politik den Konzernherren und Superreichen zu dienen. Da dabei Skrupel eher hinderlich sind, nimmt es nicht Wunder, dass er einen Berserker wie Elon Musk anhimmelt, der sich gerade mit Hilfe des Narzissten Trump ein Land und seine Institutionen aneignet, um bürgerlich-demokratische Hemmnisse für eine oft wenig nachhaltige Produktion sowie individuelle Gewinnmaximierung ohne Rücksicht auf (menschliche und ökologische) Verluste aus dem Weg zu kicken.


Mit dem argentinischen Präsidenten Milei hingegen verbindet ihn der Abscheu vor den Ausgebooteten der Gesellschaft, die sich weigern, auf ihr letztes Scherflein zugunsten des wirtschaftlichen Erfolgs heimischer Konzerne zu verzichten. Zwar würde der elegante Glamourboy Christian Lindner nie mit einem so prolligen Baumarktgerät wie der Kettensäge, dem liebsten Disruptionssymbol des Wirrkopfs in Buenos Aires, herumlaufen, doch wenn dieser ankündigt, er werde die Armen, die sich nicht selbst zu helfen wissen, eher auf der Straße sterben lassen, als staatliche Sozialleistungen zu gewähren, und neben dem Staat an sich auch die Gewerkschaften pulverisieren zu wollen, ist er hundertprozentig d‘accord. Ein solch aufrechter Neoliberaler, der mutig die Daseinsfürsorge der Bevölkerung für das in unserem System legitime hemmungslose Profitstreben minimieren würde, dürfte indes von neidischen Wählern, die genau wie er in der Wirtschaft zu wenig oder nichts gekommen sind, mitsamt seiner FDP im Februar abgestraft werden…


Spitzenduell und Groupies der Scharia


Es ist kaum zu glauben, aber der Mann, der wie ein Roboter, dem jegliche KI vorenthalten wurde, kommuniziert, der nach eigenem Bekunden unter Amnesie leidet, wenn es um kriminelle Finanzgeschäfte geht, und der seine Koalition so fest im Griff hatte wie ein Kleinkind seine Götterspeise, ist plötzlich in der Publikumsgunst fast mit dem schärfsten Widersacher gleichgezogen. Das liegt aber weniger an Olaf Scholz, der menschgewordenen Valium-Tablette im Kanzleramt, sondern eher an der Qualität des Herausforderers: Friedrich Merz, diesem erzkapitalistischen Großsprecher, dem es erkennbar an Verständnis für den gemeinen Menschen und die gefährdete Umwelt fehlt, der als akute Not nur anerkennt, was in den Chefetagen der Wirtschaft Kopfschmerzen verursacht, traut die Mehrheit der Bundesbürger eine nachhaltige Verbesserung ihrer eigenen Situation offenbar auch nicht zu.


So kommt es, dass ein Kanzler, der eigentlich angesichts seiner schuldhaften Verwicklung in den Cum-Ex-Milliardenbetrug vorsichtshalber schon einmal Zahnbürste und Unterhosen wegen eines hochnotpeinlichen Umzugs packen müsste, sich noch geringe Chancen auf eine Wiederwahl ausrechnen könnte, wäre seine SPD nicht in einer so katastrophal konturenlosen Tagesform: Die Rechtsaußen-Positionen, etwa der Flüchtlingsfeindin Nancy Faeser, überwiegen gegenüber den sozial-kosmetischen Rettungsversuchen eines Hubertus Heil.


Ganz ähnlich verhält es sich mit den Grünen. Dem Kanzlerkandidaten von eigenen Gnaden, Robert Habeck, nimmt man die tiefe Sorge um Weltklima, Naturschutz oder Menschenrechte längst nicht mehr ab, seitdem er eine Position nach der andern räumte, um sein Teilchen Macht in einer desolaten Regierung zu retten. Auch er hat eine nicht sehr vorausschauend agierende Industrie als eigentliches Sorgenkind entdeckt, das mit billiger Energie für unzeitgemäße Produktion zu unterstützen ist, auch wenn er dafür arabische Despoten hofieren, sich zum Schutzpatron der US-Fracking-Branche aufschwingen oder Ländern der Dritten Welt die dreckige Förderung fossiler Brennstoffe, damit Deutschland Strom zum „sauberen“ Wasserstoffeinsatz bekommt, aufschwatzen muss.


