William Faulkner

 

   

"Eine der wenigen schöpferischen Begabungen des Abendlandes“ nannte Albert Camus den wie ein Fels aus der Geschichtslosigkeit und mittelständischen Sprachbanalität des US-Mainstreams herausragenden William Faulkner. Der französische Nobelpreisträger hatte das Hybrid-Werk „Requiem für eine Nonne“, das man als Roman mit Dialogen oder als Drama mit epischen Regieanweisungen lesen kann, ins Französische übersetzt und erstmals in Europa auf die Bühne gebracht.

 

Der 1897 im Bundesstaat Mississippi geborene und vor 50 Jahren auch dort gestorbene Faulkner beeinflusste deutsche Schriftsteller wie Johnson, Böll oder Andersch ebenso wie den Franzosen Claude Simon und den Uruguayer Juan Carlos Onetti. Und der Kolumbianer Gabriel García Márquez wandte in seinem epochalen Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ die von dem US-Südstaatler kreierte Methode an, einen realen Ort durch ein fiktives Pendant, in dem der Autor als alleiniger Lenker und Schöpfer die Bewohner realistisch, wahnwitzig oder unglücklich handeln lässt, zu spiegeln: Macondo und seine Region sind bei dem Kolumbianer der Schauplatz des Untergangs der Familie Buendía in einer durch fremde Kontakte, wirtschaftliche und militärische Eingriffe bedrohten Welt. In Faulkners Werk wehren sich die alten Familien Sartoris, Compson oder De Spain, Relikte einer Südstaaten-Aristokratie mit archaischer Geisteshaltung und überkommenen Besitzvorstellungen, im erfundenen Yoknapatawpha County vergebens gegen die Machtübernahme durch die Snopes, gierige Kleinkapitalisten ohne Tradition und Skrupel. Die Hauptstadt des Distrikts ist das fiktive Jefferson, das Faulkner mit vielen Zügen des realen Oxford, seiner Heimatstadt in Mississippi, ausgestattet hat. Die Umgebung und ihre Menagerie hätten so oder so ähnlich überall in den einer kruden Vergangenheitsfixierung erlegenen Südstaaten existieren können. Faulkner schreibt schließlich keine Fantasy-Prosa, sondern literarische Parabeln.

 

Persönlich muss William Faulkner, ein mittelschwerer Alkoholiker, relativ unzugänglich gewesen sein. Seine enorme Gestaltungskraft steckte er (von ein paar Drehbüchern abgesehen) allein in die 15 Romane und die Erzählungsbände, seine Außenwirkung und die Interpretationswünsche seiner Exegeten waren ihm herzlich egal. Nur mit Mühe konnte er dazu überredet werden, sich 1950 den Nobelpreis persönlich abzuholen. Sperrig wirkt zunächst auch der Zugang zu seinen Büchern, was vielleicht die meisten deutschen Feuilletonisten in den letzten Jahrzehnten davon abgehalten hat, sich mit diesem literarischem Material zu beschäftigen, das höchste Aufmerksamkeit und den Willen, sich auf ungewohnte Denk- und Sprechweisen einzulassen, vom Leser fordert, wenn sie doch von einem Roth oder Updike, die eloquent die sexuellen Top- und Notlagen der Middle Class beschrieben, besser unterhalten werden, weil sie sich mit diesen Autoren identifizieren können. Faulkners Sprache ist zugleich reich an detaillierter Beschreibung, etwa der Vielfalt und zivilisationsbedingten Ausdünnung von Fauna und Flora („Der große Wald“), wobei den Pflanzenaromen manchmal eine hypnotische Wirkung auf handelnde Personen zukommt („Schall und Wahn“). Die Protagonisten reden knapp und umständlich zugleich, so wie menschliche Gedankengänge verlaufen: unvorhersehbar (wie jeder integere Psychologe zugeben würde) und doch mit fatalistischer Konsequenz. Ihr Handeln entspricht nicht den Erwartungen des Lesers, sondern folgt tradierten, aus (fragwürdigem) Geschichtsbewusstsein, obsolet gewordenen Ehrbegriffen oder schlichten Vorurteilen zusammengesetzten Mustern. Doch was von Kritikern oft als reine Metapher für den Untergang von Old Dixie, des alten Südens, gedeutet wird, lässt sich auch als weltweiter Niedergang von Kulturen und schmerzhafter Aufstieg neuer Herrschafts- und Sozialformen deuten. Insofern ist Faulkner nicht nur wegen der paar Romane und Erzählungen, die in anderen Landes- oder Erdteilen spielen (etwa „Eine Legende“), ein globaler Schriftsteller – im besten Sinn, ein Schriftsteller aber auch, auf dessen komplexen Stil man sich konzentrieren, dessen Atmosphärenverdichtung man fast physisch aufnehmen muss, um höchsten sprachlichen Gewinn davon zu haben. 

