William Trevor


Die Frage, was große Literatur ist und was lediglich gute Unterhaltungslektüre oder bloße Spekulation auf Leserbetroffenheit, wird sich nie endgültig klären lassen, obwohl darauf bereits unzählige Antworten gegeben wurden. Wenn aber Konsens darüber bestehen sollte, dass gute Prosa die innere Verfasstheit von handelnden Personen glaubhaft skizzieren, die Stimmung einer Region, eines Landes, einer Gesellschaft einfangen müsste, ohne den Text mit Details zu überfrachten, sondern dem Leser Raum lässt, eigenen Gedanken und Vorstellungen nachzuhängen, und ihn dazu noch durch das Unerwartete, nicht selten Tragische berührt, dann darf William Trevor als einer der großen Autoren (nicht nur) der angelsächsischen Literatur gelten.


Ein ganzes Leben abbilden


Der 1928 im südirischen County Cork geborene Trevor schrieb 23 Romane, von denen die meisten nur wenig über 200 Seiten lang waren, aber den Lesern das Gefühl vermittelten, sie hätten gerade ein gewichtiges, von ausgeprägten, wenn auch oft sonderbaren Charakteren bevölkertes Epos hinter sich. Wie auch in seinen elf Erzählungssammlungen zeichnete der Autor, der ähnlich anderen Literaten von der grünen Insel, etwa Joyce und Beckett, seine Heimat verließ und ab 1952 bis zu seinem Tod 2016 in England lebte, markante Porträts von Menschen, die sich als Außenseiter durchs Leben kämpfen, mal im Einklang mit überkommenen Traditionen, des Öfteren auch gegen diese. Vom Glück werden sie kaum heimgesucht, dafür hilft ihnen ein beträchtliches Maß an Beharrlichkeit oder Starrsinn, sich ihr Schicksal zum halbwegs Erträglichen zurechtzubiegen und ihre oft unerfüllbaren Sehnsüchte im Geheimen bis zum Ende zu hegen.


Mehr als fünfzig Jahre lang hat William Trevor Unangepasste der Gesellschaft mit distanzierter Sympathie dargestellt, manchmal in ihrer ganzen Lebensspanne, und hat dabei langen Atem bewiesen. Das heißt nicht, dass er langatmige Biografien geschrieben hätte, seine Prosa ist reich an überraschenden Wendungen und skurrilen Augenblicken, aber er zeigt Geduld mit seinen Figuren und ihren Motiven – und lässt sie ihren Weg in einer Welt suchen, in der ihnen permanent Missgeschicke zustoßen, eine engstirnige oder hochmütige Umgebung zusetzt und die von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Geschichte das Ende der alten moralischen Gewissheiten markiert.


Es fällt auf, dass Trevors Hauptpersonen sehr oft Frauen sind, aus deren Blickwinkel die Geschichten erzählt werden. Offenbar traut der Autor ihnen mehr Resilienz (um ein Modewort zu bemühen), also mehr Hartnäckigkeit und Widerstandskraft zu als den männlichen Pendants. Ob es sich um Marianne, das Dienstmädchen, das in dem Schlüsselroman „Toren des Glücks“ eine einzige – folgenschwere -     Nacht mit einem jungen Mann verbringt, um dann ein Gutteil ihrer Lebenszeit den Erinnerungen an ihn nachzuhängen, weil er, angetrieben von seiner hasserfüllten Mutter, den Mord an seinem Vater blutig rächt und fliehen muss. Oder ob in „Felicias Reise“ sich eine unbedarfte junge Frau aus der irischen Provinz vom Dorf-Casanova schwängern lässt, der sich der britischen Armee anschließt und so aus der Verantwortung „desertiert“. Sie sucht ihn in England, wo sie Pennern, einer durchgedrehten Sekte und einem Psychopathen, den Trevor als beunruhigende und zugleich bemitleidenswerte Figur beschreibt, also nicht per se als Abschaum desavouiert, in die Hände fällt.


Marie Louise muss in „Turgenjews Schatten“ einen ignoranten, aber wenigstens duldsamen Krämer heiraten. Aus dem irischen Kleinstadtmief kann sie nur für wenige Stunden entkommen, in denen ihr schwerkranker „platonischer Liebhaber“ aus den Werken des russischen Schriftstellers vorliest. Und eine schwarze Jamaikanerin, die als Kind die einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes war, wurstelt sich im Londoner Milieu als Striptease-Tänzerin durch, bis sie per Erweckungserlebnis zur besessenen Missionarin einer dubiosen karibischen Glaubensgemeinschaft mutiert, die in einem kurz vor dem Abriss stehenden Viertel den ohnehin geplagten Bewohnern mit unerbittlichem Bekehrungseifer den letzten Nerv raubt. „Miss Gomez und ihre frommen Brüder“ belegt Trevors Sinn für milden Humor und absurde Konstellationen, in denen die bittere Realität dennoch nicht ausgeklammert wird.


Ein Land in einer Epoche


Wenn ein Ire auswandert, nimmt er seine Insel mit, heißt es in den USA oder in Australien. Tatsächlich hat sich auch William Trevor, ansonsten ein gebildeter Kosmopolit mit internationalen stilistischen Anklängen nie ganz von seiner Heimat getrennt, obwohl er doch weit mehr Jahre in England gelebt hat. Die Zeit nach dem Dubliner Osteraufstand 1916, der Befreiungskampf gegen die britischen Besatzer, der Bürgerkrieg in der Republik prägten die Geschichte der Insel über viele Jahrzehnte hinweg und finden auch in etlichen Erzählungen und Romanen Trevors ihr lang anhaltendes Echo. Die Gesellschaft in den kleinen Landstädten und Dörfern ist gespalten: Eine wohlhabende protestantische Minderheit (der übrigens auch Trevor selbst entstammte), die sich zum Teil auf die Seite der englischen Kolonialmacht geschlagen hatte, steht den überwiegend katholischen Kleinbauern und Arbeitern gegenüber.


