James Gordon Farrell
Am 11. August 1979 wurde ein 44 Jahre alter Angler am Ufer der Bantry Bay nahe dem südirischen Cork von einer Welle erfasst und in den Atlantik gespült, wo er ertrank. Während dieses Unglück von der deutsche Kulturzene kaum beachtet wurde, zeigten sich die angelsächsischen Kollegen tief erschüttert über den Tod von James Gordon Farrell, der zweimal mit dem renommiertesten britischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde (ein Mal davon posthum). „Der größte Romanschriftsteller unserer Zeit“ sei gestorben, beklagte der Dichter Derek Mahon den überraschenden Abgang des Booker-Price-Trägers.
Drei Schritte zum Untergang
Farrell war kein Prosa-Avantgardist, kein kalter Stilist!; eine nicht unfreundliche Distanz zu seinen Protagonisten, lakonischer Humor und die beinahe sachlich wirkende Ruhe, mit der er epochale Umwälzungen beschrieb, kennzeichneten sein Hauptwerk, die etwa 2000 Seiten umfassende „Empire Trilogy“. In drei Romanen, die einen Zeitraum von knapp 90 Jahren britischer Kolonialgeschichte mit dem Fokus auf drei einschneidende Ereignisse abdecken, thematisierte Farrell den Niedergang des vermeintlich unbesiegbaren, von London aus regierten Handels- und Militärimperiums. Zwar wurde er 1935 in Liverpool geboren, doch zog er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie auf die Insel um, der seine Sympathie galten und wo er schließlich auch starb, nach Irland.
Obwohl er also nicht als literarischer Neuerer verstanden wurde, revolutionierte Farrell den historischen Roman: Nicht mehr die minutiös ausgeführten Schlachtengemälde und Szenen einer Gesellschaft im Kriegszustand wie bei Leo Tolstoi („Krieg und Frieden“) oder die teils anekdotisch geprägten, teils die sozialen Strukturen (mit einem leichten Hang zur Geschichtspädagogik) entlarvenden Szenen eines Lion Feuchtwanger bestimmen Set und Handlung; der Anglo-Ire lässt die Historie vielmehr wie ein Beiwerk zu menschlichen Irrungen und Wirrungen erscheinen und deutet durch die düstere Kulisse im Bühnenhintergrund, die der Leser eher als die Protagonisten der Romane in ihrem verhängnisvollen Ausmaß erkennt, unterschwellig eine Entwicklung an, deren verhängnisvoller Verlauf dem Personal der Fiktion lange verborgen bleibt. Ohne in Gefahr zu geraten, Fehleinschätzungen oder menschliches Versagen zu bewerten oder zu denunzieren, zeigt er mit Liebe zum absurden Detail auf, in welcher isolierten Schattenwelt die Kolonialherren leben.
Dass er die Lakonie der Schilderung und das scheinbare Verständnis für die Marotten der weißen Herrschaftsschicht in den gekaperten und in Unmündigkeit gehaltenen Ländern nicht als Entschuldigung für menschliche Unzulänglichkeiten gelten lassen wollte, sondern dadurch gerade die Irrationalität des britischen Machtanspruchs hervorhob, belegte er bei der Verleihung des Booker-Preises 1973, als er dessen Hauptsponsor, die Firma Booker-McConnell, der Ausbeutung ihrer schwarzen Arbeiter in der Karibik beschuldigte.
Es sind der Verzicht auf den erhobenen politisch-didaktischen Zeigefinger
sowie die durch Handlung wie Sprache insinuierte und en passant vermittelte Abrechnung mit der beispiellosen Arroganz der weißen „Kulturnationen“, die Farrells Prosa zu großer und aufklärerischer Literatur machen.
Das indische Omen
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts scheint für die Londoner Elite und die noch relativ junge Queen Victoria alles in Ordnung zu sein: „Britannia rules the Waves“, den Welthandel gleich mit und hat sich auch an Land in Territorien von ungeheuren Ausmaßen als Kolonialmacht etabliert. Von einigen lokalen Aufständen abgesehen, wirkt der Herrschaftsanspruch des Empire wie für die Ewigkeit in den Grund und Boden weitgehend rechtloser Untertanen in aller Welt gemeißelt.
