Sherwood Anderson


Etliche Autoren, darunter drei Nobelpreisträger, beeinflusst und beraten zu haben und doch weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein – das ist das typische Schicksal eines literarischen Pioniers. Wer spricht heute noch von Sherwood Anderson, dem Mann aus Ohio, dessen Dark Laughter Hemingway in The Torrents of Spring parodierte, obwohl er ihm viel zu verdanken hatte, den William Faulkner unter dem Pseudonym Fairchild in dem Roman Moskitos und in einigen Erzählungen auftreten ließ und der John Steinbecks Früchte des Zorns mit seinen naturalistisch-erdigen Schilderungen stilistisch vorbereitete?


Weites Land, enge Städte


Sherwood Anderson wurde 1876 in Camden, Ohio, geboren, und in der Weite der Weizen- und Maisprärien des Mittleren Westens mit seinen zu Kleinstädten aufpolierten Eisenbahnstationen spielt auch der Großteil seiner Erzählungen und Romane. Die von ihm beschriebenen Landschaften ähneln in ihrer epischen Eintönigkeit Turgenjews Bildern der russischen Steppe, seine Figuren sind Einzelgänger, die ihre Ideen und Phantasien nicht ausdrücken und zumindest im emotionalen Bereich nicht verwirklichen können und deren Interaktion mit anderen Menschen oft an ihrer selbstgewählten (oder doch pathologischen?) Isolation scheitert.


Die Handlungen in Andersons Prosa sind nicht verschlungen oder kontrapunktisch angelegt wie bei vielen Autoren nach der Jahrhundertwende, ihre psychologische Deutung wird dem Leser überlassen. Ein Autor, der die Epoche und die Umwelt erklärt und wertet, nicht aber die persönlichen Motive und diffusen Ziele seiner Figuren, lässt seine Figuren steinige Wege entlang wandern, oft glücklos auf der Suche nach menschlicher Nähe oder einer geistigen Perspektive. Andersons Einfluss auf die US-Moderne geht auf die minutiöse und skeptische Schilderung eines Landes im Umbruch zurück und auf die suggestive Zeichnung des beinahe unentrinnbaren sozialen Spinnennetzes der amerikanischen Provinz.


Nachdem Anderson in allen möglichen Jobs, vom Werbetexter bis zum Leiter eines Versandhauses, gescheitert war, erlitt er 1912 einen Nervenzusammenbruch und kollabierte. Im darauffolgenden Jahr ging er mit der erklärten Absicht, Schriftsteller zu werden, nach Chicago, wo er weitere drei Jahre später mit Hilfe des führenden amerikanischen Naturalisten Theodore Dreiser seinen ersten Roman Windy McPherson`s Son veröffentlichte. Der Sohn eines Bürgerkriegsveteranen leidet unter der Angeberei, mit der sich sein Vater selbst zum Dorftrottel macht, und setzt alles daran, die Misserfolge des Seniors zu konterkarieren. Mit Talent und Härte bis zur Skrupellosigkeit macht er glänzend Karriere, bis seine Ehe zu scheitern droht und er sich die Sinnfrage stellt.


Der Roman fand, wie zwei zeitnah publizierte Erzählungssammlungen, wenig Beachtung. Erst 1919 gelang Anderson mit Winesburg, Ohio, der Durchbruch, obwohl die Kritik zunächst ungnädig reagierte. Der Zyklus von Geschichten, Skizzen und Charakterstudien, der um den eifrigen, aber letztendlich scheiternden jugendlichen Nachwuchsreporter George Willard herum angelegt ist, bildet den Alltag eines Midwest-Kaffs als Labyrinth aus scheinbarer Normalität und unterdrückter Individualität ab, aus dem es für die ziellos umherirrenden Protagonisten keinen Ausweg gibt. Anderson verfällt nicht in Country-Klischees und stellt die von Obsessionen, Tics und unerfüllbaren Wünschen geplagten Menschen nicht als Sonderlinge oder lokale Idioten dar, sondern als Getriebene, die Schwierigkeiten haben, die innere Hölle auszuhalten und ihre eigenen Motive zu verstehen. Obwohl er die lokale Szenerie, seine Heimatregion, prägnant beschreibt, könnten sich die menschlichen Dramen überall in den Vereinigten Staaten und – mit kleinen Modifizierungen – auch anderswo abspielen; Einsamkeit ist universell.


