Toni Morrison


Die Trend in den westlichen Gesellschaften scheint derzeit in eine intolerante Vergangenheit zu weisen. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass Kunst und ethnische Ausdrucksformen, die dem weißen Mainstream fremd waren, endlich ein Platz im globalen (abendländisch dominierten) Kulturkanon zugestanden wurde, wenn auch reichlich spät. Erst 1993 erhielt Toni Morrison als erste Afroamerikanerin den Nobelpreis für Literatur, fünf Jahre zuvor war sie in den USA mit dem Pulitzerpreis für ihren Weltbestseller „Beloved“ ausgezeichnet worden. Was damals als Anerkennung schwarzer kritischer AutorInnen begriffen wurde und wie ein Aufbruch in offenere Zeiten erschien, wird wohl in der restaurativen Ära der Trumps, Musks und anderer neoliberaler Xenophoben gerade wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt.


Das Wertesystem im Hintergrund


Etliche Jahrzehnte lang hatte die Creme der Literaturkritik in den USA die schwarzen SchriftstellerInnen des 20. Jahrhunderts weitgehend ignoriert, die den alltäglichen Rassismus und die geistige wie materielle Diskriminierung einer großen Minorität  thematisierenden Werke eines Ralph Ellison oder des grandiosen James Baldwin fanden keine Beachtung bei der schwedischen Nobel-Jury. Da wirkte die Ehrung von Toni Morrison 1993 wie eine späte Kompensation für einstige Versäumnisse. Manche Feuilletonisten mochten sogar insgeheim denken, die Juroren hätten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen (afroamerikanisch und auch noch Frau), als sie die Autorin quasi zur Quoten-Preisträgerin kürten.


Dreiundzwanzig Jahre vorher hatte Toni Morrison ihren ersten Roman „The Bluest Eye“ (deutscher Titel: „Sehr blaue Augen“) veröffentlicht, die tragische Geschichte des hässlichen schwarzen Mädchen Pecola, die sich sehnsüchtig ein Paar himmelblauer Barbie-Augen wünscht, weil sie glaubt, dass die Zurückweisung und Verachtung, die sie ständig erfährt, sich in Zuneigung verwandeln würden, wenn sie nur dieses gehypte Schönheitsattribut der Weißen vorweisen könnte. In einem Vorwort erklärte Morrison, sie habe nicht  den Widerstand gegen diese faktische Demütigung in den Mittelpunkt stellen wollen, sondern die weitreichenden Konsequenzen, die eine Anerkennung und Hinnahme solcher Ausgrenzung als legitim und selbstverständlich durch Betroffene zeitigt. In glasklarer Sprache mit beinahe lyrischen Sequenzen schildert sie den unheimlichen Einfluss, den weiße Schönheitsideale, Standards, Regeln aus dem (medialen, kommerziellen) Hintergrund, aber im Denken stets präsent, auf unterprivilegierte Schichten und Ethnien ausüben.


Die elf Romane, die Morrison in 45 Jahren schrieb, kann man auch als literarisches Kompendium begreifen, das die nordamerikanische Gesellschaft charakterisiert wie einst Balzac die französische in seiner Comédie Humaine – wobei weiße Darsteller eher selten auftreten, obwohl die ökonomische Macht und soziale Deutungshoheit (oft auch die rassistische Energie) der Weißen aber allgegenwärtig ist. Nicht zufällig greift der letzte Roman „God Help the Child“ 2015 noch einmal das Thema stereotyper Schönheitsideale auf, diesmal allerdings seitenverkehrt. Die Protagonistin Lula Ann wird von der eigenen Mutter wegen der allzu tiefschwarzen Hautfarbe vernachlässigt. Doch die Mode hat sich gewandelt, das hässliche Töchterlein wird zum schönen ebenholzfarbigen Schwan und kreiert eine eigene Kosmetik-Produktlinie. Die glatte Fassade ist allerdings nicht alles, Lula Ann muss für eine Lüge, die ihr in der einsamen Kindheit Lob und Aufmerksamkeit verschaffen sollte, schwer büßen.


Dieses erste Buch jedoch war ein kommerzieller Flop, dem gleich der zweite, „Sula“, folgte, ein Roman, der in gleicher Umgebung, den Industrie-Slums des Mittleren Westens, angesiedelt war. Die Titelheldin ist eine harte, unbeugsame, aber mit seltsamer Anziehungskraft begabte Frau, die Männer demütigt, aber auch Frauen und der eigenen Familie gegenüber rücksichtslos handelt – ein Beispiel dafür, dass Unterdrückung nicht nur Widerstand, sondern auch Böses hervorbringen kann. Eine Figur, die ähnlich unheilvoll wirkt, dominiert auch den dreißig Jahre nach „Sula“ veröffentlichten Roman „Love“, in dem der beinahe dämonisch skrupellose Auftritt des einer völlig verwahrlosten Großfamilie entflohenen Mädchens namens Junior den beinahe lebenslangen Streit zweier älterer Schwestern zu einem überraschenden Ende bringt.


