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Patrick White
Patrick White erhielt 1973 den Literatur-Nobelpreis. „Patrick Who?“ würde in Deutschland mancher professionelle Feuilletonist fragen. Etliche Autoren, die von der Schwedischen Akademie ausgezeichnet wurden, kennt heute kaum noch jemand, andere wurden vom Komitee geehrt, obwohl ihr Werk (oder ihr qualitativer Rang) Lesern wie Kritikern ein Rätsel blieb. Und dann gab es auch jene, die einfach das Pech hatten, abseits der literarischen Hotspots geboren, aufgewachsen und künstlerisch sozialisiert worden zu sein. Zu letzteren gehört der Australier Patrick White, einer der wichtigsten englischsprachigen Autoren des vorigen Jahrhunderts.
Der Blick eines Grenzgängers
Patrick White, der 1912 in London geboren wurde, dann mit seinen Eltern in deren australische Heimat zog, wechselte schon während der Schul- und Studienzeit häufig zwischen England und dem fünften Kontinent hin und her, was wohl vor allem den Blick auf seine Landsleute geschärft haben mag. Die Nachfahren bürgerlicher Kolonialisten einerseits und verbannter Sträflinge, unter denen sich auch viele Iren sowie Schotten befanden, zum anderen schwankten häufig zwischen der Imitation britischer Etikette und einer hemdsärmeligen Rohheit, die das Überleben in der maßlosen Natur des Landes mit ihren riesigen abweisenden Ebenen und Wüsten, von den giftigsten Tieren der Erde bevölkerten Urwäldern, dazu noch von unwirtlichem Klima geprägt, ermöglichen sollte. Später gesellte sich noch eine Spielart des den USA so häufig beschworenen „Strebens nach dem Glück“ (um jeden Preis) zu den nationalen Wesenszügen.
White lässt die weißen Landnehmer in seinen Romanen auftreten, aber er ist kein Chronist des Pioniergeistes wie Peter Carey oder David Malouf, ihn treiben die Wildnis im Innern seiner Personen und das Unvermögen, sie zu begreifen oder zu domestizieren, um. Und im Gegensatz zu den meisten australischen Schriftstellern spielt die indigene Urbevölkerung, die Aborigines, bei ihm immer wieder eine wichtige Rolle. Der Kosmopolit kam bei seinen Landsleuten zunächst gar nicht gut an: Den ersten seiner dreizehn Romane, „Happy Valley“, den britische Literaten wie Graham Greene oder Elizabeth Bowen trotz einer gewissen Affinität zu James Joyces` Ulysses lobten, lehnten sie ab, weil ihnen die ungeschminkte Darstellung des Farmerlebens missfiel. Später nahmen viele ihm seinen Einsatz für die damals rechtlosen Aborigines, seine Homosexualität oder seinen (vergeblichen) Kampf gegen den Eintritt Australiens in den Vietnam-Krieg übel. Erst der Nobelpreis machte ihn akzeptabel für eine Gesellschaft, deren geistige Verfassung er als „mittelmäßig“ charakterisierte.
Nachdem er in England französische und deutsche Literatur studiert hatte, wollte er das Land der Dichter und Denker kennenlernen und bereiste es reichlich blauäugig in der Frühzeit der Hitler-Diktatur: „Trotz einiger beunruhigender Begegnungen mit der Nazi-Mentalität, den Bücherverbrennungen während meiner Zeit in Heidelberg, trotz der verfolgten Juden, die in derselben Straße ein Schattendasein lebten, war Hitler am Anfang meiner Liebesbeziehung mit Deutschland noch eine Zielscheibe des Hohns und Spotts für liberal denkende Deutsche. Wir saßen auf unseren sicheren Balkonen über dem Holzgraben in Hannover, tranken Schnaps und lachten uns kaputt.“ Für diese fahrlässige Verkennung der Nazi-Herrschaft tat White später in seinem Roman „Riders in the Chariot“ literarische Buße, als er die Gräuel von Judenverfolgung und Vernichtungslagern in seiner eigenwillig pointierten Erzählperspektive zum verhängnisvollen Wendepunkt eines Migrantenlebens werden ließ.
