| Ein eiskalter Merz Nach der Bildung einer Koalition aus der glimpflich davongekommenen Union und einer heftig gerupften SPD, die im Endspurt der Bundestagswahl nur noch die braunen Hacken der enteilten AfD zu sehen bekam, wurde (wieder einmal) viel von Aufbruch und einem üppigen Frühling fürs deutsche Land getönt. Doch es kam ein eiskalter Merz mit einem Füllhorn für die Großkonzerne, die Agrarindustrie und die Ultra-Nationalisten sowie einem Lumpensack, in den er kurzerhand das Asylrecht, den Umwelt- und Klimaschutz, zudem eigene Wahlversprechen stopfte. Vermutlich müssen wir diese regressive Regierung noch mehr als drei Jahre überleben. Daher wollen wir uns das Führungspersonal der beteiligten Parteien, fokussiert auf vier Exemplare, näher ansehen. Stolperer auf der Karriereleiter
Anfang 2020 unterliefen dem CDU-Karrieristen Spahn als damaligem Gesundheitsminister eklatante Fehleinschätzungen. Zu den ersten Meldungen einer bevorstehenden Krankheitswelle erklärte er: „Für übertriebene Sorge gibt es keinen Grund“, Deutschland sei gut vorbereitet. Noch im Februar behauptete Jens Spahn im Gesundheitsausschuss, die Gefahr einer Pandemie sei „eine zurzeit irreale Vorstellung“. Hinweise auf Lieferengpässe bei Schutzvorrichtungen und Vakzinen ignorierte er, bis ihn die massive Ausbreitung der Covid-Infektionen in panikartigen Aktionismus trieb, der ihn allerdings nicht das Logistikunternehmen Fiege aus seiner münsterländischen Heimatregion vergessen ließ, das dem Bund alsbald schadhafte Masken zu inflationären Preisen verkaufen durfte. Spahn gilt als Rechtsaußen in der CDU-Fraktion, einer, der wie sein Chef Merz gern nach unten tritt, Grundsicherungsempfängern und Rentnern die seiner Meinung nach üppigen Almosen kürzen möchte, in schwachen Momenten von normalen Beziehungen zur AfD schwärmt und an den Außengrenzen eiserne Vorhänge gegen Asylsuchende aufhängen will. Was ihm trotz dieser eigentlich derzeit laufbahnfördernden Charakteristika im Wege steht, ist seine Unfähigkeit. Ein Fraktionschef hat seine Leute bei der Stange zu halten und für Mehrheiten zu sorgen. Er muss Disziplin bei Abstimmungen einfordern, auch wenn der einzelne Abgeordnete eigentlich nur seinem Gewissen verpflichtet ist. Das nennt man Fraktionsdisziplin, und die wird aus Gründen des Opportunismus und der Karriereförderung auch meist ausnahmslos beherzigt. Doch im metaphysischen Begriff „Gewissen“ steckt der Logik-Terminus „Wissen“. Und dieses Wissen glaubten einige Dutzend CDU/CSU-Hinterbänkler beim Studium von Hasstiraden, Verschwörungsfabeln und Verleumdung auf rechtsradikalen Websites erworben zu haben, als die gegen die mit der SPD vereinbarte Ernennung von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin stimmten. Die verhalten progressive Juristin war als Massenmörderin ungeborenen Lebens verunglimpft und – jenseits aller Fakten – des Plagiats bezichtigt worden. Und wer hätte seine schwarzen Schäflein in den Koalitionskonsens führen müssen? Jens Spahn, der als parlamentarische Stütze der Regierung bereits die erste Abstimmung über den Kanzler Merz vermasselt hatte, erwies sich wieder als Versager an allen Fronten. Ein bayerischer Hauch von Trump Da ist Alexander Dobrindt, Innenminister von Söders Gnaden, schon von ganz anderem Kaliber. Knorrig, knarzend wie die Zirbelkiefer in den alpinen Höhen seiner oberbayerischen Heimat führt er die CSU im Kabinett an. Ein Weichei-Satz wie „Wir werden uns viel zu verzeihen haben“ von Jens Spahn zum Corona-Debakel käme ihm nie über die Lippen. Zwar macht Dobrindt quasi ununterbrochen Fehler, verstößt gegen Vernunft, Gesetze und Vereinbarungen, aber er ist Manns genug, nicht einen einzige Lapsus zuzugeben. Dass er der geistige Vater der „Ausländermaut“ war, die kläglich vor dem Europäischen Gerichtshof scheiterte und den deutschen Staat ein paar hundert Millionen kostete, geriet weitgehend in Vergessenheit; öffentlich ausbaden musste das Desaster ja schließlich sein Nachfolger, der ahnungslose Dilettant Andreas Scheuer. Als 2015 ruchbar wurde, dass VW seine Kunden, aber auch die Umweltbehörden im Rahmen des „Abgasskandals“ betrogen und die Gesundheit aller Bürger gefährdet hatte, verweigerte Dobrindt als Verkehrsminister jedes Gespräch mit den Aufklärern der Deutschen Umwelthilfe und verbot auch seinen Beamten, mit diesen zu sprechen. Unter den von der Autolobby geknüpften Teppich des Schweigens ließ sich die Schweinerei dennoch nicht kehren, doch der wenig zart besaitete Bayer ließ rechtzeitig einen Passus zur Sammelklage im Rechtsausschuss des Bundestags ersatzlos streichen und nahm damit Millionen von KfZ-Besitzern die Möglichkeit, im Verbund gegen VW vorzugehen. Kaum als Innenminister im Amt, befahl Dobrindt die generelle Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen – in Schnelligkeit und Negierung geltender Gesetze dem US-Berserker Trump, den er im Januar dieses Jahres überschwänglich lobte, nicht unähnlich. Nur vier Wochen später erklärte das Berliner Verwaltungsgericht diese Maßnahme für „rechtsunwirksam“. Auch die von angeordneten Dobrindt Abschiebungen afghanischer Migranten in den Scharia-Horror der Taliban befanden deutsche Richter als gesetzeswidrig. Doch wie Donald macht auch Alexander einfach weiter, als wolle er die schmutzige Kehrseite des fröhlichen Sponti-Spruchs „legal – illegal – scheißegal“ beleuchten. So bescheinigte der den Grünen, sie seien „im Kern immer noch die alte anti-bürgerliche Chaoten- und Steinewerfer-Partei von vor 30 Jahren“. Den Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, dessen Politik nicht immer unumstritten war, aber immerhin zum Ende der EU-Finanzkrise führte, nannte er den „Falschmünzer Europas“. Die Umweltschützer der Letzten Generation und Scientist Rebellion bezeichnete er im November 2022 in der Bild am Sonntag als „Klimachaoten“ und warnte vor der „Entstehung einer Klima-RAF“. Vier Jahre vorher wurde Dobrindts Denunziation von Juristen und Menschenrechtlern, die sich für Asylbewerber einsetzen, Anti-Abschiebe-Industrie, zum Unwort des Jahres gewählt. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, die Wortwahl zeige, „wie sich der politische Diskurs sprachlich und in der Sache nach rechts verschoben hat und sich damit auch die Sagbarkeitsregeln in unserer Demokratie in bedenklicher Weise verändern“. Friedrich Merz hat eine Schwäche für Leute, die die „Drecksarbeit“ machen, wie er anlässlich des völkerrechtswidrigen Angriffs Israels auf den Iran bekannte. Folglich wird Alexander Dobrindt auch weiterhin als Minister am Rande und außerhalb der Legalität handeln und seinen verbalen Odel über Opponenten ausgießen dürfen. Worum sich Friedrich sorgt Vielleicht mag unser Bundeskanzler aber auch einfach Menschen, deren Kompetenz überschaubar ist, während ihre Fehlerquote stattlich wirkt. Und mit Verlieren hat Friedrich Merz wirklich viel Erfahrung. Etliche Jahre arbeitete er sich vergeblich an seiner Lieblingsfeindin Angela Merkel ab, doch nicht die eiserne Rautenkanzlerin musste am Ende gehen, sondern er – wenngleich er beim weltgrößten Vermögensverwalter BlackRock in eine ziemlich lukrative Diaspora auswanderte. Aber Merz wollte seine Hybris weiterhin mit politischer Macht füttern und verlor nach seinem Polit-Comeback erst gegen Annegret Kramp-Karrenbauer und dann gegen Armin Laschet, nicht gerade übermenschliche Konkurrenten, die Rennen um den CDU-Parteivorsitz. Als die Union nach der Bundestagswahl 2021 am Boden lag und Olaf Scholz dabei war, die SPD in eine ähnliche Position zu manövrieren, fielen ihm der Chefposten in der Partei und später die Kanzlerschaft quasi zwangsläufig in den Schoß. Unabsehbare Milliardensummen für Wirtschaftssubventionen und eine beispiellose Aufrüstung, aber keine substanzielle Entlastung der Normalbürger bei den Energiekosten – so sollen die blühenden Landschaften in ganz Deutschland, nicht nur wie in Kohls Vision im Osten, entstehen. Doch es kommt noch unsozialer: Im ARD-Sommerinterview erklärte der Kanzler, wo er den Rotstift anzusetzen gedenkt, um die gewaltigen Staatsschulden einzuhegen. Natürlich werden die großen Vermögen, Gewinne oder Erbschaften nicht angetastet, aber bei den Bürgergeld-Empfängern soll eingespart werden. Da müsse es einen härteren Umgang