Erst Toni Morrisons dritter Roman „Solomons Lied“ verschaffte ihr den Durchbruch zu Anerkennung und Absatz bei Kritikern und Lesern. Malcolm Dead III, Sohn eines Hausbesitzers, der seine schwarzen Mieter rücksichtslos drangsaliert, begibt sich, nicht uneigennützig, auf die Suche nach den Spuren seines Vaters in den Südstaaten. Er sucht einen vergrabenen Goldschatz und findet einen ehemaligen Freund, der sich geschworen hat, jeden Lynchmord an einem Schwarzen an einem unbeteiligten Weißen zu rächen, und zu Malcolms Todfeind geworden ist.


Von den Plantagen in die Ghettos


Die vielgelesene englische Autorin Hilary Mantel, die zweimal den Booker-Preis für ihre Thomas-Cromwell-Trilogie erhielt, schrieb über Toni Morrison, man könne „den Gang der Geschichte in ihrer Prosa fühlen“. Es handelt sich allerdings nicht um die offizielle glorreiche US-Historie, sondern das epische Drama des anderen Amerika, etwa die Migration vieler einstiger Sklaven nach dem Bürgerkrieg aus den Südstaaten, wo sie zwar die nominelle Freiheit erhalten hatten, nicht aber Bürgerrechte und Gleichberechtigung, in die aufstrebenden Industriezentren des Nordostens und Mittleren Westens. Dort benötigte man Hilfsarbeiter in den Fabriken und Dienstmädchen in den Haushalten der besserverdienenden Kreise. Die Löhne für die früheren Plantagenarbeiter ermöglichten ihnen weder bescheidenen Wohlstand noch sozialen Aufstieg durch Bildung, auch wenn ihre Kinder nun zusammen mit denen der Weißen auf die Grundschule gehen durften.


Toni Morrison (bürgerlich: Chloe Ardelia Wofford) war eins von vier Kindern des Ehepaares Ramah Willis und George W., das aus Alabama bzw. Georgia nach Loraine, Ohio. zugewandert war. Der Vater verdiente das Geld als Schweißer, und es reichte manchmal nicht für die Miete. Die Autorin kannte also das Milieu, das sie beschrieb, aus der eigenen Kindheit: Nachbarn in schäbigen Häusern, ständig von Geldsorgen geplagt, häusliche Gewalt, Inzest, Machismo, Kleinkriminalität, der informelle Rassismus der Nordstaaten, materielle und oft auch geistige Armut als Fluch des Prekariats – und gegen diese Trostlosigkeit immer wieder aufbegehrender Stolz und verzweifelter Widerstand. Die Menschen in den Ghettos waren in ihren Büchern nicht unbedingt besser als die Weißen – es kommen genügend Diebe, böswillige Ausbeuter und Schläger unter ihnen vor – aber die miesen Laufbahnen waren quasi in die Wiege gelegt worden. Umso erstaunlicher ist es, dass doch so viele es schafften, einen anderen Weg einzuschlagen…


Literarischen Weltruhm erlangte Toni Morrison mit dem Roman „Beloved“ (deutsche Titel: „Menschenkind“, „Geliebte“), der 1987 erschien. Die Handlung, auf mehreren Zeitebenen angesiedelt, wechselweise von einem auktorialen Chronisten und in Monologen einzelner Protagonisten erzählt, ist nichts weniger als eine kurze Geschichte der Sklaverei mit deren unmittelbaren Folgen, fokussiert auf eine kleine Gruppe von Menschen und die Sweet Home Plantage in Kentucky sowie auf das von traumatischen Erinnerungen, Schuldgefühlen und Existenzangst geprägte Dasein der Überlebenden zwei Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg und der „Befreiung“ in Cincinnati, Ohio. Die vierfache Mutter Sethe hatte auf der Flucht eine ihrer Töchter getötet, um ihr die drohende erneute Versklavung zu ersparen. Nun wird ihr Haus vom Geist der Ermordeten heimgesucht, der sich zu der jungen Frau Beloved, die ebenso bezaubernd wie zerstörerisch wirkt, zu materialisieren scheint…


In „Beloved“ werden die weißen Figuren nicht generell als Feinde charakterisiert: Dem sadistischen Plantagenbesitzer Schoolteacher stehen die Geschwister Bodwin gegenüber, Abolitionisten, die mit allen Mitteln gegen die Sklaverei kämpfen. Die schwarzen Akteure aber müssen auch zwanzig Jahre nach dem Ende ihrer Torturen noch mit dem Fluch der Vergangenheit leben und um eine tragfähige Perspektive ringen. In Morrisons Prosa wird der harte Realismus der US-Moderne immer wieder von afrikanischer Erzähltradition, antikem Drama und Anklängen an den magischen Realismus lateinamerikanischer Autoren wie Juan Rulfo oder García Márquez gekontert.