Ein paar Augenblicke des Ruhms


Winesburg, Ohio begründete den literarischen Ruhm Andersons. In den folgenden zwei Jahren erschienen der Roman Poor White (deutsche Ausgabe: Der arme Weiße), der das Thema des Erstlings Windy McPherson`s Son   variiert, diesmal anhand der Figur eines Erfinders von Agrarmaschinen, der finanziellen Erfolg hat, dessen rastlose Suche nach Sinn und menschliche Nähe aber zu keinem akzeptablen Ende zu führen scheint, und die Erzählungssammlung The Triumph of the Egg (deutscher Titel: Das Ei triumphiert). Hier finden sich einige von Andersons grandiosesten, da sein Hauptsujet, die Unfähigkeit denkender Menschen, Gefühle zu äußern, am zielsichersten einkreisenden Storys. In Unlighted Lamps etwa lebt die junge Mary Cochran gegen ihr eigenes Wollen scheinbar teilnahmslos neben ihrem Vater, einem unheilbar erkrankten Arzt, ohne in der Lage zu sein, mit ihm über mehr als Banales zu reden, ihm geistig nahe zu kommen oder zumindest gegenseitiges Verständnis zu erreichen. Nicht einmal sein Tod kann ihre Lippen öffnen.


Auch Rosalind, die in der langen Erzählung Out of Nowhere into Nothing aus Chicago aufs Land kommt, um ihre Mutter zu besuchen, wird sich ihrer Bedürfnisse nicht bewusst. Als Exotin in ruraler Umgebung trifft sie Melville Stoner, einen anderen Außenseiter, der ihr möglicherweise intellektuell nahesteht, doch finden beide keine gemeinsame Sprache. Andersons Figuren können häufig nicht miteinander kommunizieren, als hätten sie einen unsichtbaren Knebel im Mund. Sie leiden an jenem Mangel an Spontaneität und Einfühlungsvermögen, der Autisten kennzeichnet – oder den modernen Menschen.


Sherwood Anderson begann nun zu reisen. Paris war nach dem Ersten Weltkrieg das Zentrum der internationalen Literatur, und vor allem die angelsächsische Avantgarde, darunter John Dos Passos, Ezra Pound, T.S. Eliot, Gertrude Stein oder Scott Fitzgerald, traf sich an der Seine. Dort begegnete Anderson, auf dessen Rat auch Hemingway in die französische Hauptstadt gekommen war, dem Iren James Joyce, dessen surreal-anarchische Sprache sein künftiges Schreiben beeinflussen sollte. Die bislang streng chronologische Erzählweise wurde durch Rückblenden, intensive Dialoge und manchmal leicht absurden Humor aufgebrochen.


Schließlich landete Anderson in New Orleans, der teils trägen, teils anarchischen Südstaatenmetropole im Mississippi-Delta, die sich als französisch-spanisch-afrikanischer Schmelztiegel der Ethnien und Kulturen beharrlich dem US-Mainstream entzogen hatte. Hier schrieb er 1925 den Roman Dunkles Lachen, der die laszive Atmosphäre der Stadt, das sich ändernde sexuelle Bewusstsein im prüden Amerika, aber auch das individuelle Streben nach Selbstverwirklichung thematisiert. Dark Laughter sollte das zu seinen Lebzeiten kommerziell erfolgreichste Buch werden.


In New Orleans setzte sich Anderson für den jungen William Faulkner ein und ermöglichte ihm die Veröffentlichung seines ersten Romans Soldatenlohn. Wichtiger aber noch für den Weg des Autors aus Oxford, Mississippi, war eine inhaltliche Idee: Faulkner schuf, von Andersons Darstellung des Mittleren Westens als hermetische, die Bewohner formende Landschaft inspiriert, den fiktiven Yoknapatawpha-Destrikt mit seinen archaischen sozialen Strukturen – ein genialer Kunstgriff, den später etliche Autoren, darunter auch Gabriel García Márquez in Hundert Jahre Einsamkeit, adaptierten.