Diese „Spitzenkandidaten“, ziemlich unglaubwürdig und in weiten Bevölkerungskreisen unbeliebt, stehen also zur Wahl. Es hätte aber noch schlimmer kommen können: Viel populärer sind nämlich zwei höchst dubiose Figuren, die gegenwärtige Schieflagen, ob national oder global, dazu nutzen, sich zu profilieren. Da ist einmal Boris Pistorius, der Putins Überfall auf die Ukraine als Chance sieht, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen, und zwar nicht nur für den Truppeneinsatz in Europa, sondern auch auf fernen Ozeanen und in entlegenen Weltregionen, wobei das Staatsvolk auf Verzicht und Opferbereitschaft eingeschworen werden soll. 


Und da ist der egomane Super-Bayer Markus Söder, dessen erratische Kursänderungen, unerfüllte Ankündigungen, zahllose Fehler (vom völlig versemmelten Wohnungsbau über die Versäumnisse bei der Versorgung des Freistaates mit Windenergie bis hin zum wahltaktischen Totschweigen des Multi-Milliarden schweren Münchner Stammstrecke2-Desasters) ihm den Ruf eines Donald Trump light eingetragen haben. Söder der fortgesetzten Lüge zu zeihen, wäre unzutreffend, denn dank seiner manischen Überheblichkeit kann er nur als Wahrheit erkennen, was seiner Karriere nützt.


Kein Wunder, dass viele der deutschen Spitzenpolitiker in Flüchtlingen zunächst einmal Abzuschiebende sehen, verlangt das doch der von BILD und Social Media munitionierte Volkszorn von ihnen. Als Verstärkung eilt ihnen dabei Sahra Wagenknecht als neue Kraft zur Nutzung populistischer Strömungen zur Hilfe. Welche Vorteile selbst die sogenannte illegale Migration für die darbenden Teile der hiesigen Volkswirtschaft, etwa Kranken- und Altenpflege, Bau, Dienstleistungen oder Handwerk, bringen könnte, wird gar nicht erst ernsthaft geprüft.


Manchmal treibt die vorherrschende Migrantenfeindlichkeit seltsame Blüten. Kaum war der syrische Machthaber Baschar al Assad, der sich vom aufgeklärten Autokraten zum brutalen Despoten entwickelt hatte, aus Damaskus vertrieben worden, offenbarten einige Politiker, vor allem aus der Union geradezu blindes Vertrauen in den arabischen Jihadismus. „Es braucht jetzt schnell eine Roadmap für Rückführungen“, forderte Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef im Bundestag gegenüber der Rheinischen Post. “Wenn Schutzgründe wegfallen und damit in vielen Fällen das Aufenthaltsrecht erlischt, muss auch eine Rückführung nach Syrien möglich sein.“


Dobrindt, wir erinnern uns an ihn als Bundesverkehrsminister, der seinem unbedarften Nachfolger Scheuer das Maut-Desaster eingebrockt hatte, will also Menschen unverzüglich in den Machtbereich von HTS, hervorgegangen aus dem Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front, abschieben, und erhält dafür Beifall von Parteikollegen. Derzeit geben sich die Islamisten noch moderat, doch so hatten sich die misogynen Taliban bei ihrer Rückkehr nach Kabul zunächst auch verhalten. Wer wissen möchte, wie lange die Toleranz damals anhielt, möge sich bei afghanischen Schülerinnen, Studentinnen, Geschäftsfrauen, Künstlerinnen oder Journalistinnen erkundigen. Und die Bilanz der HTS-Milizen in der Provinz Idlib, die sie erfolgreich jahrelang gegen Assads Truppen hielten, liest sich nicht sehr ermutigend: Frauen hatten kein Wahlrecht, die dort praktizierte Auslegung der Scharia ließ Folter zu, Oppositionelle verschwanden spurlos und kritische Journalisten wurden ermordet. Vielleicht ist es ein bisschen früh, über Rückführung in Deutschland lebender syrischer Geflohener zu reden…


„Remigration“, würden die Ideologen der AFD präzisieren, denn sie haben das Thema in der Öffentlichkeit erst scharfgemacht, Ängste, Vorurteile bis hin zu Hass geschürt und so die anderen Parteien dazu getrieben, das eigene Profil aus Gründen der Opportunität auch ein wenig (vielleicht auch mehr, siehe vor allem die Union) in Richtung Inhumanität zu schärfen.


