Richard Powers

In der Tradition Melvilles


Kein Roman des 19. Jahrhunderts war so ausufernd konzipiert und maßlos ausgeführt, beinhaltete derart mannigfaltige Aspekte, von biblischen Metaphern bis zu (bisweilen falschen) wissenschaftlichen Hypothesen und exotischen Schilderungen, wie „Moby-Dick“ von Herman Melville. Der Mann aus New York wählte als Sujet für seine Prosa nichts weniger als die damals bekannte Welt und ihre Erscheinungsformen. Später gab er mit der Erzählung „Bartleby“ einem psychologischen Phänomen den Namen, geißelte den grausamen Drill der britischen Kriegsmarine („Billy Budd“) ebenso wie den Kolonialismus in der Südsee („Omu“) – kurz: seine Phantasie und die Bandbreite seiner Themen waren grenzenlos. Inzwischen hat sich das Wissen der Welt vervielfacht, und ein heutiger Autor könnte einen solchen Ganzheitsanspruch kaum mehr anstreben, doch es existieren noch Literaten, die sich nicht auf Stilexperimente und Kritikerlob kaprizieren, sondern ihre Inhalte aus einem immensen Spektrum schöpfen und über genügend Sprachgewalt verfügen, um aus Fakten Kunst zu machen. Der heute 64 Jahre alte Richard Powers aus Illinois kommt unter diesen poetischen Sinn- und Wahrheitssuchern dem großen Berserker Melville am nächsten.


Erzählen von Wissenschaft und Musik


In den Vereinigten Staaten gab es schon immer eine Menge von Autoren, die sich durch stilistische Brillanz, die Gabe, einen packenden Plot zu konstruieren, und scharfe Pointierung auszeichneten. Seit den 1950er Jahren verfingen sich thematisch viele von ihnen in den Liebes- und Finanzwirren des gehobenen Mittelstandes (Updike, Roth) oder dem eigenen Faible für überzogenen Slapstick (Boyle, Franzen, Eugenides). Auf der Strecke blieben dabei häufig die gesellschaftliche Relevanz der Erzählung sowie die Konfrontation des Lesers mit jenen technologischen, kulturellen und biologischen Phänomenen, die mal Perspektiven eröffnen, dann wieder bedrohlich erscheinen.


Der Ansatz von Powers trägt dieser Bewusstseinserweiterung Rechnung: Seine Protagonisten sehen sich sozialen, künstlerischen, wissenschaftlichen Entwicklungen oder realen Umständen ausgesetzt, die ihnen Fortschritt verheißen, sie oft aber in Gefahren bis hin zur Auslöschung des Individuums stürzen. So weckt etwa in dem Roman „Das größere Glück“ eine junge algerische Geflohene, die trotz aller Bürgerkriegsschrecken stets fröhlich und ausgeglichen geblieben ist, das Interesse der Pharmaindustrie, die nun die Entschlüsselung und gnadenlose Vermarktung eines „Glücksgens“ so rücksichtslos vorantreibt, dass die zum Versuchsobjekt degradierte junge Frau erneut fliehen muss.


Powers ist an Forschung, handle es sich um Kybernetik, Gentechnologie, Neurologie oder Biochemie, brennend interessiert, aber er ist kein blinder Wissenschaftsgläubiger oder Fortschrittsfanatiker, sondern hinterfragt die Sinnhaftigkeit von Erfindungen oder Modernisierungen, sieht sie in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und erkennt sie mitunter als unzumutbare Risiken. Er schreibt gegen die digitale Gleichschaltung der Menschen und die systemisch verursachte Zerstörung der Natur an, aber er tut dies nicht aus restaurativer Position, sondern von einem hohen Kenntnisstand aus.


Mindestens so wichtig für seine Prosa wie die intensive Beschäftigung mit den Naturwissenschaften ist seine große Liebe zur E-Musik, sowohl der Klassiker als auch der Neutöner, und er bringt beide Zuneigungen miteinander in Einklang, etwa wenn in „Orfeo“ ein Komponist versucht, mithilfe der Biochemie organische Melodien zu kreieren (und deshalb prompt von der Staatsmacht zum Terroristen abgestempelt wird), oder wenn in „Der Klang der Zeit“ eine ungewöhnliche Familie Physik, politisches Engagement und spontanen Chorgesang zusammenführt.