Anfang der 1930er Jahre veröffentlichte Sherwood Anderson die Erzählungssammlung Death in the Woods und kehrt damit literarisch in sein Ursprungsgebiet zurück. Die Storys sind nun pointierter zugespitzt, leichter zugänglich und aus größerer Distanz geschrieben, aber die urwüchsige, vorwärtstreibende Kraft der frühen Prosa hat sich abgeschwächt. Die wichtigsten Schaffensperioden waren danach vorüber, und 1941 erkrankte der Chronist des nordamerikanischen Herzlandes und Mentor anderer Schriftsteller auf einer Schiffsreise an einer Bauchfellentzündung und starb in Colón, Panama.

        

Fortschritt ohne Bewusstsein


Es ist die Zeit der Mechanisierung der Landwirtschaft, des Entstehens jener Agrarindustrie, unter deren bedenkenloser Wachstumsideologie auch heute noch Flora und Fauna leiden, die Anderson in seiner Midwest-Prosa beschreibt. Während die Produktionsmittel in revolutionärem Tempo modernisiert werden, bleibt das menschliche Bewusstsein in einem geistigen Vakuum nach dem Verlust kultureller Traditionen und vor der nötigen Entwicklung einer kritischen Analyse des Umbruchs hängen. Im Roman White Poor konstatiert der Autor, dass die neue Ära die alten Farmer und Landarbeiter überrollt und entwurzelt hat, dass aber moderne Geräte allein kein zeitgemäßes Denken schafft.


Wer durch die ungeheuren Getreide-Monokulturen und die trostlosen Städte und Dörfer des Mittleren Westens fährt, wird diese Ansicht auch heute noch bestätigt finden. Wo die Natur ausschließlich zur Profitmaximierung urbar gemacht, eingesprüht und sterilisiert wird, dienen auch die langweiligen Behausungen nur dem bloßen Dahinvegetieren, nicht einer interessanten und befriedigenden Lebensgestaltung.


Sherwood Andersons literarischer Kommentar zum Aufstieg der ökonomischen (und agrarischen) Supermacht USA mit allen Verwerfungen liest sich auch heute noch spannend, und seine zwischen Melancholie und Unrast changierende Sprache ist ohnehin zeitlos. Seine unprätentiösen, zwischen dem konventionellen Schein des flachen Landes und der verzweifelten Suche seiner Bewohner nach geistiger Qualität differenzierenden Motive und deren raue Umsetzung haben wichtigen Autoren einer Generation einen Pfad angedeutet. Und selbst Schriftsteller aus einer anderen Zeit und einem anderen Kulturkreis, etwa der große Israeli Amos Oz, beriefen sich auf Anderson als literarischen Paten. Dennoch spielt er im Kanon der klassischen Moderne hierzulande kaum eine Rolle.


Eine kurze Renaissance erlebte Winesburg, Ohio in Deutschland vor etwa anderthalb Jahrzehnten: Feuilletonredakteure priesen den Zyklus als Meilenstein der klassischen Moderne, und Buchhandlungen dekorierten ihre Schaufenster mit der Neuauflage. Doch die Kritik hat mit den Verlagen und dem Handel den Mangel an langem Atem und Nachhaltigkeit gemein. Irgendwann verschwand der meist als Roman deklarierte Erzählungszyklus wieder in der Vergessenheit, andere Werke sind nicht mehr lieferbar oder nur in Antiquariaten erhältlich. Neuere Übersetzungen waren selten, die alten, zum Teil aus den 1920er Jahren, entsprechen nicht den aktuellen Qualitätsstandards, zumal die Sprache in der angelsächsischen Literatur auch nach hundert Jahren noch über weitgehend vitalen Klang verfügt, während deutsche Übertragungen aus dieser Zeit oft etwas abgestanden müffeln. Und einige Bücher Andersons sind in Deutschland nie erschienen.


Welche kleine Edition hätte heute noch den Mut, eine deutsche Gesamtausgabe zu veröffentlichen? Sie könnte nicht wie mancher von den Großverlagen aufgelegte Bestsellerschrott intensiv beworben werden, wäre aber spannender, literaturperspektivisch notwendiger und gegenwartsbezogener als etwa der aktuelle Hype um pedantische Fontane-Romane mit antiquiertem Gesellschaftsbild.         

          

11/2019

 

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