In den 1970er Jahren gab White, der politisch zunächst konservativ eingestellt war, sich dann aber der Labor Party und den Gewerkschaften annäherte, den australischen Ritterorden zurück. Nach der Nobel-Ehrung nahm er keine Literaturpreise mehr an. da seiner Meinung nach jüngere Autoren ausgezeichnet werden sollten. Er engagierte sich als Atomwaffengegner und wurde zum entschiedenen Anti-Royalisten. Die Uraufführung der Oper „Voss“ nach seinem gleichnamigen Roman auf dem Adelaide-Kunstfestival boykottierte er, weil auch Queen Elizabeth eingeladen war. Leicht hat es White sich selbst, seiner Umgebung und seinen Lesern – schon aufgrund einer zwischen kargem Ernst und absurder Ironie changierenden Sprache mit häufigen Rhythmuswechseln und poetischen Anklängen – nie gemacht; manchen Zeitgenossen galt er als grob, ja sogar "grausam" im Umgang.
Trotz eines imposanten Spätwerks mit den Romanen „The Twyborn Affair“ und „The Eye of the Storm“, trotz vier Erzählungssammlungen und elf Theaterstücken basiert der Ruf Whites als einer großen englischsprachigen Autoren der modernen Weltliteratur vor allem auf einem Romanquartett, das er zwischen 1955 und 1966 schrieb.
Die großen Romane
Der Roman „The Tree of Man“ (im Deutschen etwas schwülstig „Zur Ruhe kam der Baum des Menschen nie“ betitelt) machte White 1955 schlagartig in der angelsächsischen Literaturwelt berühmt, obwohl die Handlung und die agierenden Personen alles andere als spektakulär erscheinen: Ein Paar mit Außenseiterqualitäten siedelt sich in der Wildnis an, macht das Land urbar und zieht zwei Kinder groß, die sich auf divergierenden Pfaden konsequent von den Eltern entfremden. Abwechslung in dieses von Schufterei geprägte und von den Naturgewalten (Buschfeuer und Überschwemmung) bedrohte Dasein bringen lediglich zwei amouröse Seitensprünge, einmal nur in der Vorstellung, das andere Mal realiter vollzogen. Das Aufwühlende an dem Buch ist Whites Sprache, die zwei Leben, die bis zum Ende hart erarbeitet werden müssen, die weder glücklich noch unglücklich zu nennen sind, zumal den Parkers wenig Zeit bleibt, viel über Glück nachzudenken, in teils naturalistischer, dann wieder lyrisch zarter, fast elegischer Epik abbildet: ein Paar von Menschen als einzig denkbarer Mittelpunkt inmitten einer gleichgültigen Natur.
Nur zwei Jahre später erschien „Voss“, der bis heute weltweit wohl meistgelesene Roman von Patrick White. Ein junger Deutscher mit leicht autistischen Zügen schockiert, amüsiert und fasziniert die spießige australische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, als er ankündigt, den Kontinent als Erster durchqueren zu wollen. Ohne Karte, detaillierte Kenntnisse des Landes und einschlägige Expeditionserfahrung bricht er an der Spitze eines bunt zusammengewürfelten Haufens ins Outback auf. Die Abenteurer kommen weder mit dem wilden Territorium noch mit dem extremen Wetter zurecht, verstehen die ihnen begegnenden Ureinwohner nicht und spalten sich schließlich in zwei Gruppen auf, die beide ihre jeweiligen Ziele nie erreichen werden.
Vor der Abreise hat der Egomane Voss eine überraschende (platonische) Liebesbeziehung mit der jungen, unkonventionell denkenden Laura begonnen, doch ihre Korrespondenz erreicht später keinen Adressaten, ihre Gedankenübermittlungen bleiben ohne physisches Echo; mystisch und telepathisch wirkt diese Beziehung, jenseits realer Kontaktmöglichkeit so fremdartig wie die feindselige Wildnis, der Voss seine Gefährten und sich selbst opfert.