In der neoliberalen US-Gesellschaft ist der vielseitig gebildete, humanistisch denkende und ein wenig (wie die meisten seiner Hauptpersonen) melancholische Schriftsteller Richard Powers eine Ausnahmeerscheinung.


Ein „Universaldilettant“ findet seinen Weg


„Ich wollte immer Wissenschaftler werden, zunächst Ozeanograf, später studierte ich Physik“, schildert Powers seine Anfänge, die eigentlich untypisch für einen Literaten waren. Das Studium schmiss er hin, weil er sich durch die zunehmende Spezialisierung der Physiker eingeengt fühlte, und konzentrierte sich auf „mein altes Hobby Lesen und Schreiben“. Den Naturwissenschaften blieb er aber als extrem informierter „Universaldilettant“ weiter zugetan, was ihm Stoff für seine Bücher lieferte, in denen er den Lesern die Grundlagen des menschlichen Seins und ihrer Umwelt näherbringt, ohne sie durch fachliche Borniertheit zu überfordern oder gar langweilig zu werden.


Also studierte Powers Literaturwissenschaften, eine Disziplin, die in den USA im Gegensatz zum vergeistigten, um sich selbst rotierenden Uni-Betrieb hierzulande eine Menge von creative writers hervorbrachte. Eine Zeit lang arbeitete er als Programmierer, was die EDV mit ihren Möglichkeiten und bedenklichen Wirrungen zu seinen zahlreichen Interessengebieten und damit Roman-Sujets hinzufügte.


So musste er unweigerlich auf das Thema Künstliche Intelligenz (KI) stoßen. Doch er griff es anders auf, nachdenklicher und empathischer, als es unzählige Schriftsteller vor ihm in zukunftstrunkener Science Fiction oder in düsteren Dystopien (KI als  Damoklesschwert über der Menschheit) getan hatten.


Was ist Leben?


Nicht Untergangsphantasien oder Abenteuerromantik in futuristischem Gewand kennzeichnen den 1995 erschienenen Roman „Galatea 2.2“, sondern Gedanken über die Aneignung von Kultur, die Entstehung von Gefühlen, ein „Erlernen“ von Sehnsüchten. An einem Forschungszentrum in Illinois geht der Kybernetiker Lentz eine Wette ein, dass es ihm gelingt, einen Computer so zu programmieren, zu vernetzen und zu füttern, dass dieser nach zehn Monaten in der Lage ist, die Magisterprüfung in Englisch zu bestehen. Womit er nicht gerechnet hat, ist, dass der PC, Galatea getauft, in all der ihm applizierten Lyrik und Prosa auf nicht gegenständliche, nicht nummerisch erfassbare Sachverhalte stößt, nach deren Sinn er forscht: Liebe, Wind oder Musik sind Begriffe, denen er sich durch bloßes Lernen annähert. Aus Informationen werden Erfahrungen, aus diesen entwickeln sich Gefühle, scheint ein Begreifen der Welt zu entstehen – ehe im Rahmen der zynischen Wette ein Schlusspunkt gesetzt wird.


Richard Powers hat bislang dreizehn Romane veröffentlicht. Man könnte kategorisch feststellen, er sei nicht in der Lage, ein schlechtes Buch zu schreiben, doch fallen zwei oder drei seiner Werke gegenüber den anderen ein wenig ab. So verknüpft er in „Schattenflucht“ die Leiden einer Hisbollah-Geisel in Beirut mit dem Engagement einer Zeichnerin, die für einen Thinktank in Seattle arbeitet und sich in all ihrer Kreativität zu verwirklichen scheint, bis sie entdeckt, dass sie tatsächlich für das Militär tätig ist. In diesem „Doppelroman“ wirken die historischen Hintergründe der Nahost-Krise und die Motive der schiitischen Entführer ziemlich vage, während die bizarr skizzierten Vorrichtungen des Cyberkriegs hinter der Realität zurückbleiben. Dass in beiden Parallelhandlungen das Leben in einer Höhle und die dadurch gelenkte Phantasie eine Rolle spielen, ist allerdings ein bemerkenswerter, nicht zufällig an Plato erinnernder künstlerischer Clou.