In „The Silence in the Garden“ (keine deutsche Ausgabe) wird eine von der IRA verübte, scheinbar sinnlose Bluttat erst vor dem Hintergrund der brutalen Arroganz, mit der Angehörige der protestantischen Gentry die rechtlosen Katholiken einst gepeinigt hatten, verständlich. Die Lebenswege der Protagonisten von „Toren des Glücks“ trennen sich aufgrund eines Verbrechens, das die Black and Tans, Mitglieder einer von London entsandten Killermiliz, auf einem irischen Landgut verübten. In „Die Geschichte der Lucy Gault“ wächst ein Mädchen allein auf der Insel auf, die seine Eltern verlassen mussten, weil sie sich gegen einen Übergriff katholischer Nachbarn zur Wehr gesetzt hatten.


Trevors präzise Sprache, in der kein überflüssiges Wort vorkommt, weckt in der Phantasie der Leser eine ziemlich genaue Vorstellung von der jeweiligen Lokalität und den sozialen Gegebenheiten. Auch in der Prosa, die in England angesiedelt ist, gelingt es ihm, das Typische der Handlungsorte, seien es verfallende Arbeitersiedlungen in London oder die von Outlet-Zentren und Tankstellen umzingelten gesichtslosen Kleinstädte weiter im Norden, heraufzubeschwören, aber seine Darstellung des Landlebens im Süden Irlands weist noch höhere Intensität auf: Man glaubt, die feuchten Moorwiesen, das abgestandene Bier in den Pubs und den bigotten Mief des damals noch allmächtigen Klerus förmlich riechen zu können.


Die immanente Logik des Irrwegs


Diese Fähigkeit, ein Milieu nicht zu karikieren, sondern in seiner durch Regeln und Konventionen abgesicherten Unentrinnbarkeit zu charakterisieren, macht auch die kurze Prosa, die Erzählungen von William Trevor zu grandiosem Stoff. Für viele angelsächsische Literaten des 20. Jahrhunderts galt Anton Čechov als der maßgebliche Pionier der modernen Kurzgeschichte, aber auch James Joyces Sammlung „Dubliners“ war ein Meilenstein in der Entwicklung der Short Story. In seinem zurückhaltenden lakonischen Stil erinnert Trevor an diese beiden großen Autoren, was bei ihm jedoch zusätzlich auffällt, ist eine Art von geheimer Logik, der seine Figuren bei aller Irrationalität zu folgen scheinen.


Die Erzählung „Die Junggesellen in den Hügeln“ thematisiert das ewige Trauma der jüngeren irischen Geschichte, nämlich wegen fehlender ökonomischer Perspektiven auswandern zu müssen. Nur bleiben die Nachwuchsbauern in der beschriebenen Gegend an Ort und Stelle, weil sie sich nicht von den Höfen trennen und aus den familiären Verstrickungen lösen können. „Die Frauen des Klavierstimmers“ ist die Geschichte einer manischen Eifersucht: Die zweite Gattin eines Blinden muss feststellen, dass die verstorbene Vorgängerin eine viel engere Beziehung zu ihrem Mann hatte, während ihr selbst das bessere Aussehen schon wegen dessen Behinderung nichts nützt – eine Konstellation, die entfernt an „Die Toten“ von Joyce erinnert.


Der Hang der Trevor-Gestalten, sich das Leben durch absurd wirkende Pläne, rigorose Unterdrückung von Gefühlen oder Selbstgeißelung schwer zu machen, kennzeichnet die Romane ebenso wie die Erzählungen. So bestraft sich die Titelgestalt Lucy Gault für den kindlichen Ungehorsam, der zur Trennung der Familie führte, indem sie sich die einzige Liebe ihres Lebens verbietet, bis es zu spät ist. Lediglich in „Liebe und Sommer“, seinem letzten Roman von 2009, gesteht der Autor seiner Heldin einen plausiblen Grund für den bitteren Verzicht auf persönliches Glück zu: Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen.


Beleg deutscher Ignoranz


William Trevor erhielt in Irland, Großbritannien und den USA zahlreiche renommierte Preise und Auszeichnungen – allein Wikipedia listet mehr als dreißig auf - , er wurde von den Edel-Kritikern der New York Times, der Washington Post, des New Yorker oder des Guardian gefeiert, und nicht wenige Stoffe aus seiner Feder wurden verfilmt. Nur in Deutschland blieb er ein fast Unbekannter, einige seiner wichtigsten Werke wurden hierzulande weder übersetzt noch verlegt. Die brillante Anthologie „Ein Hauch von Schmetterlingen“, die einen repräsentativen Einblick in seine Erzählungssammlungen vermittelt, wurde beim Billigheimer jokers auf der Resterampe verhökert. Woher kommt diese Ignoranz?


Möglicherweise war den Kritikern durch einflussreiche Spezialisten für deutsche Klassik und Moderne wie Reich-Ranicki mit einem offenkundigen Desinteresse für vieles, was nicht in seinen geschmäcklerischen Bildungskanon passte, der Blick über den Tellerrand verstellt. Vielleicht wollten sich aber auch manche Verleger, die auf von den Medien hochgejazzte Gebrauchsautoren und Zeitgeist-Kolporteure wie Schlink, von Schirach, Stuckrad-Barre oder Illies als Umsatzgaranten setzen, die Bilanz nicht durch schwerer verkäufliche internationale Qualität verderben lassen...


03/2024