Copyright by AfD


Das „geistige Eigentum“ der „Alternative für Deutschland“ mag ein dumpf brodelndes Gemisch aus Aversionen, nationaler Hybris und brauner Untergangssehnsucht sein, immerhin gehört es der Partei exklusiv. Das deutsche Recht wiederum schützt diesen immateriellen Besitz, folglich müssten – streng genommen – Union, SPD, Grüne und FDP Tantiemen dafür zahlen, dass sie je nach parteiinternen Vorlieben in Sachen Migration und Abschiebung, Deutschtümelei alias Patriotismus und nationale Hybris, Abkehr von Umweltschutzmaßnahmen, Armen-Bashing, Schüren von Ressentiments gegen gesellschaftliche Minderheiten oder auch Selbstbestimmung der Frau über ihren eigenen Körper Anleihen beim Gedankengut der AfD tätigen. Die bräunliche Avantgarde der Restauration hat ihnen die Themen aufgezwungen und die „einfachen“ Lösungen vorgegeben, die teilweise auch vom BSW zwecks Wilderei im rechten Revier übernommen wurden.


Nur gibt es keine Polit-GEMA hierzulande, so dass die genannten Parteien lediglich ihre Glaubwürdigkeit verlieren, aber kein Geld, wenn sie die selbst propagierten Brandmauern gegen den durch „soziale“ Medien und Stammtischrhetorik befeuerten Chauvinismus Steinchen für Steinchen abbauen, im Gedankenspiel zunächst und dann auch bei der einen oder anderen kleinen Abstimmung, am Ende möglicherweise gar durch verschämtes Paktieren. Vorgemacht hat es ihnen die EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen, die hehre Naturschutzziele propagierte, um sie unter dem Druck rechter Bauern postwendend einzukassieren, und klare Grenzen gegen die rechtsradikalen Fraktionen in Brüssel setzte, die rasch viel durchlässiger wurde als die europäischen Abwehrlinien gegen von Krieg und Hunger gezeichnete Flüchtlinge. Mittlerweile gilt die italienische Neofaschistin Meloni als Busenfreundin und strategische Partnerin der deutschen CDU-Politikerin, und die konservative EVP unter ihrem Vorsitzenden Weber von der CSU stimmt nach Herzenslust mit den Rechtsaußen-Fraktionen im EU-Parlament: mal mit der PfE, der u. a. Le Pens RN und die italienischen Rassisten der Lega Nord angehören, oder mit der ECR, die so ehrenwerte Gesellschaften wie Melonis Fratelli oder die polnische PiS beherbergt.


Am Ende dieses Jahres müssen wir also konstatieren, dass die Brandmauern bürgerlicher Parteien gegen den Rechtsradikalismus geschleift sind, Gestalten wie Trump und Musk in entscheidende Positionen gehypt wurden, der Krieg in der Ukraine weitergeht, im Sudan – von der Weltöffentlichkeit beinahe unbemerkt – Millionen auf der Flucht sind, davon Hunderttausende sterben und ein korrupter israelischer Premier im Gazastreifen „vollendete Tatsachen“ schaffen will. Nur
entsinnt man sich eigentlich meist der negativen Ereignisse, wenn man sich vergangene Jahre vor Augen führt  – man denke etwa an Corona 2020 oder der Kriege im Jemen und in Syrien. Leider aber ist diesmal so gar kein Lichtlein am Horizont zu erspähen, verheißen doch die ersten Monate 2025 auch nicht viel Gutes, stattdessen Trumps zweiten Amtsantritt oder die Wahl zwischen Ungeliebten hierzulande.


Bleibt nur, allen Lesern Durchhaltevermögen und Widerstandskraft gegen inhumane Zumutungen, also Resilienz, wie es heute so schön heißt, zu wünschen. Mit der Hoffnung, im nächsten Jahr ein paar positive Themen aufspüren zu können, verabschiede ich mich bis Januar.





































Besinnliches aus dem Nachlass von Rainer Hachfeld. Mein Dank gilt Beate Hachfeld.


12/2024


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