Da bricht am 7. Mai 1857 in der nordindischen Garnison Merath eine Meuterei der Sepoys, der indigenen Truppen unter britischem Befehl, aus. Binnen vier Tagen erobern die Aufständischen Delhi, aus einer Rebellion einiger Militärs ist ein Volkskrieg geworden, der sich über weite Teile des Subkontinents ausbreitet, in dem es zu Massakern an Europäern und Eurasiern kam (was wiederum als Vorwand für ähnliche durch britische Truppen begangenen Grausamkeiten genutzt wurde).
Über den genauen Anlass des Aufruhrs streiten Historiker bis heute, sicher ist aber, dass die Britische Ostindien-Kompanie, die vom Parlament in London quasi mit einem Freibrief zur Verwaltung und Ausbeutung der riesigen Kolonie ausgestattet worden war, eine Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen und die Missachtung religiöser und kultureller Traditionen zu verantworten hatte – und dass die einheimischen Sepoys unter der Ignoranz und Verachtung ihrer britischen Offiziere litten. So kam es zu einer – ironischerweise im aufgeklärteren 20. Jahrhundert nicht mehr vorstellbaren – Allianz von Hindus und Moslems. Doch spielte schon damals die Religionszugehörigkeit eine wichtige bis entscheidende Rolle: Die Soldaten der dritten großen Glaubensgemeinschaft, der Sikhs nämlich, blieben dem Empire gegenüber loyal, was 1858 mit entscheidend für den letztendlichen Sieg der Kolonialherren gewesen sein dürfte.
Im ersten Teil der Empire-Trilogie, „Die Belagerung von Krishnapur“, nahm Farrell die seinerzeit in den Gazetten der lesenden Welt dramatisierten Ereignisse bei der Umzingelung von Lakhnau (der Stadt und Garnison verlieh er einfach einen Phantasienamen) durch 8000 Sepoys zum Vorbild. Nur einige hundert britische Soldaten und Zivilisten sowie Sikhs verteidigen den Ort gegen die Übermacht, die allerdings unter strategischen und waffentechnischen Defiziten zu leiden hat.
James Gordon Farrell versucht nicht, aus Gründen der Empathie oder Solidarität das Elend und die daraus entspringenden Motive der Inder zu thematisieren, er berichtet – wie auch in den beiden anderen Romanen der Trilogie - strikt aus der Perspektive der Kolonialisten, die von nun an immer häufiger Belagerte sein werden, aus der Sicht des Bodenpersonals Ihrer Majestät. Nur so kann er das absolute Unverständnis der von London entsandten Beamten und Offiziere angesichts der indischen Untertanen, das beinahe lächerliche Festhalten an sinnloser Etikette selbst beim Versinken in der Kloake noch und ein durch nichts gerechtfertigtes Überlegenheitsgefühl „dunklen Rassen“ (und sogar den irischen Nachbarn, s. u.) gegenüber sezieren, ohne jemals wütend, sarkastisch oder gar anklagend zu werden. Allenfalls leichte Ironie gestattet er sich, wenn er das Abbröckeln der Zivilisationsfassade in den Monaten der Belagerung schildert.
Für die Kampfhandlungen interessiert sich Farrell eher mäßig, ihm geht es um den damaligen Anspruch Großbritanniens, für die ganze Welt verantwortlich zu sein, was in Wirklichkeit bedeutete: alle Länder, die sich nicht wehren konnten, zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil zu gängeln und mit den Segnungen der importierten Kultur zu entmündigen – ein Anspruch, der später von den USA für sich reklamiert wurde. Nun waren die Briten des 19. Jahrhunderts keine glühenden Rassisten wie viele weiße Nordamerikaner und etliche Deutsche bis heute, sie glaubten nur irrigerweise, die Welt nach ihrem Gusto gestalten zu müssen.