und mehr Kontrolle geben. Als könnte man nicht ein Vielfaches der paar erschlichenen Bürgergelder durch eine personell aufgestockte und auf das reichste Prozent der Bevölkerung spezialisierte Steuerfahndung oder durch die Rückforderung der gestohlenen Cum-Ex-Milliarden hereinholen. Das träfe allerdings Friedrichs frühere Kundschaft. Das Höchstmaß an Weltfremdheit offenbart der Kanzler aber mit seiner Kritik an den „zu hohen Mietpreisen“, die für Bürgergeldempfänger gezahlt würden und die sich „eine normale Arbeitnehmerfamilie“ nicht leisten könne. Als Anhänger der reinen neoliberalen Lehre haben Merz und seine Partei jahrelang gegen jede Mietpreisbremse gekämpft. Denkt man seine Argumentation zu Ende, würde er nun sozial Schwache aus Wohnungen in Berlin und München werfen, weil die einfach zu teuer sind. Drei Fragen hierzu: Wer verlangt die Miete und diktiert die Höhe? Würden die Wohnungen billiger, wenn man finanzschwache Mieter auf die Straße setzt? Warum entlastet der Staat nicht Arbeiterfamilien, damit sie sich die Standardmieten in hochpreisigen Städten leisten können? Die Empathie eines Friedrich Merz scheint nur für die wohlhabende Minderheit zu reichen. Doch mit einem Koalitionspartner wie der SPD kann er sich – trotz deren verhaltenen Maulens – solche sozialpolitischen Extravaganzen leisten. In manchen Dingen ist Merz so eiskalt wie der Winter eines Obdachlosen. Loser takes all In Anspielung auf Hemingways Erzählungssammlung Winner take Nothing betitelte Graham Greene einen launigen Kurzroman mit Loser takes all. Und das ohne Lars Klingbeil gekannt zu haben! Die Sequenz trifft nämlich haargenau auf den rechten Sozialdemokraten zu, der als Vorsitzender seiner Partei deren letzten Bundestagswahlkampf gnadenlos vergeigt hatte, daraus aber erstaunlicherweise den SPD-Führungsanspruch für die kommenden Jahre sowie das Amt des Finanzministers im Kabinett Merz ableitete. Woher kommt diese Chuzpe? Es muss wohl an der Seilschaft-Arbeit im Hintergrund gelegen haben, denn von Charisma oder operativer Intelligenz kann er nicht an die Spitze der Partei gespült worden sein. Klingbeil durchlief eine normale sozialdemokratische Karriere, die – wie üblich – von links nach rechts führte. Bis 2015 war der einstige Schröder-Fan als MdB Mitglied der Parlamentarischen Linken, dann schloss er sich dem reaktionären Seeheimer Kreis an, wohl um per Vernetzung (früher nannte man das Kanalarbeit) die Aufstiegschancen in der Partei zu erhöhen. In seinen Positionen blieb er stets flexibel und konturenlos, einem Schritt vorwärts folgten stets zwei Schritte zurück. So gab er in der Klimapolitik den Progressiven, setzte sich 2021 für den Ausbau erneuerbarer Energien ein und präferierte die nicht unproblematische Wasserstoff-Option. Andererseits mochte er seine Freunde aus der Wirtschaft nicht mit einer Festschreibung des CO2-Preises auf 60 Euro vergrämen. Im eigenen Wahlkreis befürwortete Klingbeil den Ausbau der A7 zwischen Soltau-Ost und Bad Fallingbostel, während er den Neubau der Bahnstrecke zwischen Hannover und Hamburg entlang der Autobahn ablehnte. Im Januar 2019 sprach er sich gegen die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen aus. Als aktueller Minister lieferte er die Begründung für den Bruch des Wahlversprechens, die Privathaushalte bei den Energiekosten zu entlasten, indem er auf den Finanzierungsvorbehalt im Koalitionsvertrag hinwies: eine schwache und möglicherweise verhängnisvolle Ausrede angesichts eines Volumens von fünf Milliarden Euro – im Vergleich zu der halben Billion Euro, die freihändig für Konzerne und Rüstung lockergemacht werden sollen. Am 27. Juni dieses Jahres erhielt Lars Klingbeil die Quittung auf dem SPD-Parteitag, als er mit 64,9 Prozent zum Vorsitzenden wiedergewählt wurde. Die leidgeprüften Genossen verschafften ihm damit das schlechteste Ergebnis aller Zeiten bei einer Chef-Wahl ohne Gegenkandidaten. Würde ich noch an irgendetwas glauben, ich müsste zu beten anfangen. Dazu auch: Leuchtturm im Sumpf (2021), Alexander der Doofe? (2017) und Bote aus dem Jenseits (2018) im Archiv der Rubrik Helden unserer Zeit |
| |||