„Riders in the Chariot“ (die deutsche Übersetzung überhöht zu „Die im feurigen Wagen“) wurde 1961 veröffentlicht: eine Geschichte von vier aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, deren Lebenswege durch ein Chaos von Shakespeare`scher Wucht zu seltsamer Erfüllung oder in einen skurril anmutenden Tod führen. Die ältliche Frau aus ehemals begüterter Familie, die wegen ihrer Hässlichkeit selbst von ihren Eltern gemieden wurde und sich „Ansprechpartner“ in der Flora und Fauna suchen muss, begegnet einem Aborigine-Künstler, der als Kind von seinem geistlichen Vormund missbraucht wurde, daraus aber keine Rachegefühle entwickelt, sondern die Absonderung von aller menschlichen Umgebung vollzieht. Eine Engländerin, deren reine Selbstlosigkeit und Nächstenliebe sie ihren Mitmenschen verdächtig macht, versucht vergeblich, einem alten Juden, der in einer bizarren Travestie vom Mob „aus Spaß“ ans Kreuz geschlagen wird, zu helfen.
Wie der letzte Roman aus dem grandiosen Quartett „The Solid Mandala“ (1966), der die Facetten einer symbiotischen Bruderbeziehung nachzeichnet, spielt „Riders in the Chariot“ – der Titel bezieht sich auf den alttestamentarischen Propheten Elias, der in einer Flammenkutsche gen Himmel aufgefahren sein soll – in der Phantasiestadt Sarsaparilla, einem Pendant zu Faulkners und Garcia Marquez` Orten Jefferson und Macondo.
Unbedingt lesenswert ist zusätzlich der 1970 erschienene Roman „The Vivisector“ (deutsch abwiegelnd „Der Maler“), die fiktive Biographie eines aus ärmlichen Verhältnissen stammenden und von einer wohlhabenden Familie adoptierten Hochbegabten. Der Künstler verfügt über einen stechend scharfen Blick auf die Gesellschaft und schafft seine Bilder in schroffer Kompromisslosigkeit. Doch sein Leben verläuft innerhalb ignoranter Gesellschaftskreise auf einem adäquat scharfen Grat, und ein latenter Hang zur Misanthropie sowie ein schwerer Vertrauensbruch im vorgerückten Alter legen die zumindest partielle Skrupellosigkeit des Lebendsezierers offen.
In Deutschland noch zu entdecken
In der Begründung der Schwedischen Akademie hieß es 1973, Patrick White habe den Nobelpreis „für seine epische und psychologische Erzählkunst, durch die der Literatur ein neuer Erdteil zugeführt worden ist“, erhalten. Am deutschen Feuilleton und der Literaturszene hierzulande ging diese geistige Entdeckung Australiens beinahe spurlos vorüber.
Obwohl der spätere Nobelpreisträger Heinrich Böll gemeinsam mit seiner Frau Annemarie bereits 1957 „The Tree of Man“ ins Deutsche übersetzt hatte, blieb White, der andernorts bald als einer der großen, zeitlosen, Erzähler der Moderne gefeiert wurde, hier ein Geheimtipp. Und während sich die Kritiker der Qualitätspresse von FAZ bis Spiegel grämten, dass der unlängst verstorbene Philip Roth, dessen intelligent und ironisch geschriebene, aber formal und bezüglich der Handlung in Routine erstarrte Romane redundant die US-Mittelklasse und ihr verzwicktes Sexualleben bespiegeln, nie von der Schwedischen Akademie gekrönt wurde, fand ein stilistische Grenzen und inhaltliche Konventionen sprengender Autor wie Patrick White in bundesdeutschen Kulturteilen schlicht nicht statt.
Nur wenige seiner Bücher sind derzeit in deutscher Übersetzung sofort lieferbar, in Antiquariaten und manchmal sogar in der Grabbelkiste für „Mängelexemplare“ (und natürlich im Internet) mag man eher fündig werden. Immerhin hat nun der Verlag Kiepenheuer & Witsch drei Romane aus dem oben erwähnten Quartett neu veröffentlicht. Ob das zu einer (Wieder-)Entdeckung Whites in unserem Land führt, darf bezweifelt werden. Dem 1990 in Sidney gestorbenen Schriftsteller, der Trubel um die eigene Person sowie Lobpreisungen stets ablehnte, wäre es wohl egal gewesen. Als der einst Verfemte 1974 in seiner Heimat zum Mann des Jahres gewählt wurde, kommentierte er dies mit einer Sottise: „Es gibt da eine Organisation, die einen Australier des Jahres wählt, der dann an einem offiziellen Essen in der Stadthalle von Melbourne teilnehmen muss. Dieses Jahr verfielen sie auf mich, nachdem sie alle Schwimmer, Tennisspieler und Segler durchhatten.“
05/2018
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