Wie das Empire eine Insel verliert
Der indische Sepoy-Aufstand war sozusagen die erste tiefe Schramme am Denkmalssockel britischer Weltbeherrschung. Vielleicht kam er einfach zu früh, die wirklich großen Erschütterungen und irreversiblen Verluste musste die britische Krone erst im 20. Jahrhundert erleben. So ist es nicht verwunderlich, dass Farrell mehr als 60 Jahre verstreichen lässt und den Schauplatz für den zweiten Roman der Trilogie nach Europa verlegt. Es geht um die Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und den Vorabend der irischen Unabhängigkeit.
„Troubles“ (auch Titel der deutschen Ausgabe) gilt vielen Kritikern als wichtigstes Buch des Autors, nicht zufällig wurde ihm der posthume Booker-Preis ausdrücklich für dieses Werk zugesprochen. Und tatsächlich sind die tragikomische Personenzeichnung, das Heraufbeschwören einer brisanten Situation, die ständig von der individuellen Wahrnehmung, beeinträchtigt durch skurrile Eintrübungen, zum blutigen Ernst der politischen Realität changiert, und der archaische Schauplatz, der beinahe kafkaeske Ausweglosigkeit verströmt, von der atemberaubenden Dichte genialer Gothic Novels.
Major Archer, ein in den Schützengräben der Weltkriegsfront traumatisierter englischer Offizier, kommt nach Irland, um dort die Tochter eines Hotelbesitzers zu heiraten, die er kaum kennt und auch nie näher kennenlernen wird, denn sie stirbt kurz nach seiner Ankunft. Archer, ein warmherziger Mann, der stets bereit ist, für alles Verantwortung zu übernehmen und in seiner grenzenlosen Naivität jede Lage grundsätzlich falsch einschätzt, bleibt einige Zeit, um Edward Spencer, einem Gutsherren mit leicht pathologischen Zügen, in seiner reaktionären Haltung gegenüber Katholiken und Unabhängigkeitskämpfern ein typischer Vertreter der bornierten protestantischen Gentry, bei dessen völlig dilettantischen und wirren Versuchen zu helfen, die baufällige Herberge zu renovieren.
Dieses Riesenhotel „Majestic“ nahe der Küste, das einst wohl schon recht mondäne Zeiten gesehen hat, ist mit seinen unzähligen Räumen, gefährlich maroden Sälen, verschimmelndem Mauerwerk, einigen nur noch von Katzen und Ratten bewohnten Flügeln und einer uralten Kundschaft, die sich an das frühere elegante Logieren erinnert, aber den gegenwärtigen miesen Service und die Unterbringung in einer Ruine beharrlich ignoriert, der eigentliche Mittelpunkt, quasi „der Hauptdarsteller“ des Romans und zugleich ein starkes Symbol für das im Verfall begriffene Empire.
In die zwischen Nostalgie und Untergang angesiedelte Szenerie bricht immer wieder die irische Wirklichkeit ein: Mal machen die protestantischen Loyalisten Jagd auf katholische Rebellen und erwischen dabei auch den ein oder anderen Unbeteiligten, mal verübt die nach dem 1916 blutig gescheiterten Oster-Aufstand von Dublin erstarkte IRA Attentate. Dann wieder wird eine Truppe der „Black and Tans“, Angehörige einer von der Londoner Regierung aus gescheiterten Weltkriegsveteranen und Sträflingen rekrutierte Miliz, deren Gräueltaten bis heute zum Schulwissen auf der grünen Insel gehören, im „Majestic“ einquartiert.
Das Dilemma der Briten und ihrer Verbündeten ähnelt dem ihrer Pendants in Indien zwei Generationen zuvor: Sie können die Beweggründe, die Vorgehensweisen und die Sympathien der Kolonisierten für ihre Gegner einfach nicht verstehen. So ist diesmal das Scheitern unausweichlich. Wenige Jahre nach den in „Troubles“ beschriebenen Turbulenzen gehört der größte Teil Irlands nicht mehr zu Großbritannien.