Fünf Jahre später folgte „Jazz“, ein Panorama Harlems mit seinen menschlichen Tragödien, den durch den nervösen Drive einer neuen Musik befeuerten Zusammenstößen von Liebe und Gewalt, und ein weiteres Jahr danach wurde Morrison der Nobelpreis verliehen. Häufig wurden SchriftstellerInnen damit ausgezeichnet, wenn sie den Höhepunkt ihres Schaffens bereits überschritten hatten, quasi um sie kurz vor ihrem Tod für ihr Lebenswerk zu ehren, in diesem Falle aber hatte die Autorin noch einige Pfeile im Köcher.


Würde oder Selbstzerfleischung?


Mit „Paradise“ (1997) und „A Mercy“ (dt. Titel: „Gnade“) elf Jahre später schuf Toni Morrison zwei ihrer wort- und wirkmächtigsten Werke. „Paradise“, ihr umfangreichster Roman, ist die Geschichte von fünf Frauen, die am Rande des ausschließlich von Afroamerikanern bewohnten Städtchen Ruby, Oklahoma, in einem früheren Kloster leben und in einen letztendlich tödlichen Konflikt mit ihren Nachbarn hineingezogen werden. Denn die Siedlung, die von 15  afrikanischen Familien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um dem Rassismus in ihrem früheren Wohnort Haven zu entfliehen, wird hierarchisch, sittenstreng und fremdenfeindlich geführt, während die Nonne sowie die anderen vier aus prekären Verhältnissen entkommenen Frauen im aufgelassenen Stift einen toleranteren Umgangsstil pflegen. Die tonangebenden Männer von Ruby empfinden die Lebensweise der Klosterbewohnerinnen als frivol, fürchten deren Attraktivität und steigern sich in bigotten Wahn hinein, bis sie zu den Waffen greifen, um der Versuchung ein blutiges Ende zu bereiten.


„Paradise“ macht deutlich, dass Xenophobie und Rassismus nicht ausschließlich Privilegien der weißen Ethnie sind. Die Hautfarbe der Bewohner von Ruby ist von tiefem Schwarz, also lehnen sie jede hellere Tönung ab – ein Gegenentwurf zum vorherrschenden Geschmack in den USA, dem zufolge auch farbige Menschen so hellhäutig wie möglich sein sollten. Ein dunklerer Obama wäre wohl nie zum Präsidenten gewählt worden. Die Gemeinde in „Paradise“ ist auch ein Spiegelbild von William Faulkners fiktivem Yoknapatawpha-Distrikt, wo weiße Südstaatler in Mississippi ähnliche Vorlieben und Vorurteile pflegen.


„Paradise“ bildet den Schlusspunkt einer lose geknüpften Trilogie mit „Jazz“, das die 1920er Jahre in New York charakterisiert, und „Beloved“, in dem die Jahre nach dem Bürgerkrieg und dem Ende der Sklaverei beleuchtet werden – historische Wendemarken, beschrieben aus afroamerikanischer Perspektive.


Noch weiter in die Geschichte zurück führt der Roman „A Mercy“, in die letzten Jahre des 17. Jahrhunderts, als im Südosten der späteren USA noch die Spanier saßen, als sich nach den ersten Schiffstransporten aus Afrika die Basis der nordamerikanischen Sklavenhaltergesellschaft bildete, als religiöse Hysterie unter den britischen Migranten ausbrach und gleichzeitig Menschen als Ware gehandelt wurden. Ein schwarzes Mädchen wird von einem eher aufgeklärten niederländischen Neusiedler ihrem spanischen Besitzer abgekauft. Sie sieht ihren Herrn an einer verheerenden Seuche sterben, bringt eine Odyssee durch die Wildnis hinter sich, wird beiläufig Zeugin der von den Puritanern entfesselten Hexenjagd auf missliebige Frauen und Andersgläubige, findet einen Geliebten und verliert ihn wieder: Bruchstücke eines heute gern totgeschwiegenen Fundaments der Glorie der Vereinigten Staaten, vermischt mit den Splittern einer Biografie.


Toni Morrison war eine der großen Erzählerinnen des anderen Amerika, das Trump und Konsorten am liebsten aus der Literatur und den Geschichtsbüchern verbannen würden. Sie starb am 5. August 2019.


08/2025