 

Obgleich der möglicherweise bedeutendste Romanautor des 20. Jahrhunderts über eine ausufernde Sprach- und Wortgewalt verfügte, gab es nie schmückendes, aber inhaltlich belangloses Beiwerk in seinen oftmals langen, verschachtelten Sätzen. Alles hatte seinen Sinn, trug zu den fatalen Entwicklungen, zu den meist düsteren Auflösungen und der Anhäufung individueller Schuld durch die Hauptprotagonisten bei. Zwar leistete sich Faulkner auch in den Meisterwerken durchaus Anflüge von Humor und Ironie, doch es verwundert nicht, dass  die beiden satirischen Romane  „Moskitos“ und „Die Spitzbuben“ seine beiden schwächsten Bücher sind; es fehlt ihnen die Tiefe, zu der immer auch die tragische Verstrickung zählt. Eine Randbemerkung zur erzählerischen Selbstbeschränkung Faulkners: Er schildert häufig, dass Leute essen, aber nie, was sie essen; es ist ihm nicht wichtig für das Verständnis ihrer Lebensart oder sozialen Umstände. Im Gegensatz dazu beschreibt er ziemlich detailliert in einer Erzählung die Herstellung von Whisky-Punsch...

 

In seiner genialen Mischung aus Kunstsprache und Regional-Jargon lässt Faulkner die Weißen immer wieder von „Niggern“ reden. Dies führte in Europa zu dem Missverständnis, er artikuliere damit eigene rassistische Vorurteile. Tatsächlich aber sind einige der der unbeugsamsten und integersten Figuren in seinen Werken Afro-Amerikaner: Lukas Beauchamp als zu Unrecht des Mordes Verdächtigter in „Griff in den Staub“, die Bediensteten Dilsey und Luster in „Schall und Wahn“ oder die des Kindsmordes angeklagte Nancy in „Requiem für eine Nonne“. Faulkner selbst stand den halbherzigen Integrationsstrategien der US-Regierungen skeptisch gegenüber, er befürwortete die bedingungslose Gleichberechtigung. Zwar schätzte er die schwarze Gemeinschaft seiner Zeit in der Folge von Sklaverei und bürgerlicher Unterdrückung als rückständig ein, billigte ihr für die Zukunft aber ein größeres kulturelles Potential und Beharrungsvermögen als seiner eigenen Bevölkerungsgruppe zu. Folgerichtig finanzierte er mit einem Teil seines Nobelpreisgeldes Schulbildungseinrichtungen für schwarze Kinder. Seine Einstellung schien der CIA verdächtig genug, ein Dossier über ihn anzulegen, brachte ihm andererseits aber die Wertschätzung der Afroamerikaner, insbesondere ihrer Literaten, ein. Der radikale schwarze Krimi-Autor Chester Himes implementierte  als Hommage in seinen letzten Roman „Plan B“ sogar eine Familienchronik à la Faulkner.

 

Welche Romane oder Erzählungssammlungen sollte man vor allem lesen, womit sollte man anfangen? Man könnte mit „Die Unbesiegten“ oder „Sartoris“ beginnen, um die fiktiv-realistische Welt des Yoknapatawpha County kennenzulernen oder mit „Als ich im Sterben lag“, um eine Ahnung von den immensen stilistischen Möglichkeiten Faulkners zu bekommen. Vielleicht wäre die Chronik „Go Down, Moses“ (1942), die einen weiten Bogen von der Sklavenhalter-Ära bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts schlägt, der am besten geeignete Einsteiger in Faulkners Mikrokosmos. Experten streiten sich, ob „Schall und Wahn“ (1928), „Licht im August“ (1932) oder „Absalom, Absalom!“ (1936) die Ehre des atmosphärisch dichtesten Romans über den Niedergang einer inzestuösen Gesellschaftsform und das Ende ihres hohl gewordenen Wertgefüges gebührt. Lesen sollte man diese Kernromane Faulkners auf jeden Fall. Ich möchte noch die zwischen 1940 und 1959 entstandene Trilogie „Das Dorf“, „Die Stadt“ und „Das Haus“ jedem Interessierten ans Herz legen. Nirgendwo in der Prosa wird der Aufstieg des prinzipienlosen Kapitalismus und sein Sieg über die endemische Feudalaristokratie der südlichen USA eindringlicher und sinnfälliger dargestellt.Wenn man von der „Neuen Züricher Zeitung“ oder den Essays des FAZ-Spanienkorrespondenten und Literaturkritikers Paul Ingendaay absieht, ist Faulkner den bürgerlichen Feuilletons meist nur noch eine Randbemerkung wert. Der „Spiegel“, der 1953 noch mit einem Foto von William Faulkner auf der Titelseite erschien, kümmert sich in aktueller Oberflächlichkeit meist lieber um nordamerikanische Zeitgeist-Autoren wie Ford, Updike oder Roth. Aus den Regalen der Buchhandlungen ist Faulkner ebenfalls weitgehend verschwunden. Zitiert wird er pflichteifrig immer noch von vielen Kulturredakteuren, gründlich gelesen haben ihn die wenigsten. Um an alle Faulkner-Bücher zu kommen, muss man sich inzwischen im Internet umsehen. Wenigstens hat zuletzt Rowohlt eine Neuübersetzung von „Licht im August“ als Taschenbuch veröffentlicht – die kleine Hoffnung auf eine literarisch dringend notwendige Wiederentdeckung.