Powers hat etliche Auszeichnungen eingeheimst – das kennzeichnet aber nicht unbedingt einen großen Literaten. Eher mittelmäßige Kollegen wurden ebenfalls hoch dekoriert, konnten sich mitunter sogar den Nobelpreis abholen. Kein ernstzunehmender Kritiker aber bezweifelt, dass dem wohl am umfassendsten Gebildeten unter den zeitgenössischen Autoren die beiden wichtigsten US-Preise berechtigt zugesprochen wurden: Den National Book Award erhielt er 2006 für „Das Echo der Erinnerung“, einen Roman, der die Aufklärung eines Unfalls mit dem Kampf gegen die Amnesie des Opfers verbindet. Vor zwei Jahren gewann Powers den Pulitzer Prize for Fiction für „The Overstory“ (inzwischen auf Deutsch als „Die Wurzeln des Lebens“ erschienen), ein fulminantes und beklemmendes Werk über die essentielle Bedeutung der Wälder für das Leben auf der Erde und die kriminelle, staatlich geduldete und sogar unterstützte Zerstörung des Öko-Systems durch Konzerne.


In „The Overstory“ versucht eine Gruppe von Menschen höchst unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft, von der chinesisch-stämmigen Business-Frau über die durchgeknallte Studentin und den versponnenen Zeichner bis hin zum desillusionierten Vietnam-Veteranen, die uralten Regenwälder im Nordwesten der Vereinigten Staaten vor dem Kahlschlag durch die holzverarbeitende Industrie zu retten. Jede/r von ihnen hat durch ein früheres Erlebnis eine besondere Beziehung zu einem speziellen Baum, etwa zur Kastanie oder zur Bengalischen Feige. Die bahnbrechende Arbeit einer als Freak verschrienen Forscherin öffnet den Außenseitern die Augen für die schier unglaublichen Fähigkeiten des Waldes, seine Kommunikations- und Abwehrstrategien, die Symbiose, die er mit anderen Lebewesen eingeht und den Schutz, den er ihnen gewährt.


Der friedliche Widerstand der Baumfreunde wird durch die alles zermalmende Wucht der gigantischen Maschinen gebrochen, was sie zu verzweifelten Öko-Terroristen macht – nicht besonders erfolgreich, eigentlich kein Menschenleben außer dem eigenen gefährdend. Doch die Rache des Staates wird sie furchtbar treffen.

     

Die Anonymität der Staatsmacht


Ein Charakteristikum mehrerer Powers-Romane ist die beinahe ausschließliche Repräsentation der öffentlichen Ordnung durch ihre Büttel, die Polizei, die Konzerne schützt und Demonstranten niederknüppelt, die Geheimdienste, die vermeintliche Staatsfeinde jagen, die Gerichte, die drakonische Haftstrafen gegen Widersetzliche verhängen. Zwar werden historische Ereignisse erwähnt, doch die hohe Politik verbirgt sich hinter ihren Fußsoldaten. In „Der Klang der Zeit“ sind es die Black Panthers, die für die Cops zu menschlichen Zielscheiben werden, in der „Overstory“ trifft es grüne Aktivisten, und in „Orfeo“ wird ein gescheiterter Komponist wegen eines harmlosen musikalischen Experiments wie ein Hase quer durch die Staaten gehetzt.


„Orfeo“ ist auch eine Hommage an die klassische Musik, an die alten Meister, Beethoven etwa, aber auch die an Neuerer des vorigen Jahrhunderts wie Shostakovich, der Stalins Geschmack bedienen musste, um zu überleben, oder Olivier Messiaen, der sein „Quartett für das Ende der Zeit“ in einem deutschen Kriegsgefangenenlager komponierte.


Und so, wie Powers wissenschaftliche Erkenntnisse in seine Romane einflechten kann, ohne dass dies den Leser langweilt, kann er auch Menschen, die nicht zu den Freunden der E-Musik zählen, die Entstehungsgeschichten und speziellen Voraussetzungen großer Werke spannend vermitteln, ohne dass der atemberaubende Fortgang der eigentlichen Story beeinträchtigt würde. Dies wird besonders in einem Meisterwerk von 2003 deutlich, dem in seiner Maßlosigkeit Melvilles „Moby-Dick“ vergleichbaren so unfassbar schönen wie traurigen, von Gesang, Rassenhass, Atomphysik, Abhängigkeit und vielem mehr handelnden Roman „Der Klang der Zeit“.