Das japanische Verhängnis
Farrells nächster Zeitsprung beschränkt sich auf rund zwanzig Jahre, und er führt wieder nach Asien. „Singapur im Würgegriff“ ist der letzte Band der Empire-Trilogie und er bildet – vielleicht nicht in literarischer Hinsicht, aber in der Intention, die Hybris eines Weltreichs der Lächerlichkeit preiszugeben – den Höhepunkt. Die Inselstadt Singapur war damals wie heute eines der Zentren des weltweiten Schifffahrtsverkehrs und Warenumschlags. Unter dem Schutz ihrer Kolonialverwaltung haben es sich britische Unternehmen bequem eingerichtet und profitieren als Händler von Kautschuk oder Metallen sogar vom Weltkrieg, unter dem in Europa das eigne Mutterland zu ächzen beginnt.
Neben amerikanischen und französischen Journalisten sowie einer irisierenden Eurasierin taucht auch wieder Major Archer, Protagonist in „Troubles“, auf, gealtert zwar, aber immer noch so ahnungslos wie früher und auch ebenso hilfsbereit, etwa als er eine Freiwillige Feuerwehr aufbaut, die kaum mehr etwas bewirken kann. „Held“ und Mischung aus Don Quijote und „Citizen Kane“ ist jedoch der erfolgreiche englische Firmenbesitzer Walter Blackett, der zwar mit seinen missratenen Kindern wenig Glück hat, dafür aber das runde Jubiläum seines Unternehmens mit einem Umzug feiern will, wie ihn Singapur noch nie erlebt hat.
Dass während der aufwendigen Vorbereitungen für das pompöse Spektakel die Japaner Pearl Harbour angreifen, dass sie auf dem indochinesischen Subkontinent unaufhaltsam vorrücken, dass sie die ersten britischen Stellungen in Thailand und auf der malaiischen Halbinsel überrennen, ficht Blankett in seinem PR-Wahn und Geltungsbedürfnis ebenso wenig an wie die Tatsache, dass die Kolonialtruppen in Singapur ohne nennenswerte Unterstützung aus der Luft ausharren müssen, weil fast alle Flugzeuge auf den europäischen Kriegsschauplatz abgezogen wurden.
Doch Blackett ist nur der herausragende Realitätsverdränger in einer exquisiten Klasse weißer Snobs, die auf einem Vulkan tanzen, der kurz vor der Eruption steht, während sie weiter glauben, auf einem mit englischem Rasen bepflanzten Hügel Party feiern zu können: Nur noch wenige Tage, dann stehen die japanischen Truppen vor der Stadt und die britische Armee wird die verheerendste Niederlage ihrer ruhmreichen Geschichte erleben. Singapur fällt binnen zwei Wochen, mehr als 80.000 Soldaten, viele davon indischer und australischer Herkunft, geraten in Kriegsgefangenschaft, und auch etliche Zivilisten werden von den Siegern verschleppt. Es ist der Anfang vom Ende britischer Dominanz in Südasien und Indochina.
Ohne Wink mit dem Zaunpfahl moralischer Entrüstung und ohne den strafenden Zorn des (Selbst-)Gerechten notiert Farrell schlicht, in klaren Worten und mit ständig steigender Rasanz, wie ein gigantisches Gebilde, das auf Ausbeutung und Rassismus basiert, in sich zusammenfällt. Auch andere bedeutende Schriftsteller Großbritanniens haben sich mit dem Kolonialismus beschäftigt. So prangert Joseph Conrad in „Herz der Finsternis“ die belgischen Verbrechen im Kongo an, während er die Ausbeutung exotischer Länder im Namen der in Windsor residierenden Majestäten eher verharmlost – sie ging, auf Bürokratie und Kaufmannsgeist gestützt, ja auch etwas weniger brutal vor sich. Rudyard Kipling, wie Conrad Nobelpreisträger, hingegen sah in der gewaltsamen Verpflanzung europäischer und vor allem britischer „Werte“ in die Tropen gar eine Pflicht, „The White Man’s Burden“, und wob so weiter an der Legende von der weißen Überlegenheit.
Dann kam James Gordon Farrell daher, benutzte einen unkonventionellen Blickwinkel, um die historische Wahrheit über das Imperium des Handels, der Börse und – anachronistisch – der Monarchie in nüchternen Worten, aber höchst spannendem Kontext fiktiv abzubilden, und hielt am Ende seinen Landsleuten einen Spiegel vor: Seht her, Leute, das seid ihr.
05/2022