        

Ein Roman für die Ewigkeit


Nicht wenige Kritiker und Leser halten den rund 750 Seiten starken Band für den besten Roman, der seit der Jahrtausendwende veröffentlicht wurde. Er wird wegen seiner formalen und stilistischen Reife ebenso Bestand auch für künftige Jahrzehnte und Generationen haben wie wegen seiner zeitgeschichtlichen Relevanz. Szenen, Themen und Orte bilden in beständigem, aber nie überstürztem Wechsel ein Land und eine Gesellschaft in einer Epoche der Gegensätze ab, die Reihenfolge der Ereignisse wird von ihrer inhaltlichen Bedeutung, nicht von der Chronologie vorgegeben.


Die Geschichte erzählt Joey, der jüngere von zwei musikalisch hochbegabten Brüdern, deren Familie in den Augen der weißen US-Bevölkerung ein Paradoxon darstellt: Der nur knapp dem Holocaust entronnene deutsche Jude David Strohm heiratet die afro-amerikanische Gospelsängerin Delia. Die Eltern ignorieren den offenen Rassismus ihrer Umgebung, das ganze Haus bebt vor Musikalität, nicht zuletzt, weil auch Vater David, ein Physiker, eine starke künstlerische Ader offenbart. Der ältere Bruder Jonah entwickelt sich vom Wunderkind zum begnadeten Klassiktenor und hätte wohl auch zum Weltstar werden können, wäre seine Haut ein wenig heller gewesen.


Nicht nur die Gesellschaft ist gespalten, auch innerhalb der Familie beginnen sich die Risse zu zeigen: Der Großvater mütterlicherseits, Daley, und die ebenfalls immens musikalische Schwester Ruth werfen den Strohms vor, die beiden Brüder ausschließlich in der weißen Herrschaftskultur ausgebildet zu haben. Als auch noch herauskommt, dass David an der Entwicklung der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki mitgearbeitet hatte, bricht der alte Daley abrupt und für immer mit seinem Schwiegersohn und seiner Tochter.


Lakonisch zeichnet Joey, der von seinem genialen Bruder hemmungslos ausgenutzt wird, das Bild einer Welt, in der die Integrität und das friedliche Idyll einer reich mit Talenten gesegneten Familie zwangsläufig von der feindlichen Umwelt demoliert werden, eine Hautfarbe von Weißen als zu dunkel und von den Aufständischen in den Elendsvierteln als nicht dunkel genug wahrgenommen wird oder Ordnungshüter schwarze Aktivisten, die soziale Strukturen in den Slums aufbauen wollen, gnadenlos liquidieren.


Vielleicht ist es der resignierte Grundton, in dem Joey das Ende seiner persönlichen Ambitionen und den Tod seines Bruders durch einen Steinwurf im brennenden Watts schildert, der bei manchen deutschsprachigen Kritikern zu voreiligen Bewertungen führte. „Kalte Perfektion“ warf Ulrich Greiner in der Zeit dem Autor vor, „zu leidenschaftslos“ war der Roman der FAZ-Rezensentin Felicitas von Lovenberg geraten, und trotz eines Gesamtlobs befand Michael Schmitt von der Neuen Zürcher Zeitung, „Der Klang der Zeit“ sei „zu unproportioniert“.


Wie jedes voluminöse Werk weist auch dieser Roman Schwächen und Längen auf, etwa wenn Powers ein wenig zu oft den Kunstgriff, einem Abschnitt die Ankündigung des künftigen (tragischen) Ausgangs voranzustellen, bemüht. Bei den zitierten Kritikern beschleicht mich aber der Verdacht, sie hätten die Lakonie und Traurigkeit des Erzählduktus beim berufsbedingten Viellesen nicht recht bemerkt und stattdessen auf die Thrills und hochemotionalen Effekte gewartet, die einen Roman zum Schocker machen, ihn aber dem Kitsch und der Sensationslust öffnen. Viele Leser wurden sehr wohl von „Der Klang der Zeit“ tief berührt und dürften dem SZ-Mitarbeiter Thomas Steinfeld zustimmen, der in dem Roman „das Panorama eines sozialen Zustands, wie es keine Soziologie, keine Kulturtheorie, keine Philosophie mehr hervorbringt“ sah. Oder dem FR-Kritiker Ulrich Sonnenschein, der das Werk als „Glanzleistung“ bezeichnete und Richard Powers einen „der gewaltigsten Erzähler seiner Zeit“ nannte.

 

06/2021